Übermorgen war gestern
von
Hef Buthe
Impressum
Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency
Foto: fotolia.de
© 110th / Chichili Agency 2016
EPUB ISBN 978-3-95865-760-1
MOBI ISBN 978-3-95865-761-8
Urheberrechtshinweis
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Perkins Verlobte, The-Maria, reist nach Kambodscha, um Kriegswaisen zu helfen. Dass sie sich damit ausgerechnet in den Einflussbereich der chinesischen Triaden begibt, ahnt sie nicht. Und die haben eine Rechnung mit Perkin offen und nutzen die Chance.
Hef Buthe, geboren 1946, durchstreifte von 1968-1975 die USA, Südamerika und Südostasien und berichtete als Reporter über den Vietnamkrieg, den Bürgerkrieg in Nicaragua und Yom Kippur. Danach folgten Aufenthalte auf Borneo, in Japan und Sibirien. Während seines anschließenden Studiums der Wirtschaftswissenschaften gründete er mit einem Freund eine Beraterfirma in Hongkong. 2000 zog er sich aus den Geschäftsleben zurück. Heute wohnt er mit seiner Frau, einer bekannten Drehbuchautorin, in Deutschland und widmet sich dem Schreiben von Krimis.
„Mach doch endlich die Taschenlampe aus“, fluchte Tevy. „Ich will schlafen. Morgen ist wieder ein langer Tag“.
„Nur noch diese Seite. Dann bin ich fertig“, gab Chenda zurück.
„Du mit deiner Mist Schreiberei. Das bringt doch nichts. Nur weil wir hier etwas Schreiben und Lesen lernen, musst du es doch nicht gleich jede Nacht machen. An wen schreibst du überhaupt?“
„An meine Eltern“, gab Chenda halblaut zurück. Die ersten Stimmen im Saal wurden lauter.
„Haltet endlich die Klappe. Wir wollen schlafen.“
„An deine Eltern. Dass ich nicht lache.“ Tevy beugte sich über den hölzernen Rand des Etagenbettes zu Chenda hinunter. Die hielt mit der Linken eine Taschenlampe und kritzelte mit der Rechten auf einem Blatt Papier, das sie aus dem Schulheft gerissen hatte.
„Deine Eltern. So ein Quatsch. Die können ja nicht einmal lesen, was du schreibst. Und das jede Nacht? Du hast sie nicht mehr alle.“
„Jeden Monat kommt der Händler im Dorf vorbei, der liest ihnen das vor“, versuchte Chenda eine Erklärung, bekam aber von Tevy gleich eine drauf.
„Händler bescheißen alle. Warum sollte der deinen Eltern die Wahrheit vorlesen? Kannst du das kontrollieren? Nein. Kannst du nicht. Sonst wärst du ja noch in deinem Dorf und nicht in diesem verfluchten Waisenhaus in Phnom Penh“.
Im Saal rumorte es. Aber wirklich aufzumucken wagte niemand.
Chenda und Tevy waren mit ihren fünfzehn Jahren die Ältesten von vierzig Mädchen, die alle in diesen knarrenden Betten schliefen.
Es war ein Waisenhaus, irgendwo im Nordwesten der Stadt Phnom Penh. Wo genau, wusste niemand von ihnen, da sie das Gelände nicht verlassen durften. Zwei Schlafsäle, getrennt nach Mädchen und Jungen, insgesamt waren sie über einhundert. Zwei Duschen, in denen es nur kaltes Wasser gab. Löcher, um seine Notdurft zu verrichten, eine Gemeinschaftsküche. Das waren ihre privaten Räumlichkeiten. Dann waren da noch ein Schulzimmer und eine Lehrerin, die mal kam, oder auch nicht. Meistens kam sie nicht und es dauerte Wochen, bis sich wieder jemand erbarmte. Meist waren es Rucksacktouristinnen, die für ihr eigenes Geld hier Unterricht gaben. So fingen sie mit jeder Lehrkraft von vorne an. Nach einem Jahr hatten sie endlich das Alphabet und das kleine Einmaleins durch.
Die Schulbücher, Hefte, Stifte mussten sie sich bei den Besuchern zusammenbetteln, die ein findiger Reisebegleiter hierher brachte. Irgendeine nette Touristin hatte immer eine Idee, um etwas zu ihrem Wohl beizutragen. Dafür sorgte schon der Direktor mit seiner Tränendrüsenmasche.
„Die armen Waisen. Ihre Eltern wurden unter Pol Pot und den Roten Khmer getötet, weil sie Akademiker waren. Nun haben alle hier eine gesicherte Heimat gefunden. Aber es ist sehr schwer, die Kinder zu ernähren. Darf ich die geschätzten Damen und Herren nach nebenan bitten. Da wird Ihnen unsere Tanzgruppe einen heimischen Tanz darbieten. Wir legen hier größten Wert darauf, dass die Kultur der Khmer erhalten bleibt.“
Und wieder begann ein verlogener Tag. Hier war höchstens die Hälfte wirkliche Waisen. Die anderen Kinder wurden den Eltern für wenig Geld und noch mehr Überzeugungskraft abgekauft. Sie unterschrieben ein Dokument, eine Art Abtretung der Erziehungsrechte, mit ihrem Fingerabdruck. Überwiegend waren es arme Bauern vom Land, die mehr Kinder als Land zum Ernähren hatten. Sie waren froh einen unnützen Esser weniger zu haben, dem es an Bildung, so das schöne Versprechen, nach einem Jahr nicht mehr mangeln würde. Die Wahrheit war, dass sie hier nur billigste Arbeiter ohne Lohn für irgendeinen dubiosen Hintermann in Hongkong waren, der Textilien fertigen ließ.
„Und, wie wirst du deinen Brief wieder los?“, fragte Tevy und hängte sich über den Bettrand. „Nimmt ihn der Direktor bei seinem nächtlichen Rundgang wieder mit und streichelt dir nur so im Vorbeigehen zwischen den Beinen?“
„Halt dein loses Maul“, fauchte Chenda.
„Deine Scheiß Briefe kannst du vergessen“, maulte Tevy weiter. „Der Direktor nimmt sie, liest sie und ich kann sie am nächsten Tag aus seinem Papierkorb in die Küche zum Feuermachen bringen.“
Chenda warf sich auf den Rücken.
„Was ist denn heute wieder mit dir los? Ich weiß das schon längst mit den Briefen. Aber mir tut es gut, zu tun als ob. Es ist meine kleine Welt und irgendwann finde ich einen Touristen, der die Briefe mitnimmt. Hast du wieder Schmerzen?“
„Ja, verdammte Scheiße. Wie kann etwas weh tun, das nicht mehr da ist?“, stöhnte Tevy. „Einen Touristen, der für dein Geschreibsel einen Umweg von Hunderten von Meilen in ein Dorf im Nirgendwo macht? Vergiss es“, fauchte sie unter Schmerzen.
„Wir müssten einen Arzt haben, der sich dein Bein mal genauer ansieht. So geht das nicht weiter“, lenkte Chenda ab. Wenn ihre Freundin Schmerzen hatte, verbiss sie sich in ein Thema und kaute es solange durch, bis es jedem zu viel wurde und die Nervensäge mit einer heftigen Ohrfeige wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht werden musste. Es war, als helfe der Schmerz oben, um von dem unten abzulenken.
Tevy gehörte hier zu den wirklichen Waisen. Die Regierungstruppen hatten ihre Eltern vor ihren Augen erschossen. Danach war sie als kleines Mädchen bei ihrer Tante untergekommen, hatte aber für ihre Ernährung auf dem Feld mithelfen müssen. Dabei war ein Ochsenkarren vom Deich, der das Reisfeld umschloss, abgerutscht und hatte ihren linken Fuß zerschmettert. Da war sie zehn Jahre alt. An einen Arzt war in ihrer Gegend nicht zu denken gewesen und außerdem hätte er Geld gekostet, was sie nicht hatten. So wurde der Fuß mit den Heilmitteln aus dem vorvorletzten Jahrhundert behandelt, bis es nicht mehr ging und der Fuß amputiert werden musste. Nun litt sie unter Phantomschmerzen und ging an zwei Krücken. An eine Karriere als Frau und Mutter war nicht mehr zu denken. Kein Mann der Welt brauchte einen Krüppel, obwohl sie sonst eine recht ansehnliche Frau war. Ihr Gesicht hatte nicht den dümmlichen Ausdruck der Bauern, die nur ihre Ernten kannten, sondern war ebenmäßig mit großen und wachen Augen. Ihr Vater war Lehrer gewesen, dem der Steinzeitkommunismus der Pol Pot Ära das Leben gekostet hatte. Es reichte dem Regime, lesen und schreiben zu können, um umgebracht zu werden.
„Einen Arzt? Wozu? Der Fuß ist weg und es kommt auch kein neuer nach. Ach lass mich in Ruhe.“
Sie warf sich auf die Seite und biss ins Kissen, um nicht laut zu schreien. „Es vergeht wieder, wie es bisher immer vergangen ist. Irgendwie. Nur kommt es immer öfter, je länger ich in diesem Wahnsinn bleiben muss.“ Sie versuchte den Zipfel des Schlafs zu finden, den die Meisten schon längst gefunden hatten. „Raus hier. Aber wie und wohin? Ich werde wahnsinnig. Die Nächte bringen mich um. Arbeit. Ich brauche Arbeit. Das lenkt mich ab, auch wenn die anderen mitleidig lächeln, wenn sie mal herumtollen dürfen und ich zusehen darf.“
Aus einer Fünfzehnjährigen war eine reife Frau geworden, ohne dass sie es wusste. Ihre Zukunft war, dass sie keine mehr haben würde. Ein waberndes Nichts, das nur ein Heute kannte. Morgen war schon ein Gedanke zu viel … viel zu viel.
„Weißt du, wer morgen kommt?“ Chenda hatte ihren Brief beendet und hatte sich auf den Rücken gewälzt.
Tevy, was in der Heimatsprache „Engel“ hieß, ließ das Kissen los. Der Schmerz ließ etwas nach. „Nein. Sind wieder mal sehr wichtige Leute, die ein paar Dollar dalassen, von denen sich der Direktor neunzig Prozent einsteckt und wir weiter Reissuppe essen dürfen. Vielleicht ist für hundert Leute mal ein Kilo mehr drin. Das war es dann aber. Weißt du Näheres?“
Chenda machte die Taschenlampe aus. „Vielleicht. Ich muss eine Stunde früher raus, um die Tische zum Mittagessen zu dekorieren. Scheinen wirklich hohe Gäste zu sein. Für Touristen, die der dicke Chinese anschleppt, machen wir das nicht. Es wird auch nicht gearbeitet. Die Nähräume bleiben so lange verschlossen. Wir sind für ein paar Stunden ganz arme Waisenkinder und sollen möglichst viel Mitleid aus der Tasche ziehen.“
„Das heißt, ich darf mal wieder die Kloaken putzen“, maulte Tevy. „Zu was Anderem tauge ich nicht mehr. Als wenn ihr zweibeinigen Säue das nicht mal selber machen könntet.“
Das Gespräch wurde durch das Quietschen der Eingangstür abrupt beendet. Chenda zog sich das Bettlaken zwischen die Beine und stellte sich schlafend. „Nicht schon wieder diese fiesen, lüsternen Finger an meinen Schenkeln“, flehte sie.
„Tack tack. Tack tack.“ Der Rohrstock des Direktors fuhr an den Bettgestellen entlang. Seine Lampe leuchtete in jedes Bett der Mädchen.
„Hoffentlich zucken meine Augenlider nicht wieder“. Chenda zog sich den Stofffetzen, der in der Nacht zum Zudecken diente, über den Kopf.
„Tack tack.“ Der Stock kam näher … und hielt an ihrem Gestell. Chenda versuchte möglichst flach zu atmen und Tevy über ihr schnarchte. Sie konnte es perfekt nachmachen, mit vielen Aussetzern beim Atmen.
Aber der Direktor ging nicht weiter. Chenda wurde es langsam zu warm unter dem Tuch. Sie schwitzte.
„Wenn ihr schlaft“, hob er endlich an, „dann könnt ihr nicht wissen, dass ihr beide um sieben Uhr im Büro zu sein habt. Schlaft ihr nicht, dann putzt ihr beide morgen die Aborte.“
Seine Schritte entfernten sich und die quietschende Tür fiel hinter ihm zu.
Tevy grunzte. „Das hat er sich ja wieder fein ausgedacht, dieses Miststück.“
Dabei war der Direktor, sein Name war Arun, äußerlich ein äußerst sympathischer Mensch. Von gedrungener, leicht dicklicher Gestalt, mit einer sehr gewinnenden Art. Touristen, die das Waisenhaus besuchten, wickelte er in drei Sprachen um den Finger.
„Liebe Gäste. Wir sind ein armes Waisenhaus, aber unsere Schutzbefohlenen haben immer saubere Kleider, die die Älteren für sie nähen. Leider fehlt es an Mitteln für …“
Es kamen die üblichen Tiraden über das, was er und seine Familie, er nannte sie tatsächlich „seine Familie“, brauchte, und dann mussten sie die sauberen Kleider wieder abgeben, die aus der Kollektion des Auftraggebers stammten.
„Sag mal“, fuhr Chenda fort. Sie konnte bei dieser Hitze nicht schlafen. „Sag mal, was ist das eigentlich für eine Luke, hinten im Kohl Beet?“
Tevy fluchte. Das Bein begann wieder zu schmerzen. „Weiß ich nicht. Da habe ich nichts zu suchen. Das ist doch dein Revier, wenn du auf die Kleinen aufpasst.“ Mit den „Kleinen“ bezeichnete sie alles, was jünger als sie war, und das war weit über die Hälfte. Das half ihr, etwas Selbstbewusstsein zu praktizieren.
„Ist ein neues Schloss dran“, murmelte Chenda.
Tevy wurde bei Schlössern sofort hellhörig. Vor ihr war keines auf dem Gelände sicher. Sie hatte sich einen Satz Dietriche aus alten Nägeln zurechtgebogen.
„Bartschloss oder diese neumodischen Zylinder Dinger, wozu man ganz flache Metallstreifen braucht?“
„Neumodisch“.
„Muss ich mir ansehen, wenn dieser Zirkus hier vorbei ist … oder besser, wenn er passiert. Da kümmert sich keiner um mich. Nach dem Essen habe ich frei.“
Ein paar Minuten herrschte Schweigen. Nur die Geräusche der Kinder, die sich in ihren Betten wälzten. Richtig tief schliefen keine. Es hing ein Gewitter am Himmel.
„Was würdest du machen, wenn wir hier rauskommen?“, fragte Chenda.
„Hm“, grunzte Tevy. „Ich kann schreiben, lesen und rechnen. Ich kann eigentlich alles machen.“ Sie stockte und fügte kleinlaut hinzu: „Fast alles, wobei ich nicht laufen muss. Am besten wäre es, Ärztin zu werden. Ich würde mir sofort einen neuen Fuß machen lassen. So einen, den man nicht waschen muss und bei dem man nie die Fußnägel schneidet.“
Chenda prustete. „Dazu musst du aber auf eine Universität.“
„Na und? Ich kann alles, was ein Mensch braucht. Den Rest müssen die mir beibringen. Wozu sind sie denn sonst da?“
„Ich weiß nicht. Das stellst du dir etwas zu einfach vor“, gab Chenda zu bedenken. „Außerdem, so habe ich gehört, hat Kambodscha keine Universität mehr. Bruder Nr. Eins (Pol Pot) hat alle Lehrer hinrichten lassen.“
„Dann gehe ich eben woanders hin“, gab Tevy trotzig zurück und hatte den Anflug des Bildes ihres Vaters im Kopf. Der Offizier der Roten Khmer setzte ihm die Pistole an die Schläfe und drückte ab. Als der Lehrer schon am Boden lag, feuerte er das ganze Magazin in ihn, lud nach und tötete ihre schreiende Mutter mit einem einzigen Schuss in die Stirn. Das Kind beachtete er nicht.
„Was würdest du machen?“, nahm sie die Frage wieder auf. Wenn Tevy so was wie Haus, netter Mann und Kinder erwartet hatte, wurde sie enttäuscht.
„Ich möchte nur einmal richtig liebgehabt werden“, kam es aus dem unteren Bett.
„Liebhaben“, gab Tevy spöttisch zurück. „Weiß denn jemand von uns, was das ist? Wir kommen alle, die hier sind, vom Feld der Lieblosigkeit. Und so bleibt es bis an unser Ende. Also hör auf, dir was vorzumachen. Liebe … pah. So ein Schwachsinn.“
Das Gewitter hatte die Stadt erreicht und hieb mit der Wucht eines Tropensturms auf die Gebäude ein. Tevy hielt sich die Ohren zu. Sie hasste diesen Lärm, wie sie alles hasste, was sich nach Krieg anhörte. Fehlzündungen, fallende Blechtöpfe, platzende Reifen. Die Hagelkörner trommelten wie tausend Maschinengewehre aufs Dach. Sie versuchte sich mit den Gedanken an den morgigen Tag abzulenken.
Sieben Uhr beim Direktor. Das hatte es in den acht Jahren, die sie hier war noch nie gegeben. Das roch nach Unannehmlichkeiten und, würde Chenda nicht auch vorgeladen worden sein, wüsste sie schon warum. Sie bastelte seit Wochen an einem Plan, um von hier zu verschwinden. Dazu hatte sie sich einen kleinen Vorrat von getrockneten Früchten, gegarten Heuschrecken und Riesenkakerlaken angelegt. Einem Touristen hatte sie einen Stadtplan, einem anderen eine Karte von Kambodscha und wieder einem das Feuerzeug gestohlen. Hundert Dollar in kleinen Scheinen hatte sie sich aus der gläsernen Box genommen, in die die Besucher ihre „Spenden“ am Ausgang warfen. Das Schloss war kein Problem für sie. Alles hatte sie in einem Erdloch unter dem Haus versteckt und, damit die Ratten nicht dran gingen, in einem großen Blechnapf mit Deckel aus der Küche deponiert.
Dem Sonnenstand nach, der sich mühsam über das Fensterbrett quälte, war es etwa halb sechs. Tevy beugte sich über den Bettrand und angelte nach ihren Krücken. Chendas Bett war schon gemacht, wie es vorgeschrieben war. Laken einmal der Breite nach falten und dann jeweils noch zweimal an der längsten Stelle. Kissen drauf. Mitten aufs Bett legen. Fertig. Eine Stütze bekam sie nicht richtig zu fassen und sie knallte laut hörbar auf den Boden. Jetzt waren fast alle wach.
„Aufstehen, Mädels“, befahl sie und ließ sich auf den gesunden Fuß gleiten. Eigentlich wäre es besser gewesen unten zu schlafen, aber sie hatte keine Lust vom Direktor bei seinem Rundgang befummelt zu werden.
Bevor sie sich fertig angezogen hatte, war Chenda wieder da. „Alles hin“, stöhnte sie.
„Was ist alles hin? Das geht doch hier bald nicht mehr“, knurrte Tevy und wickelte sich ihren Beinstumpf. Er war heiß und geschwollen.
„Der ganze Garten. Der Hagel heute Nacht hat alles vernichtet.“
Tevy sah nur kurz auf. „Was soll’s? Dann gibt es mal wieder Reis-Nudel Gebratenes. Ist ja nicht neu.“
„Du verstehst das nicht.“ Chenda half ihr beim Wickeln des Beins.
„Ich verstehe sehr wohl. Es ist kein Gemüse für den Besuch da. Wenn der dem Direktor so wichtig ist, dann soll er gefälligst welches auf dem Markt kaufen. Er wird schließlich von der Stadt bezahlt. Das ist sowieso eine blödsinnige Idee, hier was anzupflanzen. Reine Beschäftigungstaktik.“
Chenda rollte mit den Augen. „Es war meine Pflicht, mich um den Garten zu kümmern. Ich hätte das Gemüse abdecken müssen und habe es verpennt.“
„Ja ja. Pflicht“, maulte Tevy. „Es ist deren Pflicht, uns hier so gut wie möglich aufs Leben vorzubereiten. Aber was tun sie? Wir sind nur kostenlose Arbeitstiere. Sie bereichern sich damit und halsen uns Pflichten auf, damit wir das Maul halten. Verteile kräftig Pflichten und du hast das beste Leben. Bah.“
„Du hast heute aber wieder eine Laune.“ Chenda versuchte ihre Freundin möglichst nicht noch weiter zu reizen.
„Ach was“, wiegelte sie ab. „Lass uns das Übel betrachten. Dann kann ich mir gleich das Schloss ansehen. Irgendeine Sauerei versteckt sich wieder dahinter.“
Micky betrachtete sich im Spiegel und schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Nein, nein. So geht das nicht. Was mache ich denn jetzt?“ Vielleicht wusste The-Maria einen Rat.
Die saß wieder vor dem Computer und kaute eine Rübe. „Oh Mann“, fluchte sie, als Micky hereinkam. „Die Viets machen nicht so einen Affenzirkus wie die Kambodsch. Als hätten die was zu verbergen. In Vietnam ist alles klar. Hanoi hat mir fünf Waisenhäuser genannt, die meine Hilfe gerne hätten. Selbst arbeitslose Lehrer gibt es genug, die sofort anfangen können. Aber diese Kambodschaner? Weder die USA noch Singapur haben da eine Botschaft. Nur so einen windigen Konsul, der nie ans Telefon geht.“
Micky stand hilflos im Raum, und The-Maria schlug die Hände vor den Mund, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
„Ich habe für die Reise nichts zum Anziehen“, das war zwar die übliche Klage der Frauen, aber in diesem Fall stimmte es.
The-Maria versuchte ein ernstes Gesicht zu machen, was aber nicht ganz gelang.
„Micky, es gibt viele gute, billige und schnelle Schneider in der Stadt.“ Sie versuchte die Schwarze nicht zu beleidigen. „Aber deinen Hintern versteckst du besser in einem Rock oder einem Gewand. Den kriegt der Beste von denen nicht mehr eingekleidet.“
„Meinst du?“ Micky war ganz verzweifelt wegen ihrer Figur, die sehr ausladende Formen angenommen hatte, seitdem sie das Regiment in der Küche führte. Sie kochte ausgezeichnet, aber zu viel und zu fett, nach amerikanischem Stil.
„Ja.“ The-Maria legte die Hände in den Schoss und sann auf Abhilfe. „Also Hosen kommen nicht mehr infrage. Du solltest etwas Exotisches, so wie deine afrikanischen Vorfahren tragen.“
„Wie sehe ich denn darin als Oberstabsärztin der amerikanischen Armee aus?“, wagte Micky einen Protest.
„Gar nicht“, pflichtete The-Maria bei. „Aber du bist im Ruhestand. Hast du das vergessen? Du arbeitest mit mir zusammen. Oder braucht deine medizinische Fachkenntnis eine Uniform?“
Micky schüttelte den Kopf. „Nein. Natürlich nicht. Aber …“, es trat eine Pause ein, „Aber es wäre doch recht schön gewesen, wenn ich in die noch beim Veteranentreffen gepasst hätte.“
„Wirst du wieder“, beruhigte The-Maria. „Vier Wochen Kakerlaken und Heuschrecken, dann verlierst du Pfund über Pfund. Erinnerst du dich noch an den Krieg? Was Anderes hatten meine Leute nicht mehr.“
Micky stemmte die Fäuste in die Hüften, oder was sie dafür hielt und blies die Backen auf. „Was weißt du Grünschnabel schon vom Krieg? Du bist neunzehnhundertsiebzig geboren und ich habe dich bald danach mit in die USA genommen.“
„Das war aber später“, protestierte The-Maria, um es gleich aufzugeben. Es war sinnlos mit Micky über Zeiten zu diskutieren. Sie hatte immer recht, und außerdem hatte sie gelesen, dass ein Kind erst ab dem dritten Lebensjahr ein eigenes Bewusstsein entwickelte.
„Wir fahren gleich in die Stadt, um für dich was Passendes zu suchen. In einer Stunde?“
Micky schimpfte weiter über ihre unmögliche Figur und dass inzwischen zwei Handbreit fehlten, die Hose zuzumachen. „Aber Heuschrecken und Kakerlaken esse ich nicht. Darauf kannst du dich verlassen. Ich koche und esse so gern, und Perkin fällt noch vor eurer Hochzeit aus den Kleidern. Da muss ich doch was tun.“ Sie überlegte. „Wo ist der und dein Vater überhaupt? Die haben sich nicht zum Essen angesagt?“
The-Maria verdrehte die Augen. „Wenn du mit „meinem Vater“ Peter meinst, dann ist der mit Perkin bei seinen neuen Spielzeugen. Die Zementplattform und das Baggerschiff sind eingetroffen. Jetzt werden die beiden noch Großbauunternehmer.“ Sie hob hilflos die Hände und ließ sie wieder fallen. „Ich bin gespannt, was sich dazu unser Erzfeind Stanley Ho einfallen lässt. Also in einer Stunde?“
Micky schälte sich aus der Hose, die nicht zugehen wollte, und schlang sie The-Maria um den Hals. „Hör zu Kindchen. Sprich nicht immer so abfällig von deinem Vater, als sei er ein Fremder. Er ist es. Ich habe ihm seinen Arsch geflickt und deine Mutter kenne ich auch noch. Er hat es nicht verdient, von dir so behandelt zu werden.“
The-Maria nahm die Hose ab und hängte sie Micky um. „In einer Stunde.“ Sie hatte keine Lust darüber zu sprechen, sonst wäre ihre Vergangenheit an den Tag gekommen, und die ging Micky wirklich nichts an. 1989 in Ost-Berlin als vietnamesische Austauschschülerin, wenige Stunden nach dem Mauerfall. Nur Peter und sie wussten darum, und das sollte auch so bleiben. Daher war es ihr nicht recht, dass sie plötzlich ihren Erzeuger auf Perkins Gelände vorgefunden hatte. Er trank zu viel und vergaß manchmal den Mund zu halten. Das konnte peinlich werden, wenn sie zur Frau des reichsten Mannes in Singapur aufstieg. Am liebsten hätte sie ihn verleugnet, oder wieder nach Köln geschickt. (Saigon-Berlin) Aber Perkin schien an ihm langsam seinen Gefallen zu finden. Er schleppte ihn überall mit hin, was The-Maria knurrend zur Kenntnis nahm. Die Millionen, die er Perkin gekostet hatte, schienen vergessen. Peter lief nur noch im Anzug umher und war sich mal wieder zu fein für jegliche Arbeit. Aber sie würde schon einen Grund finden, ihn loszuwerden, ihren Vater.
Tevy stand am Gemüsebeet und besah sich, was der Hagel davon übrig gelassen hatte. Die erntereifen Pflanzen waren bereits welk und nicht einmal mehr als Tierfutter zu verwenden. Die Sprösslinge sahen nicht besser aus. Sie hatten die Körner gleich aus der Erde gegraben und meterweit vor sich her gedroschen.
„Das gibt Ärger“, kommentierte sie. „Du bekommst drei Stunden am Tag früher von der Schneiderei frei, um dich nur darum zu kümmern. Warum hast du sie nicht abgedeckt?“
Chenda hob hilflos die Schultern. „Ich habe es einfach vergessen. Verdammt noch mal. Ist das nicht zu verstehen? Seit gestern kommt Blut aus mir und ich fühle mich nicht wohl.“
Tevy hob die Augenbrauen. „Auch das noch. Jetzt ist aus dem Kind eine Frau geworden. Behalte das für dich und lass jetzt keinen Mann mehr an dich ran. Verstehst du?“
„Nein“, schüttelte Chenda den Kopf. „Muss ich das verstehen? Blute ich jetzt immer?“
„Nein“, zischte Tevy. „Darüber sprechen wir heute Nacht. Jetzt müssen wir dem Direktor erst erklären, dass es momentan kein Gemüse gibt. Aber lass mich das machen.“
Mit der Krückenspitze hob sie das Schloss an der Luke an, die vor Erde kaum zu sehen war. „Meinst du das?“
Chenda nickte. „Ich habe es die ganze Zeit nicht gesehen, bis ich dachte, warum wächst an der Stelle nichts?“
Tevy verlagerte ihr Gewicht auf das gesunde rechte Bein und gab Chenda die Krücke. „Halt mal.“
Mit der freigewordenen linken Hand kramte sie in der Tasche ihres ärmellosen Kittels. Ihn legte sie nur zum Schlafen ab. Die Taschen aus Jeansstoff hatte sie sich selber in einer Größe angenäht, dass, um den Grund zu erreichen, der Arm bis zum Ellbogen hineinging. Hier bewahrte sie allerlei Krimskrams auf. Von der Schnur, über Kabelstücke, Nadeln und Schiffchen für die Nähmaschinen, Schrauben und Nägel.
Eine Weile kramte sie darin herum, bis sie das Passende gefunden hatte. Einen längeren Nagel, der unten abgeplattet war. „Das Schloss kann ich nicht öffnen, ohne es zu zerstören.“ Sie tauschte ihre Krücke gegen den Nagel.
„Aber ich kann versuchen“, erklärte sie Chenda, die hilflos mit dem Metall spielte, „den ganzen Riegel aus dem Holz zu hebeln. Probier mal, wie weit der Nagel ins Holz der Klappe geht.“
Chenda bückte sich und versuchte es mit der bloßen Hand. „Geht nicht“, stöhnte sie.
Tevy schürzte die Lippen zu einem Schmollmund und überlegte, ob das jetzt ein Vor- oder Nachteil war und wie sie das Problem angehen sollte. Das Schloss selbst war jedenfalls nicht aufzubekommen und sah recht neu aus. Die Riegel mussten weg. Aber dazu brauchte sie ein spezielles Werkzeug. So etwas wie ein Küchenmesser, aber stabiler.
„Zerfetz die Plane mit dem Nagel“, kommandierte sie und grübelte weiter.
„Die Plane? Wozu? Die brauche ich noch für das nächste Unwetter“, protestierte Chenda.
„Und wie erklärst du dem Direktor die zerstörten Pflanzen? Dass du verschlafen hast und das Feld leider nicht abdecken konntest? Der halst dir sofort wieder volle zwölf Stunden an der Nähmaschine auf. Zerstör die Plane. Es muss aussehen, als wenn es der Sturm war.“
Welches Werkzeug? Sie überlegte weiter. Die Nägel steckten in einem frischen Holz. Wenn sie die herausbekam, konnte sie die vorhandenen Löcher wieder zum Schließen benutzen, ohne dass es auffiel.
Chenda tat wie geheißen und stach Löcher in die Plastikfolie, um diese mit den Fingern so groß zu reißen, dass zwei Fäuste hindurchpassten. Sie riss und riss, bis die Plane nur noch aus Fetzen bestand. „Gut so?“
Tevy nickte zufrieden über das Ergebnis. „Der Sturm hätte es nicht besser machen können. Aber jetzt müssen wir zu ihm. Es wird Zeit und du hältst die Klappe. Ich rede. Du kannst einfach nicht lügen und deshalb kann ich dir nicht alles anvertrauen.“
Chenda senkte den Kopf, als hätte ihr jemand einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet. „Nicht alles?“ fiepte sie.
„Nein. Nicht alles“, fügte Tevy fast strafend hinzu und humpelte in Richtung Büro. Sie wusste nicht, wie viel Uhr es war, aber das Motorrad des Direktors stand auf seinem Platz. Also war er da.
„Da seid ihr ja.“ Direktor Arun sah auf. „Ihr habt mich also angelogen und euch schlafend gestellt. Ihr wisst, dass ich Lügen bestrafe.“
Chenda senkte ihre Augen und den Kopf.
Tevy war forscher. „Warum so früh? Es gibt gleich Frühstück. Reisbrei und Nudeln mit nichts. Ich habe Hunger.“
Aruns Augen blitzten auf. Er wollte etwas darauf antworten, verkniff es sich aber für den Moment.
Ich haue heute oder morgen noch ab. Spätestens übermorgen, schwor sich Tevy.
„Wir haben den Kunden verloren, weil ihr über zwanzig Prozent Ausschuss mit eurer Näherei produziert.“ Arun hielt ein Blatt Papier hoch, das den Briefkopf einer Textilfabrik trug. „Tevy, du bist für die Näherei zuständig. Wie erklärst du mir das?“ Er stand hinter seinem Schreibtisch auf, umrundete ihn und baute sich vor ihr auf.
„Weil die Maschinen, auf denen wir arbeiten, schon doppelt so alt sind wie Sie … Herr Direktor“, schob sie noch nach, um nicht gleich wieder eine Ohrfeige zu kassieren. „Die Nadelführungen sind kaputt. Sie ziehen keine vernünftige Naht mehr. Wir müssen teilweise von Hand nachnähen. Das kostet Zeit und wird nicht so genau.“
„So so kaputt. Warum sagt mir das niemand vorher? Muss ich deswegen einen Kunden verlieren?“ Er holte zum Schlag aus. Aber auf den hatte Tevy gewartet und fing ihn mit der linken Krücke in Höhe seines Handgelenks ab.
Arun schrie vor Schmerzen, oder war es mehr gekränkte Eitelkeit? „Das zahle ich dir heim, du Miststück“, fluchte er und trat ihr mit einer schnellen Drehbewegung die rechte Rücke weg, auf der ihr Gewicht lag. Tevy stürzte und versuchte sich mit Chendas Hilfe aufzurichten.
„Du bleibst liegen, bis ich mit euch fertig bin.“ Arun vergrub sich wieder hinter dem Schreibtisch und rieb sich das Handgelenk. „Also, ich bestelle jemand für die Reparatur der Maschinen. Heute Mittag kommt nämlich ein neuer Kunde.“ Er spielte den Vorfall herunter.
Aber Tevy und Chenda wussten, dass sie den Moment nur einem vollen Tagesplan des Direktors zu verdanken hatten. Er würde sich rächen. Irgendwann.
„Ihr geht jetzt putzen. Der neue Kunde muss hier alles sauber vorfinden, wenn ich ihm schon nicht mit Nähmaschinen dienen kann. Nehmt die Kinder dazu und du Chenda fragst in der Küche, was sie alles aus dem Garten braucht. Beim Schneiden kannst du gleich helfen.“
Warum schmerzt mein Bein so? Tevy war froh im Augenblick auf dem Boden zu liegen und die Füße von sich zu strecken. Das ist doch nicht normal?
Chenda druckste herum. Garten, Gemüse, Küche. Tevy wollte doch etwas dazu sagen? Warum tut sie es nicht und reibt sich nur ihr verstümmeltes Bein? „Ja, ähm“, begann sie und sah zum Fenster hinaus. „Das mit dem Gemüse …“
„Wird nichts.“ Tevy raffte sich auf. „Das Gewitter hat alles zerschlagen, weil die Folie zum Abdecken genauso marode wie die Nähmaschinen war. Alles hin, futsch, Brei, ungenießbar. Es dauert Wochen, bis da wieder was wächst.“
Der Direktor barg sein Kinn in der Linken und klopfte einen Takt mit dem Bleistift, auf dem er bisher herumgekaut hatte. „Hm“, machte er und wieder „hm“, was bei ihm auf eine angestrengte Gedankentätigkeit hindeutete. „Kein Gemüse geht nicht.“ Er traf eine Entscheidung und zielte mit dem Stift auf Tevy. „Du gehst in die Stadt und besorgt uns welches.“
Tevy stieß ein trockenes Lachen aus und klemmte sich die Krücken unter die Arme. „Wie soll ich das bitte damit machen?“ Sie hielt eine Gehstütze hoch. „Und womit soll ich bezahlen?“ Insgeheim jubilierte sie. In die Stadt. Das war die beste Fluchtmöglichkeit. Sie musste nur an die Schachtel kommen, dann war sie weg, egal, was es zu Mittag gab.
„Bezahlen?“ Arun stieß die Frage aus, als sei es eine Beleidigung, Geld für Ware haben zu wollen. „Du hast sie wohl nicht mehr alle? Bezahlen. Ob die Plane alt oder nicht alt war, ihr lügt. Das habt ihr mir jetzt oft genug bewiesen. Also besorgst du uns jetzt Gemüse. Egal wie. Aber nicht durch Bezahlen. Wir haben kein Geld. Er kroch hinter dem Schreibtisch vor, öffnete das Fenster und brüllte einen Namen hinaus. „Kiri“.
Chenda und Tevy verdrehten gleichzeitig die Augen.
„Soll der etwa mitgehen?“ Tevy hatte sich schneller im Griff als ihre Freundin, die immer noch wie angewurzelt an ihrem Platz stand.
„Natürlich“, trumpfte der Direktor auf, als habe er gerade den genialsten Einfall seines Lebens gehabt.
„Kiri ist kräftig und kann viel tragen und zusammen gebt ihr ein Traumpaar ab um zu betteln. Selbst die geizigen Bettelmönche werden ihre Beute mit euch teilen.“
Tevy biss sich auf die Lippe, um den Direktor nicht mit allem Mögliche zu beschimpfen. Sie mochte Kiri, daran lag es nicht. Er hatte kräftige Arme und war gut für fünfzig Kilo Last. Er war lieb und nett, hatte aber einen Fehler … er war blind seit seinem neunten Lebensjahr, in dem er mit einer Phosphorgranate aus dem Krieg gespielt hatte. Von da an hatten seine Eltern keine Verwendung mehr für ihn gehabt. Er war über zig Lager hier in Phnom Penh gelandet. Nun saß er den ganzen Tag auf der Bank vor dem Haus und versuchte horchend seiner Umgebung zu folgen. In den wenigen Schulstunden saß er immer hinten und lauschte. Schreiben konnte man ihm nicht mehr beibringen. Ohne Augenlicht keine Schrift. Aber Rechnen konnte er, wobei ihm die zehn Finger halfen. Die konnte er fühlen und nutzte seine Erinnerung dazu, mit ihnen die nötigen Rechenarten durchzuführen. Wie an einem Abakus der Kaufleute. Das war abstrakt und lag ihm, wie ihm alles lag, was nicht mit den Augen zu tun hatte. Aber Gemüse mit ihm betteln gehen? Im Stehlen von Kleinigkeiten war sie geübt. Aber ein paar Kohlköpfe ließen sich einfach nicht unter ihrem Rock verstecken.
Sie sah, wie sich Kiri über den Hof tastete. Er hätte dem Ruf des Direktors auch direkt folgen können. Hier kannte er jede Ecke und jedes Loch. Aber er kokettierte gerne mit dem Stöckchen von einem Baum. Jeder sollte es sehen, dass er nichts sah und ihm den Weg freimachen. So hatte er im Laufe der Zeit eine Frechheit entwickelt, die Nichtbehinderte als Unverschämtheit interpretierten. Wenn ich schon unter diesem Mangel leiden muss, dann leidet ihr durch mich mit.
Tevy humpelte ihm entgegen und rief seinen Namen als Orientierung.
Kiri schwenkte sofort auf sie ein.
„Wir haben eine Scheiß Aufgabe.“ Sie erklärte ihm, was zu tun war. Kiri hörte zu und nickte.
„Ja Tevy. Eine Scheißaufgabe. Was willst du tun? Ich kenne mich da draußen nicht aus. Ich muss mich auf dich verlassen.“ Kiri sagte es ohne Bedauern. Nur so, als stelle man fest, dass der Reifen eben ein Loch hatte, und so nicht mehr zu benutzen sei.
„Ich binde dich an mir fest. Dann habe ich die Hände frei und du folgst einfach“, erklärte sie ihm ihren Plan. Anders war es nicht zu machen, ohne Kiri im Getümmel zu verlieren.
Kiri nickte, hob die Arme hoch und ließ sich von Tevy ein Seil um den Bauch legen, dass sie sich selbst um die Hüfte band. „Führst du mich?“, fragte er.
Sie nickte, aber gab keine für ihn feststellbare Antwort.
„Nimmst du mich auf deiner Flucht mit?“
Sie schnappte nach Luft. Woher wusste ein Blinder von ihrem Plan?
„Ich fliehe nicht. Wie denn?“, log sie und zog an der Leine. Das ungleiche Paar setzte sich in Bewegung. Der Weg zum Markt war weit und der Direktor hatte sie schon wieder hereingelegt. Sie konnte gar nicht wissen, wo er war. Das hatte ihr nur der Stadtplan verraten.
„Scheiße. Elende Scheiße“, fluchte sie in sich hinein und beschleunigte die Gangart der Krücken. Das Bein schmerzte, als würde es in glühendes Eisen getaucht. Ein Eimer kaltes Wasser und sie würde es mit dem Stumpf zum Kochen bringen. Sie biss die Lippen zusammen. Zum Glück hielt Kiri den Mund. Er war damit beschäftigt, neue Geräusche aufzunehmen und ihnen einen Platz in seinem Gehirn zuzuordnen. Mopeds, Autos und viele unbekannte Menschen, sowie Gerüche verwirrten ihn.
„Geht’s dir gut?“ Tevy zog am Strick, der nur als Führungsleine und nicht als Abschleppstange dienen sollte.
„Ja, ich glaube schon“, murmelte Kiri. „Wo sind wir hier? Kennst du dich hier aus?“
„Nein“, murmelte sie und war sich bereits klar darüber, dass sie der Direktor absichtlich losgeschickt hatte. Sie und Kiri sollten nicht wiederkommen. Er konnte kritische Jugendliche nicht gebrauchen. Was hatte er vor? Hing es mit der Grube und der Tür im Gemüsebeet zusammen? Das war zwar sehr weit hergeholt, aber irgendwo musste sie mit dem Grübeln anfangen.
„Woher weißt du, dass ich fliehen will?“ Tevy zog Kiri an der Leine zu sich. Er schwitzte wie sie. So viel Hitze und den Mief der Stadt waren sie nicht gewöhnt. Sie hätte etwas zu trinken mitnehmen sollen.
„Das ist nur eine Vermutung“, prustete Kiri. „Die Kinder haben dich gesehen, wie du ein Versteck unter dem Haus angelegt hast.“ Mit „Kindern“ meinte er die unter 10-jährigen, die begannen neugierig zu werden.
„Kindergeschwätz“, tat Tevy die Aussage ab und zog Kiri wieder hinter sich her. Sie konnte ohne den Kasten nicht fliehen. Sie musste zurück und sich ein besseres Versteck suchen. Wenn es die Kinder wussten …sie dachte besser nicht weiter.
Der Direktor hatte ihnen bis elf Uhr einen Termin gesetzt, an dem das Gemüse in der Küche zu sein hatte.
Sie hatten den Markt erreicht. Es war zwar nicht der Einzige in der Stadt, der laut Stadtplan ausgewiesen war, aber sie war schon froh wenigstens einen gefunden zu haben. Ihr Bein zwang sie zu einer Ruhepause, die sie sich im Schatten eines Hauses suchte und beobachtete.
Der Markt war zweigeteilt. Hier die Händler, die Früchte und Gemüse aus aller Welt anboten. Sie hatte von den meisten nicht einmal gehört, geschweige denn sie gesehen. Dort die Frauen, die ihre Ernte aus dem Eigenanbau anboten, um sich vom Erlös ein, zwei Hühner kaufen zu können, um das tägliche Einerlei aus Reis aufzulockern. Ihr Auftrag hieß: Gemüse zu besorgen. Gemüse war für sie das, was Chenda im Garten anbaute. Chinakohl, Möhren und Zwiebeln. Mehr kannte sie nicht.
Sie erklärte Kiri, wie der Markt zusammengesetzt war und was sie vorhatte. Kiri wischte sich den Schweiß aus den Augen und Tevy verkniff es sich, ihn zu fragen, ob blinde Augen auch brannten. Er hatte verstanden.
„Du führst mich und legst meine Hand auf das, was gestohlen werden muss, während du den Standbesitzer ablenkst. Verstehe. Also wird nicht gebettelt?“
Tevy schüttelte den Kopf. „Nein, das hat keinen Sinn. Die Händler wollen Geld verdienen und uns nicht durchfüttern. Wir müssen zu den Frauen, die Armut kennen.“
„Und die soll ich bestehlen?“ Kiri schüttelte den Kopf. „Das ist nicht gut. Die Händler haben doch viel mehr?“
„Es ist unsere einzige Möglichkeit“, gab Tevy zurück, deren Gedanken sich inzwischen nur noch um ihren Kasten drehten. Um die Karten und das Geld wieder zusammenzubringen, würden Monate ins Land gehen. Die wollte sie hier auf keinen Fall mehr verbringen. Einen Fischer, oder was sonst ein Boot besaß, würde sich finden lassen, um sie den Mekong hinunter nach Vietnam zu bringen. Es waren kaum zweihundert Kilometer. Was danach kam, verschwieg die Karte. Nur hatte ihr Vater vor seinem Tod einmal gesagt, dass in Vietnam ihre Zukunft, und damit hatte er seine Familie gemeint, liegen würde. Man müsse nur Ho-Tchi-Minh-Stadt (Saigon) und dann das Meer erreichen. Genau das hatte sie vor. Das Meer zu erreichen. Egal wie.
Tevy beobachtete weiter und zog missmutig die Nase hoch. Vier Leute, davon jeweils zwei am Ende des Platzes gefielen ihr nicht. Es waren Polizisten, die gelangweilt rauchten. Sie hatten Sprechfunkgeräte.
„Wir müssen umdisponieren“, murmelte sie und spielte die Möglichkeiten durch, die die Anwesenheit dieser Leute bot.
Die Obrigkeit wusste um die unter dem langen Krieg leidenden Menschen und schützte bereits wieder die, die an ihm verdient hatten, die Geschäftsleute.
„Kiri, hast du Durst?“
„Und wie“. Der Blinde steckte seine belegte Zunge vor.
Tevy band den Strick, der sie beide zusammenhielt kürzer und humpelte voran, direkt auf einen Stand zu, hinter dem eine alte Frau für ihr weniges Gemüse auf Kunden wartete. Sie hatte alles, was sie suchten. Chinakohl, Mohrrüben und Zwiebeln. Der Vorrat würde gerade fürs Waisenhaus reichen.
„Guten Tag Frau“, sagte Tevy höflich. „Gute Ware habt ihr.“ Sie nahm Kiris Hand und ließ ihn die Ware abtasten.
Die Frau lächelte. „Ich weiß. Frisch vom Feld. Aber wenn sie nicht bald gekauft wird, war meine Reise hier her von einem halben Tag umsonst und ich muss zurück, bevor die Nacht einbricht. Das Kilo kostet vier Riel. Wollt ihr etwas davon?“
Tevy schüttelte den Kopf und nahm Kiris Hand vom Gemüse, die sich schon die festesten Köpfe ausgesucht hatte.
„Das können wir uns nicht leisten. Mein Bruder ist blind und …“, sie hob das Bein ohne Fuß, „… ich habe eine Mine erwischt. Wir sind Kriegswaisen. Hättet ihr nur etwas zu trinken für uns? Wir sind seit Stunden unterwegs, um etwas zu essen zu finden.“
Kiri nahm die Hand vom Kohl, aber nicht, ohne einen Kopf in seinem als Tasche umgearbeiteten Reissack verschwinden zu lassen.
Die Frau schlug die Hände zusammen. „Kind, das tut mir leid. Natürlich gebe ich euch etwas von meinem Tee ab. Etwas Kohl, ein paar Möhren und Zwiebeln kann ich euch auch geben.“ Sie sortierte die bereits vom Transport angeschlagene Ware aus und wickelte alles in eine Zeitung. Tevy hielt den Sack auf. Was sie hatte, hatte sie. Ein paar Schlucke Tee, eine tiefe Verbeugung, dann nahm sie sich ein größeres Projekt vor. Möglichst nahe an den Polizisten. Es war halsbrecherisch, was sie vorhatte. Aber die Zeit drängte. Sie musste wissen, was mit ihrer Dose passiert war.
Es war der Stand eines sehr großen Großhändlers, der die ganze Pracht an Obst, Gemüse und Kräutern bot. Äpfel, Birnen und Bananen kannte sie und was es sonst noch gab, strömte einen betörenden Duft aus, der ihr Herz höher schlagen und ihren Magen missmutiger werden ließ. Die Polizisten standen noch an ihrem Fleck und unterhielten sich. Kiris Hand folgte bereits dem Duft und tastete die Ware ab.
„Warte noch“, fauchte Tevy.
„Wozu? Fühlt sich alles gut an“, maulte Kiri und nahm die Hand mit zwei Orangen zu sich.
Der Stand war nur mit einem älteren Mann besetzt. Ob er noch mehr Mitarbeiter hatte und die beim Frühstück waren, konnte sie nicht erkennen. Auf jeden Fall war einer viel zu wenig für so viel Ware, stellte Tevy zufrieden fest und steuerte auf die aufgeschichteten Kohlköpfe los.
„Was kostet das?“ Sie hob herrisch die Stimme, als hätte sie alles Geld der Welt in der Tasche.
Der Mann taxierte sie und kam näher. „Einen halben Riel das Kilo. Wie viel brauchst du?“, fragte er und zündete sich eine Zigarette an, als glaube er nicht daran, dass ein Mädchen auf Krücken, das einen jungen Mann an einem Seil hinter sich herschleppte, überhaupt etwas kaufen könne.
Tevy zog Kiri am Seil zu sich heran, der eine Orange mit Schale aß. Der Saft lief ihm aus den Mundwinkeln.
Sie überlegte, wie viel Köpfe sie brauchte, denn das Essen bestand ja noch aus Reis oder Nudeln.
„Zehn Köpfe, zwanzig Zwiebeln, zwanzig Möhren und …“ Sie deutete auf ein paar Bananen, Äpfel und Birnen. „Die auch noch. Jeweils zwanzig. Und du hörst sofort auf, hier zu stehlen. Das haben wir nicht nötig.“ Sie schlug Kiri die Orange aus der Hand.
Der Mann schob die Zigarette von einem Mundwinkel in den anderen.
„Wie wollt ihr das denn bezahlen?“ Er beugte sich über die Auslagen. Er war misstrauisch.
„Bar“, sagte Tevy im Ton fester Überzeugung. „Wie denn sonst? Unser Herr ist ein ganz hohes Tier in der Regierung und hält uns Krüppel nur, weil wir nicht weglaufen können. Also wird’s bald? Abwiegen und einpacken.“ Sie begann noch mehr zu schwitzen. Du gehst langsam zu weit. Das geht schief, versuchte sie sich zurückzuhalten. Doch es war zu spät. Ihr Temperament ging mit ihr durch. Jetzt oder nie, und die Polizisten verharrten weiter auf ihrem Platz.
„Gut“, gab der Händler nach. „Ich wiege alles ab und du legst mir dann das Geld auf den Tisch, bevor ich es einpacke.“
Tevy nickte und hieß Kiri den Sack bereitzuhalten. Sie beruhigte sich und atmete tief durch. Was konnte schon groß passieren? Entweder es klappte, oder der Direktor konnte sie in irgendeinem Gefängnis oder auf der Polizeistation abholen.
Der Händler wog penibel die gewünschten Mengen ab.
Tevy achtete darauf, dass er nicht versehentlich einen Jackenzipfel oder ein paar Finger auf der Waage hatte. Händler betrogen alle. Von dieser Meinung war sie nicht abzubringen. Woher nahmen sie sonst das Geld, so viel Obst und Gemüse einzukaufen, um am Tagesende mindestens ein Viertel als verdorben wegzuwerfen?
„Sechzehnfünfzig“, sagte er, nachdem er gewogen und die bestellte Ware vor ihr aufgeschichtet hatte.
Der entscheidende Moment war gekommen und Tevy machte erst gar nicht den Versuch in ihren Taschen nach Geld zu suchen und dann zu behaupten, sie müsse es wohl zuhause haben liegen lassen. Nein. Sie holte tief Luft und schrie so laut, dass es der ganze Markt hören konnte.
„Hilfe. Polizei“ und das Gleiche noch mal in die andere Richtung. „Hilfe Polizei. Das ist der Mann, der meine Eltern erschossen hat. Ich habe ihn wiedererkannt. Hilft mir niemand?“
Die beiden Polizisten in der Nähe horchten auf, traten ihre Zigaretten aus und diskutierten.
„Hilfe. Der Mann ist ein Mörder und muss festgenommen werden“, brüllte Tevy. Die umliegenden Händler zogen die Köpfe ein. Jeder von ihnen hatte unter Pol Pot und den Khmer Rouge sein Geld verdient und mit den jeweiligen Machthabern paktiert. Nur der Händler, der ihr die Ware abgewogen hatte, schien nicht zu verstehen, dass er gemeint war, und erinnerte an sechzehneinhalb Riel.
Die Polizisten hatten ihre Diskussion beendet und schienen zu dem Schluss gekommen zu sein, doch besser mal nach dem Rechten zu sehen und näherten sich gemessenen Schrittes. Beide waren nicht mehr jung und hatten die Daumen hinter dem Pistolengürtel gehakt.
„Gut, dass Sie kommen.“ Tevy fuhr ihr Spiel fort. „Sie müssen diesen Mann“, sie deutete mit dem Kinn auf den Händler, „sofort festnehmen. Er hat vor zehn Jahren meine Eltern vor meinen Augen erschossen. Und nun betrügt er mich auch noch um zwanzig Riel.“
Die Polizisten sahen sich an. Sie wussten, dass solch eine Anschuldigung nicht aus der Luft gegriffen war. Es gab Tausende von Waisen, die die meist selbst ernannten Killerkommandos von damals, heute wiedererkannten und ihre bürgerliche Fassade einrissen. Doch sie waren angehalten, in solchen Fällen äußerst vorsichtig und umsichtig vorzugehen. Die neue Regierung wollte keine Schererei mit der Vergangenheit des Landes und die Millionen toten Zivilisten möglichst bald in Vergessenheit geraten lassen.
„Wer bist du?“ Der größere Polizist nahm die Mütze ab und wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel von der Stirn.
Der Kleinere nahm Kiri in Augenschein und musterte den Strick, mit dem sie aneinander gebunden waren, konnte aber mit dieser Art der Fesselung nichts anfangen.
„Ich bin Tevy und das ist mein blinder Bruder Kiri“, reagierte sie sofort. „Beide fünfzehneinhalb Jahre alt. Er ist an mich gefesselt, damit wir uns nicht verlieren. Ich führe und er trägt die Last. Arbeitsteilung“, setzte sie kindlich schelmisch hinzu.
Der Händler begriff jetzt erst, dass er gemeint war. „Ich soll ein Mörder sein? Spinnt das Kind? Meine Familie ist in dritter Generation im Handel tätig. Ich habe nie jemand ermordet und auch nie einen betrogen. Tun sie was Herr Polizist. Sie kennen mich doch. Dass lasse ich nicht auf mir sitzen. Verhaften Sie diese Krüppel. Das ist doch nur eine fiese Masche.“
Tevy schluckte. Sie hatte den Mann unterschätzt und an Flucht war nicht zu denken.
„Halt den Mund“, sagte der Polizist zum Händler und nahm sich Tevy vor. „Das ist eine schlimme Behauptung, die du von dir gibst. Bleibst du dabei? Dann muss ich euch alle mit auf die Polizeistation nehmen. Dann folgen ein sehr langes Verhör und ein sehr langes Protokoll, das ihr unterschreibt.“
Tevy hatte keine Ahnung, was ein Protokoll war, aber es hörte sich nach mehr Zeit an als sie hatte.
„Und wenn ich nicht dabei bleibe?“ Sie spielte das unschuldige Kind. „Er es aber doch war?“
Der Polizist schob die Mütze in den Nacken und verbot dem Händler durch eine Handbewegung etwas zu sagen. „Wenn du nicht darauf bestehst, dass der Mann der Mörder deiner Eltern ist, kannst du gehen.“
„Und mein gekauftes Gemüse?“ Tevy sah eine Chance, doch nicht alles umsonst gewesen sein zu lassen.
„Das kannst du natürlich mitnehmen.“
„Und mein Rückgeld von dreifünfzig?“
Der Händler und der Polizist wechselten Blicke.
Jetzt oder nie triumphierte Tevy.
Der Händler verdrehte die Augen und legte einen Zwanziger dazu. „So ein Miststück ist mir auch noch nicht vorgekommen. Hoffentlich wird das nicht zum Volkssport aller Kriegskrüppel“, maulte er. „Dann kann ich meinen Beruf vergessen.“
Eine Frau schrie, wie sie selbst vor ein paar Minuten geschrien hatte, ein Mann tobte und Tevy drehte sich um. Ein Aufruhr an einem ähnlich großen Stand, aber mit Fischen entstand, und zog die Aufmerksamkeit der Polizisten auf sich. Der Lärm wollte nicht aufhören, Volk strömte zusammen. Das Geschrei wurde immer lauter. Tevy sah Jugendliche davonlaufen, das Gekreische der Marktfrau wurde immer jammervoller, gefolgt von wütendem Schimpfen des Mannes. Der führende Polizist nestelte seine Pistole aus dem Halfter und gab einen Warnschuss ab. Alles rannte plötzlich in eine Richtung, die Polizisten auch. Dann folgte ein zweiter Schuss.
Tevy zog Kiri mit dem Sack auf den Schultern aus dem Tumult.
„Was war das denn? Hat der Mann wirklich deine Eltern erschossen?“, fragte Kiri.