Über das Buch

1929 reist der Neffe des Negus, des äthiopischen Kaisers, nach Vigàta in Sizilien, um zu studieren. Der Bonvivant und Schürzenjäger ist jedoch vor allem mit der Anhäufung von Schulden beschäftigt. Zur selben Zeit plant der Duce eifrig die Expansion seiner afrikanischen Kolonien. Im Kaiserneffen wittert er die Gelegenheit, einen Fürsprecher beim Negus zu gewinnen - in einem „Briefchen“ soll dieser dem Onkel von der Pracht des faschistischen Italien berichten. Mussolini befiehlt in „streng vertraulichen“ Schreiben die Vorzugsbehandlung des hohen Gastes - „obwohl er Neger ist“ -, darunter auch die Tilgung seiner gewaltigen Schulden. Doch die Kassen der Gemeinden sind leer, und während die bürokratische Konfusion eskaliert, wartet der vor Wut schäumende Duce vergeblich auf ein Zeichen des Neffen. Camilleris amüsantes Buch handelt von der „authentischen Dummheit, zwischen Farce und Tragödie, die auf fatale Weise eine ganze Epoche gezeichnet hat“ - und die, das ist sein genialer Zug, ins Herz des heutigen Italien trifft.

Andrea Camilleri

Streng vertraulich

Roman

Aus dem Italienischen von Sigrid Vagt

Nagel & Kimche

Inhalt

Akte Nr. 1

Gesprächsausschnitte 1

Akte Nr. 2

Gesprächsausschnitte 2

Akte Nr. 3

Gesprächsausschnitte 3

Vermischtes

Anmerkung

AKTE NR. 1

KÖNIGLICHES MINISTERIUM DES ÄUSSEREN

DER MINISTER

Prot. Nr. 234/675/B

Betreff: Prinz Grhane Solassie

An Cavaliere Carmelo Porrino

Rektor der Königlichen Bergbauschule

Vigàta

Rom, 20. August 1929

Kamerad!

Uns ist ein dringliches Ersuchen seitens S.E. des Gesandten von Äthiopien in Italien zugegangen, dass dem Neffen des Negus Negesti Haile Selassie, König der Könige und Kaiser, die Einschreibung an Eurer Bergbauschule gestattet werden möge, damit er dort den dreijährigen Lehrgang besuchen und das entsprechende Diplom erwerben kann.

Der junge Mann mit Namen Grhane Solassie Mbssa, der den Titel Prinz trägt, ist am 5. März 1910 in Addis Abeba geboren und würde somit über das angemessene Alter und als Absolvent des Nationalen Königlichen Konvikts «Vittorio Emanuele» in Palermo, welches er von 1927 an besucht hat, auch über die erforderlichen Voraussetzungen verfügen. Er spricht perfekt Italienisch. Unser Ministerium würde grundsätzlich eine Bewilligung des Ersuchens befürworten und die Unbedenklichkeitsbescheinigung für die Einschreibung ausstellen unter der Bedingung, dass Ihr in Eurer Eigenschaft als Rektor der Königlichen Schule vorab eine diskrete Umfrage unter den Schülern und eventuell auch deren Eltern durchführt, die Aufnahme betreffend, die der junge Mann unter seinen Mitschülern zu gewärtigen hätte.

Es handelt sich dabei, wie Euch ohne weiteres nachvollziehbar sein wird, um eine Situation, die größte Umsicht erfordert, insofern der junge Mann, obschon Neger, immerhin ein äthiopischer Prinz und zudem noch direkter Neffe des Negus ist, der offenbar sehr viel von ihm hält.

Ihr werdet daher verstehen, dass jegliche Unfreundlichkeit, ein unglückliches Missverständnis, ein unabsichtliches Fehlverhalten, ein unangebrachter jugendlicher Spott mit größter Leichtigkeit einen diplomatischen Zwischenfall herbeiführen könnte, welcher der erleuchteten Außenpolitik, die unser Duce mit römischer und vorausschauender Entschlossenheit lenkt, zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehr zum Schaden gereichen würde.

In dem unglückseligen Fall, dass sich im Rahmen der Schule irgendeines der erwähnten unerwünschten Vorkommnisse ereignen sollte, könnte unser Ministerium natürlich nicht umhin, dem Nationalen Erziehungsministerium darüber Meldung zu erstatten, damit die Verantwortung der Schulleitung der Königlichen Bergbauschule in Vigàta geprüft und die entsprechenden disziplinarischen Maßnahmen ergriffen werden.

In Anbetracht des bevorstehenden Schuljahresbeginns erwarten wir Eure umgehende Antwort.

Faschistische Grüße

für den MINISTER

der Kabinettschef

Corrado Perciavalle

P.S.

Die für den Besuch der Königlichen Schule vorgesehene Gebühr von 350 Lire im Monat wird das Außenministerium übernehmen.

KÖNIGLICHES MINISTERIUM DES INNEREN

DER MINISTER

Protokollnummer 21340098/B/112

Betreff: Äthiopischer Prinz

An Commendatore Felice Matarazzo

Präfekt von Montelusa

Rom, 21. August 1929

Kamerad!

Eine soeben eingetroffene Mitteilung unseres Außenministeriums unterrichtet mich darüber, dass sich zu Beginn des nächsten Schuljahres an der Königlichen Bergbauschule höchstwahrscheinlich ein junger Äthiopier (also Neger) namens Grhane Solassie Mbassa, 19 Jahre alt, als Schüler einschreiben wird.

Der oben Genannte ist ein Prinz, Neffe des Negus Negesti Haile Selassie, König der Könige und Kaiser von Äthiopien.

Der in Frage stehende Fall wirft einige Probleme auf, die ich Euch unterbreiten möchte und die es allesamt mit umsichtiger, faschistischer Entschlossenheit zu lösen gilt.

Wofern das Außenministerium sein Placet zur Einschreibung geben sollte, obliegt es mir, nochmals Eure Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, dass der junge Äthiopier zwar Prinz, doch gleichwohl Neger ist und bleibt.

Ein Neger unter einer Schülerschaft von weißen Jungen, die von herrlichem, unermüdlichem faschistischen Eifer beseelt sind.

Bedenkt die Situation wohl.

Wir haben keine Kenntnis über die politischen Ansichten des jungen Mannes, aber wie wir wissen, hat er während seines zweijährigen Besuchs des Nationalen Königlichen Konvikts «Vittorio Emanuele» in Palermo nach Auskunft des Cavaliere Mattia Siniscalco, des derzeitigen Direktors des genannten Konvikts, keinerlei Anlass zur Klage gegeben.

Auf jeden Fall wäre es unseres Erachtens in höchstem Maße opportun, dass Eure Exzellenz geeignete Maßnahmen ergriffe, um jedes mögliche Risiko auszuschließen.

Ohne mich im geringsten in die Aufgaben einmischen zu wollen, denen Eure Exzellenz als Kampfbundmitglied der ersten Stunde und Teilnehmer des Marsches auf Rom so hervorragend nachzukommen weiß, erlaube ich mir deshalb, Euch diesbezüglich einige bescheidene Vorschläge zu unterbreiten.

Es wäre sehr angeraten, mit den Eltern der Schüler, die gegenwärtig die Königliche Bergbauschule besuchen, eine Reihe präventiver Gespräche zu führen, um ihnen zu vergegenwärtigen, dass für jedwedes eventuelle Vorkommnis zwischen einem Schüler und dem Äthiopier auf jeden Fall die Familienangehörigen des italienischen Schülers zur Verantwortung gezogen werden.

Dies könnte für den Erzeuger den Entzug des Mitgliedsausweises der Nationalen Faschistischen Partei auf unbestimmte Zeit bedeuten (eine Maßnahme, die die Beendigung jeglicher Arbeitstätigkeit, auch der selbständigen, nach sich zieht) und für die Erzeugerin, ebenfalls auf unbestimmte Zeit, die Streichung der Mitgliedschaft im Faschistischen Frauenverband (was den Verlust all jener vielfältigen Vergünstigungen beinhaltet, die die Regierung den Familien und den Müttern gewährt).

Allerdings stellt die Anwesenheit des jungen Negers in Vigàta möglicherweise eine noch heiklere und schlimmere Gefahr dar, der um jeden Preis vorzubeugen ist.

Wie Eure Exzellenz weiß, stachelt der mitreißende und unaufhaltsame Sieg des Faschismus nur um so mehr den Hass der noch verbliebenen elenden und erbärmlichen Subversiven an, die immer noch im Dunkeln ihre Komplotte gegen die grandiose faschistische Revolution schmieden und als Feiglinge, die sie sind, danach trachten, ihr auf niederträchtige Weise hinterrücks einen Dolchstoß zu versetzen.

Nun denn, ist es nicht denkbar, dass irgendein finsterer subversiver Kommunist, der dank der Großzügigkeit des Duce bedauerlicherweise noch auf freiem Fuße ist, die Anwesenheit des jungen Negers im Ort nutzen könnte, um ihn absichtlich zu beleidigen und zu attackieren, dergestalt dass daraus ein internationaler Skandal entstünde, den die dem Faschismus feindlich gesinnte Presse des Auslands mit Freuden über Gebühr aufbauschen würde?

Sollte es zu dieser unerwünschten Situation kommen, wäre ein internationaler Zwischenfall leider unvermeidlich.

Und unangenehme Auswirkungen auf die geniale Außenpolitik des Duce wären die Folge.

Der gesunde Menschenverstand gebietet also eine verschärfte Überwachung aller noch in Vigàta lebenden, wenn auch bereits auf die Liste gesetzten Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten und Subversiven durch die Ordnungskräfte oder eventuell in Fällen extremer und unkontrollierbarer aufrührerischer Umtriebe das Ergreifen von Maßnahmen wie Freiheitsbeschränkung und Sicherungsgewahrsam.

Ich erwarte Eure unverzügliche Rückäußerung.

Faschistische Grüße

für den MINISTER

der Kabinettschef

Antonio Fortuna

KÖNIGLICHE PRÄFEKTUR VON MONTELUSA

DER PRÄFEKT

Protokoll Nr. 98799/BV/B/B/421

An Commendatore Filiberto Mannarino

Polizeipräsident von

Montelusa

Montelusa, 25. August 1929

Beehre mich, Abschrift des vom Ministerium des Inneren erhaltenen Briefes beizulegen, damit Ihr umgehend die Euch obliegenden Maßnahmen ergreifen könnt.

Faschistische Grüße

DER PRÄFEKT

(Felice Matarazzo)

KÖNIGLICHES POLIZEIKOMMISSARIAT VON VIGÀTA

Protokoll Nummer:

Betreff:

An Commendatore Filiberto Mannarino

Polizeipräsident von

Montelusa

Streng vertraulich

Vigàta, 30. August 1929

Signor Questore,

gemäß den mir von Euch erteilten Anweisungen habe ich umgehend mit den Eltern der fünf Schüler aus Vigàta gesprochen, die gegenwärtig die Königliche Bergbauschule besuchen. Weitere Schüler erweisen sich nach dem von Rektor Porrino zur Verfügung gestellten Verzeichnis als in anderen Orten wohnhaft und fallen somit nicht in meine Zuständigkeit.

Über das Ergebnis dieser Gespräche erstatte ich gesondert offiziellen Bericht. Es drängt mich jedoch, Euch auf streng vertraulichem Wege darauf aufmerksam zu machen, dass der Vater des Schülers Rainer Müller, der Bergbauingenieur Heinrich Müller, deutscher Nationalität und Kopf der lokalen Freimaurerei ist. Er legte Wert darauf, mir kundzutun, dass er seit ihrer Gründung der Nationalsozialistischen Partei Adolf Hitlers angehört, und diese Partei, sagt er, sei zwar durch unser faschistisches Regime beeinflusst, vertrete aber doch Überzeugungen von unbedingter Rassenreinheit, und deshalb könne er nicht dulden, dass sein Sohn neben einem Neger sitzt, und sei es auch ein Prinz. Wir haben vereinbart, dass er unter Anführung rein logistischer Gründe seinen Sohn auf eine andere Schule schickt.

Pignataro Gerlando, von Beruf Bergmann, Alter 43 Jahre, Analphabet, Vater des Schülers Gesualdo, gab dagegen an, er habe keinerlei Verbindung zu seinem Sohn und würde ihn nicht einmal auf der Straße erkennen, denn er sei nur der Geburtsurkunde nach der Vater, da er mit seiner Ehefrau, Ferraù Agata, niemals fleischliche Beziehungen gehabt habe. Seinen Aussagen zufolge, und es gibt keinen Anlass, ihm nicht zu glauben, hat er sie lediglich auf das Versprechen einer beträchtlichen Summe Geldes hin geheiratet, die ihm nach der Hochzeit von dem tatsächlichen Vater, dem bekannten Mafioso Marchica Calcedonio, genannt `u zù Cecè, der im Gefängnis von Montelusa einsitzt, in regelmäßigen Raten überwiesen wurde.

Ich habe daraufhin die Ferraù Agata einbestellt und mit ihr gesprochen, wobei ich sie darauf hingewiesen habe, dass im Falle eines durch ihren Sohn Gesualdo verursachten Vorkommnisses nicht nur sie die Folgen zu tragen hätte, sondern auch der Häftling Marchica Calcedonio, dem eine Verschärfung der Haftbedingungen blühen würde.

Jetzt komme ich zu der heikelsten Sache.

Bevor ich zum Kommissar befördert und nach Vigàta versetzt wurde, war ich Vizekommissar im Polizeikommissariat von Riesi.

Deshalb versah ich gerade meinen Dienst, als S.E. Benito Mussolini am 11. Mai 1924 das im Bezirk Riesi gelegene Bergwerk Trabia mit seinem Besuch zu beehren geruhte.

Scharenweise strömten begeisterte Menschen aus Riesi, Sommatino, Ravanusa und anderen Nachbarorten herbei. In faschistischer Uniform, aber mit einer Studentenmütze auf dem Kopf, die die Studenten in Palermo ihm geschenkt hatten, wurde der Duce beim Betreten des Grubengeländes, wo sich Hunderte jubelnder und «Evviva» schreiender Männer und Frauen drängten, am linken Auge von einem Blumenstrauß getroffen, den die Signora Mafalda Giovenco ihm schwungvoll zugeworfen hatte, und während der Kundgebung musste der Duce deshalb die ganze Zeit blinzeln und sich immer wieder mit dem Taschentuch das getroffene Auge betupfen.

In dem Moment hielt ich die Sache, weil ja alle Blumen warfen, für vollkommen unbeabsichtigt.

Nach seinem Besuch unter Tage hielt er eine flammende Rede an die Masse von Menschen von einem Balkon herunter, unter dem eine Säule errichtet worden war, mit einer kunstvoll aus Schwefel gegossenen Büste Seiner Exzellenz Mussolini obendrauf.

Kurz bevor es an diesem Abend Mitternacht schlug, begaben sich nach von mir gesammelten Augenzeugenberichten drei verdächtige Gestalten, zwei Erwachsene und ein Heranwachsender, zu besagter Säule, und nachdem akrobatisch einer dem andern auf die Schultern geklettert war, wurde dem kleinsten von ihnen, der zuoberst stand, ein mit Mineralöl getränkter Bausch gereicht, der von dem Jungen mit einem Schwefelhölzchen in Brand gesetzt wurde. Während die drei spurlos verschwanden, löste das Feuer die kunstvolle Büste in Rauch auf.

Mit den Ermittlungen beauftragt, gelang es mir, das Widerstreben der Zeugen zu überwinden, die sich nur durch starken Druck und zermürbende Verhöre schließlich dazu bereit fanden, vage Informationen zu liefern, und ich nahm einen gewissen Giosafatte Landolfo fest, einen Maschinisten aus der Mine, der bis dahin noch keine antifaschistische Gesinnung an den Tag gelegt hatte.

Groß war meine Überraschung, als ich entdeckte, dass die Frau desselben eben jene Giovenco Mafalda war, die den Duce am Auge verletzt hatte.

Und nicht nur das: In ihrem Haus war ein vierzehnjähriger Neger zu Gast mit Namen Grhane Solassie, dessen Vater sich mit Landolfo angefreundet hatte, als dieser drei Jahre lang als Bergbauspezialist in Äthiopien zu tun hatte.

Ich glaubte, zwei der drei Männer, die diese unbesonnene, tollkühne Tat begangen hatten, identifiziert zu haben (einen der beiden Erwachsenen und den Jungen), doch leider wurde der Landolfo durch die Aussage des Bergwerkdirektors, Ingenieur Enrico Giovagnoli, ein Mann von leidenschaftlicher faschistischer Gesinnung, vollständig entlastet. Der Ingenieur sagte aus, er sei an jenem Abend im Hause Landolfo zum Essen eingeladen gewesen und habe sich dort bis weit nach Mitternacht aufgehalten.

Der Vollständigkeit halber füge ich noch hinzu, dass im Ort nie bewiesene Gerüchte kursierten über ein Verhältnis des Giovagnoli mit der Giovenco, einer ziemlich schamlosen Person von anscheinend nicht kristallklarer Tugend.

Es kann also sein, dass die Leidenschaft der Sinne des jungen Ingenieurs Giovagnoli die Oberhand über seine Leidenschaft für den Faschismus gewonnen hat. Das war es, worüber ich Eure Erlauchte Herrschaft vertraulich in Kenntnis setzen wollte.

Faschistische Grüße

DER POLIZEIKOMMISSAR VON VIGÀTA

(Giacomo Spera)

KÖNIGLICHE BERGBAUSCHULE VON VIGÀTA

DER REKTOR

Protokoll Nr. 4563/A

Betreff: Äthiopischer Schüler

An S.E.

den Minister des Äußeren

Rom

Vigàta, 2. September 1929

Exzellenz!

Beehre mich, auf Euer Schreiben vom 20. August d. J., Protokoll Nr. 234/675/B, zu antworten, bezüglich der möglichen Reaktionen der Schüler, die unsere Königliche Bergbauschule bereits besuchen, auf die eventuelle Einschreibung eines neuen Schülers schwarzer Hautfarbe.

Da die Königliche Schule wegen der Sommerferien zur Zeit noch geschlossen ist, war es überaus schwierig, die Gesamtheit der Schüler zu erreichen.

Es ist mir gelungen, mit allen Verbindung aufzunehmen, mit Ausnahme eines Schülers aus dem zweiten Jahrgang, Cuticchio Giovanni, der jedoch aus einer Familie kommt, die in Fela für ihre Sittenstrenge, ihre religiöse Prinzipienfestigkeit und ihre zutiefst faschistische Gesinnung stadtbekannt ist.

Ich fühle mich deshalb imstande, für diesen jungen Mann persönlich zu bürgen. Von den anderen, mit Ausnahme eines einzigen, auf den ich später noch zurückkommen werde, habe ich ausschließlich Äußerungen gehört, die sich auf ein gewisses Interesse oder auf einfache, schlichte Neugier beschränkten. Niemals ein Zeichen oder ein Ausdruck des Widerwillens. Da die Frist für die Einschreibung an unserer Königlichen Bergbauschule am 10. August abgelaufen ist, war es mir möglich, auch die künftigen zehn Schüler des nächsten ersten Jahrgangs zu erreichen.

Nun gut, auch bei ihnen habe ich alles andere als feindselige Reaktionen festgestellt, mehr als einer hat sich sogar als Banknachbar angeboten.

In diesem Zusammenhang erlaube ich mir, Eure Exzellenz daran zu erinnern, dass der äthiopische Schüler im Falle der Bewilligung seines Gesuchs zusammen mit allen anderen Papieren auch die unerlässliche Teilaufhebung der vom Ministerium für Nationale Erziehung erlassenen Einschreibbedingungen vorzulegen hätte.

Und jetzt möchte ich den Fall des Schülers Rainer Müller darlegen.

Der in Italien als Sohn von Eltern deutscher Nationalität geborene junge Mann zeigte auf meine Frage, ob er etwas gegen den gemeinsamen Schulbesuch mit einem äthiopischen Schüler einzuwenden hätte, ein gewisses Zögern und riet mir, mit seinem Vater darüber zu sprechen.

Der mir gut bekannte Vater ist der Bergbauingenieur Heinrich Müller, der, von jeher Mitglied der Nationalsozialistischen Partei Adolf Hitlers, bereits zu verschiedenen Anlässen öffentlich und erregt seine deutliche Abneigung gegen Juden, Neger, Zigeuner und weibische Jünglinge zum Ausdruck brachte.

Er sagte mir, er habe über das Problem bereits mit dem Polizeikommissar von Vigàta gesprochen und sei zu dem Entschluss gelangt, seinen Sohn von unserer Schule zu nehmen und ihn in Caltanisetta anzumelden.

Ich wies ihn darauf hin, dass sein Sohn ja bereits im zweiten Jahrgang sei, während der Äthiopier eventuell in den ersten aufgenommen werde und es demzufolge keinerlei physische Nähe zwischen den beiden geben würde, worauf er mir entgegnete, durch die Anwesenheit eines Negers, der die gleiche Behandlung genießen würde wie sein Sohn, wäre für ihn die ganze Schule infiziert. Vorgestern jedoch erreichte mich die Nachricht, dass der junge Rainer, als er durch seinen Vater von dem bevorstehenden Wechsel an die Königliche Schule in Caltanisetta erfuhr, versucht hat, seinem Leben durch Erhängen ein Ende zu setzen. Gerade noch rechtzeitig gerettet, wurde er ins das örtliche Krankenhaus eingeliefert.

Gestern nachmittag suchte mich Ingenieur Müller auf, um mir mitzuteilen, er habe seine Absicht geändert, sein Sohn bleibe an unserer Schule.

Außerdem versicherte er mir wortreich, dass er uns trotz seiner tiefen Überzeugung hinsichtlich der Unterlegenheit und Gefährlichkeit der jüdischen und der schwarzen Rasse keinerlei Unannehmlichkeiten bereiten werde.

Auf meine diskrete Frage nach dem Grund für das törichte Handeln des Jugendlichen antwortete er, sein Sohn sei sehr sensibel und die Aussicht, die Schule und seine Gefährten, die ihn sehr mögen, verlassen zu müssen, habe ihn in tiefe Niedergeschlagenheit gestürzt.

Deshalb bin ich mir sicher, dass die eventuelle Anwesenheit eines äthiopischen Schülers kein Vorbote unliebsamer Vorfälle sein wird.

In jedem Fall stehe ich Eurer Exzellenz stets zur Verfügung.

Es lebe der Duce!

DER REKTOR DER KNGL. BERGBAUSCHULE

(Carmelo Porrino)

KÖNIGLICHES POLIZEIPRÄSIDIUM VON MONTELUSA

DER POLIZEIPRÄSIDENT

Prot. Nr.

Betreff:

An den Polizeikommissar

Vigàta

Streng vertraulich

Montelusa, 6. September 1929

Lieber Spera,

von S.E. dem Präfekten erhielt ich in Abschrift einen Brief, der vom Rektor der Bergbauschule von Vigàta (den ich für einen absoluten Trottel halte) an das Außenministerium geschickt wurde.

Ich lege ihn Euch zur Kenntnisnahme bei.

Mich überzeugt die Sache mit dem Schüler Müller nicht im geringsten.

Hat man je gehört, dass ein Schüler sich das Leben zu nehmen versucht, weil er die Schule, auf die er geht, verlassen soll? Das ist ja wohl ein Witz.

Ich vermute hinter dem Suizidversuch des Jungen ganz andere Motive.

Und die müssen aufgedeckt werden.

Meines Erachtens zeigt einer, der sich in dem Alter umbringen will, auf jeden Fall einen labilen Charakter.

Und wenn er morgen auf den Tick seines Vaters verfällt, die Neger zu hassen, und er mir eines schönen Tages dem Äthiopier den Bauch aufschlitzt?

Erwarte rasche vertrauliche Antwort.

Herzliche Grüße

DER POLIZEIPRÄSIDENT

(Filiberto Mannarino)

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BISCHÖFLICHE KANZLEI MONTELUSA

An Don Stefano Ficarra

Via dei Crociferi 14

Vigàta

Montelusa, 7. September 1929

Liebster Pater,

wie Ihnen gewiss bekannt ist, soll infolge der am 11. Februar d. J. geschlossenen Lateranverträge zwischen dem italienischen Staat und dem Staat der Vatikanstadt von nun an in allen Schularten und Schulstufen wöchentlich eine Stunde Religionsunterricht erteilt werden.

Unsere Kanzlei hat Sie als Religionslehrer für die Königliche Bergbauschule in Vigàta ausersehen.

Wir haben Sie dem Rektor bereits namentlich genannt.

Ihren Dienst werden Sie mit Beginn des Schuljahres aufnehmen.

Sie werden demzufolge kontrollieren, ob in jedem Klassenraum besagter Schule zwischen den Porträts S.E. Benito Mussolini und Seiner Majestät Vittorio Emanuele III., König von Italien, das Heilige Kruzifix hängt.

Wie wir vernommen haben, werden Sie unter Ihren Schülern im ersten Jahrgang höchstwahrscheinlich einen jungen Äthiopier vorfinden, der als Neffe des Negus, des Kaisers von Äthiopien, den Rang eines Prinzen hat.

Gegenwärtig besuchen viele Jugendliche aus Libyen, Eritrea und Somalia unsere Schulen.

Allerdings hat ihre Anwesenheit unseres Wissens bisher keinerlei Probleme bereitet, da alle, ich wiederhole, alle diese jungen Leute freiwillig ihrem Glauben abgeschworen und die katholische Religion angenommen haben.

Durch Informationen, die wir auf vertraulichem Wege von dem Direktor des Nationalen Konvikts «Vittorio Emanuele» in Palermo, welches der junge Äthiopier besucht hat, erhalten haben, geht hervor, dass der Prinz der koptischen Religion angehört. Wie Ihnen gewiss bekannt ist, ging die koptische Religion aus der Ablehnung des Monophysitismus seitens des Konzils von Chalkedon 451 hervor. Der Monophysitismus gründet im wesentlichen in der Behauptung, vor der Inkarnation habe es in Christus theoretisch zwei Naturen gegeben, eine menschliche und eine göttliche, hernach aber habe nur noch eine einzige existiert.

Ohne die Bedeutung dieser Frage schmälern zu wollen, scheint sie uns doch für die Haltung, welche Sie dem jungen Äthiopier gegenüber einnehmen sollten, insofern gänzlich ohne Belang, als es sich bei ihm in jeder Hinsicht um einen vollgültigen Christen handelt.

In Anbetracht der verwandtschaftlichen Beziehungen des Äthiopiers und seines Adelsranges halten wir deshalb eventuelle Initiativen, die Sie zu ergreifen versucht sein könnten, um den jungen Mann in den Schoß unserer Mutter Kirche zurückzuführen, für inopportun.

Desgleichen halten wir dafür, dass eine Diskussion zwischen Ihnen und dem jungen Äthiopier über die theologischen Unterschiede zwischen den beiden Religionen im Rahmen des Unterrichts nicht nur fruchtlos, sondern potentiell schädlich wäre.

Wir vertrauen deshalb auf Ihr Taktgefühl und Ihre Urteilskraft und grüßen Sie mit dem Segen für unseren Bruder in Christus.

für S.E. den BISCHOF

der Privatsekretär

(Don Angelo Sorrentino)

KÖNIGLICHES POLIZEIKOMMISSARIAT VON VIGÀTA

Protokoll Nummer:

Betreff:

An Commendatore Filiberto Mannarino

Polizeipräsident von

Montelusa

Streng vertraulich

Vigàta, 10. September 1929

Signor Questore,

wenn Sie mir die Freiheit gewähren, mich mit aller Offenheit ausdrücken zu dürfen, stimme ich Ihnen darin zu, dass der Rektor der Königlichen Bergbauschule ein ausgemachter Trottel ist.

Nach Erhalt Ihres streng vertraulichen Schreibens dachte ich, es könne mir sehr von Nutzen sein, ein paar Worte mit den Klassenkameraden von Rainer Müller zu wechseln, um mehr über die Persönlichkeit des Jugendlichen herauszufinden.

Doch weil ich befürchtete, meine Fragen könnten bei den Jungen übermäßige Neugier oder sogar absonderliche Schlussfolgerungen auslösen, habe ich gleich wieder Abstand davon genommen.

Das Glück war mir gewogen, als ich zufällig einen Freund aus meiner Zeit in Riesi traf, der aus beruflichen Gründen nach Montelusa übergesiedelt ist und den ich schon mindestens seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte.