Er rückte den schweren Gürtel auf Hüfthöhe zurecht und verringerte so den Druck der gefüllten Stahlzylinder, die ihm unter dem Hosenbund die Haut aufscheuerten. Das Kabel, an dem der Auslöser hing, flatterte an seinem rechten Hosenbein leicht im Wind. Er griff nach dem Kästchen und umschloss es mit festem Griff. Seine Hand war feucht. Vom Schweiß? Er wusste es nicht.

Alles, was jetzt zählte, war der Auftrag.

Sein letzter.

Ein Knopfdruck, und alles würde vorbei sein.

Er folgte mit seinem Blick dem flachen vierrädrigen Polizeiroboter, der sich langsam auf ihn zubewegte. Trotz des Lärms der Sirenen und des Eurocopter 135, der hoch über seinem Kopf schwebte, konnte er deutlich seine eigenen Atemzüge hören. Sie waren flach und unregelmäßig. Die Schatten der Rotorblätter huschten über die prunkvolle, von der Sonne angestrahlte Fassade des Reichstagsgebäudes.

Er betrachtete das Staatswappen oberhalb des Eingangs mit der wachenden Mutter Svea, der Personifikation Schwedens. Rund um den grünen Park, der mit polizeilichem Absperrband abgeriegelt worden war, konnte er die Silhouetten bewaffneter Männer erkennen. Ganz oben auf dem Dach des königlichen Schlosses ragten die Mündungen der Maschinengewehre der Scharfschützen hervor.

Der Polizeiroboter, der inzwischen die Grasfläche überwunden hatte, kam mit wippenden Bewegungen auf ihn zu.

Die metallische Stimme des Verhandlungsführers aus dem Megafon hallte im rhythmischen Knattern der Hubschrauberrotoren wider.

Er erblickte die Zange, die an der Vorderseite des Roboters befestigt und für ihn bestimmt war. Mit ihr sollte er den Draht kappen. Sein Vorhaben aufgeben. Als wäre das möglich.

Er ließ seine aufgeknöpfte Jacke zu Boden fallen, sodass der Gürtel vollständig sichtbar wurde, und griff erneut nach dem Kästchen. Jetzt wurde die Stimme des Verhandlungsführers vom harschen Befehlston mehrerer Polizisten abgelöst.

»Nein! Finger weg vom Auslöser! Finger weg vom Auslöser! Hände hoch! Gehen Sie runter auf die Knie! Gehen Sie runter …«

Er schaltete innerlich ab.

Hörte nicht mehr hin.

Von nun an war ihm alles egal.

Es war so weit.

Er nahm eine Hand hoch und fuhr mit den Fingern an der Kette entlang, die um seinen Hals hing. Ergriff den silbernen Anhänger, der an seinem Brustkorb auf der Haut klebte. Umschloss ihn fest, während er den Daumen seiner anderen Hand auf den Auslöser zubewegte.

Er atmete ein. Sog die Luft tief in seine Lungen. Legte den Kopf in den Nacken und richtete seinen Blick ein letztes Mal hinauf in den klaren, kräftig blauen Sommerhimmel.

Schloss die Augen.

Und betätigte den Auslöser.

Ich schloss die Augen, obwohl ich wusste, dass ich genau beobachtet wurde. Jede kleinste Veränderung in meiner Miene, jede Bewegung, jede Reaktion wurde registriert und analysiert. Ich, Leona Lindberg, hatte dies schon tausendmal selbst praktiziert. Als Ermittlerin im DGV, dem Dezernat für Gewaltverbrechen bei der Citypolizei Stockholm, war ich es gewohnt, Menschen zu befragen und nach Schwachstellen in ihren Aussagen zu suchen. Es war eine Rolle, mit der ich mich auskannte und die mir gefiel.

Doch heute war es andersherum.

Diesmal war ich Gegenstand der Befragung.

Meine Therapeutin Aimi Nordlund betrachtete mich eingehend von ihrem Sessel aus, der mir gegenüberstand. Ihre Praxis bestand aus einem einzigen Raum, der nach diversen gesprächsfördernden Richtlinien eingerichtet war. Nackte, in verschiedenen Grüntönen gehaltene Wände und dunkle Polstersessel mit weichen Kissen darauf, in die man sich hineinsinken lassen konnte, ohne die ergonomisch richtige Haltung einzubüßen. Die Farbskala sollte einem das Gefühl vermitteln, sich in einem behaglichen Wohnzimmer zu befinden, und dennoch bekam ich kaum Luft, als ich dort saß. Es war, als läge ein schweres Gewicht auf meinem Brustkorb, das mich gegen die Rückenlehne des Sessels presste.

Ich hätte nie gedacht, jemals in der Praxis einer Psychotherapeutin zu sitzen und ihr von meinem Leben zu erzählen. Noch vor ein paar Monaten wäre es für mich undenkbar gewesen, denn es entsprach ganz und gar nicht meiner Art, einen Seelenklempner aufzusuchen. Doch nach all dem, was geschehen war, befand ich mich am Nullpunkt.

Nein, bei minus eins.

Finanziell betrachtet.

Mental.

Fünf Monate nach meiner Rückkehr aus England war ich eines Morgens aufgewacht und einfach nicht aus dem Bett gekommen. Mein Körper fühlte sich an, als hätte man ihn an die Matratze gefesselt. Es dauerte gut eine Stunde, bis es mir endlich gelang. An den nachfolgenden Arbeitstag im Präsidium konnte ich mich nicht mehr erinnern. Offenbar hatte ich gearbeitet wie sonst auch, doch geistig war ich nicht anwesend. Nach Feierabend hielt ich mich zu Hause auf. Dort saß ich bei zugezogenen Gardinen in der Dunkelheit und starrte vor mich hin.

Während meiner ersten Therapiesitzung mit Aimi hatte ich kaum ein Wort herausgebracht. Ich wusste einfach nicht, wo ich anfangen sollte. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Sie zu sortieren, erschien mir unmöglich. Also ließ ich ihnen freien Lauf.

Aimi stellte mir Fragen. Fragen, die mir noch nie zuvor jemand gestellt hatte. Zu meiner Vergangenheit und zu meiner Person.

Wer war ich eigentlich?

Die meisten, die mich kannten, würden sagen, eine gewöhnliche Frau und Mutter im Alter von fünfunddreißig Jahren, geschieden, mit einem möglicherweise etwas ungewöhnlichen Beruf, Polizistin, doch ansonsten ein Mensch wie jeder andere auch. Meine Kollegen hielten mich überdies für eine geschickte Ermittlerin. Zwar eine, die Autoritäten infrage stellte und nicht unbedingt scharf darauf war, im Team zu arbeiten, aber darüber hinaus eine verantwortungsbewusste Bürgerin, die auf dem Boden des Gesetzes stand und für die Grundwerte des Landes eintrat.

Nur wenige wussten, wer ich wirklich war.

Dass ich mich gegen ein gewöhnliches, angepasstes Durchschnittsleben entschieden hatte. Aufgehört hatte, es anderen recht zu machen, und begonnen hatte, mein eigenes Leben zu leben.

Und zwar auf ganzer Linie.

Ich hatte viel dafür geopfert und Grenzen überschritten, die nur wenige überschreiten würden. Doch um mich aus einem Leben voller Lügen zu befreien, war es notwendig gewesen.

Die wenigen Personen, die wussten, dass ich eigentlich eine Polizistin war, die mit einem Fuß auf der falschen Seite des Gesetzes stand, hatten allen Grund, dies für sich zu behalten.

Ich schaute an die Decke von Aimis Sprechzimmer. Stellte mir vor, was sie sagen würde, wenn sie wüsste, dass ich vor ein paar Monaten die Verurteilung eines Polizisten aufgrund einer Anzahl von Verbrechen erwirkt hatte, deren Drahtzieherin ich selbst gewesen war. Ob sie ihre Therapie dann anders gestalten würde? Es war keineswegs meine Absicht gewesen, diesen Mann ans Messer zu liefern, vielmehr mein letzter Ausweg. Er hatte angefangen, sich in meine Angelegenheiten einzumischen und mir aus Habgier das Leben schwer gemacht. Erst hinterher erfuhr ich, dass er mich hatte abhören lassen. Und während er versucht hatte, mehr Beweise gegen mich zu sammeln, war er selbst aufgrund dieser Verbrechen verhaftet worden.

Ich kam zwar in letzter Sekunde mit heiler Haut davon, wurde jedoch bald darauf mit seinen Forderungen konfrontiert. Als ihm klar wurde, um wie viel Geld es ging, beschloss er, die Sache nicht auffliegen zu lassen, sondern mich stattdessen zu erpressen. Ich war gezwungen, die Millionen, die ich im Zuge dieser Verbrechen erbeutet hatte, ihm zu überlassen. Für dieses Geld war er bereit, einige Jahre im Gefängnis zu verbringen. Er war der Auffassung, das Vertrauen der Polizeichefs ohnehin nie wieder zurückgewinnen zu können, und betrachtete seine Karriere innerhalb der Polizeibehörde als ruiniert, auch wenn er in Berufung gehen und schließlich auf freien Fuß gesetzt werden würde. Vermutlich hatte er recht. Innerhalb des Korps kursierte schon seit Langem das Gerücht, dass er nicht immer mit offenen Karten gespielt habe.

Es hatte mich fast um den Verstand gebracht, die Millionen wieder hergeben zu müssen. Für dieses Geld hatte ich eine Menge durchgemacht. Und mithilfe dieses Sümmchens wollte ich schließlich ein für alle Mal mein Leben verändern.

Doch indem ich Tränen darüber vergoss, würde ich sie auch nicht zurückbekommen.

Stattdessen hegte ich neue Pläne.

Die mir noch viel mehr Geld einbringen würden.

Das Einzige, was ich jetzt benötigte, war die Kraft, sie auszuführen.

Ich brauchte Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen, und Aimi war genau die Richtige dafür. Ich betrachtete sie. Therapeuten schienen im Allgemeinen nicht gern über sich selbst zu sprechen, sodass ich nur das über sie wusste, was ich aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbilds in sie hineininterpretierte. Ihr dunkelbraunes glattes Haar, ihr hellbrauner Hautton, ihr Name und die Ringe an ihrem linken Ringfinger ließen darauf schließen, dass sie um die fünfzig, japanischer Herkunft und mit einem schwedischen Mann verheiratet war.

Ich holte tief Luft und versuchte, das schwere Gewicht auf meinem Brustkorb fortzuschieben. Musste mich anstrengen, um die Worte hervorzubringen, insbesondere jetzt, wo ich Aimi von dem berichten wollte, was mich nachts mit Erstickungsanfällen kämpfen ließ. Ich schloss die Augen.

»Ich befinde mich in einer Kirche. Bin ganz in Schwarz gekleidet. Habe ein Stück Stoff vor dem Gesicht, das ich versuche zu entfernen, um etwas sehen zu können. Ich muss mich konzentrieren, um durch den Mittelgang vorwärtszugelangen. Setze

Ich sprach leise und gefasst. Gab mir Mühe, meinen Traum so deutlich wie möglich wiederzugeben.

»Die Bankreihen zu beiden Seiten von mir sind besetzt mit Menschen in schwarzen Kutten. Als ich an mir hinunterschaue, sehe ich, dass ich ebenfalls eine solche trage. Alle haben sich die Kapuzen über ihre Köpfe gezogen. Dann gelingt es mir endlich, meine abzusetzen und den Kopf zu drehen, damit ich die Leute in Augenschein nehmen und erkennen kann, wer sie sind, doch ihre Kapuzen machen es mir unmöglich. Alle stehen leicht schwankend da wie riesige schwarze Gespenster. Ich begreife nicht, warum ich dort bin. Irgendjemand muss gestorben sein, denke ich, doch ich weiß nicht, wer. Es nicht zu wissen, lässt mich fast verzweifeln.«

Obwohl ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann, berichtete ich weiter.

»Ich habe ein mulmiges Gefühl im Magen. Meine Beine sind schwer wie Blei. Ich höre Orgelmusik. Muss mich anstrengen, um ganz nach vorn zu gelangen, damit ich sehen kann, ob dort ein Sarg steht. Ich bewege mich wie in einem zähen Sirup, komme aber allmählich voran. Noch sieben Bankreihen. Nur noch sechs.«

Von diesem Traum hatte ich noch nie jemandem erzählt. Und jetzt, wo ich ihn schilderte, überkam mich die gleiche Beklemmung wie des Nachts, wenn ich ihn träumte.

»Wie auf ein Signal hin setzen sich alle. Es wird totenstill. Dann sehe ich ihn. Ganz vorne rechts vom Altar steht er. Ein kleiner weißer, glänzender Sarg. Zugleich dreht sich der Mann in der ersten Bankreihe zu mir um. Obwohl die Kapuze Teile seines Gesichts verdeckt, erkenne ich ihn. Es ist mein Ehemann. Sein Gesicht ist vom Weinen gerötet. Als ich näher komme, sehe ich, dass er unsere kleine fünfjährige Beatrice an der Hand hält. Sie sitzt

Ich schaute zu Aimi auf. Ihre Miene strahlte Freundlichkeit und Ruhe aus. Sie forderte mich auf weiterzureden.

»Ich wache davon auf, dass ich vor Panik fast ersticke. Ich bekomme keine Luft mehr. Als würde ich ertrinken. Und dann höre ich Benjamins Stimme.«

Es verging keine Nacht, in der ich nicht aufwachte und meinte, Benjamin weinen zu hören. Seine Hilferufe, wenn seine Bauchschmerzen zu stark wurden. Obwohl er tot war und nachts nicht mehr weinend aufwachen konnte, war es, als wollte er nicht loslassen. Oder aber ich wollte es nicht. Es tat weh, nichts mehr für ihn tun zu können. Und erst, wenn ich das Schlafzimmer schon fast verlassen hatte, fiel es mir wieder ein. Er war ja gar nicht mehr da.

»Der Traum ist furchtbar, aber noch viel furchtbarer ist es, wenn ich aufwache und merke, dass … dass es kein Traum ist. Dass er für immer weg ist. Mein Sohn war …«

Es fiel mir schwer, meine Gedanken in Worte zu fassen. Über ihn zu sprechen. Ich wollte es eigentlich nicht. Dennoch begriff ich, dass ich es musste.

»Er war mein Ein und Alles …«

Mir schossen Tränen in die Augen, nahmen mir die Sicht. Ich schloss die Augen, doch ich konnte die Tränen nicht aufhalten. Sie liefen mir über die Wangen hinunter auf meine schwarze Bluse. Ich hörte, wie Aimi das Päckchen mit den Papiertaschentüchern auf dem Tisch ergriff. Ich streckte meine Hand nach einem aus.

Ich nickte. Die Erinnerungen an das Krankenhaus in England waren noch immer lebendig. Wir warteten darauf, dass Benjamins komplizierte Darmtransplantation, die infolge seiner Morbus-Crohn-Erkrankung notwendig geworden war, endlich überstanden sein würde. Dass die Ärzte herauskommen und uns darüber informieren würden, dass alles gut verlaufen wäre, unser geliebter Sohn die Krankheit überleben würde, und wir bald wieder seine feine, helle Stimme hören könnten. Stattdessen sah ich den Arzt auf meinen Mann zugehen. Peter, mein stets so ausgeglichener, gut organisierter Ehemann, brach mitten auf dem Korridor zusammen. Der Arzt hatte ihm erklärt, dass sie alles getan hätten, was in ihrer Macht stand, Benjamins Leben aber dennoch nicht hatten retten können. Dort, wo ich stand, konnte ich seine Worte zwar nicht hören, doch Peters Reaktion sagte alles.

Mir schnürte es die Kehle zu. Ich wollte schreien, brachte aber kein Wort heraus. Bekam keine Luft mehr. Ein Rest von Vernunft sagte mir, dass ich auf den Arzt zugehen, mit ihm reden sollte, mich nicht zuletzt auch um Peter kümmern sollte, doch mein Körper gehorchte mir nicht. Ich bewegte mich wie in Trance, als ich mich rückwärts von Peter und dem Arzt entfernte. Ich musste aus dem Gebäude hinaus. An die frische Luft. Danach erinnerte ich mich nur noch daran, dass ich rannte. Und rannte. Bis meine Beine mich nicht länger trugen. Dann sackte ich zusammen und weinte hemmungslos.

»Wie war die Zeit danach für Peter und Sie?«, fragte Aimi.

Ich antwortete nicht gleich. Die Zeit danach hatte ich wie in einem Nebel erlebt. Die Tage waren konturlos ineinandergeflossen. Alexandra, meine neue Chefin, hatte mich in der darauffolgenden Woche gezwungen, mir freizunehmen. Ich selbst hatte Angst davor, was geschehen würde, wenn ich allein wäre. Damals

»Peter wollte die ganze Zeit über Benjamin reden«, antwortete ich schließlich. »Aber ich konnte es nicht. Konnte nicht einmal seinen Namen aussprechen. Es fiel mir zu schwer. Peter hatte mir ja schon vorher mitgeteilt, dass er sich scheiden lassen wollte, also bin ich ausgezogen. Ich versuchte, möglichst nicht an all das zu denken, was geschehen war. Für mich war es die einzige Chance, zu überleben.«

In gewisser Weise konnte man sagen, dass die Beziehung von Peter und mir nach meinem Auszug in ähnlicher Weise weiterlief. Wir kommunizierten ausschließlich wegen Beatrice miteinander. Unsere Ehe vermisste ich nicht. Während all der Jahre hatte ich mich bemüht, eine liebevolle Partnerin und eine gute Mutter zu sein. Doch zum Ende hin ähnelte unser Familienleben eher dem Führen eines Unternehmens. Es war ein ständiges Planen und Organisieren. Alle Gespräche zwischen Peter und mir handelten davon, wer von uns beiden die Kinder in die Kita bringen, sie wieder abholen und zu unterschiedlichen Aktivitäten fahren würde, wer Essen kochte, Gutenachtgeschichten vorlas oder Familienfeiern ausrichtete. Man konnte die Liste beliebig verlängern. Unser Alltag war nur noch eine Tretmühle, die am Laufen gehalten wurde.

Natürlich wurde genau dies von einem erwartet in unserer Gesellschaft.

Schon als Kind hatte ich gemerkt, dass es wichtig war, das zu tun, was von mir erwartet wurde. Solange ich es tat und nicht negativ auffiel, konnte ich überleben. Im Arbeitsleben wurde es dann etwas leichter, denn da kam ich niemandem persönlich nahe, doch mit Peter gestaltete es sich etwas komplizierter. Vor meiner eigenen Familie die Fassade aufrechtzuerhalten, war auf die Dauer

Zu diesem Zeitpunkt begann meine Reise in ein neues Leben.

Mir war bewusst, dass ich eine Wahl traf, die gegen alles verstieß, was man von einer Frau, Mutter und Polizistin erwartete. Doch ich weigerte mich, mich weiterhin von anderen beeinflussen zu lassen. Ließ es nicht länger zu, mir von ihnen vorschreiben zu lassen, wie ich zu leben hatte.

Ich ging meinen eigenen Weg, und die Komplizen, mit denen ich zusammengearbeitet hatte, konnten jetzt dank meiner ein besseres Leben führen. Einer von ihnen war ein krimineller Halbfinne, Vater von zwei Kindern, der mittlerweile zurück nach Finnland gegangen war, nun jedoch um einige Millionen reicher. Eine andere war Staatsanwältin, die nach unserer Zusammenarbeit ihre Kündigung bei der Staatsanwaltschaft City einreichen und sich an die französische Riviera absetzen konnte.

Ich war so nah dran gewesen, das zu erreichen, was mir vorschwebte, doch da ich meinen Teil des Geldes abtreten musste, war ich gezwungen gewesen, zurückzustecken und neue Pläne zu schmieden.

Wenn mir ohne Benjamin nicht alles so sinnlos vorgekommen wäre, hätte die Stille in meiner eigenen Wohnung es mir erleichtert. In meinem neuen Zuhause musste ich keine Rücksicht mehr auf Peter nehmen und niemandem gegenüber eine Fassade aufrechterhalten. Ich versuchte, für Beatrice da zu sein, kam aber dennoch nicht zur Ruhe und fand auch keinen Schlaf. Die Gedanken an Benjamin hielten mich jede Nacht wach.

Aimi beugte sich leicht in ihrem Sessel vor, schaute mir geradewegs in die Augen und fragte mit ruhiger Stimme:

Ich entzog mich ihrem Blick und schaute aus dem Fenster, während mir die Tränen erneut über die Wangen rannen. Ich hatte alles getan, um nicht trauern zu müssen. Um normal zu funktionieren. Meinen Job zu machen. Mir eine neue Wohnung zu suchen. Mich um Beatrice zu kümmern. Mit allen anderen Dingen zuvor hatte es funktioniert, einfach den Fokus zu ändern, wenn ich auf Widerstand stieß.

Doch diesbezüglich funktionierte es nicht.

Ich hatte Angst vor mir selbst. Begriff nicht, was mit mir geschah. Ich wusste es noch immer nicht. Deswegen war ich hier, bei Aimi.

»Was würde mit Ihnen geschehen, wenn Sie es zuließen?«, fragte sie.

Die Stille wurde vom Klingeln meines Handys durchbrochen. Es war Alexandra, meine Chefin. Ich drückte auf Annehmen, brachte jedoch kein Wort heraus.

»Leona, wo bist du? Du musst so schnell wie möglich herkommen.«

Ich erhob mich. Wischte mir rasch die Tränen weg. Erklärte Aimi, dass ich leider losmüsse. Ich hätte sowieso keine Kraft gehabt, noch länger zu bleiben. Ich benötigte Hilfe, um wieder stark zu werden und nicht noch schwächer. Aimi übte zwar oft einen beruhigenden Einfluss auf mich aus, aber es missfiel mir, dass ich mich manchmal nach einer Therapiestunde schlechter fühlte als vorher. Vielleicht lag es aber auch an der Tatsache, dass sie mich dazu brachte, überhaupt etwas zu empfinden. Ich hatte Angst davor. Wenn ich mich zu stark öffnete, würde ich in einem großen schwarzen Loch versinken, aus dem ich mich nie wieder befreien könnte.

Dorthin wollte ich nicht zurück.

Im Auto auf dem Rückweg von Aimis Praxis dachte ich über das Telefonat mit Alexandra nach. Ich hatte ihrem Tonfall entnommen, dass sie mir etwas Wichtiges mitteilen wollte.

Alexandra Risberg war meine neue Chefin und Abteilungsleiterin. Noch lautete ihre Amtsbezeichnung so. Nach dem Jahreswechsel würde innerhalb der Polizeibehörde die größte Umstrukturierung seit fünfzig Jahren stattfinden. Abteilungen würden danach nicht mehr Abteilungen genannt werden. Obwohl sie erst vor Kurzem eingestellt worden war, merkte man, dass sie Ambitionen hatte, innerhalb der Behörde weiter aufzusteigen.

Alexandra hatte mir nach Benjamins Tod erklärt, dass die Mittel für die psychologische Betreuung erst kürzlich aufgestockt worden waren, und sie hatte mir mehrmals empfohlen, einen der Beratungstermine wahrzunehmen. Doch ich hatte jedes Mal abgelehnt. Als ich ihr schließlich von meiner Entscheidung berichtete, mir privat eine Therapeutin zu suchen, bestärkte sie mich darin und ließ mich die Sitzungen innerhalb meiner Arbeitszeit absolvieren. Sie wusste also sehr wohl, dass ich gerade bei meiner Therapeutin war, als sie anrief, und dennoch bat sie mich, so schnell wie möglich ins Präsidium zu kommen.

Ich schaltete den Polizeifunk im Wagen aus und suchte in verschiedenen Kanälen nach etwas heiterer Musik, in der Hoffnung, meine Niedergeschlagenheit nach der Therapiesitzung abschütteln zu können. Nach diversen Sendern mit uninteressantem Geschwätz gab ich auf und schaltete P3 ein, wo eine Frau mit monotoner Stimme die Nachrichten verlas: »P3, Nachrichten. Der Selbstmordanschlag, der sich in der vergangenen Woche vor dem Reichstagsgebäude ereignete, hat, wie die Polizeibehörde jetzt bekannt gab, zu einem der größten Polizeieinsätze in der Geschichte der schwedischen Polizei geführt. So waren ein nationales Ein

Ich schaltete das Radio wieder aus. Ich konnte es nicht mehr hören. Die Medien hatten in der vergangenen Woche kaum noch ein anderes Thema gekannt. Man konnte nicht mehr den Fernseher oder das Radio einschalten, ins Internet schauen oder in einer Zeitung blättern, ohne mit Informationen und Diskussionsbeiträgen zu diesem Thema konfrontiert zu werden. Jeder Experte stellte eine neue Theorie auf, die erörtert werden musste. Auch im Präsidium wurde erregt über das Ereignis diskutiert. Meine Kollegen spekulierten darüber, ob die Sicherheitspolizei tatsächlich wusste, wie viele potenzielle Terroristen sich im Land aufhielten und ob sie richtig gehandelt hatte, als sie auf Anraten des Nationalen Zentrums zur Bewertung von Terrorgefahren die Terrorwarnstufe in Schweden heraufsetzte. Ich hielt mich aus derlei Diskussionen heraus. Das ganze Thema machte mir nur einmal mehr klar, wie satt ich das alles hatte.

Erst als ich vor einer roten Ampel auf dem Sveaväg anhielt, nahm ich den schwachen Geruch nach Rauch im Wagen wahr. Es dauerte nicht lange, um die Kippe, die auf dem Boden zu meinen Füßen lag, zu lokalisieren. Ich ließ die Seitenscheibe herunter und wollte sie gerade rausschnipsen, als ich draußen ein Kind weinen hörte.

»Mama, Mama.«

Eine Frau mit einem Jungen an der Hand ging so schnell den Gehweg entlang, dass der hinterhertrödelnde Junge aus dem Gleichgewicht geriet. Seine Beine trugen ihn einfach nicht mehr.

Der Junge war höchstens ein Jahr älter als Benjamin. Ich kannte diesen Stress nur allzu gut. Wenn ich selbst doch nur nicht so herumgehetzt wäre wie diese Frau. Wenn ich nur mehr Zeit zusammen mit meinem Sohn verbracht hätte.

Die Leute klagten immer über alle möglichen Belanglosigkeiten des Alltags, sahen jedoch nie das große Ganze dahinter. Oder wollten es vielleicht nicht sehen. Sie bissen lieber die Zähne zusammen und harrten weiter in ihrem sinnlosen, kleinkarierten Dasein aus, anstatt etwas dagegen zu unternehmen. Aber etwas zu verändern, kostete sie zu viel Überwindung.

Auch ich selbst hatte meine Gründe gehabt, so zu leben wie sie. Ich hatte nichts verändert, weil ich wusste, dass die Gesellschaft keine Abweichungen tolerierte. Sobald man von dem abwich, was als normal angesehen wurde, wurde man ausgestoßen. Als wertlos erachtet. Und dann konnte man sehen, wo man abblieb.

Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Frau auf dem Gehweg einsah, dass es keinen Sinn hatte, zu kämpfen, um dazuzugehören. Dass sie einen Kampf ausfocht, den sie unmöglich gewinnen konnte.

Denn bei diesem Kampf gab es nur Verlierer.

Jetzt war sie stehen geblieben, beugte sich zu ihrem Sohn hinunter und versuchte, ihn vom Boden wieder hochzuziehen, doch er wehrte sich. Er weigerte sich aufzustehen und schrie jetzt so laut, dass ich es deutlich hören konnte, obwohl ich das Fenster wieder geschlossen hatte. Vielleicht würde die Frau eines Tages zur Besinnung kommen und einsehen, dass jede Minute, die sie gemeinsam mit ihrem Sohn verbrachte, mehr wert war als der Grund für ihre jetzige Eile.

 

 

Oben in der Abteilung angekommen, ging ich geradewegs ins Pausenzimmer, goss mir ein Glas Wasser ein und spülte damit auf dem Weg zu Alexandras Büro eine Kopfschmerztablette hinunter. Alexandra telefonierte gerade, winkte mich jedoch herein, als sie mich durch die Glasscheibe zum Korridor erblickte. Ich trat ein und ging geradewegs zum Fenster. Abgesehen von ein paar Grünpflanzen sah der Raum noch genauso aus wie damals, als mein Exchef dort gesessen hatte. Einige Kollegen glaubten, dass es einen großen Unterschied machen würde, eine Frau als Chef zu haben. Claes war immer ziemlich schnell aufgebraust und oft laut geworden. Alexandra hingegen war ruhiger, aber im Gegensatz zu ihm auch weniger konfliktscheu.

Ich setzte mich auf einen Stuhl am runden Konferenztisch, bis sie zu Ende telefoniert hatte. Wie immer sprach sie in ruhigem Tonfall. Und dennoch verrieten die kleinen Fältchen auf ihrer ansonsten glatten braun gebrannten Stirn, dass ihr irgendetwas Sorgen bereitete. Schließlich legte sie auf und sah mich prüfend an.

»Schläfst du immer noch schlecht, Leona? Du siehst erschöpft aus.«

Ich zuckte mit den Achseln. Ja, ich schlief immer noch schlecht, aber ich hatte keine Lust, mich mit ihr über meinen Gesundheits

Ich goss mir Wasser aus der Karaffe ein, die auf dem Tisch stand, und nahm einen Schluck. Es schmeckte nach Eisen.

»Ich brauche dich für einen neuen Fall«, erklärte sie. »Sie haben unseren Mann mit der Bombe aus dem Koma geholt.«

Ich biss die Zähne aufeinander. Einen übleren Fall hätte man mir nicht aufbrummen können.

»Er liegt noch im Karolinska und weigert sich, mit der SÄK zu sprechen«, fuhr sie fort.

Kein Wunder, dass der Mann im Krankenhaus mit denen nicht sprechen will, dachte ich. »SÄK« war die intern benutzte Abkürzung für die Sicherheitspolizei, die offiziell als SÄPO bezeichnet wurde. Ein Bombenattentat wie dieses wurde als Gefährdung der Inneren Sicherheit aufgefasst und deswegen von den Kollegen der SÄK bearbeitet. Was ich damit zu tun haben sollte, begriff ich allerdings nicht ganz.

»Sowohl der Leitende Oberstaatsanwalt der länderübergreifenden Reichseinheit für Sicherheitsfragen als auch der Chef der SÄK haben von sich hören lassen. Außerdem habe ich gerade eben mit dem Chef der Kripo gesprochen. Sie fragten alle ausdrücklich nach dir«, fuhr sie fort.

Ich seufzte. Ich hatte eine Auszeichnung für den besten Ermittlereinsatz des vergangenen Jahres erhalten – eine mehr als fragwürdige Ehre, schließlich hatte ich einen Polizisten für ein Verbrechen hinter Gitter gebracht, dessen Drahtzieherin ich selbst war. Ärgerlich war aber vor allem, dass man mich jetzt gern mit »speziellen« Fällen bedachte. Früher hätte mich eine solche Herausforderung angespornt, doch jetzt benötigte ich die wenige Energie, die ich besaß, für andere Dinge als meine Arbeit.

»Aber Alexandra, dieser Fall ist gigantisch. Wenn wir uns damit befassen, müssen wir uns auf einen Ansturm der Medien gefasst machen, wie wir ihn selten erlebt haben. Ist es denn wirklich …«

»Das war keine Anfrage, Leona«, entgegnete sie. »Es ist bereits beschlossene Sache, dass wir die Vernehmungen des Tatverdächtigen durchführen. Ich weiß, dass du es im Augenblick nicht leicht hast, aber wir alle sind der festen Überzeugung, dass du die richtige Person für diesen Auftrag bist.«

Ich wusste, dass es viele Ermittler im DGV gab, die einiges dafür tun würden, um die Chance zu erhalten, diese Vernehmungen durchzuführen, aber mir brachte es in meiner jetzigen Situation nur Probleme ein.

»Den Verhandlungsführern ist es ja bekanntlich schon vor Ort

Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und warf einen Blick aufs Display. Nachdem sie diverse Tasten gedrückt hatte, schob sie es wieder zurück in die Tasche. Ich überflog mit einem Blick ihren Schreibtisch und den Konferenztisch.

»Und wo ist die Akte?«, fragte ich.

»Die Unterlagen bleiben bei der SÄK, da es sich um einen Terroranschlag handelt. Du brauchst den Mann nur zu vernehmen. Sonst nichts weiter.«

Jeder Polizist wusste, dass es nicht damit getan war, ihn einfach nur zu vernehmen. Bei einer Straftat dieses Ausmaßes wurde einem als Vernehmungsleiter viel abverlangt. Außerdem besaßen wir vom DGV nicht gerade viel Erfahrung in der Zusammenarbeit mit der Sicherheitspolizei.

Ich holte tief Luft.

»Meinst du damit etwa, dass sie uns nicht mehr Informationen zukommen lassen?«, fragte ich.

Die SÄK hielt nicht nur vor der Öffentlichkeit ermittlungsrelevante Fakten geheim, sondern auch vor uns anderen Polizisten. Alles war so geheim, dass es fast schon lächerlich war. Da sie mir nicht einmal die entsprechenden Unterlagen zur Verfügung stellten, um meine Arbeit sinnvoll ausführen zu können, war ich der Ansicht, dass sie den Job auch gleich selbst machen konnten. An Alexandras Stelle hätte ich nach einigen angemessenen Worten zum Chef der SÄK den Hörer aufgeknallt. Doch höchstwahrscheinlich saß ich genau deswegen auch nicht auf Alexandras Posten. Mich mit meinen Chefs auf guten Fuß zu stellen, gehörte nicht gerade zu meinen Stärken.

»Sie wollen, dass du ohne irgendwelche Vorbehalte hinfährst. Du weißt ja schon einiges über den Fall.«

»Und wie soll ich dann an die nötigen Informationen herankommen, etwa über die Medien?«

»Es ist, wie es ist«, sagte Alexandra nur und stand auf. »Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns mit den Arbeitsmethoden der SÄK abzufinden.«

Seitdem ich beschlossen hatte, mein Leben zu verändern, irritierten mich Sätze wie dieser zunehmend. Es ist, wie es ist – als stünde man wie ein passiver Betrachter vor einem zufälligen Geschehen. Mir war zwar durchaus bewusst, welche Höllenangst alle Beteiligten davor hatten, dass Informationen, die der Geheimhaltung unterlagen, durchsickern und an die Öffentlichkeit gelangen konnten, insbesondere in einem Fall wie diesem, aber das hier war wirklich absurd.

»Hier sind die Angaben zur Person des Mannes und die Treffer aus den Datenbanken«, sagte Alexandra. »Nimm Fredrik als Chauffeur mit, dann kannst du schon mal einen Blick in die … tja, eigentlich nur in die polizeiliche Anzeige werfen.«

»Aha, sie waren immerhin so entgegenkommend, dass sie die Anzeige rausgegeben haben? Wow!«, entgegnete ich.

Die polizeiliche Anzeige hätten wir natürlich auch selbst ausdrucken können, wenn sie denn irgendwelche Angaben zum Hintergrund des Mannes beinhaltet hätte.

»Es ist doch bereits Anklage gegen ihn erhoben worden, oder?«, fragte ich.

»Ich glaube schon, aber klär ihn trotzdem noch einmal darüber auf. Die korrekte Bezeichnung des Delikts steht drin. Es ist nur nicht ganz klar, ob er auch begriffen hat, was ihm mitgeteilt wurde.«

Ich schüttelte den Kopf. »Also Fredrik und ich? Er als stellvertretender Vernehmungsleiter?«.

»Wie bitte?«, unterbrach ich sie und starrte sie fassungslos an.

Sie erwiderte meinen Blick, ohne zu antworten.

»Hat der Chef der SÄK ausdrücklich gesagt, dass ich die Vernehmungen allein durchführen soll?«, vergewisserte ich mich.

Sie nickte.

»Sie wollen übrigens auch ein Meeting ansetzen, um gemeinsam mit dir die Fragen durchzugehen, die du dem Mann stellen sollst.«

»Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«, rief ich aus.

Das war ungewöhnlich. Bei einem Fall dieses Ausmaßes war es normalerweise ausgeschlossen, nur einen Vernehmungsleiter zu engagieren. Ich persönlich hatte zwar nichts dagegen, die Vernehmungen allein zu bestreiten, im Gegenteil, ich fand es sogar angenehm, doch es entsprach ganz und gar nicht dem gängigen Prozedere.

»Ich habe ihnen erklärt, dass du am liebsten allein arbeitest. Aber du filmst die Vernehmungen und schreibst zusammenfassende Vernehmungsprotokolle, die sie sich dann hinterher anschauen können.«

Ich dachte kurz nach. War es für sie etwa plötzlich in Ordnung, wenn jemand allein arbeiten wollte?

»Alexandra, wenn ihr euch alle einig seid, dass ich die richtige Person für die Vernehmung des Selbstmordattentäters bin, und wenn ihr wollt, dass ich es allein mache, dann gehe ich auch davon aus, dass ihr es mich auf meine Art machen lasst. Ich möchte nämlich nicht in endlosen Meetings mit irgendwelchen hohen Tieren von der SÄK sitzen, die mir vorschreiben, wie ich meinen Job zu machen habe.«

»Dann sieh zu, dass du die erste Vernehmung rasch hinter dich bringst«, sagte sie. »Fahr hoch und fühl ihm auf den Zahn. Und erstatte mir direkt danach Bericht.«

»Was ist eigentlich schiefgegangen?«, fragte ich. »Wie konnte er eine so heftige Explosion überleben?«

»Der Sprengstoffgürtel ist ihm unmittelbar vor der Detonation von der Hüfte gerutscht, was zur Folge hatte, dass ihm beide Beine abgerissen wurden. Nach Aussage des Rettungsdienstes war der Mann bei vollem Bewusstsein und hat noch versucht, wegzurobben, als sie eintrafen.«

Ich nickte. Dieser Fall würde meine gesamte Aufmerksamkeit beanspruchen. Dann fiel mir ein, dass ich Alexandra gegenüber fordern könnte, von meinen übrigen Aufgaben entbunden zu werden. Wenn ich den Fall komplett hätte übernehmen sollen, wäre es eine Selbstverständlichkeit gewesen, sich nebenbei nicht noch mit anderen Dingen befassen zu müssen. Doch ich sollte den Fall offensichtlich nicht komplett übernehmen, sondern nur die Vernehmungen durchführen. Ich wollte dennoch einen Versuch unternehmen.

»Hör mal …«, begann ich, »was meine übrigen Fälle betrifft. Es wird nicht ganz leicht werden, alles unter einen Hut zu bekommen.«

Alexandra musterte mich mit gerunzelter Stirn. Sie konnte mich anstarren, solange sie wollte. Wenn sie und die Leute von der SÄK sich in den Kopf gesetzt hatten, dass ich als einzige Ermittlerin in der ganzen Stadt … ach was, im ganzen Land in der Lage wäre, die Vernehmungen mit dem Selbstmordattentäter durchzuführen, und sie außerdem noch der Auffassung waren, dass ich es allein tun sollte, konnte ich meinerseits auch gewisse Forderungen stellen. Ich würde nämlich gezwungen sein, abende- und nächtelang vor den auf Video aufgezeichneten Vernehm

»Wenn ich es schaffen soll, möchte ich dich bitten, meine übrigen Fälle jemand anderem zu übergeben«, sagte ich und schaute Alexandra herausfordernd an.

Sie seufzte. Chefs hassten es, Fälle umzuverteilen. Obwohl man als Ermittler heutzutage alle Arbeitsschritte, die man tätigte, sorgfältig dokumentierte, gab es immer einen gewissen Informationsverlust, wenn der für den Fall zuständige Ermittler wechselte.

Schließlich nickte Alexandra, hob jedoch warnend den Zeigefinger.

»Glaub aber ja nicht, dass du einfach abtauchen kannst, Leona. Du bist immer noch eine Mitarbeiterin dieser Abteilung. Sorg dafür, dass du zu unseren Meetings erscheinst und dich auch um deine übrigen Angelegenheiten kümmerst.«

Ich nickte.

»Die Vorträge, die in deinem Terminplan stehen, hältst du trotzdem. Ausflüchte irgendwelcher Art akzeptiere ich nicht«, erklärte sie.

Schon als frisch examinierte Polizistin hatte man in der Polizeibehörde bemerkt, dass ich nicht nur eine schnelle Auffassungsgabe besaß, sondern auch »die Fähigkeit zur pädagogischen Wissensvermittlung«, wie meine Vorgesetzten sich ausdrückten. Die Informationsweitergabe innerhalb der eigenen Reihen gehörte zu den großen Schwachstellen der Polizeibehörde. Aus diesem Grund war ich im Lauf der Jahre immer wieder zu Konferenzen und wichtigen Meetings im ganzen Land geschickt worden, um Vorträge zu halten. Natürlich bekam ich dafür keinen Gehaltsaufschlag, nein, dies zählte selbstverständlich zu den Arbeitsaufgaben eines Polizisten. Lehnte man einen Auftrag wie diesen ab, wurde man als reformfeindlicher Mitarbeiter eingestuft, der sich der Weiterentwicklung der Polizeibehörde widersetzte. Innerhalb

»Okay«, fuhr Alexandra fort. »Gib mir die Unterlagen deiner Fälle, dann verteile ich sie auf die anderen Ermittler.«

Ich ging zur Tür.

»Leona«, fügte Alexandra hinzu, »wie du bestimmt verstehst, sind die Erwartungen hoch, dass dieser Fall rasch gelöst wird, auch international. Wir zählen auf dich.«

Als ich Alexandras Zimmer verließ und in Richtung der Aufzüge ging, spürte ich ein Vibrieren in meiner Hosentasche. Doch ich hatte im Augenblick weder die Lust noch die Kraft, auf mein Handy zu schauen. Ich wusste sowieso schon, worum es ging. Es war eine SMS von einem französischen Banker namens Armand, den ich vor einiger Zeit in Sachen Geldwäsche angeheuert hatte. Damals hatte der Halbfinne Ronni, mein Komplize bei den vorherigen Verbrechen, den Kontakt zu ihm hergestellt. Armand, der schon seit vielen Jahren Kreditvergabe, Geldeintreibung und Geldwäsche für Kriminelle betrieb, war in der Szene wohlbekannt. Inzwischen konnte er sich seine Aufträge nach Belieben aussuchen. Er war ein schrecklich hartnäckiger Mensch. Ich hatte ihn angeheuert, um das Geld reinzuwaschen, das ich im Zuge dieser Verbrechen eingenommen hatte. Dafür sollte er fünf Prozent der Gesamtsumme erhalten. Schon in einem frühen Stadium hatte er angefangen, mich zu kontrollieren. Er hatte verlangt, dass ich ihn per SMS regelmäßig auf dem Laufenden hielt, um sicherzugehen, dass auch alles nach Plan verlief.

Ich war ihm nur ein paarmal persönlich begegnet. Er erschien immer im Anzug und war übertrieben höflich. Mir war jedoch auch zu Ohren gekommen, dass er ein Mensch war, den man sich nur ungern zum Feind machte. In der Szene kursierten Gerüchte

Unserer Übereinkunft zufolge hätte ich ihm die gesamte Summe zum Zweck der Geldwäsche aushändigen müssen, sobald das letzte Verbrechen durchgeführt worden war. Danach würde er die ihm zustehenden 150000 Euro abziehen. Doch ich hatte natürlich nicht damit gerechnet, dass ich mein gesamtes Geld im Zuge einer Erpressung verlieren würde. Als ich versuchte, Armand meine Situation zu erklären, bedachte er mich mit einem unangenehmen eiskalten Blick. Dann blinzelte er und bat mich in seinem korrekten Englisch mit französischem Akzent, meine Ausführungen noch einmal zu wiederholen. Denn er habe gerade verstanden, dass ich das Geld nicht mehr besäße! Was ja wohl kaum angehen könne. Nein, er sei ganz sicher, sich verhört zu haben.

Dieser Mann besaß die Fähigkeit, selbst mich nervös zu machen.

Erst nachdem ich ihm gesteckt hatte, dass ich einen weiteren großen Coup plante, blitzte in seinem Blick etwas auf. Als erfahrener Banker begriff er sofort, worum es ging. Sehr hohe Beträge in unterschiedlichen Währungen. Ich würde also in Zukunft noch weitaus mehr Bedarf an Transaktionen und Geldwäsche haben. Sicherheitshalber hatte ich ihm jedoch weder den genauen Zeitpunkt noch meine geplante Vorgehensweise verraten.

Danach hatte er mehrere Wochen stillgehalten. Doch nun hatte er wieder von sich hören lassen. Mit einer erneuten Geldforderung.

Während ich auf den Aufzug wartete, massierte ich meine Schläfen und versuchte so, meine Kopfschmerzen zu lindern. Als hätte ich nicht schon genug Probleme, hatte ich gerade ein weiteres hinzubekommen.

Alexandra und alle Chefs der Polizeibehörde würden mir wie die Aasgeier im Nacken sitzen und meine Arbeit beobachten. Hinzu kämen noch die Sicherheitsdienste anderer Länder und Europol. Die schwedischen und ausländischen Medien würden sich ebenfalls auf mich stürzen und mir Fragen stellen.

Im Aufzug lehnte ich mich an die Wand und musste erst einmal tief ausatmen.

Irgendwie würde ich versuchen müssen, mich aus diesem Auftrag herauszuwinden.

Drei

David Lind starrte auf den Bildschirm des Fernsehers hinter dem Mann, der ihm im Café gegenübersaß. In den Nachrichten zeigten sie gerade Bilder vom Reichstagsgebäude und von Polizisten, die davor entlangpatrouillierten. Dann erfolgte ein Schnitt rüber zu den Sicherheitsschleusen und Metalldetektoren, die man eigens für den Besucherstrom installiert hatte. David seufzte. Nicht nur, dass gerade ein Bulle vor ihm saß, nein, seit letzter Woche wimmelte es in der ganzen Stadt nur so von Polizisten. Überall hörte man die Leute davon reden, dass jeden Augenblick irgendwelche Terroristen zuschlagen könnten.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. In vierzig Minuten müsste er fertig umgezogen und kampfbereit im Boxring stehen.

»Ich muss los. Zum Training«, erklärte er.

Sven Malmström, der ihm gegenübersaß, schaute hinunter auf sein Handgelenk, als wollte er sichergehen, dass David die Wahrheit sagte und es tatsächlich Zeit für sein Boxtraining war.

»Wir sind uns einig?«, fragte Sven.

David zuckte mit den Achseln. Hab ich denn irgendeine Wahl?,

Sven öffnete seine verschlissene Aktentasche und nahm ein Handy heraus, das er vor David auf die dunkelbraune Platte des Kaffeehaustisches legte. Das neueste iPhone. David starrte darauf.

»Ich brauch Geld und kein neues Handy.«

»Geben Sie mir Ihr altes«, forderte Sven ihn auf und streckte seine Hand aus.

David kapierte nicht, was Sven vorhatte.

»Ich hab all meine Kontakte da drin«, erklärte David.

Svens Hand war noch immer in Davids Richtung ausgestreckt.

»Wie zum Teufel soll ich jemanden erreichen?«, fragte David. »Und wer soll rangehen, wenn jemand von der Blood Family anruft? Sie etwa?«

»Es handelt sich nur um einen kurzen Check«, erklärte Sven.

»Manchmal gehen Sie mir gehörig auf die Nerven, wissen Sie das eigentlich? Trauen Sie mir immer noch nicht über den Weg?«, fragte David und steckte seine Hand in die Hosentasche seiner