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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Lene Kubis
ISBN 978-3-492-97364-9
August 2016
© 2015 by Lauren Rowe
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Redemption« bei SoCoRo Publishing.
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Übersetzungsrechte vermittelt durch The Sandra Dijkstra Literary Agency
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: FinePic®, München
Datenkonvertierung: Tobias Wantzen, Bremen
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1 ~ Jonas
2 ~ Jonas
3 ~ Jonas
4 ~ Jonas
5 ~ Jonas
6 ~ Jonas
7 ~ Jonas
8 ~ Jonas
9 ~ Jonas
10 ~ Sarah
11 ~ Sarah
12 ~ Sarah
13 ~ Sarah
14 ~ Sarah
15 ~ Jonas
16 ~ Jonas
17 ~ Jonas
18 ~ Jonas
19 ~ Sarah
20 ~ Sarah
21 ~ Jonas
22 ~ Sarah
23 ~ Sarah
24 ~ Sarah
25 ~ Jonas
26 ~ Sarah
27 ~ Sarah
28 ~ Jonas
29 ~ Sarah
30 ~ Jonas
31 ~ Sarah
32 ~ Jonas
33 ~ Jonas
34 ~ Sarah
35 ~ Sarah
36 ~ Jonas
37 ~ Jonas
38 ~ Sarah
39 ~ Jonas
40 ~ Sarah
41 ~ Sarah
42 ~ Jonas
43 ~ Sarah
44 ~ Jonas
Epilog ~ Jonas
Danksagung
Ich will sie nicht loslassen, aber sie zerren mich von ihr weg. Mit weit aufgerissenen Augen stolpere ich zurück. Mein T-Shirt ist voller Blut. So viel Blut. Überall.
»Kein Puls«, sagt einer der Männer, der ihr Handgelenk festhält. Dann legt er den Finger auf ihren Hals. »Nichts«, meint er stirnrunzelnd. »Verdammt. Ihre Halsschlagader ist durchtrennt worden.« Er schüttelt den Kopf.
»Was für eine Bestie«, setzt ein anderer Mann an, verstummt dann aber und sieht zu mir herüber. »Schafft ihn hier raus. Er sollte das nicht mit ansehen müssen.«
Die Männer tragen allesamt Feuerwehrskluft – aber hier brennt es nicht, also sind es wohl keine Feuerwehrmänner.
»Ihre Körpertemperatur ist stark abgesunken. Ich schätze, seit gut fünfzehn, zwanzig Minuten.«
»Ich liebe dich, Mommy«, habe ich zu ihr gesagt. Aber sie hat zum ersten Mal nicht geantwortet. Sonst hat sie immer dasselbe erwidert: »Ich liebe dich auch, Baby – mein kostbares Baby.« Warum nicht dieses Mal? Und warum sieht sie mich nicht an? Stattdessen starrt sie unentwegt aus dem Fenster. Ich folge ihrem Blick und sehe den Krankenwagen, der vor unserem Haus steht. Das Blaulicht auf dem Dach wirbelt geräuschlos im Kreis. Da höre ich in der Ferne die Sirenen, die immer näher kommen. Eigentlich mag ich diesen lauter werdenden Klang. Es ist toll, wenn die Polizei einen richtig fiesen Schurken jagt oder ein riesiges Feuerwehrauto an unserem Wagen vorbeizischt. Mommy sagt, man muss beim Geräusch der Sirenen sofort rechts ranfahren.
»Da sind sie, die Retter in ihrer roten Rüstung!«, singt sie immer, wenn die Feuerwehr vorbeifährt. Aber heute bleibt sie stumm.
Und heute mag ich den Klang der Sirenen gar nicht gern.
Ich verkrümele mich in eine Ecke des Zimmers, setze mich auf den Boden und schaukle hin und her. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie liebe, und sie hat nicht geantwortet. Und sie schaut mich nicht an. Sie schaut aus dem Fenster. Sie blinzelt nicht mal. Ganz bestimmt ist sie sauer, dass ich sie nicht gerettet habe.
»Ist das deine Mutter, Kleiner?«, fragt einer der Männer und beugt sich zu mir herunter.
Meine Stimme funktioniert nicht.
Sie ist meine Mommy.
»War da noch jemand im Haus?«
Ich wollte allein mit ihr sein. Ich wollte sie ganz für mich haben. Ich wollte, dass ihre Schmerzen verschwinden. Ich war ein schlechter Junge.
»Wir sind hier, um dir zu helfen, mein Sohn. Nicht, um dir wehzutun. Wir sind Sanitäter, weißt du? Die Polizisten kommen auch gleich.«
Ich schlucke hart.
Ich bin im Schrank geblieben, weil ich dachte, dass ich ihr mit meinen Zauberhänden helfen könnte, wenn der große Mann weg ist. Aber die Zauberkraft ist verschwunden. Ich weiß nicht, warum. Ich war böse.
»Wie heißt du?«, fragt ein anderer Mann.
»Schafft ihn hier raus«, sagt jemand. »Er sollte das nicht mit ansehen müssen.«
Der Mann, der sich zu mir herabbeugt, winkt ab.
»An dir ist Blut, Kleiner«, sagt er leise. »Ich muss sichergehen, dass es nicht von dir stammt. Hat dir jemand wehgetan?«
Er greift nach meiner Hand, aber ich reiße mich los und renne zu ihr, um mich auf sie zu werfen. Mir ist egal, dass sie voller Blut ist. Ich halte sie mit aller Kraft fest. Sie können mich nicht von ihr trennen! Vielleicht kommt meine Zauberkraft ja zurück, wenn ich es nur lang genug probiere. Vielleicht habe ich mir einfach nicht genug Mühe gegeben, und sie hört auf, aus dem Fenster zu starren, wenn die Magie wieder funktioniert. Vielleicht muss ich nur oft genug sagen, dass ich sie liebe – und dann blinzelt sie und sagt: »Ich liebe dich auch, Baby. Mein kostbares Baby.«
Ich liege auf meinem Bett, auf meiner Baseball-Bettwäsche. Neben mir liegt Josh auf seiner Fußball-Bettwäsche. Normalerweise dreht er durch, wenn er die Baseballgarnitur nicht haben darf, aber dieses Mal hat er sie mir ohne Murren überlassen.
»Wenn du magst, kannst du sie jede Nacht haben«, hat er gesagt. »Von jetzt an darfst du aussuchen.«
Noch vor einer Woche hätte ich mich darüber wahnsinnig gefreut. Aber jetzt ist es mir vollkommen egal. Mir ist alles egal. Sogar, ob ich jemals wieder sprechen werde. Vor einer Woche ist Mommy für immer verschwunden, und seitdem habe ich keinen Mucks von mir gegeben. Das Letzte, was ich gesagt habe, war: »Ich liebe dich, Mommy.« Dabei habe ich sie umarmt, geküsst und mit meinen magischen Händen gestreichelt, die nicht mehr magisch sind. Und ich habe beschlossen, dass dies die letzten Worte sind, die mir jemals über die Lippen kommen.
Als der Polizist mich gefragt hat, wie der große Mann aussah, habe ich nichts gesagt. Selbst als ich hörte, wie Daddy in seinem Arbeitszimmer geweint hat, habe ich nichts gesagt. Und auch nicht, als ich einen Albtraum hatte, in dem der Mann erst meiner Mommy die Kehle durchgeschnitten und mich dann verfolgt hat. Ich bin sogar stumm geblieben, als Daddy uns erzählt hat, dass der böse Mann der Freund von Marielas Schwester war, und Daddy am Telefon zu Onkel William gesagt hat, dass er ihn umbringen will.
Ich setze mich im Bett auf, als ich unten im Foyer Marielas Stimme höre. Ich weiß, dass Mariela im Foyer steht, weil ihre Stimme ganz laut ist und hallt, und das ist nur in diesem Raum so. Denn eigentlich hat Mariela eine sehr leise Stimme.
Ich linse hinüber zu Josh, der tief und fest schläft. Vielleicht sollte ich ihn wecken, damit er Mariela begrüßen kann? Aber nein, sie gehört mir. Ich bin derjenige, der mit ihr in der Küche sitzt und quatscht, während sie venezolanisches Essen kocht. Ich helfe ihr dabei, die Töpfe zu spülen, und höre ihren schönen spanischen Liedern zu. Ich mag es, wenn sie ihre Hände ins Spülbecken taucht und ihre braune Haut danach glatt und glänzend ist, so wie die Karamellsoße auf dem Eisbecher. Marielas Haut ist weich und zart und schön. Wenn sie singt, berühre ich ihren Arm manchmal mit meinen Fingerspitzen, schließe die Augen und streichle sie. Auch ihre Augen sind schön – wie Schokoladenbonbons. Ich liebe ihr Funkeln.
»Señor, por favor!«, ruft sie.
Ich springe aus dem Bett und stürze aus meinem Zimmer. Es ist das erste Mal, dass ich aufstehe, seit Mommy für immer verschwunden ist. Meine Beine fühlen sich steif an und tun weh. Eigentlich hatte ich mir ja geschworen, nie wieder aufzustehen, aber ich will meine Mariela sehen. Auch wenn ich damit meinen Schwur breche. Vielleicht kann ich ja eine neue Regel erfinden, die besagt, dass ich wegen Mariela immer aufstehen darf. So schnell ich kann, flitze ich die Treppe hinunter. Ich kann es kaum erwarten, dass sie mich wieder »Jonasito« nennt oder mir eins ihrer schönen Lieder vorsingt.
Als ich aber Daddys Stimme höre, bleibe ich mitten auf der Treppe stehen.
»Verschwinde!«, sagt er in einem richtig fiesen Tonfall. »Sonst rufe ich die Polizei!«
»No, Señor! Por favor!«, schluchzt Mariela. »Dios bendiga a la señora. Por favor, déjeme ver a mis bebes. Los quiero.« Lassen Sie mich meine Babys sehen! Ich liebe sie.
»Du hast doch diesem Hurensohn gesagt, dass wir bei dem Footballspiel sind! Da hättest du sie ja ebenso gut gleich selbst umbringen können!«
Jetzt schreit Mariela richtig. »No, Señor! Ay, Dios mio, señor. No sabía! Lo juro por Dios.« Jetzt mischt Mariela auch englische Brocken in ihre Sätze. »Bitte, Señor. Ich liebe meine Babys! Son como mis hijos.« Sie sind wie Söhne für mich.
»Señor, bitte. Esta es mi familia.« Das hier ist meine Familie.
»Raus! Verschwinde, verdammt noch mal!«, ruft mein Dad.
Wenn er so wütend ist, besonders, wenn er Mommy oder Mariela anschreit, dann weiß ich, dass ich mich von ihm fernhalten sollte. Aber das ist mir jetzt egal. Ich will Mariela sehen.
Ich renne die Stufen hinunter, laufe quer durchs Foyer und werfe mich ihr in die Arme. Sobald sie mich sieht, beginnt sie zu kreischen und drückt mich an sich. Sie umarmt mich so fest, dass ich kaum noch atmen kann.
Zum ersten Mal, seit Mommy weg ist, spreche ich. »Te quiero, Mariela.« Meine Stimme klingt kratzig.
»Ay, mi hijo«, erwidert sie. »Pobrecito, Jonasito. Te quiero.«
Eigentlich wollte ich, dass meine letzten Worte »Ich liebe dich, Mommy« lauten. Aber ich finde, es zählt nicht, wenn ich etwas auf Spanisch zu Mariela sage, auch wenn es »Ich liebe dich« bedeutet. Spanisch ist nicht wirklich echt, es ist meine Geheimsprache mit Mariela, eine Art So-tun-als-ob. Nicht mal Daddy, der vermutlich der klügste Mann der Welt ist, versteht Spanisch. Deswegen breche ich damit sicher nicht meine Regel.
Daddy brüllt wieder, dass Mariela gehen soll, und ich klammere mich an ihrem Rock fest. »No me dejes, Mariela.« Verlass mich nicht.
»Te quiero, Jonasito.« Mariela weint jetzt heftig. »Te quiero siempre, pobrecito bebe.« Ich werde dich immer lieb haben.
»No me dejes, Mariela.«
»Mariela?« Es ist Josh. Er muss ihre Stimme gehört haben und aufgewacht sein. Schon stürmt er auf sie zu und umarmt sie.
Mariela kniet sich hin und drückt ihn an sich, während ich mich an ihre Schultern klammere.
»Te quiero«, sagt sie zu Josh. »Te quiero, bebe.«
Josh versteht die Geheimsprache zwar ebenfalls, spricht sie aber nicht so gut. »Ich liebe dich auch«, schluchzt er.
»Zeit zu gehen«, sagt Daddy laut und greift nach dem Telefon. »Ich rufe jetzt die Polizei.«
Mariela umschließt Joshs Gesicht mit ihren Händen (was mich ein bisschen neidisch macht) und weint noch stärker. »Cuida a su hermanito«, sagt Mariela zu Josh. »Sabes que él es lo sensitivo.« Kümmere dich um deinen Bruder. Du weißt, wie sensibel er ist.
»Okay, Mariela«, sagt Josh. »Das mache ich.«
»Te quiero«, sage ich. »No me dejes.« Verlass mich nicht.
»O Jonasito«, sagt Mariela. »Te quiero, bebe.«
Sie versucht, mich zu umarmen, aber Daddy zieht sie von mir weg und zerrt sie zur Haustür.
Ich schreie ihren Namen. Ich sage ihr wieder, dass ich sie liebe. Ich weine und weine. Aber was ich auch tue, Daddy schickt Mariela weg und sorgt dafür, dass sie nie wieder zurückkehrt.
Sie sieht so blass aus.
»Ihr Blutdruck liegt bei neunzig zu fünfzig«, sagt einer der Rettungssanitäter. Sie bilden einen Kreis um sie, sodass neben ihr kein Platz für mich bleibt. Im Krankenwagen ist es ziemlich eng, also sitze ich zu ihren Füßen und umklammere ihre Knöchel.
»Wie heißt sie?«, fragt einer der Sanitäter.
Ich sehe, wie sein Mund sich bewegt, höre sogar die Worte, die er sagt. Aber ich kann nichts erwidern. Ich habe versprochen, dass ich sie beschütze, dass ich niemals zulasse, dass jemand ihr wehtut. Und dann saß ich in diesem verdammten Seminarraum und habe ihrer Musik gelauscht, während sie auf der Toilette um ihr Leben gekämpft hat.
Ein Sanitäter hält etwas an ihren Hals und an ihren Hinterkopf. Ein anderer etwas an ihre Rippen. Und in ihrem Arm steckt eine Infusionsnadel.
»Wie heißt sie?«, fragt der Mann erneut.
Ich will antworten, aber meine Stimme funktioniert nicht mehr.
»Wie alt ist sie?«
Ich schlucke hart, bin nicht bereit, die geistige Umnachtung wieder die Oberhand gewinnen zu lassen. Ich bin jetzt stärker, bin ein anderer. Sarah braucht mich jetzt.
»Sarah Cruz. Vierundzwanzig.«
Sie stöhnt, und ihre Augenlider flattern.
Der Sanitäter rückt beiseite, sodass ich mich über sie beugen und mein Gesicht an ihres drücken kann.
Sie schaut verängstigt, und plötzlich rinnt eine Träne über ihre Wange.
»Jonas?«, flüstert sie so leise, dass man sie kaum hören kann. Dennoch reißt mich diese kleine Frage aus meinen dunklen Gedanken, und ich bin voll und ganz bei meiner kostbaren Sarah, meinem Baby. Ja, ein Wort von ihr hat genügt, um den Wahnsinn zu vertreiben.
»Ich bin da, Süße. Wir sind gerade auf dem Weg ins Krankenhaus. Alles wird gut.«
»Aber der Unterricht beginnt doch in fünf Minuten«, meint sie. »Ich muss los.«
»Wissen Sie, wie Sie heißen?«, erkundigt sich der Sanitäter.
Sie sieht ihn ausdruckslos an. »Jonas?«
»Ich bin da.«
»Setzen Sie sich, Sir.«
»Ich bin da, Baby«, sage ich und setze mich. »Lass die Leute ihre Arbeit machen.« Ich unterdrücke ein Schluchzen.
»Wissen Sie, wie Sie heißen?«, wiederholt der Sanitäter.
Sie macht große Augen.
»Wissen Sie, wie Sie heißen?«
Sie gibt keine Antwort, ist immer noch unglaublich blass.
Mein Herz hämmert gegen meinen Brustkorb.
»Wissen Sie, welcher Tag heute ist?«
»Verfassungsrecht.«
»Wissen Sie, wo Sie sind?«
»Wer sind Sie?«, fragt sie den Sanitäter.
»Ich bin Michael, ein Rettungssanitäter. Ich bringe Sie ins Krankenhaus. Können Sie sich daran erinnern, was passiert ist?«
Sie stöhnt. »In fünf Minuten beginnt der Unterricht! Lassen Sie mich gehen.« Sie ist auf der Bahre festgeschnallt.
»Halt still, Sarah. Du bist verletzt. Bitte beweg dich nicht! Wir fahren ins Krankenhaus. Sag ihnen, wie du heißt.«
Sie sieht mich an. »Jonas?«
»Ich bin da, Baby.«
Sie bricht in Tränen aus. »Bitte geh nicht weg!«
»Ich werde dich niemals verlassen! Ich bin da.« Wieder unterdrücke ich ein Schluchzen. Ich hab ihr doch versprochen, dass ich sie beschütze und dafür sorge, dass ihr nichts zustößt! »Ich bleibe bei dir. Versprochen, Baby.«
Der Krankenwagen hält an, und die Tür schwingt auf. Schon ist sie von Ärzten umringt, die sie mit sich nehmen. Ich jogge neben ihrer Bahre den Flur entlang, bis mich jemand vor einer Schwingtür aufhält.
»Wie heißt sie?«
»Sarah Cruz. C-R-U-Z.«
»Alter?«
»Vierundzwanzig.«
»Sind irgendwelche Allergien gegen Medikamente bekannt?«
»Sie hat nie was erwähnt.«
»Wissen Sie, ob sie heute ein Medikament eingenommen hat? Ganz egal, was?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein, nichts.«
»Hat sie irgendwelche Erkrankungen?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein.«
»Sind Sie ihr Ehemann?«
Jetzt zittere ich am ganzen Körper. »Ja.«
Fünf Minuten später – oder sind es fünf Stunden? – kommt endlich jemand im Wartezimmer auf mich zu.
»Wir führen gerade einige Tests durch«, erklärt mir ein Typ, der einen OP-Kittel trägt. Sein Blick fällt auf mein T-Shirt.
»Wurden Sie verletzt?«
Ich schüttle den Kopf.
»Das ist also ihr Blut?«
Ich nicke.
»Sie ist bei Bewusstsein und kann sprechen. Sind Sie Jonas?«
Ich nicke.
»Sie fragt die ganze Zeit nach Ihnen.« Er lächelt mich mitfühlend an. »Wir bringen Sie so bald wie möglich zu ihr, damit Sie ihre Hand halten können. Haben Sie ein wenig Geduld. Wir testen gerade, wie schwerwiegend ihre Verletzungen sind.«
Ich nicke wieder.
»Warten Sie einfach hier.«
Der Arzt geht, und ich setze mich wieder hin. Noch immer zittere ich wie Espenlaub und kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Je länger ich hier sitze, desto mehr drifte ich ab. Ich habe doch versprochen, sie zu beschützen! Und ich habe versagt. Ich drehe durch. Ich brauche Josh!
Schnell greife ich in meine Hosentasche, aber mein Telefon ist nicht da. Und auswendig kenne ich Joshs Nummer nicht. Normalerweise drücke ich einfach nur auf dem Display auf seinen Namen, und schon höre ich seine Stimme.
Mein Verstand verabschiedet sich. Er flirrt und wabert durch das Weltall und gibt sein Bestes, der geistigen Umnachtung zu entkommen. Leider scheitert er dabei kläglich.
»Willst du auf den Baum klettern?«, fragt Josh.
Wie immer sage ich nichts dazu. Seit Mommy vor zwei Monaten gegangen ist, habe ich keinen Mucks mehr von mir gegeben – nicht einmal dann, als sie mich an diesen schrecklichen Ort geschickt haben, gleich nachdem Daddy Mariela rausgeschmissen hat. Ich will nie wieder dorthin – ich habe Josh und Mommy und Mariela und Daddy und mein weiches Bett furchtbar vermisst und wollte nur noch nach Hause. Die ganze Zeit haben die Ärzte dort versucht, mich dazu zu bringen, über alles zu sprechen. Dabei will ich nie wieder etwas sagen.
Ich wusste, dass sie mich sofort gehen lassen würden, wenn ich endlich spreche. Aber sie hatten keine Ahnung, dass ich das nicht darf. Dass mein »Ich liebe dich, Mommy«, meine letzten Worte sein müssen. Auch wenn sie mir nicht geantwortet hat.
»Lass uns auf den Baum klettern, so wie früher«, sagt Josh. Als Mommy noch bei uns war, haben wir das jeden Tag gemacht. Aber jetzt habe ich überhaupt keine Lust mehr darauf. Auf gar nichts. Ich will nur noch zu meiner Mommy in den Himmel.
»Los!«, sagt Josh, greift nach meiner Hand und zieht mich aus dem Bett.
Als ich tatsächlich aufstehe, lächelt er mich an und zieht mich hinter sich her die Treppe runter, durch die Küche, durch die Hintertür, über unseren Hof und die Felder, bis wir bei unserem Lieblingskletterbaum angekommen sind.
»Los, Jonas, lass uns klettern.«
Josh beginnt zu kraxeln, aber ich bleibe erst mal ein paar Minuten lang auf der Wiese stehen und sehe ihm zu. Er ist so viel langsamer als ich, wenn er klettert – und er macht alles falsch. Gott, es macht mich richtig fertig zu sehen, wie er wie ein nasser Sack am Baum hängt. Mommy hat immer gesagt: »Wenn du einen Fisch danach beurteilst, wie gut er einen Baum hochklettert, wirst du immer enttäuscht von ihm sein. Lass ihn lieber in einem See schwimmen!« Es tut mir leid, aber leider trifft dieser Satz gerade zu hundert Prozent auf Josh zu. Ich klettere ihm nach – allerdings nur, weil ich diesen Anblick nicht länger ertrage.
Im Nu bin ich an ihm vorbeigeklettert. Als ich so weit oben bin, wie man es mir erlaubt hat, und auf meinen Bruder warte, sitze ich einfach nur da und sehe in den Himmel. Sobald er neben mir angekommen ist, lässt auch er die Beine baumeln und blickt ebenfalls in den Himmel. Ich habe keine Ahnung, woran Josh denkt, aber ich suche in den Wolken nach Bildern.
»Weißt du, was ich mir überlegt habe?«, sagt Josh.
Ich antworte nicht.
»Tagsüber segelt Mommy auf den Wolken über den Himmel und nachts auf den Sternen. Und wenn du einen Stern blinken siehst, dann zwinkert Mommy uns zu, um uns zu sagen, dass wir schlafen gehen sollen.«
Ich will nicht darüber reden, deswegen klettere ich wieder hinunter. Ich hatte wirklich gedacht, meine magischen Hände könnten Mommy helfen, aber es hat nicht geklappt.
Ich habe bisher fast jede Nacht von diesem großen Mann mit dem haarigen Hintern geträumt, der Mommy in lauter kleine Stücke zerschnitten hat. Manchmal ist er auch hinter mir her. Einmal bin ich nach einem solchen Traum aufgewacht und habe gemerkt, dass Mariela mich im Arm hält und eines ihrer spanischen Lieder für mich singt. Da musste ich so richtig losheulen, ich hatte sie ja so sehr vermisst. Aber dann bin ich wirklich aufgewacht, und Mariela war nicht da. Keine Mommy, keine Mariela, nur ein sabbernder Josh neben mir im Bett.
Ich klettere weiter den Baum hinunter und frage mich unentwegt, warum die Zauberkraft in meinen Händen versagt hat.
Josh kommt mir nach und plappert immer noch irgendwelchen Kram über Mommy vor sich hin. Aber ich will nie wieder über sie sprechen, nicht mal mit meinem Bruder. Denn dann muss ich an all das Blut denken, an diesen Ozean aus Blut, und an den haarigen Arsch dieses Mannes, den er entblößt hat, als er seine Hose runtergezogen hat. Daran, wie verängstigt Mommy geschaut hat, und daran, dass ich trotzdem nicht aus dem Schrank gekommen bin, um ihr zu helfen. Weil ich ein böser Junge war.
Josh lässt sich neben mir ins Gras plumpsen.
»Lass uns den Football holen und ein paar Bälle werfen«, sagt er und packt wieder meine Hand, um mich zu dem Schuppen zu ziehen, in dem wir all unsere Sportsachen aufbewahren.
Ich ziehe meine Hand weg.
»Komm schon, Jonas«, sagt er, aber ich stürme davon. Josh flitzt mir hinterher. »Wir können auch Baseball spielen, wenn du willst! Oder irgendwas anderes. Du darfst bestimmen.«
Das ist neu. Früher durfte ich das nie. Eigentlich ist er nämlich ganz schön herrisch. Ich laufe trotzdem weiter.
Plötzlich greift er mich aus dem Nichts an. Ich lande im Gras, und er sitzt auf mir und boxt mich in den Bauch, auf den Arm und dann auch ins Gesicht. Ich wehre mich nicht, will sogar, dass er mich haut. Jeder sollte das tun. Ich war böse. Es ist meine Schuld, dass Mommy weg ist. Vielleicht komme ich ja zu ihr in den Himmel, wenn Josh fest genug zuschlägt. Ich will nicht mehr hier sein. Ich will zu ihr.
»Warum wehrst du dich nicht?«, fragt Josh. »Los!«, schreit er. Aber ich liege nur da und lasse mich schlagen. Fange an zu heulen, und Josh heult auch. Er heult und boxt mich, ich heule und lasse mich boxen. Nach einer Minute hört er schließlich auf. Schwer atmend sitzt er auf mir, während die Tränen und der Rotz nur so über sein Gesicht strömen.
Ich bewege mich nicht und wünsche mir, dass er weitermacht.
Dann starren wir uns an, wissen nicht mehr, was wir tun sollen. Das ist richtig komisch. Und immer noch weinen wir wie verrückt.
Josh holt tief Luft und verpasst sich dann selbst eine saftige Ohrfeige. So fest, dass es knallt.
Ich lächle, obwohl ich immer noch heule. Warum hat er das gemacht? Das ist doch bescheuert!
Als Josh sieht, dass ich lächle, grinst er übers ganze Gesicht. Es ist das erste Mal, dass ich lächle, seit Mommy weg ist. Wieder verpasst er sich eine Ohrfeige, und dieses Mal muss ich wirklich lachen.
»Wenn du dich nicht selbst wehrst, muss ich das wohl übernehmen«, meint Josh.
Jetzt haue ich mir selbst eine runter, richtig fest, und das wiederum bringt Josh zum Kichern.
»Na, geht’s dir jetzt nicht besser, Jonas?«
Doch, tut es.
Josh legt sich auf mich, und wir tun so, als würden wir miteinander ringen. In Wirklichkeit aber umarmen wir uns und weinen eine ganze Weile.
»Was zum Teufel ist denn hier los?« Es ist Daddy. »Steht auf!«
O Mann, ich kenne diesen Ton. Der bedeutet Ärger. So schnell wir können, springen wir auf und wischen uns die Tränen aus dem Gesicht.
»Was soll der Mist? Ich komme raus, und was muss ich sehen? Zwei Jungs, die sich zusammen im Gras wälzen und sich die Augen aus dem Kopf heulen!«
Das gibt richtig, richtig Stunk.
Einen Moment lang schlägt Daddy sich die Hände vors Gesicht und sieht furchtbar traurig aus. »Wenn ihr Jungs weinen wollt, dann ist das schön und gut, aber bitte nicht hier, wo euch jeder sehen kann – und vor allen Dingen nicht in meiner Nähe. Ich verstehe ja, dass ihr manchmal weinen müsst, aber ich will das nicht sehen. Es ist auch so schon schwer genug für mich, jeden Morgen aufzustehen. Da kann ich niemanden in meiner Nähe gebrauchen, der sich nicht im Griff hat. Es ist höchste Zeit, dass wir drei uns ein bisschen zusammenreißen.« Er schüttelt den Kopf und macht ein seltsames Geräusch. »Wenn ihr zwei über eure Gefühle sprechen, wenn ihr weinen wollt, dann schicke ich euch zu einem Therapeuten, und ihr könnt das hinter geschlossenen Türen klären, bis es euch zu den Ohren rauskommt. Aber wenn ihr zu Hause und in meiner Nähe seid, dann benehmt ihr euch von nun an wie echte Kerle. Ist das klar?«
»Ja, Sir«, erwidert Josh, aber ich starre Dad nur schweigend an. Ich will meine Mommy.
»Es reicht mir langsam mit dir, Jonas Patrick. Ich war so geduldig wie irgend möglich, weil ich dachte, du müsstest das alles erst mal verarbeiten, aber jetzt ist deine Zeit abgelaufen. Hör auf, dich so aufzuführen, und sprich endlich wieder! Denkst du vielleicht, dass es nur dir so vorkommt, als wäre die Welt untergegangen?« Er klingt, als würde er auch gleich anfangen zu weinen. »Eure Mutter war eine Heilige. Sie war meine Rettung. Wer rettet mich denn jetzt, wo sie weg ist?«
Josh und ich sehen uns an. Was meint er damit?
»Warum denkst du nicht zur Abwechslung mal darüber nach, wie es den anderen geht, hm? Vor allem, wenn man bedenkt, dass sie in erster Linie deinetwegen zu Hause geblieben ist! Wenn du nicht gewesen wärst …« Daddy macht eine fiese Grimasse und marschiert davon.
Ich aber renne, so schnell ich kann, zurück zum Kletterbaum, und dieses Mal klettere ich weiter hinauf, als ich es je zuvor getan habe. Noch höher, als Mommy es mir erlaubt hat. Bis hinauf auf den allerhöchsten Ast, von dem Mommy mir immer gesagt hat, dass er abbrechen könnte, wenn ich mich draufstelle. Aber das ist mir total egal. Vielleicht will ich ja sogar, dass er bricht.
Sobald ich auf dem Ast stehe, strecke ich meine Arme aus und versuche, die Wolken zu berühren. Aber nicht mal vom höchsten Ast aus kann ich Mommy anfassen. Vielleicht muss ich nächstes Mal eine Leiter mitbringen. Oder lieber gleich auf einen Berg steigen. Ja, das ist es: Ich muss auf den höchsten Gipfel der Welt klettern. Und dann stelle ich mich auf die Zehenspitzen und berühre die Wolken – und Mommy zieht mich zu sich hinauf. Und dann liegen wir zusammen auf einer Wolke, so wie damals in der blauen Hängematte bei Onkel William. Mommy lächelt mich an und gibt mir Küsschen aufs ganze Gesicht, so wie sie das immer macht. Und dann bleiben wir für immer zusammen.
Während ich auf den Arzt warte, springen meine Gedanken von einem bizarren Thema zum nächsten. Mein Knie zuckt wie wild, ich kann nichts dagegen tun. All diese verrückten Gedanken, Gedanken an Dinge, mit denen ich mich jahrelang nicht befasst habe. Vielleicht habe ich wieder einen Nervenzusammenbruch? Warum ist der Arzt noch nicht gekommen, um mir endlich zu sagen, was los ist?!
Ich sehe auf mein T-Shirt, das von Sarahs Blut regelrecht durchtränkt ist, und mache mich auf den Weg zur Toilette, um mich ein wenig zu reinigen.
Als ich zusehe, wie Sarahs Blut in den Abfluss rinnt, habe ich das Gefühl, genau diesen Moment schon einmal erlebt zu haben.
Auch das Freundschaftsband an meinem Handgelenk, das zu dem von Sarah passt, ist rot vor Blut. Erstarrt stehe ich da und frage mich, was ich tun soll. Ich will das Band nicht abnehmen. Gleichzeitig ist es nicht gut für meine geistige Verfassung, wenn ich es dranlasse. Also mache ich es ab und halte es unter den Wasserstrahl. Bringt nichts. Mit zitternden Händen stecke ich es in meine Hosentasche.
Als ich das T-Shirt auswringe, merke ich, dass es da ebenfalls nichts mehr zu retten gibt. Ich werfe es in den Abfalleimer und verlasse mit nacktem Oberkörper die Toilettenräume. Am Ende des Flurs gibt es einen kleinen Geschenkeladen. Vielleicht werden dort ja auch T-Shirts verkauft, für die armen Leute, die besonders lang im Krankenhaus ausharren müssen.
Als ich an einer Krankenschwester vorbeilaufe, gibt sie einen erstickten Laut von sich. Ich verschränke die Arme vor meiner Brust, und sie sieht errötend beiseite.
Der Geschenkeladen verkauft tatsächlich T-Shirts – Seattle-Seahawks-T-Shirts. Ganz schön merkwürdig, in Anbetracht der Situation. Aber hey, ich brauche nun mal ein sauberes Shirt.
Ich ziehe es über, kehre ins Wartezimmer zurück und nehme auf einem Stuhl in der Ecke Platz.
Ich habe richtig üble Kopfschmerzen. Wobei sie sicher nicht ansatzweise so schlimm sind wie die, die Sarah gerade hat. Von dem Gedanken steigen mir sofort Tränen in die Augen, aber ich zwinkere sie weg. Die ganze Zeit sehe ich sie vor mir, mit blauen, leblosen Augen, die Handgelenke gefesselt. Ihr Oberkörper ist von zahllosen blutenden Wunden übersät. O Mann, jetzt ist es offiziell. Ich bin verrückt geworden.
Ein paar Leute aus Sarahs Verfassungsrechtseminar strömen ins Wartezimmer und reden sofort auf mich ein, als sie mich entdecken. »Was hat der Arzt gesagt? Wie geht es dir?«
Sie haben meinen und Sarahs Computer mitgebracht, ihre Büchertasche und ihre Handtasche. Und mein Telefon. Dafür bin ich so dankbar, dass ich losheulen könnte. Es geht mir nicht um den ganzen Kram, der ist mir egal. Sondern darum, dass ich nicht mehr allein bin. Ich danke ihnen überschwänglich und entschuldige mich dann, um Josh anzurufen.
Als ich seine Stimme höre, breche ich zusammen.
»Hey, Bro, alles wird gut«, sagt er. »Hol tief Luft.«
Ich tue, was er mir gesagt hat.
»Ich springe sofort in ein Flugzeug, Jonas. Halt durch und mach nichts Dummes.«
»Versprochen, aber bitte beeil dich. Ich bin total verwirrt und habe richtig irre Gedanken.«
»Ich komme. Mach deine Visualisierungen, Bro. Atme. Bleib ruhig.«
»Okay. Beeil dich!«
»Ich rufe noch Kat an und sage ihr, dass sie Sarahs Mom Bescheid geben soll.«
Shit. Sarahs Mom. So hatte ich mir unser erstes Treffen nicht vorgestellt.
Oh, hi, Mrs Cruz, wie nett, Sie kennenzulernen! Sorry, dass Ihre Tochter heute meinetwegen beinahe umgebracht worden wäre. Fuck. Das ist alles meine Schuld. Schon wieder. Ich bin wie ein Krebsgeschwür. Alles, was ich anfasse, verwandelt sich in ein Meer aus Blut.
Als ich ins Wartezimmer zurückkomme, schlägt mir mein Herz bis zum Hals. Der Arzt steht schon da und sieht sich suchend um. Als er mich entdeckt, steuert er direkt auf mich zu, aber ich bin vollkommen erstarrt. Kann nicht atmen, kann nicht denken. Ich darf sie nicht verlieren, das würde ich nicht überleben. Atemübungen und Visualisierungen hin oder her.
Der Mund des Arztes bewegt sich, und scheinbar kommen irgendwelche Worte heraus. Er sagt mir, dass es ihm schrecklich leidtut, aber er nichts mehr für sie tun konnte. Sie ist von uns gegangen.
Halt, das hat er gar nicht gesagt. Das sind nur die Worte, die ich erwartet habe. Wenn meine Ohren noch halbwegs funktionieren und ich nicht völlig den Verstand verloren habe, dann hat er doch gerade tatsächlich gesagt, dass sie wieder gesund werden wird – und obendrein ziemlich schnell! Ich kann nicht glauben, was ich da gehört habe. Halluziniere ich? Ist das der Beginn einer Psychose?
»Wenn ihre Werte über Nacht stabil bleiben, dann können wir sie morgen entlassen«, sagt er.
Ich kann meinen Ohren kaum trauen. Normalerweise geht es für mich nicht so glimpflich aus, wenn dermaßen viel Blut mit im Spiel ist.
»Morgen?!«, frage ich ungläubig. »Aber da war doch so viel Blut.« Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich mir das nicht alles einbilde.
»Ja, sie hat eine Menge Blut verloren. Das Messer hat ihre Vena jugularis externa durchtrennt. Das ist die Vene, die am Hals hervortritt, wenn Sie die Luft anhalten.« Er drückt zur Untermalung seiner Worte an seinen Hals. »Die Vene blutet wie verrückt, wenn man sie erwischt – das haben Sie ja gemerkt. Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass der Patient verblutet, wenn nicht direkt Druck ausgeübt wird, aber das war bei ihr ja glücklicherweise der Fall. Unsere Untersuchung hat ergeben, dass Halsschlagader, Luftröhre und Speiseröhre nicht betroffen waren – nur die Vena jugularis externa. Trotz all des Bluts war die Verletzung also relativ oberflächlich. Wir haben die Wunde genäht, das war alles.«
Irgendwie rechne ich trotzdem noch mit einem Haken. »Und sonst?«, frage ich und spüre mein Herz hämmern, während ich mich auf alles gefasst mache.
»Es sieht so aus, als wäre sie rückwärts gestürzt und mit dem Hinterkopf ziemlich fest auf einer Kante aufgeschlagen –«
»Das Waschbecken! An der Kante hat Blut geklebt.«
»Ja, das würde zu der Verletzung passen. Hat ihre äußere Schädelbasis voll erwischt. Ziemlich große Platzwunde, leichte Gehirnerschütterung. Sie wird ein paar Tage lang Kopfschmerzen haben, aber sie kommt wieder in Ordnung. Platzwunden am Schädel bluten immer stark, doch auch sie sind nicht lebensbedrohlich, wenn sofort Druck auf die Stelle ausgeübt wird. Ich bin mir sicher, dass die Kombination aus der Wunde an der Vena jugularis externa und der Platzwunde am Kopf wie eine Szene aus Carrie ausgesehen haben dürfte – aber wir haben sie wieder zusammengeflickt, und sie wird sich vollständig erholen.«
»Braucht sie eine Operation?«
Er lächelt. »Nein. Wir haben uns schon um die Wunde an ihrem Kopf gekümmert. Und der Messerstich in den Brustkorb hat weder die Hauptschlagader getroffen noch die Luftröhre, das Herz oder die Lungen – da hat sie wirklich großes Glück gehabt. Wir haben alles genäht, sie ist so weit wiederhergestellt. Wenn heute Nacht alles gut läuft – also ihre Werte stabil bleiben und keine Infektion auftritt –, dann entlassen wir sie morgen. Sie muss zwei, drei Tage strikte Bettruhe halten, aber in ungefähr einer Woche dürfte sie schon wieder fast die Alte sein.«
Ich bin erleichtert. Geschockt. Fassungslos. »Sie hat im Krankenwagen einen sehr verwirrten Eindruck gemacht«, sage ich. »Hat sie«, ich bringe den Satz kaum zu Ende, »Schäden am Gehirn erlitten?«
»Die Computertomografie des Gehirns hat keine Auffälligkeiten gezeigt. Ihre Verwirrung könnte eine Folge des Schocks oder der Gehirnerschütterung sein – wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Posttraumatische Verwirrung ist ganz normal. Sie wirkt jetzt relativ klar. Gerade ist ein Polizeibeamter bei ihr.«
Ich atme so erleichtert auf wie noch nie zuvor in meinem Leben. »Kann ich sie sehen?«
»Sobald die Unterhaltung mit dem Polizisten beendet ist, geben wir Ihnen Bescheid.«
Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich zittere, und der Arzt sieht mich mitfühlend an.
»Sie wird wieder gesund«, sagt er und drückt meine Schulter.
»Danke, Doktor.« Ich setze mich und stütze den Kopf in meine Hände, um meine umherwirbelnden Gedanken in den Griff zu bekommen, aber es funktioniert nicht. Mein Verstand ist auf und davon galoppiert, und er wird garantiert nicht zurückkommen, ehe ich mit eigenen Augen gesehen habe, dass es meinem Baby gut geht.
»Miss Westbrook, kann Jonas auf die Toilette gehen?«, fragt Josh und hebt die Hand.
Es genügt, wenn ich ihn ein bisschen merkwürdig ansehe – er weiß sofort, was los ist. Josh hat das Sprechen jetzt schon so lange für mich übernommen, dass es mir fast so vorkommt, als säße er in meinem Gehirn.
»Darf Jonas auf die Toilette?«, korrigiert Miss Westbrook ihn. »Bitte.«
»Darf Jonas bitte auf die Toilette?«
Miss Westbrook sieht mich an. »Musst du denn auf die Toilette, Jonas?«
Ich nicke.
Ich weiß nicht, warum sie jedes Mal überprüft, ob Josh richtigliegt. Das tut er immer. Andererseits habe ich auch nichts dagegen, denn ich mag es, wenn Miss Westbrook mit mir spricht. Sie ist hübsch. Richtig, richtig hübsch. Ihr Haar glänzt so toll. Ich wünschte, ich könnte es anfassen. Und ich mag es, dass sie immer lächelt, selbst wenn sie jemanden korrigiert oder ein Kind ermahnt, dass es aufhören soll, mit seinem Nachbarn zu schwatzen. Bei mir muss sie das natürlich nie machen, schließlich bin ich stumm wie ein Fisch. Ich habe keinen Mucks mehr von mir gegeben, seit ich »Ich liebe dich, Mommy« gesagt habe. (Meine Worte zu Mariela zählen nicht. Spanisch ist nicht einmal echt.)
Als ich von der Toilette zurückkomme, arbeiten alle an ihren Mathematikarbeitsblättern. Ich habe meines schon fertig. Eigentlich sogar schon das gesamte Heft. Ich will zurück zu meinem Tisch gehen, aber Miss Westbrook ruft mich zu sich.
»Jonas«, sagt sie leise, und ihre dunklen Augen funkeln. Hach, sie hat wirklich die schönsten Augen der Welt. Sie sehen aus wie Schokolade und glitzern, wenn sie lächelt.
»Ich könnte jemanden gebrauchen, der mir jeden Nachmittag eine Stunde lang hilft, das Klassenzimmer für den nächsten Tag vorzubereiten, weißt du? Könntest du dir das vorstellen?«
Darüber muss ich keine Sekunde lang nachdenken. Ich nicke.
Miss Westbrook schenkt mir ihr strahlendstes Lächeln. Es ist so schön, dass ich beinahe selbst grinse.
»Wunderbar«, sagt sie. »Wenn deine Nanny dich heute abholt, werde ich mit ihr drüber sprechen. Vielleicht kann sie ja ein bisschen auf Josh aufpassen, während du mir hier hilfst.«
Ich nicke wieder und bin ziemlich aufgeregt.
Nach der Schule spricht Miss Westbrook mit Mrs Jefferson über die Idee. Es klingt so, als bräuchte sie wirklich dringend meine Hilfe. So, als würde ich ihr einen riesigen Gefallen tun. Ich versuche, an Mrs Jeffersons Miene abzulesen, was sie davon hält, aber das ist schwer zu sagen. Mein Bauch tut weh, so sehr will ich, dass es klappt.
»Josh und Jonas haben zweimal pro Woche einen festen Termin nach der Schule.« Sie senkt die Stimme. »Beim Therapeuten.«
An diesem Punkt verdreht Josh die Augen, aber ich beachte ihn kaum. Natürlich weiß ich, wie er das meint. Ich hasse es ja auch, zu Dr. Silverman zu gehen. Meistens. Entweder malen wir dort blöde Bilder in einem Buch über Gefühle aus, oder wir lesen in diesem beknackten Wälzer Lass uns über Gefühle sprechen!
Reden hilft dabei, die Gefühle rauszulassen, steht da zum Beispiel. Es geht uns besser, wenn wir über unsere Gefühle sprechen, heißt es auf einer anderen Seite. Und auf einer weiteren: Es ist in Ordnung, wenn jemand anderes unsere Gefühle nicht teilt. Etwas zu besprechen heißt noch lange nicht, dass man unterschiedlicher Meinung ist. Der letzte Satz bringt Josh immer zum Lachen. »Nein, etwas zu besprechen heißt noch lange nicht, dass man unterschiedlicher Meinung ist«, sagt er immer. »Sondern dass ich dir ’ne Ohrfeige verpasse!«
Auch bei Dr. Silverman übernimmt Josh das Reden für mich. Und natürlich auch für sich selbst. Er redet und redet über alles Mögliche – was wir gefrühstückt haben, dass er später mal Baseballspieler werden will oder was er in der vergangenen Nacht geträumt hat. Manchmal spricht er sogar über Mommy und darüber, wie sehr er sie vermisst und wie sehr er sich wünscht, sie wäre hier bei uns und nicht oben in den Wolken und den Sternen. Wenn er über sie spricht, dann weint er immer, aber ich nie. Ganz egal, worüber er auch redet: Ich sitze nur da und male Bilder aus. Oder ich blättere in dem blöden Buch.
Eigentlich hasse ich es also, bei dem Doktor zu sein, aber eine Sache gefällt mir: Er hat tolle Musik. Musik, bei der ich mich so fühle, als würde ich Achterbahn fahren oder auf Wolken schweben. Manchmal vergesse ich dabei sogar, wie traurig ich eigentlich bin.
Dr. Silverman hat mir gesagt, dass ich immer dann Musik hören soll, wenn das Gefühlschaos in mir zu groß wird.
»Musik kann wie ein geöffnetes Fenster sein, durch das die Gefühle hinausfliegen können.« Als er das gesagt hat, hatte ich richtig Gänsehaut. Zum ersten Mal haben seine Worte wirklich Sinn ergeben. Seitdem habe ich viel Musik gehört, besonders dann, wenn ich am liebsten meinen Kopf gegen die Wand geknallt hätte. Die Musik beruhigt mich und hilft mir dabei, wieder klar zu denken. Ich hasse es also nicht immer, zu Dr. Silverman zu gehen.
Nach unseren Terminen beim Doktor sagt Josh gerne: »Du musst nicht sprechen, wenn du nicht willst, Jonas. Von mir aus kann ich das für immer für dich übernehmen.« Aber gestern hat er wie aus dem Nichts versucht, mich zum Sprechen zu überreden – so wie alle anderen.
»Wenn du nur ein klitzekleines bisschen sprichst, zwingt Dad uns vielleicht nicht mehr, zu Dr. Silverman zu gehen. Komm schon, Jonas, denk dir doch einfach was aus – das mache ich auch die ganze Zeit.«
Erst war ich ihm wegen seiner Überredungsversuche böse. Aber heute verstehe ich zu gut, was er meint. Schließlich ist nicht er derjenige, der die Musik braucht.
Wenn ich sprechen würde, müssten wir wahrscheinlich tatsächlich nicht mehr zum Doktor. Was Josh und auch alle anderen aber leider nicht kapieren, ist, dass ich nie wieder sprechen kann. Das wäre gegen die Regeln. Und dagegen kann ich nichts tun, ob mir das nun gefällt oder nicht. Miss Westbrook flüstert immer noch auf Mrs Jefferson ein – was für eine große Hilfe ich ihr wäre, und so weiter. Ich habe das Gefühl, mein Kopf würde jeden Moment explodieren, so gern will ich für sie arbeiten. Schließlich nickt Mrs Jefferson und sagt: »Na, es kann ja nicht schaden, das mal auszuprobieren.«
Zu Hause spricht Mrs Jefferson mit Daddy darüber, und als er zustimmt, bin ich beinahe schockiert.
»Josh braucht die Sitzungen bei Dr. Silverman sowieso nicht mehr«, sagt Daddy. »Und wahrscheinlich kann Jonas auch mal ein paar Wochen Pause machen und diese Helfersache ausprobieren. Aber wenn das nichts bringt, muss er zurück zu Dr. Silverman – oder noch mal ins Behandlungscenter.«
Als ich das höre, möchte ich am liebsten in lauten Jubel ausbrechen, aber natürlich verkneife ich mir das. Ich bin so aufgeregt, dass ich jeden Tag mit Miss Westbrook zusammen sein darf, dass mir nicht mal die Erwähnung des Behandlungscenters etwas ausmacht.
Später hüpft Josh auf seinem Bett auf und ab und freut sich darüber, was für einen Dusel er hat – und wie dumm ich bin.
»Ich werde jeden Nachmittag mit Mrs Jefferson Eis essen gehen, während du bei Miss Westbrook hockst. Du Pechvogel!«
Ich rolle mich auf die Seite und denke daran, wie hübsch Miss Westbrook ist und wie ihre Augen funkeln, wenn sie mich anlächelt. Der blöde Josh kann mich noch so sehr auslachen – ich würde eine Stunde mit Miss Westbrook jederzeit dem tollsten Eisbecher der Welt vorziehen.
Als ich Sarahs Zimmer betrete, verlässt der Polizist gerade den Raum. Ob Sarah mir überhaupt in die Augen sehen kann? Oder will sie nichts mehr mit mir zu tun haben?
Ich bleibe in der Tür stehen und kann kaum atmen. Sie wirkt unglaublich klein. Um ihren Kopf hat man einen Verband gewickelt, mit dem sie wie ein Bürgerkriegssoldat aussieht, und auch ihr Hals ist verbunden. Sie trägt ein Krankenhausnachthemd, und ich bin mir sicher, dass sich darunter weitere Bandagen verbergen. Oje, ist meine Liebste vielleicht blass. Gott sei Dank hat sie aber schon etwas mehr Farbe im Gesicht als vorhin auf dem Boden der Uni-Toilette. Mann, daran will ich nie wieder denken! Ich beiße mir auf die Unterlippe.
Ihr Armband ist weg, sie müssen es abgeschnitten haben. Einen Moment lang erscheint mir das als ein schreckliches Zeichen, aber ich reiße mich zusammen. Ab jetzt bin ich ein harter Kerl und nicht mehr so schwach wie bisher.
»Go, Seahawks!«, sagt sie leise mit ihrer schönen, rauen Stimme.
Ich bin verwirrt.
»Interessanter Moment, um deiner Leidenschaft für die Seahawks Ausdruck zu verleihen.«
Ich sehe an mir hinab. Ach ja, mein neues T-Shirt. Diese Frau sieht aus wie eine Mumie und ist knapp dem Tode entronnen, und dennoch lässt sie es sich nicht nehmen, mich zu veräppeln.
Gott, ich liebe sie. Ich lache und weine gleichzeitig und taumle an ihr Bett, um sie vorsichtig zu umarmen. Schließlich will ich sie nicht zerbrechen.
Wieder einmal war der Boden voller Blut, und trotzdem ist sie noch da. Das ist mir noch nie passiert. Normalerweise markierte eine solche Situation immer den endgültigen Abschied von einer Person – und von meinem Verstand. Ich weiß gar nicht, wie ich mich jetzt verhalten soll.
»Es tut mir so leid, Sarah«, sage ich und küsse ihre kostbaren Lippen. »So unendlich leid.«
»Mir tut es leid«, murmelt sie.
Wieder küsse ich sie. »Wieso sollte dir denn irgendetwas leidtun, Dummerchen?«
»Jonas«, sagt sie.
»Ich dachte, ich hätte dich verloren.« Ich bedecke ihr ganzes Gesicht mit Küssen. »Ich dachte, du würdest sterben.«
»Jonas«, wiederholt sie kaum hörbar.
»Es ist alles meine Schuld. Es tut mir so schrecklich leid! Ich habe es total vermasselt.«
»Du hast mir das Leben gerettet«, flüstert sie.
Ich habe keine Ahnung, was sie damit meint.
»Du hast mir das Leben gerettet!«, flüstert sie wieder.
Was? Ich bin doch derjenige, der sie allein auf die Toilette hat gehen lassen. Was zum Teufel meint sie? Ich habe tausend Fragen – aber ehe ich auch nur eine einzige stellen kann, platzt Sarahs Mom ins Zimmer, schluchzend, heulend und auf Spanisch vor sich hin brabbelnd.
»Englisch, Mom«, flüstert Sarah. »Jonas ist da.«
Mein Spanisch ist eigentlich nicht schlecht, aber Mrs Cruz spricht so schnell, dass ich kein Wort verstehe.
»Jonas«, sagt sie und drückt mich an sich.
Ich schäme mich so sehr dafür, dass ich den Angriff nicht verhindern konnte, dass ich Sarahs Mutter kaum in die Augen sehen kann.
»Sarah hat mir so viel von Ihnen erzählt, Jonas.« Mrs Cruz berührt meine Wange. »Vielen Dank für Ihre Spende. Das Geld kam heute Morgen an – es war zehnmal mehr als die großzügigste Summe, die wir je erhalten haben! Ich habe versucht, Sarah anzurufen, um nach Ihrer Nummer zu fragen – aber sie hat nicht abgehoben.« Mrs Cruz wirft einen Blick auf Sarah und bricht erneut in Tränen aus.
Sarah zwinkert mir zu, als sie von meiner Spende hört.
Mrs Cruz beugt sich über sie. »Qué pasó, mi hijita?«
»Englisch, Mom!«, wiederholt Sarah leise. »Irgendein Typ hat mich auf der Uni-Toilette mit einem Messer überfallen.«
Mrs Cruz schluchzt auf. »Warum? Wer war das?«
»Keine Ahnung, ich kannte ihn nicht. Der war eben scharf auf meine Handtasche. Ich habe ihn dem Polizisten schon beschrieben – ich bin mir sicher, dass sie ihn schnappen werden. Mach dir keine Sorgen.«
Das also ist die Version, die Sarah dem Polizisten erzählt hat? Was zum Teufel geht nur wieder in ihrem bandagierten Köpfchen vor sich? Ich starre Sarah an, aber sie sieht beiseite.
»Ich bleibe die ganze Nacht bei dir«, sagt Mrs Cruz. Sie zieht einen Stuhl ans Bett und legt ihren Kopf auf Sarahs Bauch. »Sarah. Mi hijita.«
Eigentlich will ich derjenige sein, der sich jetzt an Sarah schmiegt. In diesem Fall hat die Mutter aber ein gewisses Vorrecht – besonders, wenn der andere es so dermaßen vermasselt hat wie ich.
»Brauchen Sie etwas, Mrs Cruz?«, erkundige ich mich. »Kann ich Ihnen etwas zu essen oder zu trinken holen?«
Mrs Cruz antwortet nicht. Ihr Kopf liegt auf Sarahs Bauch, und sie heult wie ein Schlosshund.
Ja, ich ahne, wie sie sich fühlt.
Ich erwache auf einem harten Stuhl in der Zimmerecke. Wann bin ich eingeschlafen? Ich habe doch tatsächlich von Miss Westbrook geträumt, dabei habe ich bestimmt fünfzehn Jahre nicht mehr an sie gedacht.
Bis auf das Klicken und Piepsen der medizinischen Geräte ist es vollkommen still hier im Raum. Sarah schläft tief und fest, und ihre Mutter liegt immer noch halb auf ihr. Auf einem anderen Stuhl schläft Kat. Ich habe gar nicht gemerkt, dass sie gekommen ist. Eine Krankenschwester wechselt gerade Sarahs Infusionsbeutel. Ich starre ein paar Minuten lang auf Sarahs EKG, um zu sehen, ob ihr Puls gleichmäßig und stark ist, ehe ich die Augen wieder schließe.
Ich reiße meinen Kopf hoch. Wie lange habe ich geschlafen? Fuck, diese verrückten Träume hören einfach nicht auf. Drehe ich doch durch?
Sarahs Mom ist wach und hält Sarahs Hand. Kat ist weg. Ich stehe auf und gehe auf Zehenspitzen hinüber zu meiner Liebsten, um sie vorsichtig auf den Mund zu küssen. Mein Herz ist so schwer, mich wundert es fast, dass es überhaupt noch schlägt.
»Es tut mir leid«, flüstert Sarah, als ich mich von ihren Lippen löse.
Ich wollte sie zwar nicht wecken, bin aber erleichtert, ihre Stimme zu hören.
»Baby, mir tut es leid«, erwidere ich.
»Du hast mir das Leben gerettet«, wispert sie und schließt die Augen. Eine Träne rinnt über ihre Wange.
Ich weiß nicht, warum Sarah das immer wieder sagt. Ich schätze, die Schmerzmittel haben ihr Gehirn ein wenig vernebelt. Schließlich ist das alles meine Schuld!