1930 wurden die Armenhäuser per Gesetzbeschluss abgeschafft – offiziell jedenfalls. Praktisch war es unmöglich, sie tatsächlich zu schließen, denn dort lebten Tausende, die sonst kein Zuhause hatten. Diese Menschen konnte man nicht einfach auf die Straße setzen. Abgesehen davon waren viele von ihnen schon so lange im Armenhaus und so sehr an die dortige Disziplin und Routine gewöhnt, der sie ausgesetzt waren, dass sie sich gar nicht draußen in der Welt zurechtgefunden hätten. Die 1930er-Jahre waren zudem das Jahrzehnt der wirtschaftlichen Depression mit einer sehr hohen Arbeitslosigkeit im gesamten Land. Wenn man die Tausenden Insassen der Armenhäuser auf den Arbeitsmarkt entlassen hätte, wäre es noch schlimmer geworden.
Also wurden die Armenhäuser offiziell in „Einrichtungen Öffentlicher Hilfe“ umbenannt, und um sie akzeptabler zu machen, bekamen sie lokale Namen wie „Haus Pfarrland“ oder „Haus Rose“ und so weiter. Tatsächlich aber lief alles genauso weiter wie gehabt. Die Bezeichnung „Mittellose“ wurde durch „Insassen“ ersetzt und die Uniformen wurden verbannt. Der Komfort wurde etwas durch Heizungen, Aufenthaltsräume, Lehnstühle und besseres Essen erhöht. Die Insassen durften das Gelände verlassen. Die unmenschliche Praxis, Familien auseinanderzureißen, wurde abgeschafft. Aber das Leben war immer noch reglementiert. Die Belegschaften waren nicht ausgewechselt worden und die Einstellungen und Ansichten der Direktoren und Aufseher blieben fest im 19. Jahrhundert verankert. Die Disziplin war weiterhin streng, nicht selten unflexibel, je nachdem, was der Direktor für ein Mensch war, aber die Disziplinarmaßnahmen für Regelverletzungen wurden gelockert und das Leben war für die Insassen der Einrichtung sicherlich einfacher, als es für die Mittellosen im Armenhaus gewesen war.
Die Gebäude wurden noch jahrzehntelang für verschiedene Zwecke genutzt. Manche wurden zu Nervenheilanstalten umfunktioniert, bis sie in den 1980er-Jahren von Premierministerin Margaret Thatcher endgültig geschlossen wurden. Viele wurden zu Altenheimen umgebaut und meine Beschreibung der letzten Lebenswochen von Mr Collett an einem solchen Ort in den späten 1950er-Jahren ist keineswegs ein Einzelfall. Als ich dieses Buch kurz vor seinem Erscheinen vor der East London History Society vorstellte, stand eine Dame im Publikum auf und sagte: „Ihre Beschreibung ist überhaupt nicht übertrieben. In den 1980er-Jahren habe ich mit einer Gruppe von Menschen ein Altenheim besucht, das in einem ehemaligen Armenhaus untergebracht war, und die Umstände, die Sie beschreiben, waren exakt so. Das war 1985 oder 1986, wenn ich mich richtig erinnere.“
Die Krankenstationen existierten noch jahrzehntelang als staatliche Krankenhäuser weiter. Aber das Stigma der früheren Verbindung zum Armenhaus wurde nie wirklich ausgelöscht. In meiner Zeit als Stationsschwester habe ich häufig die Angst in den Augen der Patienten gesehen, weil sie dachten, sie seien ins Armenhaus gekommen, obwohl sie doch in einem modernen Krankenhaus waren. 2005 habe ich das in einer Radiosendung erwähnt und mein Interviewer sagte: „Ich weiß ganz genau, was Sie meinen. Erst vor ein paar Jahren, 1998, kam meine Oma ins Krankenhaus. Sie flehte uns an, dass wir sie nicht wegbringen sollten, denn sie dachte, sie käme ins Armenhaus. Sie hatte Todesangst davor und ich könnte schwören, dass es am Ende das war, was sie umgebracht hat.“ Das Stigma blieb und viele dieser alten Einrichtungen sind inzwischen abgerissen oder zu kommerziell genutzten Gebäuden oder Wohnhäusern umgebaut worden.
Wir, die wir heute bequem und im Wohlstand des 21. Jahrhunderts leben, können kaum noch nachvollziehen, wie es gewesen sein muss, als mittellose Person im Armenhaus zu enden. Wir machen uns keine Vorstellung davon, was es bedeutet, in dauernder, erbarmungsloser Kälte ohne ausreichende Heizung, ohne angemessene Kleidung oder warmes Bettzeug und mit viel zu geringen Essensrationen zu leben. Wir können uns nicht vorstellen, dass man uns unsere Kinder wegnimmt, weil wir zu arm sind, sie zu ernähren, oder dass man uns unserer Freiheit beraubt, nur weil wir den Frevel begangen haben, arm zu sein. Es gibt nur sehr wenige Aufzeichnungen über das Leben der Armenhaus-Insassen. Die Armenhäuser führten zwar gewissenhaft Buch, aber das waren die offiziellen Unterlagen der Verwaltung. Die Armen selbst schrieben nichts auf. Ebenso wenig existieren Fotografien von den Armen. In den Gemeindeunterlagen finden sich Tausende Fotografien von den Gebäuden, der Kommission, den Direktoren, ihren Frauen und den Aufsehern, aber es gibt praktisch keine Aufnahmen von den Insassen. Die wenigen, die wir kennen, sind tragisch anzuschauen. Auf den Gesichtern liegt ein leerer, hoffnungsloser Ausdruck, alle haben den gleichen stumpfen Blick und die gleiche tödliche Verzweiflung in den Augen.
Aber bevor wir die Armenhäuser endgültig als typisches Beispiel für die Ausbeutung und Heuchelei des 19. Jahrhunderts verdammen, müssen wir uns vor Augen führen, dass die Werte der damaligen Zeit vollkommen anders waren als die von heute. Für die Arbeiterklasse war das Leben schlimm, brutal und kurz. Man rechnete mit Hunger und Mühsal. Männer waren mit 40 Jahren alt, Frauen mit 35 ausgebrannt. Dass Kinder starben, galt als normal. Allgemein wurde Armut als moralischer Fehler angesehen. Der Sozialdarwinismus (die Starken passen sich an und überleben, die Schwachen gehen unter) wurde von der „Entstehung der Arten“ (1858) entliehen und auf die menschliche Gesellschaft angewandt. Das waren die gesellschaftlichen Normen, die von Arm und Reich gleichermaßen akzeptiert wurden. Die Armenhäuser spiegelten sie nur wider.
Kann man dem früheren Armenhaus-System auch etwas Positives abgewinnen? Ich meine, ja. Tausende Kinder, die dort aufwuchsen, wären sonst einfach auf der Straße verhungert. Nach heutigem Standard wurden sie mit größter Brutalität erzogen, aber sie überlebten, und nach dem Erlass des Erziehungsgesetzes von 1870 wurden sie sogar zur Schule geschickt. Das massenweise auftretende Analphabetentum war Geschichte und bereits zwei Generationen später konnte die Bevölkerung von Großbritannien lesen und schreiben.
Ich erinnere mich an eine Frau, die über 80 Jahre alt war, als ich sie im Jahr 2000 kennenlernte. Sie war das uneheliche Kind eines Dienstmädchens und ihres Herrn. Seine Frau hatte die Schwangerschaft entdeckt und das Mädchen entlassen. Es kam 1915 ins Armenhaus. Die alte Dame sagte zu mir: „Ich bin dem Armenhaus dankbar. Dort habe ich Disziplin und gutes Benehmen schätzen gelernt. Ich habe dort lesen und schreiben gelernt. Ich habe meine Mutter nie kennengelernt, aber das traf für uns alle zu. Mit 14 Jahren habe ich als Bedienstete angefangen. Aber ich habe mich weitergebildet und bin an der Abendschule Sekretärin geworden und diesen Beruf habe ich dann auch ausgeübt. Ich bin sehr stolz auf alles, was ich erreicht habe. Ich möchte gar nicht wissen, was aus mir geworden wäre, wenn das Armenhaus nicht gewesen wäre.“
Ebenfalls von Jennifer Worth erhältlich:
Call the Midwife: Ruf des Lebens
JENNIFER WORTH
CALL THE MIDWIFE
Im Schatten der Armenhäuser
Aus dem Englischen von
Johanna Hofer von Lobenstein
Edel Books
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
Copyright © Jennifer Worth, 2005
Copyright der deutschen Ausgabe © 2016 Edel Germany GmbH,
Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
1. Auflage 2016
Titel der Originalausgabe: Shadows of the Workhouse
Erstmals erschienen 2005 bei Merton Books, UK.
Übersetzung: Johanna Hofer von Lobenstein
Projektkoordination: Gianna Slomka
Lektorat: Ursula Tanneberger
Coverfoto: Neil Street Productions Ltd.
Coveradaption: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH | www.groothuis.de
Satz: Datagrafix, Inc.
Epub-Konvertierung: Datagrafix, Inc., Projektmanagement: Schäfermüller Publishing
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
E-ISBN 978-3-8419-0482-9
Patricia Holt-Schooling von Merton Books, deren Voraussicht, Unternehmergeist und Mut zur ersten Veröffentlichung dieser Bücher geführt hat, mit Respekt und Dankbarkeit gewidmet.
DANK
Maysel Brar für ihre Rechtsberatung; Douglas May, Peggy Sayer, Betty Hawney, Jenny Whitefield, Joan Hands und Helen Whitehorn für ihren Rat, das Korrekturlesen, Eingeben und Prüfen; Philip und Suzannah für alles; all die lieben Menschen, die mir etwas zum System der Armenhäuser geschrieben haben, insbesondere Kathleen Daley und Dennis Strange; Chris Lloyd bei der Bancroft Library, Mile End, London; Jonathan Evans von den Royal London Hospital Archives, London; Eve Hostettler vom Island History Trust auf der Isle of Dogs, London E14; den London Metropolitan Archives, London EC1; den Hackney Archives, London N1; dem Camden Local Studies and Archives Centre; der Local History Collection of Gravesend Library, Kent; Peter Higginbotham für seine Unterstützung bei der Prüfung des Materials über die Geschichte der Armenhäuser.