Cover

Rachel Corenblit hat sich in Frankreich schon als Jugendbuchautorin einen Namen gemacht, bevor sie mit Einmal lieben geht noch ihren ersten Roman für Erwachsene schrieb. In ihn flossen die Erfahrungen vieler weinseliger Gespräche mit (Single-)Freundinnen ein, aber auch eines Philosophiestudiums und ihrer Arbeit als Lehrerin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Toulouse.

Einmal lieben geht noch in der Presse:

»Ein Riesenspaß!« Elle

»Unterhaltsam, schonungslos offen und sehr berührend!« DestiMed

»Das Geständnis einer ebenso leidenschaftlichen wie talentierten Romantikerin … ein großartiges Buch!« La Depèche

»Rachel Corenblit zeichnet mit Talent das Porträt einer ganz und gar modernen Heldin.« Version fémina

»Ein Roman, der uns den Spiegel vorhält und in dem sich viele Leserinnen wiedererkennen werden.« Radio Télévision Belge

»Bissig, überraschend, intelligent.« Express styles

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RACHEL CORENBLIT

Einmal
lieben geht
noch

Roman

Aus dem Französischen von
Ina Kronenberger

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Originaltitel: Quarante tentatives pour trouver l’homme de sa vie

Originalverlag: Éditions du Rouergue, Arles


Quelle des Zitats: Roland Barthes
Fragmente einer Sprache der Liebe,
übersetzt von Hans-Horst Henschen,
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1984, S. 192.

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Copyright © Éditions du Rouergue, 2015

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Penguin Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Sabine Kwauka, München

Covermotive: retrorocket /gettyimages und
retrorocket /shutterstock

Redaktion: Christina Riemann, München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-17974-8
V003


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Für die Töchter von P. Bert,
auf unsere fröhlichen und turbulenten Jahre

»Wissen, dass man nicht für den Anderen schreibt, wissen, dass die Dinge, die ich schreibe, mir nie die Liebe dessen eintragen werden, den ich liebe, wissen, dass das Schreiben nichts kompensiert, nichts sublimiert, dass es eben da, wo du nicht bist, ist – das ist der Anfang des Schreibens.«

Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe

1

Die Liebe im Allgemeinen …

Einer zieht die Nase hoch, einer beißt sich auf die Lippe, einer hat eine feuchte Aussprache, einer hat sich beim Rasieren geschnitten, einer hat schiefe Zähne, einer ein Doppelkinn, einer zittert, bevor er sich hinsetzt, zittert, während er dasitzt, zittert beim Aufstehen, einer gähnt während der Unterhaltung mitten im Satz oder kratzt sich immer wieder im Gesicht, bis sie ihm am liebsten die Hand abbeißen würde. Einer schaut auf die Uhr, auf sein Handy. Auf das leuchtende Display zwischen ihnen, das neben der Untertasse mit den Erdnüssen liegt, eine Maschine auf dem Tisch, die blinkt und vibriert, die ihr mit Verachtung begegnet und sich alle Rechte herausnimmt, und sie überlegt, dass sie diese blöden Teile den Männern gern in den Allerwertesten schieben würde, dann holt sie ihr eigenes heraus, legt es demonstrativ vor sich. Auf dass die Waffen ebenbürtig sind.

Der eine zieht wieder die Nase hoch, hat kein Taschentuch dabei, man kann sich vorstellen, wie er sich die Nase an der Tischdecke oder mit dem Hemdsärmel abwischt, und sie sucht an der entsprechenden Stelle nach Spuren. Einer kaut Kaugummi oder eine Pastille oder ein Ricola-Bonbon, um keinen Mundgeruch zu haben, und verpestet die Luft mit einer transalpinen Mentholbrise. Einer hat ein Stück Salat zwischen den Vorderzähnen und kaut Kaugummi, weil er weiß, dass sich in seinen Zähnen gern was verfängt, was nicht schön aussieht, darum kaut er weiter, gibt sich alle Mühe, seine Eckzähne sauber zu halten, ohne Erfolg.

Einer schaut ihr nicht in die Augen. Er weicht aus, lenkt ab, redet drum herum, und sein Blick prallt auf die glatte Oberfläche ihres Schweigens. Schlimmstenfalls stottert er, bestenfalls bringt er ein Flüstern heraus. Seine Hände schwitzen, sein Rücken wird feucht und seine Stirn trieft, ganze Bäche stürzen sich herab, um sich in seinen terrassenartigen Falten zu verlieren.

Einer zählt sein Geld, rechnet beim Zahlen zweimal nach und drückt die Tasten des Kartenlesers ganz fest, um sich ja nicht zu vertippen und noch einmal von vorn anfangen zu müssen. Einer zieht die Geldscheine aus der Hosentasche, fette Scheine, einmal in der Mitte gefaltet, die noch nach Bankschalter riechen, und überprüft aufs Genaueste, ob das den gewünschten Effekt hat, wie ein mittelmäßiger Schauspieler. Macht viel Wind um nichts.

Einer ist geduldig, wartet darauf, dass sie die Entscheidung trifft, dass sie ihm erliegt, ist ein Fan der Stille und des Austauschs leidenschaftlicher Blicke, erinnert an einen Fisch. Einen Dorsch, einen Kabeljau in den Auslagen der Fischabteilung im Supermarkt, das Eis tropft auf die Fliesen, die von den Einkaufswagen der Kunden schmutzig geworden sind.

Einer kann nicht warten, hat keine Geduld und geht gleich aufs Ganze. »Willst du?«, fragt er, als würde er wirklich glauben, dass sie sofort Lust auf ihn hat. »Du machst mich total an«, sagt er. Aber sie ist beliebig austauschbar, könnte wer auch immer sein, was auch immer. Brachliegendes Gelände und er, der Bulldozer für eine schnelle Nummer.

Einer fasst sie beim Sprechen an. Ihre Hand, ihren Arm, ihren Fuß, ihr Bein. Klebt an ihr, obwohl er ihr gegenübersitzt und der Tisch eine natürliche Barriere bildet. Er streift ihre Lippen, wenn er sie auf die Wange küsst. Er ist höflich, siezt sie, und in ihr schüttelt sich alles, alles, sie würde ihm am liebsten einen Tritt ans Schienbein verpassen, ihn an seinem Rettungsring packen, der aus der engen Hose ragt.

Einer trägt eine enge Hose. Hat Beine wie eine Heuschrecke, lebt schon zu lange auf der Erde, hat schon Ägypten und die anderen sechs Plagen hinter sich. Mit Armen dünn wie Hühnerknochen.

Oder gemästet wie ein Osterlamm, das im eigenen Saft schmort.

Einer hat einen flachen Po und trägt eine viel zu weite Hose. In der Regel eine Jeans mit großen Taschen und auffälligen Nähten, die sein plattes Hinterteil noch flacher erscheinen lässt. Einer hat eine viel zu kurze Hose, die oberhalb der behaarten Knöchel endet, wodurch die weißen Socken mit je einem gelben und roten Streifen am Bündchen zum Vorschein kommen, und o Gott sind die hässlich, sie sind der Inbegriff von hässlich, von unschön, ein Affront gegen jede Form von Ästhetik, gegen den Sinn von Schönheit, die Moderne, die Griechen und Apollo.

Einer trägt Mokassins. Aus Nubukleder. Mit Bommeln.

Einer hat Haare in der Nase. In den Ohren.

Einer hat zusammengewachsene Augenbrauen und macht sich nicht klar, welche eindimensionale Wirkung ein derart überragter Blick hat.

Einer beendet jeden Satz mit den Worten: »Na klar.« Na klar. Und sie erklärt ihm, dass ihr Leben nicht einfach ist und ihre Arbeit viel Zeit in Anspruch nimmt und dass es ihr nicht leichtfällt, anderen zu vertrauen, eine Beziehung einzugehen, und er nur: »Na klar«, und jedes Mal, wenn er mit seiner Männerstimme »Na klar« sagt, will sie am liebsten flüchten, aufgeben, sich einschließen, dem Leben seinen Lauf lassen, ohne sich an Ästen festzuhalten. Einfach nur ganz viel schlafen. Na klar.

Einer sagt ständig: »Oder«. Wie ein Punkt am Ende. Ein Komma. Hängt an alle Sätze ein »Oder« an, und die kleine Frage, die Verzögerung klingt fast wie eine Antwort. Oder?

Einer kommt direkt vom Friseur, hat sich eine Jacke gekauft, an der noch das Etikett hängt und wie ein Preisschild hin und her baumelt.

Einer bewegt sich wie im Ring und zählt die Punkte, bevor er sie zu Boden ringt, sie auf die Matte legt, sie nach unten drückt bis zum K. o. Bis sie die Hand hebt und aufgibt, sich geschlagen gibt, und mit dem Glas Champagner, das er sich bestellt hat, feiert er seinen Sieg.

Einer niest, und sie reicht ihm ein Papiertaschentuch, und er schnäuzt sich wie ein Fünfjähriger und bedankt sich. Am liebsten würde sie verduften, Hals über Kopf davonstürmen und ihn seinem Rotz überlassen, bevor dieser auf sie schwappt, sie überflutet und komplett bedeckt.

Auch der Nächste niest, und sie fragt ihn zum Spaß: »Reagierst du allergisch auf mich?«, und er antwortet voller Ernst, ohne die Augen zusammenzukneifen: »Kann gut sein, dein Parfüm vielleicht …«

Der Nächste niest, und dieses Niesen ist eins zu viel, der finale Schuss, und sie geht, ohne ihren Kaffee zu bezahlen, ihre Cola, ihr Wasser mit Erdbeergeschmack, ihr gespritztes Bier, ohne sich umzudrehen, ohne eine Erklärung abzugeben, weil sie keine Erklärung hat.

2

Die Liebe auf einer Hochzeit …

Das schnulzige Geträller ihrer Cousine, die zur Hochzeit sämtliche Cousins eingeladen hat, hallt durch den Festsaal in Villefranche-de-Lauragais, einem typischen Kaff, geschmückt mit pastellrosa Luftballons, die zu großen Trauben zusammengebunden sind. Riesige Schleifen aus rauem Krepppapier an den Stühlen, im selben Rosaton wie die Luftballons, Tischdecken mit Salzflocken bedeckt, die später das Essen würzen, schiffsförmige Tischkärtchen mit Reliefdruck, die anzeigen, dass man im richtigen Hafen gelandet ist und endlich festmachen kann.

Eine Hochzeit.

Lucie gehört zu den eingeladenen Cousinen, sie ist die Tochter der Schwester des Vaters der Braut, auf der Einladungskarte war sie gebeten worden anzugeben, ob sie in Begleitung zu erscheinen gedenke. In Fettschrift. Sie hat nicht geantwortet. Somit ist die Sitzordnung klar. Sie landet in »Jamaika«. Unweit vom Tisch »Guadeloupe«, der die Opis und Omis versammelt, die mit den Köpfen wackeln und bei den ersten Tangoklängen in Verzückung geraten.

Zehn am Tisch. Fünf Jungs, fünf Mädels. In ihrem Alter spricht man nicht mehr von Jungs und Mädels, man sagt: Männer und Frauen. Die Singles des heutigen Abends. Die keine bessere Hälfte haben und die man auf gut Glück zusammenwürfelt. Sie ist nicht die Älteste. Hélène schlägt alle. Mit sechsundvierzig. Ihr Mann ist letztes Jahr abgehauen, ohne Vorwarnung, ohne Erklärung, einfach so, seitdem nimmt sie seinen Vornamen nicht mehr in den Mund, verbietet den Kindern, zwei tollpatschigen Teenagern, mehr als zwei Tage am Stück in der Wohnung des Verräters zu verbringen. Sie will nicht wissen, mit wem er in wilder Ehe lebt, und erzählt allen, um zwanzig Ehejahre zu trauern sei so, als würde man sich einen Säbel in den Bauch rammen und ihn dann bis zum Kehlkopf nach oben ziehen. Hélène bedient sich großzügig beim Weißwein und wird am Ende des Abends auf einen Plastikstuhl im Garten sinken, unter der Linde, und ihre verflossene Jugend beweinen, ihre Fesseln, die immer dicker werden, und dass sie damals bei der Suche nach dem Bräutigam so wenig Grips bewiesen hat. Und sie wird rauchen, obwohl sie eigentlich damit aufgehört hat.

Die drei anderen Mädels wirken ziemlich verlebt, haben schon einiges hinter sich, eine professionelle Föhnfrisur, aufreizendes Lipgloss, und Lucie spürt, wie sie in den Startlöchern stehen, um loszulegen, alles zu geben, die eine lacht zu laut, und der etwas dickliche Dunkelhaarige neben ihr traut sich nicht, sie anzuschauen, und bedient sich an den Törtchen, um sich nichts anmerken zu lassen. Er ist der Sohn einer Tante, die in der Klapsmühle gelandet ist, weil sie sich alle naselang irgendwo erhängen wollte. Lucie meint sich zu erinnern, dass er Éric oder Patrick heißt, ein Vorname so sexy wie eine Tanzfläche nachmittags um zwei. Wäre sie großmütig, würde sie der Blonden stecken, dass es nicht nötig ist, so dick aufzutragen, der gute Éric ist willig. Er wartet nur auf eine Einladung. Ist sozusagen noch Jungfrau. Man muss schon sehr verzweifelt sein, um ihn erobern zu wollen, was sie übrigens zu merken scheint, die Miss Wetterbericht, sie dreht sich nämlich zu dem anderen Jüngling um. Der eine Glatze hat und nicht viel hermacht. Maximilien, der Entenbaron. Entenleberpastete. Entenkeule. Ein florierendes Unternehmen, was seinen abgeschmackten weißen Geländewagen erklärt, seine goldene Uhr und seine perfekt restaurierten Zähne. Sein Spitzname ist Donald Duck. Später auch Quak-quak, als sie den Weißwein, den Hélène serviert, damit Lucie sie auf ihrer Schlitterpartie begleitet, schon intus haben.

Lucie überlässt den Entenstopfer bereitwillig der Prinzessin. Sie hatten schon einmal das Vergnügen, bei einem Vettern- und Cousinentreffen, einem Festessen in einem anderen Saal hier in der Gegend. Er schmeckt nach seinen Produkten, ihr Cousin. Nach Ente. Anfangs hatte sie angenommen, die Ententerrine noch nicht richtig verdaut zu haben, aber er war schuld, sein Mund, seine Hände und sogar sein Körpergeruch erinnern an die Viecher, die er mästet.

Rechts von ihr Xavier, Amateursänger und Zahnarzt. Beängstigend dürr, in der Familie hält sich hartnäckig das Gerücht, er habe sich als Kind einen fiesen Bandwurm eingefangen. Ein riesiges Teil, das sich in ihm eingenistet hat, weshalb er nicht zunimmt und so bleich ist, als wäre er einer der Letzten der Menschheit. Wer verliebt sich schon in einen Kerl, dessen Gedärme vermutlich bewohnt sind?

Links von ihr Joris. Fünfzehn Jahre jünger als sie. Um die zwanzig und noch nicht verdorben, der allen Frauen zulächelt, auch den alten, mit einem Grübchen in der rechten Wange, die Haare zurückgegelt. Sein Auto ist getunt, und das Tattoo auf seinem Bizeps sieht von Weitem aus wie eine Telefonnummer. Vollkommen uninteressant.

Für einen Moment hatte sie den Funken eines Hoffnungsschimmers aufblitzen sehen. Ihre Mutter hatte ihr auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen, wonach die Hochzeit sehr schön zu werden verspreche, mit vielen Gästen und viel frischem Blut, der Bräutigam habe eine Menge Kameraden, da könne man nie wissen, Hochzeiten mit Gästen, die bisher nicht mit von der Partie waren, könnten zu überraschenden Begegnungen führen und angenehm sein. Am liebsten hätte sie zurückgerufen und ihre Mutter beschimpft: Mama, wie kannst du so was zu mir sagen, in meinem Alter, als bräuchte ich dich, um jemanden zu finden. Trotzdem war die Saat gelegt. Die Saat der Illusion. Auf dem Standesamt hatte sie die Runde gescannt. Kein Schwein, das als Jagdtrophäe herhalten könnte. Vor allem Paare. Alte. Bekanntes Terrain, hundertmal durchmessen.

Bis auf den einen, der ihr gegenübersitzt. Auf seinem Tischkärtchen steht Claude, und das klingt sehr nach einer anderen Generation, aber sein Gesicht ist wohlproportioniert. Er hat blaue Augen, ein sauber gestutztes Bärtchen, gepflegte Hände und einen Anzug, der nicht nach Verkleidung aussieht. Er ist Einhandsegler, schließlich ist er auf ihrer Insel der Verbannten gestrandet, und sie schaut verstohlen zu ihm hinüber, um zu sehen, ob er das Wendemanöver beherrscht. Sein Fernglas scheint defekt zu sein. Er ist eher auf das Dekolleté des kleinen Lockenkopfs abonniert, die glückselig lächelt, was sie sich angesichts ihrer Körbchengröße auch erlauben kann. Er beugt sich zu der Kleinen, und schon ist Lucie eifersüchtig, total eifersüchtig, wahnsinnig eifersüchtig, und sie wünscht sich nur, dass er den Kopf dreht und sie anschaut und sie diesem Ausbund an Schwabbelfleisch vorzieht, und sie verbringt ihr Leben damit, einem solchen Augenblick hinterherzulaufen.

Während dieses nicht enden wollenden Abends, einer Abfolge an Gratulationen und gewagten musikalischen Einlagen wird er kaum das Wort an sie richten, wird ihr kaum zulächeln, nicht zu Boney M. mit ihr tanzen, auch nicht zu Alexandrie Alexandra, ihr zwar eine Zigarette anbieten, aber eher widerstrebend. Er wird sie zum Rauchen nach draußen begleiten und sich mit ihr unterhalten, über das Wetter, über ihren Verwandtschaftsgrad zum Brautpaar, er ist Cousin dritten Grades, und jawohl, er ist Single, und natürlich ist es unangenehm, die Einsamkeit, na klar, aber man gewöhnt sich dran, arrangiert sich, und er drückt seine Zigarette aus, die er erst zur Hälfte geraucht hat, und kehrt in den Saal zurück, lässt sie mit Joe Dassin und den Sternen allein, und sie wartet auf Hélène, um auf einen Plastikstuhl unter der Linde zu plumpsen, die ihren weißen Blütenstaub und die Last ihrer müden Äste auf ihnen abladen wird.

3

Die Liebe unter der Discokugel …

»Und« (sie fragt, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen, weil sie sich gegenüberstehen und nicht wissen, wie sie eine Unterhaltung in Gang bringen sollen, weil sie sich fast verstohlen zulächeln, weil sie von einem Bein aufs andere treten, weil es schon nach Mitternacht ist und es draußen allmählich abkühlt und weil sich als musikalische Untermalung die Rolling Stones gerade warmsingen, I can’t get no satisfaction, was letztlich ganz gut passt), »was bist du

»Was ich bin?«

(Sie lacht, ein albernes Lachen, ein kehliges Lachen, ein verkrampftes Lachen, ein bescheuertes, fast verzweifeltes Lachen, sie weiß es ja, die Frage ist echt bescheuert.) »Ich meine, im Verhältnis zu den Brautleuten …«

»Ach so« (sagt er. Er zieht an seiner Zigarette, was ihm im Halbdunkel eine Sekunde lang das hohlwangige Aussehen eines Grubenarbeiters verleiht, der nach einem Tag in der Zeche wieder an die frische Luft gekommen ist). »Ich bin ein Cousin von Martin. Dritten Grades.«

»Dritten Grades«, wiederholt sie. (Die Wiederholung in der Kommunikation ist eine Möglichkeit, mit jemandem in Beziehung zu treten, das Phänomen der Empathie zu vergrößern.) »Das ist nicht gerade nah. Ich meine, eine entfernte Verwandtschaft.«

Er tritt einen Schritt zurück, um das Gesagte zu bestätigen, und der dadurch entstehende Luftzug stimmt sie seltsam traurig, sie ist enttäuscht, und wenn sie betrunken wäre, würde sie sich ihm in die Arme werfen, und oft bereut sie es, dass sie nicht genug trinkt, um in dieser allerletzten Handlung Zuflucht zu suchen. Sich ohne Netz in jemandes Arme zu werfen.

»Ja«, sagt er schließlich. »Aber wir sehen uns trotzdem. Bei großen Anlässen, Feiern. Hochzeiten, Taufen, das ist der Zement, der die Familien zusammenhält.«

Sie selbst muss an all die Menschen denken, die bisher in diesem Zement versenkt wurden, zu Tode erstarrt, und sie hätte durchaus Lust, ihm André Gides Tirade Familien, ich hasse euch entgegenzuschleudern, die alte Leier herunterzurattern von wegen, man sucht sich seine Eltern nicht aus, man sucht sich seine Familie nicht aus, aber er wirkt so humorlos, der gute Claude, dass sie die Klappe hält, und weiter geht’s mit Elvis Presley.

»Und« (sie macht weiter, beherzt, das muss man ihr lassen, diese Qualität kann man ihr nicht absprechen, sie strengt sich an, lässt nicht so leicht locker), »bist du allein hier?«

»Ja«, antwortet er.

»Oje«, sagt sie.

»Warum oje, so ist es halt, c’est la vie. Für mich ist das kein Problem, mir macht das nichts aus.«

Es macht ihm nichts aus? Allein aufzustehen und allein schlafen zu gehen, im Badezimmer mit sich selbst zu reden und von der eigenen Stimme überrascht zu werden, all die nur allzu wahren Klischees über Einsamkeit, die Tiefkühlkost allein vorm Fernseher oder vorm Computer, und womöglich hat er eine Katze. Sie hat eine Theorie zu Katzen von Singles, aber die behält sie für sich. Erzählt sie ihm nicht, es könnte sein, dass er sie nicht versteht. Allerdings scheint er ihre Zweifel zu sehen, als die Reflexe der Discokugel für ein paar Sekunden ihr Gesicht erhellen.

»Ich hab so meine Gewohnheiten. Gewohnheiten sind nichts Schlechtes. Sie sind angenehm, und angesichts meiner Ex, na ja, das ist eine komplizierte Geschichte, habe ich es wahrlich nicht eilig, mich wieder zu binden. Das hat keine Priorität!«

Der Rauch seiner Zigarette verwandelt sich in ein Ausrufezeichen, das kurz über ihnen schwebt und dann das Weite sucht, im Weltall verschwindet.

»Nicht so einfach, die Sache mit den Exen« (Satz ohne Verb, simple Wortstellung, syntaktisch gesehen eher unspektakulär, der Satz wird sie noch oft heimsuchen).

Er zuckt mit den Schultern und wirft seine Zigarette weg, als wollte er einen Schlusspunkt setzen unter einen komplizierten Text. Gern würde sie ihm ihre eigene Geschichte erzählen, von ihrem Ex, seiner Begeisterung für Ameisen und wie er in ihrem Schlafzimmer einen Parcours aufgebaut hat. Aus Glas und Plastik. Riesig. Zwei Terrarien, durch kilometerlange durchsichtige Schläuche miteinander verbunden, die sich um ihr Bett gewunden haben, darüber, darunter und entlang der gegenüberliegenden Wand. Nachbildung einer ganzen Welt, und er beobachtete ihre Wege, und sein Ehrgeiz bestand darin, den Algorithmus einer Kolonie zu finden. Mithilfe von Essensresten, die sie den Biestern hinlegten, die möglichen Bahnen am Ende komplexer Labyrinthe zu untersuchen, gewählte und permanent modifizierte Umwege, und sie mussten wirklich alles geben, die Ameisen, um ihre Kost zu finden. Sobald eine Aufklärerin eine Quelle ortet, informiert sie ihre Kameraden, damit diese sie auf schnellstem Wege finden, ohne ihre Energie zu verschwenden, und Pascal sagte: Die Pheromone, die sie abgeben, du kannst dir nicht vorstellen, wie entsetzlich die stinken, und ihr Schlafzimmer war erfüllt von diesen Pheromonen zum Auffinden der Nahrung, und sie glaubt, nein, sie weiß es genau, dass sie es gründlich satthatte und es an diesen unsichtbaren Gerüchen lag, die in ihr Gehirn eindrangen, dass sie sich anschließend trennten.

Der gute Claude bleibt noch ein paar Sekunden stehen, und vielleicht würde er die Unterhaltung gern fortsetzen, aber ihm ist kalt. Er könnte sie anlächeln, sich ein bisschen Mühe geben. Sie verlangt ja nicht viel. Eine freundschaftliche Geste, das Gefühl, etwas gemeinsam zu haben, da fällt ihr Joe Dassin mit seiner unmodernen, schmalzigen Stimme ins Wort, die von bedingungsloser Liebe singt. On ira. Où tu voudras. Quand tu voudras.

»Ich geh tanzen«, sagt er.

»Geh« (antwortet sie und lächelt. Was folgt, bleibt ungesagt als stumme Verbeugung vor Corneille: Geh, ich hasse dich nicht, du Spießer.)

4

Die Liebe in der Schule …

Ihr Team, das heißt die sieben Lehrer der Schule Rive Droite, besteht im Wesentlichen aus Lehrerinnen, also aus Mädels. An ihrer Arbeitsstelle jemanden kennenlernen zu wollen ist so aussichtslos, wie einen Pudding an die Wand zu nageln. Null Chance. Niente. Nicht der Hauch einer Hoffnung bei den Kollegen, es sei denn, man änderte seine sexuelle Orientierung.

Männer im Schulbetrieb sind wie Klatschmohn. Vermeintlich sichtbar, knallrot und Gift für die Augen, wenn man sich zu nahe heranwagt, doch seit einiger Zeit vermisst man ihn auf den Wiesen. Oder man findet ganze Büschel davon an einer Stelle neben der Nationalstraße. Ohne erkennbaren oder logischen Grund.

Die Umweltverschmutzung ist schuld.

Vor ein paar Jahren konnte man noch welche finden. Männer, nicht Mohnblumen. In ihrer Schule. Der Rektor hatte sich dem Kampf gegen Privatschulen verschrieben und trat entschieden für die Trennung von Staat und Kirche ein. Mit seiner gewaltigen Stimme, die nach ausgehungertem Menschenfresser klang, jagte er den Kleinen Angst ein, in seiner Klasse muckte nicht ein Schüler auf. Er war lange Zeit mit einer Schulpsychologin verheiratet, die nur dann auflebte, wenn es um Fälle von Inzest, elterlichem Missbrauch und Gewalt gegen Kinder ging. Monique hieß sie. Überall, beteuerte sie, überall findet man diese leidenden, schweigenden Kinder. Man muss wachsam sein. Beim Spielen ließ sie die Kleinen nicht aus den Augen, hielt eifrig nach verdächtigen Indizien Ausschau. Schließlich verließ sie ihren Mann für einen Lokführer, der sie in seinem TGV von Paris nach Toulouse entführte und die Maschine auf den wenigen zulässigen Strecken an die Leistungsgrenze brachte, um sie rumzukriegen, und schon ließen sie die Kindesmisshandlungen kalt. Der Rektor verließ die Schule und vergrub sich in einem kleinen Ort, einem gottverlassenen Nest mit nur einer Klasse.

Letztes Jahr kam dann ein Jüngelchen frisch von der Uni und noch grün hinter den Ohren. Etwas unsicher wankte er auf seinen Babybeinchen durch die Gegend. Kein richtiger Mann, wenn man die Standardkriterien für diese Gattung anlegt. Nett und von den Ereignissen überfordert. Die anderen Mädels verwendeten viel Zeit darauf, ihn zu beruhigen, ihn zu trösten, ihn in den Arm zu nehmen, als wäre er ein harmloser Teddy, was vielleicht keine schlechte Taktik war, das musste Lucie durchaus zugeben.

Auch der Vertretungslehrer des Schulbezirks ist ein Mann. Der Motorrad fährt, um schneller durch den Verkehr zu kommen und seine vielen Fahrten zu bewältigen. Er erscheint in Lederjacke mit verbeultem Helm, schiefem Schnurrbart, etwas abgefahren mit seinen fünfzig Jahren, und er ist ein wahrer Schmeichler, der gute Matthieu, aber nichts für sie, sie weicht ihm aus, und wenn er ihr im Lehrerzimmer zur Begrüßung Küsschen auf die Wangen drücken will, steckt sie die Nase in den Kaffeebecher, stürmt zum Kopierer oder geht nach draußen, um die Kinder auf dem Schulhof zu beaufsichtigen. Lieber das Gebrüll der Schüler und eine abgefrorene Nase als seine schamlosen Blicke.

Auch der Oberschulrat ist ein Mann. Mit Krawatte. Blank geputzten Schuhen. Einem grauen Regenmantel, für alle Wetterkapriolen gerüstet. Als er Ende März zu ihr in den Unterricht kam, hatte sie eine Art makabre Hoffnung aufgebaut. Ihre Ordner, ihre Unterlagen standen fein säuberlich in Reih und Glied, ein Vorbild an pädagogischer Tugend, und sie trug ihren kürzesten Rock, der ihre Taille unterstreicht, Schmuck und auch Parfüm. Er blieb nur eine Stunde. Sah die Hefte durch. Die Mitteilungen. Ihre Arbeitsblätter für Stillarbeiten, die Anordnung der Tabellen und lenkte das Gespräch auf die Notwendigkeit, mit den Mitteln der Differenzierung zu arbeiten und die Heterogenität einer Klasse mit derart markantem Profil zu wahren. Sie beantwortete alle seine Fragen und wartete auf eine persönliche Bemerkung, die das Gespräch auf eine etwas eindeutigere Ebene heben könnte, aber er reichte ihr nur die Hand und strebte zum Ausgang. Ohne sich umzudrehen. Entsprechend schlecht fiel seine Bewertung aus.

Die zwei Männer von der Gemeinde, die Pannen beheben, Reparaturen ausführen und die Löcher im Schulhof stopfen, zählen nicht. Sie schauen nur kurz herein, im Blaumann mit neongelber Armbinde, und grüßen nicht, als wäre der Klassenkampf noch heute aktuell.

Der Hausmeister, Monsieur Marquetti, der oft den Schrankenwärter gibt, wenn Eltern Grenzen zu überschreiten drohen, hat nichts von einem Sexsymbol und ist nicht der Mann, der etwas bei ihr auslösen könnte. Er steht kurz vor der Rente und sperrt sich in sein Kabuff ein, sobald es um 16:30 Uhr zum letzten Mal klingelt.

Der Sportlehrer. Jean-Luc. Seine hohen sportlichen Qualitäten, wenn er die aufgeregten Kleinen mit der Geschicklichkeit eines Dompteurs bändigt, will sie ihm gar nicht absprechen. Von hinten wäre er sogar akzeptabel, der gute Jean-Luc, aber von vorn, im Gespräch sieht er aus wie Hulk, der an wiederkehrendem Gedächtnisverlust leidet. Er vergisst die Namen der Kinder und spricht sie alle mit »He, du!« an. Ohne Unterschied, und er kugelt sich vor Lachen über jeden noch so bescheuerten Witz. Sie hat ständig Angst, dass er in den Umkleiden brüllt: »Wer jetzt noch nackt ist, ist eine Schwuchtel«. Was bei den Eltern der Schüler sehr gut ankäme.

Die anderen Mädels beschweren sich nicht weiter über diese männliche Wüste. Sie sind nicht auf der Suche. Fünf von den sieben haben einen festen Freund, einen Ehemann, einen Lebensgefährten, einen Partner, einen Liebsten. Die kommen zur Feier am Schuljahresende und helfen beim Aufräumen der Bühne und beim Stapeln der Stühle. Sie sind ganz sympathisch und ahnen nicht, dass Sophie nach einem Glas Mojito erzählt hat, ihr Arthur kriege keinen mehr hoch, dass Leila, ebenfalls nach einem Glas Mojito, gestanden hat, Ludo, ihr Ludovic, der gutmütigste Mensch, rieche nach Sardinen und sie hasse diesen Geruch. Dass Marie ihren Charles mit dem Architekten betrogen hat, der ihren Hausbau organisiert, und dass das heikel ist, um einen Euphemismus zu verwenden, weil sie geschrien hat wie noch nie und mit dem Kopf im Kopfkissen fast erstickt wäre. Nathalie, die keinen Alkohol trinkt, hat gar nichts gesagt, und falls Alkohol die Zunge lockert, macht Orangensaft depressiv, sie hat nämlich angefangen zu heulen, und Christine, die drei Gläser Mojito intus hatte, hat sie daraufhin auf den Mund geküsst.

Gegen Ende des Abends hat Lucie Carine, die Letzte im Bunde, ihre Single-Schwester mit Pagenkopf und Brille und Gouvernantengehabe, gefragt, ob sie noch Jungfrau sei oder lesbisch und ob sie der Meinung sei, das Single-Dasein sei auf das Aussehen zurückzuführen. Was der Grund dafür sein könnte, dass Carine einen Monat lang kein Wort mit ihr sprach.

Bleibt noch der Postbote, aber der gehört nicht zum Team.

5

Die Liebe im öffentlichen Nahverkehr …

Auch sollte man sich nicht zu wählerisch zeigen. Man sollte die Chance ergreifen, das berühmte carpe diem befolgen.

Sie sitzt im 64er Bus, der stotternd die Avenue entlangfährt und hin und her schaukelt. Das Wort gefällt ihr, »schaukeln«. Wie ihr Leben, das sich gerade sehr schaukelig anfühlt und ihre Tage, die ohne Chaos, ohne Überraschungen verlaufen, ein einziges monotones, düsteres Schaukeln.

Kaum Leute heute Abend. Zwei Jugendliche mit Käppi, ein Alter, der vor sich hin starrt, ohne zu blinzeln, und dessen rechte Hand zittert. Ein paar Köpfe über Handys gebeugt, Ohrstöpsel in den Ohren. Ein Baby im Buggy, dessen Mutter kurz vorm Einschlafen ist.

Sie hat sich ganz nach hinten gesetzt. Ein uralter Reflex, sich für einen der hinteren Plätze zu entscheiden. Als sie jung war, waren diese Plätze den Glücklichen mit der größten Klappe vorbehalten, die sich versteckten, um einen Zungenkuss zu genießen, der die ganze Fahrt über andauerte. Ohne jemanden zu küssen, ist sie auf dem Weg nach Hause in ihre kleine Wohnung, eine Zweizimmerwohnung mit offener Küche, dritter Stock ohne Fahrstuhl, mit Balkon, Elektroheizung, gesprungener Kloschüssel, die sie am Tag nach ihrer Trennung, als sie händeringend nach einer Bleibe suchte, über einen Bekannten ihres Vaters bekommen hat. Es war ursprünglich als Übergangslösung gedacht. Jetzt kommt es ihr wie eine Ewigkeit vor. Sie hat noch nichts an die Wand gehängt.

Es ist spät. Fast zwanzig Uhr. Sie hat das Klassenzimmer aufgeräumt, die Hefte korrigiert und den Vögeln im Schulhof gelauscht, die aus voller Kehle gesungen haben, der Nachmittag ist wie im Flug vergangen, ohne dass sie es mitbekommen hat. Als befände sie sich außerhalb der Zeit.

Diese Dehnbarkeit der Zeit geht mit dem Schaukeln einher.

Der Mann steigt vorne beim Fahrer ein, weit weg. Der Bus ist lang mit einem Gelenk, das ihm eine gewisse Beweglichkeit verleiht, flexiblen Wänden wie ein Akkordeon, und wenn man die Mitte passiert, wird man durchgeschüttelt und hin und her geworfen. Die Kinder lieben das.

Ein großer Mann mit Kopfbedeckung, einer Art Stoffmütze im alten Stil, kariert, Lederjacke und Jeans, und sie folgt ihm mit Blicken, unbewusst, ohne Kalkül. Ohne Hintergedanken.

Er geht durch den Bus, taumelt leicht. Plötzlich fällt er fast auf die rechte Seite, und sie hält den Atem an.

Er sieht sie nicht.

Die Plätze um ihn herum sind frei. Er geht weiter, nähert sich der heiklen Passage, dem weichen Bauch, dem neuralgischen Punkt, ohne zu fallen. Er findet sein Gleichgewicht. Lässt die Risikozone hinter sich. Atmet auf.

Hebt den Kopf. Begegnet Lucies Blick.

Draußen herrscht dunkle Nacht, und ihre Spiegelbilder in den undurchdringlichen Scheiben zu beiden Seiten werden von den Blitzlichtern der Autoscheinwerfer und Straßenlaternen angestrahlt, die die Stadt zu bieten hat. Ein Geschenk. Eine großzügige Geste. Ein stilles Feuerwerk, um die Begegnung zu feiern.

Sie lächelt nicht.

Bleibt hängen.

Am Blick des Fremden. Ohne sich abzuwenden. Mutig, wild, und sie könnte die Lektüre wieder aufnehmen oder die Stirn an die Scheibe drücken, um nachzusehen, wo der Bus gerade langfährt.

Er bleibt beim Ausstieg stehen und lehnt sich an die Stange, lässt Lucie nicht aus den Augen, höchstens für eine Sekunde, das ist nichts.

Ist der Körper so programmiert, dass er auf Situationen reagiert, die im Verhaltensregister für seine Fortpflanzung exakt vorhergesehen und festgeschrieben sind? Pascal würde das bestätigen und den oberlehrerhaften Ton des Biologie- und Geografie-Dozenten annehmen, der er ja auch ist: Lucie, du naives Geschöpf, glaubst noch an die Liebe und die Vorsehung, dabei ist alles eine Frage gut organisierter Gene, dosierter Hormone und verwickelter DNA-Stränge.

Darum hat sie ihn unter anderem auch verlassen, wegen dieses kategorischen Tons, dieser Manie, die Menschheit in feste Schubladen zu stecken und ihr eine zu kleine zuzuweisen, und sie weiß nicht, warum sie genau jetzt an ihn denkt, wo ein Mann sie anschaut, wo wahrhaftig glühend heiße, unsichtbare Wellen hin- und hergeschickt werden, und ein solcher Moment ist so selten und kostbar, den darf man auf keinen Fall kaputtmachen.

Sie verscheucht Pascal, verbannt ihn in die hintersten Winkel ihrer Großhirnrinde. In den kalten und vernünftigen Teil, der in der Lage ist, ihn zu knebeln und zum Schweigen zu bringen.

Der Mann schaut sie an und lächelt. Die Wirkung lässt nicht lange auf sich warten, und das vierzehnjährige Mädchen in ihr ist geradezu entzückt, wackelt mit den Hüften. Giggelt fast los, während sie die Beine zusammenpresst. Er ist kein Schönling. Kein umwerfender Typ, kein Männerideal, aber sein Lächeln ist so schlicht, so klar.

Ihr Bauch zieht sich zusammen. Soll er sich nur zusammenziehen, sollen sich ihre Härchen ruhig aufstellen, soll ihr Rücken von einem Schauder überzogen werden und ein Lächeln in ihrem Gesicht erscheinen, ohne dass sie es merkt, sie sieht darin eine Gymnastikübung.

Er lächelt sie an, und als der Bus bremst, lässt er los, und sein Körper wankt auf sie zu, und er könnte den Abstand zwischen ihnen mit einem Sprung überwinden, doch als die Tür aufgeht, quiekend wie eine Maus, der man die Kehle durchschneidet, steigt er aus. Wird von der Nacht verschluckt, und sie dreht sich nicht einmal um, lässt ihn hinter sich verschwinden.

Zwei Haltestellen. Für so eine kurze Strecke hat er den Bus genommen, was für eine Lusche, denkt sie, was für ein Faulpelz, ein verwöhnter Städter, der seine Beine nicht benutzen kann, aber es gelingt ihr nicht, sich das süße Vergnügen zu verderben.

Und sie scannt die nächsten Männer, die in den Bus einsteigen, in Erwartung weiterer Gelegenheiten, die sie ergreifen kann, aber es ist seltsam, komisch, wenn man weiß, was man sucht, findet man es nicht.