Über dieses Buch:
Felix Gidden schlägt sich mit kleinen Betrügereien gerade so durch. Doch dann wirft eine simple Verwechslung sein bisheriges Leben völlig aus der Bahn. Der eigentlich harmlose Gauner und Betrüger wird versehentlich in Machenschaften hineingezogen, die ihm schnell über den Kopf wachsen. Er muss beweisen, dass er nicht der ist, für den er gehalten wird. Seine rasante Reise führt ihn in die Türkei und zu einem Mann, der ihn die Kunst des professionellen Lügens lehrt. Das perfekte Spiel beginnt …
»Mit Thomas Manns Figur Felix Krull hat Gidden zwar mehr als nur den Vornamen gemein, doch erinnert er ebenso an Patricia Highsmiths talentierten Mr. Ripley. Eine abenteuerliche, süffig erzählte Lebensreise.« FAZ
Über den Autor:
Herbert Genzmer, geboren 1952 in Krefeld, studierte Kunstgeschichte, Linguistik und Anglistik und promovierte zum Thema Lügenstrategien. Genzmer lebte zeitweilig in Berlin, Singapur, Karlsruhe, München, als Dozent in Berkeley und bis 2013 als Gastprofessor in Georgetown, Texas. Inzwischen hat er mehr als 30 Bücher unterschiedlicher Genres veröffentlicht – Romane, Kurzgeschichten sowie Sachbücher – und ist außerdem als freier Übersetzter tätig. Heute lebt Herbert Genzmer in Berlin und Spanien.
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Aktualisierte Neuausgabe April 2016
Copyright © der Originalausgabe 2012 Berlin University Press
Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Maria Seidel
Titelbildabbildung: Thinkstockphoto/teddybearpicnic; ghoststone
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-402-3
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Herbert Genzmer
Das perfekte Spiel
Roman
dotbooks.
Also, wer erwartet, dass in der Welt die Teufel mit Hörnern und die Narren mit Schellen einhergehn, wird stets ihre Beute, oder ihr Spiel sein.
Arthur Schopenhauer
You can't lose. If you do not play.
But you can't win either.
David Simon. The Wire
»Wir waren alle unglaublich heiß damals, jung, schnell, mit uns konnte keiner, wir kannten alle Tricks ... an dem Morgen damals hatte ich noch eine Sache mit Zürich abgemacht, und am Mittag war ich mit einem Partner zum Essen verabredet, steige also aus der Straßenbahn und will gerade über die Königsallee, als ich ihn sehe: Guardiola, der, mit dem zusammen ich die Abwicklung der Hamburggeschichte gerissen hatte ... sein Vorname liegt mir auf der Zunge ... fantastischer Kartenspieler, ungeschlagen, immer wie aus dem Ei gepellt, dunkle Haare, glatt nach hinten gekämmt, frische Gesichtsfarbe, sprühende Augen, strotzt vor Gesundheit, hat nie schlechte Laune, denn gute Laune ist sein Programm ... also, er sieht mich auch und kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und schüttelt mir mit der Rechten auf seine überschwängliche Weise fest die Hand, während er mit der Linken meinen Arm am Ellbogen greift. Sie hätten ihn kennenlernen sollen, diesen Guardiola. Das war einer. Da kommen immer zwei Hände auf einen zu, wenn er einen begrüßt, und am Ende muss man nachschauen, ob man noch alles hat. Der hat flinke Hände, und beim Sprechen berührt er einen überall, fasst hier an, packt dort zu, presst links, unvermittelt schließt er einen in die Arme, lacht immer – fast zu viel, um als ehrlich durchgehen zu können –, aber wenn er redet, leuchten seine Augen vor Begeisterung ... begnadeter Spieler, sagenhafter Verkäufer ... wickelt jeden ein, der nicht schnell genug den Absprung schafft ... Verdammt! Ich werde alt, mein Guter, der Vorname fällt mir partout nicht ein ... Guardiola gibt immer die Karten, die er will. Mit dem darf man sich nie auf ein Spiel einlassen, der kann gar nicht anders. ›Glückwunsch!‹, sagt er. ›Das müssen wir unbedingt feiern, da kommt eine große Gelegenheit auf uns zu‹, er lacht auf seine gewinnend hinterhältige Art und lässt mich keine Sekunde los, bis er schließlich einen Schritt zurücktritt, so auf die Art: Lass dich mal richtig ansehn!, sich schräg nach hinten lehnt, um mehr Abstand zu kriegen, und sagt: ›Sagenhafter Anzug, sensationeller Mantel! Wo hast du die Krawatte gekauft? Superelegant!‹ Dann schaut er mir ins Gesicht, dann auf meine Haare und stöhnt: ›So willst du doch bitte nicht zum Essen gehen!‹ Ich schaue an mir runter, denke noch, ich hätte mich irgendwie beschmutzt oder mein Hosenstall steht offen oder so was, als er schon auf meinen Kopf zeigt und meint, ich müsse unbedingt meine Haare schneiden lassen. Er dehnt das Unbedingt mit dieser unschlagbaren Dringlichkeit in die Länge, die nur ihm so spielerisch gelingt, als ginge es um Leben und Tod. So könnte ich mich da nicht blicken lassen, tönt er, sonst würde ich bei denen nie den Fuß in die Tür kriegen. ›Wo geh'n wir überhaupt essen?‹
Guardiola will immer alles wissen.
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Ich will gerade antworten, da zieht er mich schon am Arm mit sich weg. Als ich dann zurückschieße, es gäbe in der Gegend keinen gescheiten Barbier, bleibt er auf seine dramatische Art stehen ... löst aber seinen Griff keine Sekunde von meinem Oberarm ... und wiederholt das Wort Barbier, als hätte ich ihm gerade eine ehrliche Wette vorgeschlagen. ›Barbier‹, flüstert er wie zu sich selbst, schüttelt den Kopf, und dann fast beleidigt: ›Ich hätte nicht gedacht, du gehst zu Barbieren.‹ Dabei dehnt er das –ie– so übertrieben affektiert und skandalös laut in die Länge, dass ich schon keine Zweifel mehr daran hege, er ist ... aber er schiebt mich um die Ecke und ohne Umwege auf einen Damensalon zu. ›Barbier!‹, wiederholt er noch einmal, als wir den Laden betreten, und schüttelt sich angewidert. Ich habe gar keine Zeit, darüber nachzudenken, wo ich gelandet bin und was er eigentlich vorhat, als er mich schon aus dem Vestibül in einen angrenzenden Raum schiebt, wo eine junge Frau auf mich zukommt, mir Mantel und Hut abnimmt, und er mich in einen der Sessel drückt. Seit ich ein kleiner Junge war, bin ich nicht mehr in einem Friseursalon gewesen. Meine Oma hatte mich immer mitgenommen, und ich durfte an den Flakons und Cremetiegeln riechen, während sie die Haare gemacht bekam. Also, ich sauge das Aroma des Orts tief in mich ein, und alle Erinnerungen steigen duftend in mir auf, und ich schaue mich um, da betritt eine umwerfend attraktive Frau, älter, bestimmt schon Ende 20 – die Chefin – den Raum durch einen schweren burgunderroten Vorhang, und Guardiola geht auf sie zu und begrüßt sie, wie er zuvor mich begrüßt hat, mit diesem unbändigen Elan. Dann zeigt er auf mich und erklärt mit großen Worten, warum wir hier sind und was mit mir zu geschehen hat. Natürlich spricht er auf seine ihm ganz eigene Art und lässt mich um ein Haar schlecht wegkommen, das ist auch typisch Guardiola, du bist am Ende immer ein klein bisschen so wie ein Hinterwäldler oder ein Junge aus dem Waisenhaus, der ich ja tatsächlich einmal war. Selbstverständlich erwähnt er das ihm unsägliche Wort Barbier, spricht es aus, als sagte er etwas Unanständiges, und erklärt, warum wir hier sind. Irgendwie glaube ich, er tat das nie absichtlich, er war einfach so. Ich will natürlich aus meinem Sessel aufstehen, aber er schiebt mich zurück und stellt mir die Dame vor: ›Aysha Arkassajan, das ist Felix Gidden‹, flötet er. Natürlich wehre ich mich und stehe gegen seinen Widerstand auf, begrüße sie, spiele aber Guardiolas Spiel mit – das tun wir alle immer – und bin ganz der Ungelenke, der, der fast gegen seinen Willen vom Freund an diesen Ort geschleppt worden, aber schon nach wenigen Minuten von der Atmosphäre derart eingenommen ist, dass er es kaum erwarten kann, sich ihren fachkundigen Händen zu überlassen. Sie wirft ihren Kopf in den Nacken, und ihre zum Bubischnitt getrimmten rotbraunen Haare wippen aus der Stirn, und sie gibt mir eine schmale Hand. ›So gefällst du mir schon besser‹, lacht Guardiola aus dem Hintergrund und verabschiedet sich winkend: ›In Eile‹, tönt er. ›Unaufschiebbare Termine‹, tutet er. Er wirft der Dame eine Kusshand zu, nachdem er ihr noch mit sprühenden Augen etwas ins Ohr geflüstert, losgeprustet und dann laut in den Raum gerufen hat, sie solle etwas aus mir machen, heute sei ein großer Tag für mich, ich wisse es bloß noch nicht. Dann zu mir: ›Wir sehen uns später!‹, und weg ist er.
Ein stürmischer Mensch, dieser Guardiola.
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Sie fragen sich wahrscheinlich, warum ich Ihnen das erzähle, das sehe ich an Ihrem Gesicht, Herr Doktor. Geduld, Sie werden es gleich verstehen, denn es ist der Grund, warum alles kam, wie es kam, und ich damals in die Türkei ging. Begreifen Sie mal eins: Wenn Sie mich verstehen wollen, müssen Sie meine Geschichte kennen und wissen, wie ich zu dem wurde, der ich war, denn was ich heute bin«, er lacht, und ein Hustenanfall schüttelt ihn, »ist kaum noch der Rede wert. An dem Wrack ist wirklich keiner mehr interessiert.
Aysha Arkassajan, die Besitzerin des Salons, eine Schönheit. Armenische Türkin ... Aysha ... stellen Sie sie sich vor, in ihrem wundervoll offenen Gesicht mit seiner samtenen Haut, dessen Züge wie gemeißelt wirken, so ebenmäßig sind sie, liegen von seidenen Wimpern umflorte fast schwarze Augen. Ich sehe nichts anderes als diese bodenlosen Augen, vor denen ihre glatten, schweren Haare wie ein Vorhang hin und her fließen. Diese Augen sind so tief, dass mir schwindlig wird, als sie mich anschaut, und ich wie von einem Strudel hineingesogen werde. Ein bisschen wie Ihre Augen übrigens, die ja auch ungewöhnlich dunkel sind und diesen besonderen Glanz haben. Besonders hier in Deutschland. Das muss Ihnen nicht unangenehm sein, Herr Doktor, das ist so. Sie haben ungewöhnlich schöne und auch dunkle Augen für dieses Land der Blauäugigen. Sehen Sie mich an! Kornblumenblau. Immer schon. Doch Aysha ... selbstsicher sagt sie mit ihrem betörenden Akzent: Krawatte und Hemd ablegen, Kittel anziehen. Danach die Anweisungen an das Mädchen: Haare waschen, Hände in lauwarmes Seifenwasser legen, anschließend mit der Maniküre beginnen, Dampfstrahler für die Tiefenreinigung der Haut vorbereiten – fast bekomme ich einen Schreck. Wer soll das alles zahlen, frage ich mich auch. Ich will mich noch gegen all diese Anwendungen wehren, schütze wenig Zeit, dringende Termine vor, aber sie geht gar nicht darauf ein, hört mir, wie es scheint, nicht einmal zu. Ich bin in einer Art Separee, und weder sehen mich andere Kundinnen, noch sehe oder höre ich jemanden, also beginne ich zu entspannen und lasse alles mit mir geschehen, giere nur ... das merke ich deutlich, immer wieder dem Moment entgegen, wenn sie kommt und letzte Hand anlegt oder kurz anordnet, wie alles gemacht werden soll. Als ich endlich mit glühendem Gesicht und tropfnassen Haaren mit einem Handtuch als Turban auf meinem Sessel sitze und so locker bin, wie ich mich in jenen Jahren selten gefühlt habe, kommt sie und beginnt, mir die Haare zu schneiden. Sie bewegt sich wie in einem Tanz um mich, schneidet mit einer winzigen Schere und prüft immer nach ein paar Schnitten die Länge der Haare, vergleicht die linke mit der rechten Seite und steht dabei so dicht, dass mich ihr Duft berauscht. Ich könnte ewig so sitzen und mich von ihr berühren lassen. Natürlich gibt es keine Anzüglichkeiten, das versteht sich von selbst, keine auch nur im Entferntesten als persönlich zu wertenden Gesten oder Berührungen. Als sie mich bittet, die Augen zu schließen, und anfängt, mit behutsamen Bewegungen einzelne, lange Haare aus meinen Brauen zu klippen und ich also nichts mehr sehe und mich rein dem Fühlen und Riechen überlasse, muss ich einen derart entkrampften und so blödsinnigen Gesichtsausdruck gemacht haben, dass sie plötzlich laut auflacht und gleichzeitig einen Fußhebel betätigt, der die Rückenlehne des Sessels mit Schwung nach hinten kippen lässt. Für einen fast schmerzhaft langen Augenblick schaut sie mir jetzt in die Augen, bis ich wie aufgelöst bin, wie hypnotisiert, dann berührt sie mit einem spitzen Zeigefinger meine Oberlippe als Zeichen, ich solle schweigen, denn natürlich will ich etwas sagen, und noch bevor ich reagieren kann, ist sie wieder weg, nachdem sie noch die Anweisung gegeben hat, mir eine Maske aus Gurkenmus aufzulegen. Ich schließe die Augen und lasse das Mädchen machen, das mir eine weiche, lauwarme Masse auf Gesicht und Hals streicht. Ich habe jedes Gefühl für Ort und Zeit verloren und fühle mich wie in einem Traum, denn ich habe mich, das schwöre ich, verliebt wie im Leben noch nie.
Mit dieser Frau hatte mich die Türkei tief in meiner Seele berührt, ja, meine längst verschüttete türkische Seele wieder zum Leben erweckt. Ich habe meine Mutter nicht gekannt, denn sie starb, als ich viel zu klein war, aber da war sie, da spürte ich meine türkische Mutter, und mit Gewalt wallte dieses türkische Blut auf wie der Bosporus, der in jener sagenhaften Stadt die beiden Kontinente voneinander trennt und sie auf seine magische Weise gleichzeitig eint. Nie wurde ich tiefer getroffen.
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Das Mädchen ist emsig und bewegt sich durch den Raum, und ich liege da und träume, als ich Flüstern höre. Natürlich denke ich mir nichts dabei. Wozu auch. Dass es Männerstimmen sind, die hier flüstern, dass es zwei Männer sind und dass sie unmittelbar an meinem Sessel stehen, wird mir erst klar, als der erste Schlag mein rechtes Knie trifft. Mit lautem Schrei fahre ich hoch, werde aber gepackt und zurück nach unten gepresst und festgehalten. Mein gesamter Körper geht in Flammen auf. Sehen kann ich nichts, das Mus ist in meine Augen gedrungen. Da schlägt mir einer der Männer kurz und hart in den Magen, dass ich minutenlang keine Luft mehr kriege, schon packt mich einer an den Haaren, reißt daran und beginnt, mich anzuschreien: ›Hör jetzt gut zu, ich sage alles nur einmal‹, brüllt er und kommt so dicht an mein Gesicht, dass ich von seinem fauligen Mundgeruch angehaucht werde. Der Mann hat einen ausländischen Akzent, den ich aber nicht erkenne. ›Du hast etwas, das dir nicht gehört. Doch der, dem es gehört, Selçuk Efendi, ist großzügig und lässt dir eine Woche, es ihm zu bringen, oder ... ‹, er lässt die Drohung in der Luft hängen. Ich habe keine Ahnung, wovon die beiden reden. ›Sie haben den falschen Mann: Das ist ein Irrtum! Eine Verwechslung!‹ Ob mein Name nicht Gidden sei, fragt der eine. ›Natürlich bin ich Gidden, aber ...‹ Klar, sie lassen mich nicht ausreden. ›Gidden‹, tönt jetzt auch der andere: ›Als Gidden bist du allein verantwortlich.‹ Er ist wieder ganz nah an mein Gesicht gekommen. ›Deine Frau Barbara hat in Selçuk Efendis Kasino auf Büyükada Spielschulden gemacht.‹ ›Meine Frau! Büyükada?,‹ schreie ich und habe keine Ahnung, wovon er redet. ›Mensch, ich bin ja gar nicht verheiratet‹, versichere ich, hebe meine Hand und zeige auf den unberingten Finger. Die beiden lachen. Barbara Gidden sei vor drei Wochen in Istanbul gewesen und mit Selçuk Efendis Jacht auf die Prinzeninseln gefahren, um in seinem privaten Kasino auf Büyükada zu spielen. Sie habe ihr Geld verspielt, und Selçuk Efendi habe ihr Kredit für weitere Spiele gewährt, bis das Limit bei weitem überschritten war. Fast winsele ich, als ich abermals versichere, ich sei nie verheiratet gewesen, kenne keine Barbara Gidden und hätte überhaupt kein Geld. ›Ich hab doch überhaupt kein Geld‹, jammere ich. ›Schau mich doch mal an, Mann! Ich bin doch viel zu jung, um verheiratet zu sein. Ihr braucht euch doch nur meinen Pass anzusehen. Mensch, seid doch um Himmels willen vernünftig!‹ Sie zögern einen Augenblick, das spüre ich, schauen sich wohl an – ich sehe ja nichts mit diesem Mus in meinen Augen –, da schlägt mir erneut einer in den Magen, dass mir alles hochkommt. ›Halt uns nicht für dumm‹, blafft der Schläger mich an. ›Eine Woche‹, wiederholt er. ›Irrtum‹, schreie ich hilflos, ›es handelt sich um eine Verwechslung! Ich bin nicht verheiratet, kenne keine Barbara Gidden, kenne keinen Selçuk Efendi und schulde ihm nichts. Keine Ahnung, wovon ihr redet, habe noch nie von einem Selçuk gehört, auch nicht von einer Barbara Gidden. Ich bin doch gerade mal 23‹, winsele ich. Ich spüre wieder, wie die beiden zögern, aber die haben klare Anweisungen, das merke ich genau. Die wickel ich nicht ein. Aber da sie schweigen, rede ich weiter und versuch's trotzdem: ›Ich bin noch nie in diesem Salon gewesen, stöhne ich, heute zum allerersten Mal, habe doch nichts, weiß ja nicht mal, wovon ihr redet.‹ Diesmal schlägt mir der andere mit einem kurzen ledernen Totschläger – das sehe ich durch den Nebel in meinen Augen – auf dasselbe Knie. Ich heule auf. Ihnen muss das leichte Hinken aufgefallen sein, wenn ich gehe. Heute spielt es keine Rolle mehr, oder es ist mein geringstes Problem. Was meinen Sie? Aber mein leises Hinken war ein Gebrechen, das sage ich nur ganz nebenbei, das bei den Frauen nie auf Abneigung stieß. Im Gegenteil, Herr Doktor, im Gegenteil. Den Frauen gefällt so was. Da nimmt der andere, das sehe ich verschwommen, meinen neuen Mantel, wirft seinem Kumpanen mein Sakko zu, beide Stücke hatte ich mir gerade von meinem letzten Geld gekauft, und sie reißen beide Teile vollkommen kaputt, werfen die Fetzen zu Boden und trampeln auch noch darauf herum. ›Eine Woche!‹, brüllt er mir ins Ohr und schlägt mir zum Abschluss mitten ins Gesicht, dass meine Nase krachend bricht. ›Das nächste Mal gehen wir nicht so behutsam mit dir um‹, sagt er noch, und weg sind sie.
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Gonzalo Guardiola, da ist er, jetzt fällt mir sein Vorname ein ... als Nächstes sehe ich in Ayshas hypnotisierende Augen. Sie betrachtet mich. Das Mädchen flennt im Hintergrund. Schon kommen Ayshas Anordnungen, mich zu säubern, die Maske zu entfernen, meine Augen auszuspülen. Sie selbst kümmert sich dann um mein Gesicht, und ich spüre, wie ihre Finger meine Nase abtasten, bis sie sagt: ›Tief Luft holen!‹, und bevor ich noch weiß, was passiert – obwohl ich es ahne –, drückt sie den gebrochenen Knochen meiner Nase mit Daumen und Zeigefinger in seine ursprüngliche Position, und abermals rüttelt ein Schmerz durch meinen Körper, dass ich mich aufbäume und vollkommen erschöpft zurücksinke und spüre, wie eine Träne über meine Wange rinnt. Da fasst sie mein Gesicht mit beiden Händen, je eine kühle, glatte Handfläche auf jeder glühenden Wange, presst es sacht zusammen und flüstert: ›Sie wissen gar nicht, wie leid mir das tut.‹ Dann richtet sie sich auf und hat einen anderen Ausdruck im Blick und haucht: ›Aber wer weiß ...‹ Lächelt. Schweigt. Und lässt diese Frage, die gar keine Frage ist, mitten im Raum stehen, und mein Leben lang wird sie mir niemand mehr beantworten ... und mein Leben lang bin ich nichts anderem hinterhergejagt als einer Antwort auf diese Frage, die gar keine war. Und natürlich dieser Frau.« Er lächelt schwermütig.
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»Schon wischt Aysha mir Blut von Hals und Gesicht, und als ich frage, ob sie meine, Guardiola könne etwas damit zu tun haben, schüttelt sie den Kopf und sagt, das seien Türken gewesen. Ich verstehe den Zusammenhang nicht, schweige aber, denn ich spüre, wie sehr mir dieser Überfall jetzt zusetzt. Gleichzeitig muss ich handeln, es muss etwas geschehen. Mein Kopf rast. Das ist eine Verwechslung. Die muss ich aufklären. Mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen, die trachten mir nach dem Leben.
Als ich aufstehe, knickt mein Knie weg und ich stürze zu Boden. Aysha hilft mir auf, und ich setze mich zurück in den Sessel. Sie habe einen Arzt gerufen, sagt sie, er müsse jeden Moment hier sein. Aber ich winke nur ab.
Es ist nur logisch, dass mir der Gedanke kommt, Guardiola hätte etwas damit zu tun. Warum? Damit ich was abkriege, was für ihn bestimmt ist. Guardiola ist so. Mein Kopf rast. Das ist nie gut, man muss immer einen kühlen Kopf bewahren.
Als der Notarzt schließlich weg ist und ich mit verbundener Nase, bandagiertem Knie und geliehenem Mantel zum Gehen bereit bin, wird mir klar, dass vom ersten der sieben Tage, die mir bleiben, um diesen Irrtum aufzuklären, bereits fünf Stunden verstrichen sind. Diese Leute verstehen keinen Spaß. Die Zeit steht nicht still. Nie. Was ja auch Vorteile hat, nicht? Aber das ist eine andere Überlegung. Ich schließe aus, Guardiola heute noch zu finden und von ihm Aufklärung zu bekommen, egal, ob er etwas damit zu tun hat oder nicht. Sagen würde er, so wie ich ihn kenne, sowieso nichts. Ich muss handeln und vor allem schnell herausfinden, ob es in Düsseldorf oder Umgebung einen anderen Gidden gibt, und ob er eine Frau hat, die Barbara heißt. Dann dieser Selçuk Efendi ... wie kann ich den Mann finden und wo, und dann davon überzeugen, dass er sich in der Person geirrt hat? Ich würde ihn wohl leicht auf seiner Insel finden, wenn ich einmal weiß, wo die ist, daran hege ich keinen Zweifel, auch nicht daran, dieses Missverständnis aufklären zu können, aber wie soll ich dahin- kommen? Nach Istanbul? Von welchem Geld? Wissen Sie eigentlich, wie weit Mitte der fünfziger Jahre die Türkei von Düsseldorf entfernt liegt? Lichtjahre, Mann. Lichtjahre! Das können Sie sich gar nicht vorstellen. Orte, die so weit weg sind, gibt es heute gar nicht mehr.
Eine Tüte mit meinen zerrissenen Sachen in der Hand, die ich allerdings irgendwann wutentbrannt in eine Mülltonne schleudere, mache ich mich schließlich humpelnd auf den Heimweg.«
»Und so kamen Sie in die Türkei, Herr Gidden?«
»Ja, so beginnt meine Geschichte, wenn ich sie erzähle. Natürlich ist mir klar, dass ich so schnell wie möglich diesen anderen Gidden ausfindig machen muss – diesen Namensvetter.«
Der alte Mann schaut den Arzt an seinem Bett lange schweigend an. »Was damals als Reise begann, um meine Haut aus dieser sagenhaften Verwechslung zu retten, wird zur Reise an die Ursprünge meines Seins, an die Wurzeln meiner Existenz. Schon sehr früh erkenne ich nämlich, dass viel mehr drinsteckt in alldem, als auf den ersten Blick zu erkennen ist. Aber zunächst entdecke ich die Türkei und darin meine türkische Seele, lieber Herr Doktor. Eine weite Reise für ein Waisenkind wie mich, das sind – ich sagte es schon – Lichtjahre, die ich da zurücklegte.«
»Ich wusste nicht, dass Sie im Waisenhaus aufgewachsen sind«, entgegnet der Arzt.
»Woher auch«, schnappt Gidden. »Ich habe meine gesamte Kindheit im Waisenhaus verbracht, den ganzen langen Krieg.«
»Aber Sie sprachen von Ihrer Großmutter.«
»Großmutter?« Gidden dehnt das Wort fragend in die Länge. »Wie kommen Sie darauf? Ich habe nie eine Großmutter gehabt. Keine Großmutter und keine Mutter und keinen Vater und keinen Großvater. Niemanden. Ich bin ich, und ich bin ich allein. Immer gewesen. Immer ich allein.«
Der Arzt schaut ihn nachdenklich an, weicht aber seinem Blick aus, als ihre Augen sich treffen.
»Das Waisenhaus lag außerhalb Düsseldorfs in Richtung Ratingen«, erzählt Gidden, »darum ist es während des Kriegs nicht evakuiert worden, aber auch hier hat man Bombennächte erlebt, mit weinenden Kindern und betenden Nonnen, dicht gedrängt in den Luftschutzbunkern. Als ich dreizehn war, ging der Krieg zu Ende. Nach Düsseldorf kamen wir Heimkinder trotzdem so gut wie nie. Nicht vor dem Krieg, nicht im Krieg und auch nicht, als er vorbei war. An meinem Leben zwischen Kirche, Schule und Heim änderte das kaum etwas. Das kam erst, als ich schließlich mit sechzehn in eine Banklehre ging – die Nonnen hielten mich für zu schwächlich, um ein Handwerk zu erlernen –, ein ehrliches Handwerk, tönten sie. Diese Nonnen! Zu der Zeit nahm ich die Straßenbahn nach Dehrendorf, wo die Zweigstelle der Sparkasse lag, in der ich meine Lehrzeit machte, und sah auf meinen morgendlichen und spätnachmittäglichen Fahrten und gelegentlichen Spaziergängen im Viertel die Ruinen, die Trümmergrundstücke, und was der Krieg so übrig gelassen hatte. Das berührte mich alles nicht, das müssen Sie mir glauben. Das war mir total egal. Mit mir hatte das nichts zu tun! Diese Welt hatte nichts mit mir tun. Ich war Zaungast, Zuschauer, nie Teilnehmer. Dieser ganze Verlust um mich her mochte schlimm sein für die, die ein Haus, eine Familie, Onkel, Tanten, Mütter, Väter, Geschwister hatten. Die mussten einen Wegfall schmerzlich spüren. Die zerstörten Häuser. Aber ich? Außer meinem eigenen Leben habe ich nie etwas besessen, dessen Verlust ich hätte betrauern können. Und dass mein Leben nicht viel wert war, das hatten mir die Nonnen im Heim im Zeichen des Kreuzes all die Jahre eingebleut. Interessiert, aber teilnahmslos schaute ich den Verrichtungen der anderen Menschen zu. In der Bank erlebte ich täglich, wie wichtig ihnen das Geld war, wie sie sparten, prämiensparten, und jeden kleinen Pfennig auf die Kasse trugen. Und als '48 die Mark eingeführt wurde, das hätten Sie erleben sollen, das war ihnen was Reales, da gingen sie mit dem Geld um, als wäre es eine Opfergabe an einen unbestimmten Gott. Das kannte ich auch aus dem Heim, da spielte der liebe Gott auch die größte Rolle. Diese Sparkasse war wie eine Kirche, die Hauptzweigstelle in der Stadtmitte wie eine Kathedrale aus Marmor und blitzendem Messing. Ich horchte auf alles, was meine Kollegen in der Sparkasse erzählten, was sie taten, was sie kauften, was sie wollten – was sie besitzen wollten. Ich wollte nichts besitzen. Jedenfalls nichts, was ich so klar hätte benennen können. Ich hatte zeit meines Lebens nur zwei Ziele: Erstens musste ich raus aus der Enge des Waisenhauses, den eisernen Regeln, der Abhängigkeit, dem Joch der Kirche, denn ich wollte die Freiheit, tun und lassen zu können, was ich wollte, und zweitens wollte ich nicht arbeiten. Jedenfalls nicht nach den Regeln und in den festgefügten Abläufen, wie ich sie in der Sparkasse und im Waisenhaus immer erlebt hatte, wo alles Arbeit war. Sogar das Abendgebet der Nonnen. Einfach alles. Ich will frei sein – auch heute noch. Um jeden Preis! Und für meine Freiheit war mir zeitlebens jedes Mittel recht. Wenn Sie das begreifen, beginnen Sie langsam, mich zu verstehen.
Aysha Arkassajan ...«, flüstert er. »Diese Augen. Übrigens ganz das Dunkel Ihrer Augen, mein Guter. Wie schön sie war. Wie unglaublich schön.«
Felix Gidden liegt in seinem Bett und bebt leise. Auf seinen Lippen liegt ein Lächeln, als er aus dem Fenster und von dem Arzt weg auf die tänzelnden Lichter der langen Frachtschiffe und Boote draußen auf dem Rhein schaut, das andere Ufer spürt er in der Dunkelheit nur, sehen kann er es nicht.
Felix Gidden humpelte an jenem Tag zu einem Taxistand und fuhr zu sich nach Hause in die Krahestraße, eine kleine Straße mit speckigem Kopfsteinpflaster auf der hinteren Seite des Hauptbahnhofs. Er ließ sich vom Taxifahrer nicht bis zu seinem Haus fahren, sondern stieg schon an der Ecke aus und ging die letzten hundert Meter bis zu einem grauen Altbau. Von der Fassade des Hauses blätterte der Putz, und die Stuckverzierungen unter und über den Fenstern waren teilweise abgefallen, und nacktes Mauerwerk war zu sehen. Er öffnete ein unverschlossenes Tor und hinkte über einen kleinen Hof, auf dem eine Reihe nummerierter Mülltonnen stand, ins Quergebäude und stieg wegen der Schmerzen in seinem Knie umständlich hinauf bis zu einer Mansarde unter dem Dach. Das Zimmer war klein, sauber und aufgeräumt. Die Wände waren weiß gestrichen, und bis auf ein großes Foto aus einer Illustrierten, das eine liegende Löwenfamilie in der untergehenden Sonne in einer Steppenlandschaft zeigte – alle Tiere schauten angestrengt in eine Richtung –, war das Zimmer karg und glich in seiner unpersönlichen Funktionalität einem Hotelzimmer: Tisch, Stuhl, ein zweitüriger, schmuckloser Schrank, ein Bett mit heller Tagesdecke, die Gidden jetzt abzog, sorgfältig zusammenfaltete und über den Stuhl legte. In der Ecke beim Dachfenster, das einen weiten Blick über die Bahnanlage, ein Trümmergrundstück, das seit dem Krieg nicht wieder bebaut worden war, und bis zur Rückseite des Hauptbahnhofs freigab, befand sich ein Waschbecken mit rechteckigem, ungerahmtem Spiegel mit abgerundeten Ecken, einer Leuchtstoffröhre darüber. Auf der Ablage darunter standen ein paar Toilettenartikel, Rasiercreme, ein Sicherheitsrasierer, Rasierwasser, ein Topf Niveacreme. Neben dem Becken hingen in perfekter Ordnung zwei Handtücher. Nachdem er Hose und Schuhe abgestreift und sich am Becken die Hände gewaschen hatte, sank er in Unterhemd und Unterhose auf das Bett und schaute, den rechten Unterarm unter dem Kopf, an die Decke. Gidden wirkte vollkommen ruhig, und außer der geschwollenen Nase deutete nichts in seinem Gesicht auf die Auseinandersetzung hin, vor allem sein Gesichtsausdruck blieb völlig entspannt, ja fast gelöst, und um seinen Mund lag ein leises Lächeln.
Nach etwas über einer halben Stunde kam plötzlich Bewegung in ihn, er blinzelte zum ersten Mal, seitdem er sich hingelegt hatte, zog den Arm unter seinem Kopf weg, richtete sich auf, und auf die Ellbogen gestützt betrachtete er eine Weile das Bild mit den Löwen. Unter seinen Augen hatten sich von dem Nasenbeinbruch Blutergüsse zu bilden begonnen. Als er sie im Spiegel sah, betastete er die sich verfärbenden Tränensäcke mit seinen Fingerkuppen und schaute sich an. In seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen. Dann ging er zum Schrank und öffnete ihn. Auf Holzbügeln hingen ein graues Jackett, ein alter Trench und eine dunkelgrüne Popelinjacke, an Hosenklammern zwei Hosen. In den Fächern lagen einige säuberlich aufgestapelte Hemden und zwei Pullover. Er bückte sich und zog aus dem untersten Fach ein Telefonbuch von Düsseldorf, legte es auf den Tisch und öffnete es beim Buchstaben G. Sein Finger fuhr die Reihen entlang, bis er einen einzigen Gidden gefunden hatte, Johannes Gidden, mit Wohnung auf dem Kaiser-Wilhelm-Ring in Oberkassel. In gestochener Handschrift notierte sich Felix Gidden Telefonnummer und Anschrift. Er schraubte den Füllfederhalter zu und legte ihn neben den Zettel auf den Tisch, dann zog er sich eine schwarze Cordhose an, streifte einen schwarzen Rollkragenpullover über, und nachdem er seine schwarzen Schuhe umständlich geschnürt hatte, denn sein Knie schmerzte, zog er die dunkelgrüne Jacke an und schloss ihren Reißverschluss bis oben, nachdem er den Zettel mit der Adresse eingesteckt hatte. Die Tür war schon abgeschlossen, als er sich besann und noch einmal umwandte, sie erneut aufschloss und unten, kurz über dem Boden, ein winziges Fetzchen Papier einklemmte. Eine Angewohnheit, die er aus dem Waisenhaus bewahrt hatte, wo alles immer gegen jeden gesichert worden war. Auch wenn keiner etwas Nennenswertes besaß. Dann schloss er wieder ab und ging hinkend die Treppe hinunter. Es war inzwischen vier Uhr, und es hatte zu dämmern begonnen. Langsam und schwerfällig ging er über die Eisenbahnbrücke zum Vorplatz des Bahnhofs, wo er die Straßenbahn nach Oberkassel nahm.
***
Auf dem Kaiser-Wilhelm-Ring ging Felix Gidden nicht an der Häuserzeile entlang, sondern hielt sich auf der Rheinseite der Straße, damit er die Häuser besser sehen konnte, und blieb schließlich vor einem großen Haus stehen. In der ersten Etage war das Licht eingeschaltet, sonst war das Haus dunkel. Unentschlossen stand er eine Weile auf der Straße. Vom Fluss her wehte eine kühle Brise, und es war dunkel geworden, als er die Straße endlich überquerte und die Treppe zur Eingangstür hinaufstieg. Ein dumpfer Gong erscholl, als er den Klingelknopf drückte. Durch das dicke Wellglas der Bleiverglasung in der Tür sah er undeutlich das jetzt beleuchtete Innere, dann die Konturen einer Person, die sich der Tür näherte. Eine schlanke, blonde Frau mit schwarzem Rock und weißer Bluse öffnete ihm, sie trug das Haar in einem Pagenschnitt.
»Ich möchte Herrn Gidden sprechen«, sagte er.
»Herr Gidden ist beschäftigt, bitte versuchen Sie es morgen Nachmittag.«
»Es ist dringend, bitte sagen Sie ihm, Felix Gidden möchte ihn sprechen.«
Gidden war einen Schritt vorgetreten und stand im Türrahmen. Die Frau schaute ihn an und sagte wie beleidigt: »Bitte warten Sie hier, ich werde Herrn Gidden informieren.«
Da er sich nicht bewegte, ließ sie ihn in der offenen Tür stehen, schloss aber die Tür der kleinen Eingangsdiele, als sie ins Haus und die Treppe hinauf in den ersten Stock ging.
Schon nach wenigen Augenblicken kam ein weißhaariger Mann die Treppe hinunter, öffnete die Tür und blieb vor Gidden stehen. »Kennen wir uns?«
»Sind Sie Johannes Gidden?«
»Wer will das wissen?«
»Mein Name ist Felix Gidden.«
»Sind wir verwandt?«
»Ich glaube nicht.«
Der alte Mann trug eine dunkelbraune Strickjacke aus Kaschmir, ein weißes Hemd mit einem in den offenen Kragen gebundenen Seidenschal. Er war Mitte sechzig, aber durch sein Auftreten und den klaren Gesichtsausdruck erschien er jünger. Die blauen Augen hinter den bifokalen Gläsern der randlosen Brille waren wach und ließen Felix keinen Augenblick unbeobachtet. »Was kann ich für Sie tun, junger Mann?«
»Haben Sie ein paar Minuten Zeit, ich habe eine Frage.« Felix Gidden war nervös, und seine Stimme bebte leicht.
Johannes Gidden schaute ihn durchdringend an, betrachtete die zerschlagene Nase, die Blutergüsse unter den Augen.
»Sie wirken nicht vertrauenerweckend.«
»Genau darum bin ich hier.«
Der alte Mann schüttelte abwägend den Kopf, trat dann aber zurück: »Bitte folgen Sie mir, wir gehen in den ersten Stock.«
Oben ging Johannes Gidden in einem die ganze Breite des Hauses einnehmenden Zimmer um einen großen Eichenschreibtisch, auf dem eine aufgeschlagene Zeitung lag, und wies auf einen Sessel schräg davor. Felix Gidden zog den Reißverschluss seiner Jacke auf, machte aber keine Anstalten, sie auszuziehen oder sich zu setzen. Er schaute Johannes Gidden an und verschwendete keinen Blick an den Raum oder die Sicht auf den Fluss und die gegenüberliegende Silhouette der Stadt.
»Was kann ich also für Sie tun?«
»Heißt Ihre Frau Barbara?«
Johannes Gidden zuckte merklich zusammen, hatte sich aber rasch wieder gefangen. »Wer will das wissen?«
»Ich sagte Ihnen doch, ich heiße Felix Gidden.«
»Das weiß ich«, ungehalten hob der alte Mann die Stimme. »Das weiß ich doch!«
Durch die Ungehaltenheit des anderen veränderte Felix mit einem Mal seine gesamte Haltung, von einer Sekunde auf die andere wirkte er entspannt, und ein freundliches und gewinnendes Lächeln war der angespannten Maske gewichen, die er bisher gezeigt hatte. »Sie haben hier einen herrlichen Blick auf den Rhein, auf die Stadt, Herr Gidden, wie schön.«
Als der andere nichts sagte und ihn nur stumm betrachtete, fuhr er fort: »Es ist komisch, jemanden mit seinem eigenen Namen anzureden, finden Sie nicht? Im Telefonbuch gibt es nur Sie in Düsseldorf: Johannes Gidden. Ich selbst habe leider kein Telefon. Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der Gidden hieß. Sie? Wie muss es da einem Schmitz oder Müller gehen? Die stehen andauernd jemandem mit ihrem eigenen Namen gegenüber.« Er lachte.
»Kommen Sie zur Sache, was soll ich mit Ihrem ramponierten Gesicht zu tun haben?«
»Ist Ihre Frau hier?«
»Wie kommen Sie darauf, ich könnte verheiratet sein?«
»Ich will Ihnen erzählen, was mir heute zugestoßen ist, damit Sie im Bild sind: Noch am Vormittag hatte ich bestimmte Verträge für Zürich unterschrieben und war mit meinem Geschäftspartner zum Mittagessen verabredet. Steige also aus der Bahn und will gerade die Königsallee überqueren, als ich einen Geschäftsfreund sehe, ich erzähle Ihnen noch genau von ihm ... es ist der, mit dem zusammen ich die Abwicklung der Hamburgvorlage geregelt hatte ... fantastischer Kartenspieler, ungeschlagen. Dunkle Haare, immer glatt nach hinten ...« Ohne ein Detail auszulassen, erzählte Felix Gidden dem alten Gidden alles, was ihm zugestoßen war. »Nachdem ich mich also zu Hause ausgeruht und erfrischt hatte, machte ich mich auf den Weg zu Ihnen, um herauszufinden, wer Sie sind, was Ihre Frau Barbara so anstellt, wer dieser Selçuk Efendi ist, wieso ich derart zugerichtet wurde und wer mir meinen Mantel und mein Jackett ersetzt. Die waren brandneu.« Als er fertig war, schwieg Felix Gidden und schaute den alten Mann an. Er war vollkommen ruhig und sicher geworden.
Johannes Gidden hatte ihm schweigend zugehört: »Also gut«, sagte er nach kurzem Zögern, »meine Frau heißt Barbara.«
»Wo ist sie?«
Wieder schaute Johannes Gidden ihn lange an: »Ich weiß es nicht.«
»In der Türkei?«
Gidden schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern: »Ich kann es Ihnen nicht sagen.«
»Vertrackte Angelegenheit«, sagte Felix. »Die beiden Schläger glauben mir kein Wort, das ist klar. Die kommen wieder, das kann ich Ihnen sagen, und die wollen Geld. Spielschulden sind ...« Er unterbrach sich selbst, denn ihm war ein Gedanke gekommen. »Wie alt ist Ihre Frau eigentlich?«
Wieder zögerte Gidden: »Barbara ist jünger als ich ...«
»Ach ...«
»... sie ist sehr reif für ihr Alter.«
»Wie alt also?«
»28.«
»28 ...«, Felix pfiff durch die Zähne, dann hellte sich sein Gesicht auf, und er rief: »Dann ist die Sache relativ einfach, ich bin 23 und werde kaum mit einer Frau von 88 verheiratet sein. Natürlich müssen wir den Türken die Sache erklären, und ich muss Sie um das Geld für meine Kleidung bitten, denn immerhin ist das Ihre Frau. Und dann kann ich mich hoffentlich wieder an mein Leben machen.« Er stand auf. »Da, schauen Sie, ich habe Ihnen die Rechnung mitgebracht, beide Kleidungsstücke habe ich vor nur drei Wochen ...«
»Rechnung ...«, unterbrach ihn der andere laut und schlug mit der flachen Hand erbost auf die Schreibtischplatte. »Was reden Sie da! Überhaupt, was reden Sie so geschwollen daher. Wie naiv sind Sie denn, Mann! Wieso sollte ein 23-Jähriger nicht mit einer fünf Jahre älteren Frau verheiratet sein?«
Felix Gidden schaute ihn an: »Das nächste Mal können Sie sich mit diesen beiden türkischen Schlägern abgeben«, murmelte er und ging zu einem der drei Fenster und schaute hinaus. »Ich schicke sie Ihnen vorbei. Das war ein ganz neuer Mantel, und das Jackett gehört zu einem Anzug. Die haben mir die Sachen total kaputt gemacht.« Als er sich umdrehte, fuhr er zusammen, denn Johannes Gidden war auf seinen Schreibtisch gesunken, seine Schultern zuckten, sein Gesicht lag in seinen Händen, er schien zu weinen.
»Tun Sie das nicht«, rief Felix, trat an den Schreibtisch und hielt seine Hand, als wollte er sie auf seine Schulter legen.
In plötzlich wildem Zorn schaute Gidden auf, erhob sich brüsk, nahm mit der Rechten seine Brille ab und wischte sich mit dem Jackenärmel über die Augen. »Lassen Sie das ...«
»Herr Gidden«, die Haushälterin stand in der Tür und schaute besorgt, »ist alles in Ordnung?« Sie strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn.
Felix betrachtete die Frau. Sie war nicht mehr jung, aber attraktiv, hatte etwas von einer verblühten Schönheit, fand er. Ihre umflorten, aber leuchtend grünen Augen saugten sich, das entging ihm nicht, in Johannes Giddens Augen, der, immer noch erregt, mit beiden Händen auf die Platte gestützt, schwer atmend hinter seinem Schreibtisch stand und sie anblickte.
»Ich verbiete Ihnen, Herrn Gidden zu erregen«, rief sie.
»Es ist gut, Carla«, Giddens Stimme war heiser.
Felix' Augenbrauen schnellten nach oben, und er murmelte: »Ach, so ist das.«
»Was?«
»Nichts, wo waren wir stehen geblieben?«
»Es ist gut, Carla«, wiederholte Gidden, und die Frau ging, nicht, ohne Felix einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.
»Jetzt passen Sie mal gut auf, das muss in Ordnung gebracht werden!«, rief Felix erbost. »Sie müssen die Sache in Ordnung bringen. Und ich will das Geld für meine Sachen.« Und als der alte Mann nichts erwiderte und ihn nur stumm ansah: »Ich bestehe darauf! Schauen Sie mich an! Ich bin für Ihre Frau zusammengeschlagen worden. Wenn die Türken besser organisiert wären, sähen Sie jetzt so aus. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht!«
»Was sind Sie von Beruf, Herr Gidden? Haben Sie überhaupt Arbeit?« Gidden plötzlich versöhnlich: »Es ist tatsächlich ein komisches Gefühl, jemanden mit seinem eigenen Namen anzusprechen.«
»Ja, nicht!«
»Verzeihen Sie meinen Auftritt, Herr Gidden. Sie haben ja recht, entschuldigen Sie. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Wasser, bitte.«
»Keinen Sherry?«
»Ich trinke keinen Alkohol, danke.«
»Was sind Sie also von Beruf?«, fragte er und schaute den jungen Mann mit veränderten Augen an, während er aus einem kleinen Kühlschrank in der Holzvertäfelung der Wand ein Apollinaris nahm und ihm einschenkte.
»Ich bin ... Geschäftsmann«, sagte Felix Gidden und blickte zu Boden.
»Ein junger Geschäftsmann.«
»Gibt es Altersauflagen?«
»Und mit was treiben Sie Geschäfte?«
»Dies und das, Ankauf, Verkauf ...«
»... Import, Export.«
Felix lächelte sein gewinnendstes Lächeln und nippte an seinem Glas.
»Was sollen wir Ihrer Meinung nach jetzt tun?«, fragte Johannes Gidden.
»Wir?«
»Wir sitzen beide in der Klemme, und bestimmt werden sich die Schläger zunächst wieder an Sie halten ... Sie kennen sie bereits, und wer weiß, was dabei herauskommt. Ich habe von Leuten gehört, die zuerst zuschlagen und dann Fragen stellen.«
Felix kaute an der Innenseite seiner Wangen.
»Wir müssen das aufklären, oder nicht?«
»Sie müssen das Missverständnis auflösen, und natürlich sollten Sie die Spielschuld Ihrer Frau begleichen. Was ist überhaupt mit Ihrer Frau?«
Gidden nahm einen Schluck von seinem Cognac: »Meine Frau ist verschwunden!«, sagte er leise. »Ich weiß nur, dass sie nach Istanbul gefahren ist, aber ich habe sie seit ihrer Abreise vor knapp einem Monat weder gesehen noch von ihr gehört.« Er blickte aus dem Fenster. »Ich liebe meine Frau und ... aber sie ist ... sagen wir, ein ungestümer Geist.«
»Was haben Sie unternommen?«
»Ich habe einen Privatdetektiv beauftragt, aber der Mann hat mich betrogen, er ist nie in die Türkei gereist, aber mein Geld hat er genommen.« Er schaute Felix in die Augen. »Mir kommt da ein Gedanke, man könnte doch sagen, dass wir beide großes Interesse daran haben, die Angelegenheit zu klären, oder?«
»Klar.«
»Warum fahren dann nicht Sie nach Istanbul, erledigen die Frage der Spielschulden an meiner Statt, finden meine Frau und bringen sie nach Haus!«
»Ich soll nach ...«
»Oder haben Sie dringende Geschäfte?«
Felix war der sarkastische Unterton nicht entgangen, aber er ignorierte ihn: »Istanbul«, sagte er träumerisch, »eine weite Reise.«
»Ich denke, man sollte mit dem Orientexpress fahren. Was halten Sie davon?«
»Istanbul ...«, murmelte Felix wieder.
»Lassen Sie mich rasch mein Reisebüro anrufen, in ein paar Minuten wissen wir mehr.«
Felix stand am Fenster und schaute sich nachdenklich im Raum um. Sein Blick wurde von den kostbaren Dingen angezogen, die er sah, den Bildern, einer alten Uhr auf dem Kaminsims, Schreibgeräten auf dem Tisch, alles strömte satten Wohlstand aus.
»Sie sind unschlüssig?«, fragte Johannes Gidden. »Was würde eine solche Reise kosten?« Und als Felix nicht antwortete: »Meinen Sie, 10.000 Mark reichen Ihnen für Ihren Kostenaufwand?«
»10.000?« Fast war Felix' Stimme schrill geworden. Er hustete: »10.000 Mark, um für Sie nach Istanbul zu reisen?«
»Und die Sache zu klären.«
»Aber ich kenne niemanden in ... Istanbul.«
»Ich würde Sie mit jemandem an der Botschaft zusammenbringen, der Ihnen behilflich sein kann. Was meinen Sie?«
»Was zahlen Sie mir dafür, dass ich das Problem für Sie löse?«
»Ich sagte es schon, 10.000 Mark.«
»Und mein Mantel und der Anzug?« Felix sagte es hastig und wie gereizt, sein Blick war wütend, neidisch, ja, er gestand sich ein, dass er diesen Mann mit einem Schlag um seinen Wohlstand beneidete.
»Was kosten solche Sachen?«
Felix schaute ihn trotzig an: »Der Mantel war aus Kaschmir und der Anzug aus ...«, er zögerte, »der Anzug aus ... aus Mohair. Genau, aus feinstem Mohair.«
»Wie viel also? 11.000? 12.000?«
Felix schaute Gidden lange an und sagte dann langsam: »13.000!« Als der andere nichts entgegnete, rief er: »Rufen Sie Ihr Reisebüro an.«
»Haben Sie einen Pass?«
»Was denken Sie.«
Sie vereinbarten, dass Felix bei seiner Abfahrt die Hälfte der vereinbarten Summe bekäme, den Rest wollte Gidden als zweite Rate bei Felix' Rückkehr und nach Erledigung des Auftrags zahlen. Wobei, darauf bestand Felix, die Auffindung von Barbara Gidden nichts mit dieser Absprache zu tun hatte, es ging einzig und allein um die Verhandlungen mit dem Kasinobesitzer und also um die Erledigung der Spielschuld.
»Noch etwas«, fragte Felix, »haben Sie ein Foto von Ihrer Frau, damit ich sie erkennen kann?«
Gidden öffnete eine Schreibtischschublade und zog ein Porträtfoto heraus, auf dem eine dunkelhaarige, außergewöhnlich schöne Frau zu sehen war. Ihre schwarzen Augen glühten hinter einer großrandigen Brille, die sie, halb auf die Nase gerutscht, noch attraktiver machte. Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig und wie gemeißelt. Felix betrachtete das Bild mehrere Sekunden, ohne zu sprechen. Er hatte das Gefühl, als kenne er diese Frau, diese Augen ... Aysha hatte dieselben Augen. Sie sahen sich ungewöhnlich ähnlich. Vielleicht war der Mund schmaler. Ihre schulterlangen schwarzen Haare glänzten weich. Ihre Schönheit rührte ihn tief im Inneren an. Diese Augen. Diese dunkel lodernden Augen. So wären Ayshas Augen, wenn sie einen intensiv anschauen würde.
»Ist Ihre Frau Ausländerin?«
»Barbara ist Spanierin, ihre Familie stammt aus Córdoba.«
Wieder betrachtete Felix die Frau auf dem Foto und reichte es dann Johannes Gidden.
»Behalten Sie es«, sagte er, »nehmen Sie es mit. Dann erkennen Sie sie, wenn Sie sie sehen.«
Die beiden Männer verabredeten, Selçuk Efendi einen Brief von Johannes Gidden zu übergeben, in dem das Missverständnis erklärt werden sollte. Der Betrag für die Spielschuld sollte dann an die deutsche Botschaft in Istanbul überwiesen werden, damit Felix die Summe übergeben konnte. Durch Vermittlung eines Bekannten von Johannes Gidden im Auswärtigen Amt wurde der Brief am selben Abend von einem Angestellten der türkischen Botschaft in Bonn aufgesetzt, er sollte Felix noch vor seiner Abreise erreichen. Es war wichtig, erklärte Johannes Gidden, den Kasinobesitzer davon zu überzeugen und ihn dafür zu gewinnen, ihm bei der Suche nach Barbara behilflich zu sein. »Solchen Leuten geht es ums Geld«, erklärte er. »Wenn Sie ihn überzeugen können, wird er Ihnen helfen, meine Frau zu finden. Wenn Sie sie finden, wartet ein Bonus auf Sie, Herr Gidden.«
***
Als Felix später am selben Abend seine Mansarde aufschloss und feststellte, dass der Papierschnipsel an Ort und Stelle war, betrat er beruhigt sein winziges Zimmer und legte sich angekleidet aufs Bett.
Nach einer unruhigen Nacht, einem geschäftigen Tag und einer weiteren, fast schlaflosen Nacht, denn die Schmerzen in seinem Gesicht und seinem Knie ließen ihn nicht schlafen, bestieg Felix Gidden in aller Frühe des übernächsten Tages einen Zug nach Stuttgart, wo er am Mittag in den Orientexpress umstieg. Ein Kurier übergab ihm den Brief aus Bonn auf dem Düsseldorfer Bahnhof. Übernächtigt lag Felix schließlich nach der Fahrt im D-Zug am Nachmittag in seinem Erste-Klasse-Abteil des Orientexpress, und die zwei folgenden Tage der Fahrt verbrachte er wie in Trance. Der Luxus und die ungeteilte Aufmerksamkeit der Kellner wiegten ihn in einen Schwebezustand und verschafften ihm ein nie gekanntes Wohlgefühl, sie gaben ihm auch Sicherheit. Unbestimmt spürte er, dass durch das Missverständnis im Frisiersalon eine Tür für ihn aufgestoßen worden war, die es sonst nie für ihn gegeben hätte. Gidden ahnte, dass er davorstand, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Er verbrachte die Fahrt auf seinem Bett liegend, und während draußen die Landschaft vorbeiflog, schmiedete er Pläne, was er mit seinem so leicht verdienten Geld tun wollte. Die ganze Welt stand ihm offen.
Er las in einem Baedeker, den er sich in der Bahnhofsbuchhandlung in Düsseldorf gekauft hatte, und sprach die türkischen Namen und Wörter immer wieder laut aus, bis er einige auswendig kannte. Er genoss ihren Klang. Felix liebte Sprachen, und schon während seiner Banklehre hatte er an einer Abendschule Englisch gelernt. Seine Gabe, Laute zu imitieren, und sein gutes Gedächtnis halfen ihm, und er sprach leidlich Englisch. Jetzt im Zug sagte er sich die fremden, wohlklingenden Laute immer wieder vor und versank in einem gemurmelten, türkischen Selbstgespräch aus sinnlosen Satzfetzen, zusammengewürfelt aus Wörtern und Phrasen aus dem Wörterbuchanhang des Baedekers. Er lag auf seinem Bett und legte stundenlang Patiencen, kommentierte seine Züge mit türkischen Lauten, und in den glatten Kartenreihen meinte er, Zeichen für den Verlauf des bevorstehenden Abenteuers zu erkennen.