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Keyla@Bruns_LLC: Honigbär

 

 

 

Ein Roman von Bianca Nias

Impressum

© tensual publishing, Mettingen 2016

tensual publishing ist ein Imprint des

dead soft verlags

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© the author

http://www.biancanias.de

 

Cover: Toni Kuklik

 

Bildrechte:

© glebTv – shutterstock.com

© pixabay.de

 

1. Auflage

ISBN 978-3-946408-06-2

ISBN 978-3-946408-07-9 (epub)

Inhalt:

 

 

Eine Löwin und ein Bär? Kann das gut gehen? Die ganze Familie Bruns ist in heller Aufregung, als sich Keyla Hals über Kopf in den Kodiakbären Judd verliebt.

Eigentlich müsste Keyla im siebten Himmel schweben, denn Judd erwidert ihre Liebe und beide spüren, dass sie etwas ganz Besonderes verbindet. Unerwartet stoßen die beiden Verliebten auf heftigen Widerstand innerhalb der Familie, aber Keyla erfährt auch Unterstützung, mit der sie niemals gerechnet hätte ...

 

 

 

 

 

Widmung

 

Für meine beiden Mamas Helga und Anita.

Ihr seid, wie auch der Rest der Familie, ein wichtiger Bestandteil meines Lebens, daher ist der Zusammenhalt eines „Rudels“, der von euch Müttern geprägt wird, auch Hauptthema dieses Buches geworden. Manche Ähnlichkeiten zu unserer Familie sind nicht zufällig. Insbesondere die Minka konnte ich mir nicht verkneifen.

 

Erster Teil: KEYLA

 

Kapitel 1

 

Die Sonne brennt heiß und ich wische mir zum hundertsten Mal innerhalb der letzten halben Stunde den Schweiß von meiner Stirn. Neben mir stöhnt mein Patenonkel, der gute alte Old Bear, ungehalten auf.

»Haben die hier noch immer keine klimatisierte Wartehalle?«

Ich schüttele verhalten den Kopf, antworte aber lieber nicht. Nur kein Wasser auf die Mühlen des brummigen Grizzlys schütten, dafür kenne ich ihn zu gut. Und nein, Springbok ist viel zu klein, als dass die Stadt mit einem richtigen Flughafen samt klimatisierten Empfangsbereich aufwarten könnte. Hier gibt es nicht mehr als eine Asphaltpiste im Wüstensand und ein paar Hangars – aber es ist meine Heimat, daher verzeihe ich den Missstand nur zu gerne. Ich fühle mich wohl in dieser Gegend, in der ich sorgenfrei aufgewachsen bin. Auch wenn jetzt gerade mein T-Shirt an meinem Rücken klebt und mein Instinkt vehement fordert, dass ich mich in meine Löwengestalt verwandeln und unter dem nächsten Baum ein Nickerchen machen sollte, bis sich die Mittagshitze wieder verzogen hat.

Das Flugzeug hat Verspätung – wie gewöhnlich. Hier in Südafrika nimmt man es mit der Zeit nicht so genau. Eine halbe Stunde Verspätung gilt als normal, darüber regt sich niemand auf. Habe ich mich schon so sehr an die deutsche Pünktlichkeit gewöhnt, dass mir dies nun umso mehr auffällt? Wahrscheinlich. Mittlerweile fühle ich mich in Deutschland mindestens ebenso heimisch. Ein wenig vermisse ich die nordhessischen Wälder, ihren Geruch nach Tannen, Buchen und Eichen, frischem Laub, Pilzen, Rehen und Hirschen …

Hm, das Wasser läuft mir im Mund zusammen, als ich an den Rehbraten denke, den ich letztes Jahr im Herbst zubereitet habe. Rehrücken auf badische Art, mit Thymian und Wacholder. Ein leiser Seufzer entweicht mir, bevor ich ihn zurückhalten kann. Meine Brüder haben anschließend mit keinem Wort erwähnt, ob er ihnen überhaupt geschmeckt hat. Aber den beiden Schnöseln könnte ich das Reh auch roh vorsetzen, sie würden den Unterschied gar nicht bemerken.

Oh ja, sie sind typische Löwen. Für sie ist immer noch die Frau für die Jagd und das Kochen zuständig, während die Herren faul in der Gegend herumliegen und allenfalls für den Schutz des Rudels sorgen. Irgendwie hat unsere Mom bei deren Erziehung versagt - nun ja, es ist nicht so, dass sie es nicht versucht hätte. Aber Jon und Tajo sind von Natur aus echte Machos. Okay, jetzt werde ich ungerecht. Die beiden arbeiten auch hart und verdienen mit ihrer Sicherheitsfirma Bruns LLC, die Alarmanlagen und Sicherheitssysteme vertreibt, einen Haufen Kohle. Davon profitiere ich schließlich ebenfalls, denn so kann ich bei meinen Brüdern in Deutschland wohnen, um dort meinen Traumberuf zu erlernen und Tiermedizin zu studieren.

Wenigstens Marc ist da anders, er lobt meine Kochkünste ständig und fragt interessiert nach den Rezepten, auch wenn er in der Küche eine totale Niete ist. So intelligent er ist, so tollpatschig kann er auch sein. Ich schmunzele amüsiert, als ich daran denke, wie er es vorgestern tatsächlich geschafft hat, die Spaghetti anbrennen zu lassen.

Spaghetti! Anbrennen lassen! Den Topf konnte ich hinterher wegwerfen, die eingebrannte Pampe war mit keinem Putzmittel der Welt zu entfernen. Ich will gar nicht wissen, warum ihm das passiert ist. Es gibt da eigentlich nur eine Möglichkeit: Mein großer Bruder war in der Nähe und die beiden haben mal wieder die Finger nicht voneinander lassen können. Danach hat Marc sogar von Elli, unserer Haushälterin hier in Südafrika, Küchenverbot bekommen. Und das will etwas heißen, denn die kleine Wildhündin vergöttert Marc. Obwohl er ein normaler Mensch ist. Kann ich verstehen – er ist einfach ein Glücksgriff für unsere Familie. Ich selbst mag ihn auch unheimlich gern, ja, ich liebe ihn sogar - auf eine ganz platonische Art und Weise, versteht sich. Denn Marc bestätigt leider das alte Klischee: Die besten Männer sind entweder schwul oder bereits vergeben. Und so hat sich mein großer Bruder den süßen Kerl gegriffen, bei dem ich sowieso niemals eine Chance gehabt hätte.

Das Brummen einer Propellermaschine reißt mich aus meinen Gedanken. Na endlich, unser angekündigter Besuch naht. Judd Brown, ein Kodiakbär aus Toronto. Er ist Hanks Neffe, 23 Jahre alt, gelernter Systemelektroniker, mehr weiß ich nicht über ihn. Tajo lässt ihn extra einfliegen, damit Judd ihm bei der Installation einer hypermodernen Alarmanlage hilft, die er zum Schutz der Farm plant. Nachdem Max und Roque, ehemalige Freunde und vermeintlich Verbündete, uns angegriffen und Marc schwer verletzt hatten, setzt mein Bruder alles daran, unsere Heimatfarm und ihre Umgebung sicherer zu machen.

Nun gut, dann muss ich mir nicht mehr die Tage und Nächte mit Wacheschieben um die Ohren schlagen, wie während der letzten Wochen. Aber die Bedrohung durch Shirkou Soran, einen kurdischen Berglöwen, der uns an den Kragen will, nimmt immer weiter Form an. Der Konflikt mit dem Puma schwelt schon seit einigen Jahren, aber jetzt macht er Ernst, will durch Terroranschläge die Macht in unserer Welt an sich reißen. Und wir sind sein erstes Ziel. Wenn er uns Löwen aus dem Weg räumt, hat er leichteres Spiel mit den anderen Gestaltwandlern, meint mein Dad.

Politik hat mich nie großartig interessiert, aber ich bin mit dem Misstrauen gegen die moslemischen Gestaltwandler des Nahen Ostens großgezogen worden. Obwohl ich eigentlich ganz anders darüber denke. Leben und leben lassen, ist meine Devise. Außerdem achte ich als angehende Tierärztin das Leben im Allgemeinen viel zu sehr, um irgendwelche Rassenunterschiede gutzuheißen. Mögen doch manche Arten von Gestaltwandlern eine andere Kultur und eine andere Religion haben – auch sie haben Familien, lieben ihre Frauen und Kinder und wollen sie vor allem Bösen auf der Welt beschützen. Natürlich kann ich ihre Mittel nicht immer billigen, aber auch die westlichen, christlich orientierten Gestaltwandler machen Fehler. Die Politik des Westens war in den letzten Jahren durch Einmischung, Unterdrückung und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Nahen Ostens bestimmt, weshalb ich den Groll der dortigen Bewohner nachvollziehbar finde. Aber nun ja, ich bin nur eine Medizinstudentin. Was soll also ausgerechnet ich an diesem weltpolitischen Durcheinander ändern können.

 

Das Flugzeug setzt weich auf und rollt langsam aus. Die Tür wird entriegelt, die kleine Gangway klappt herunter. Ich kneife die Augen etwas zusammen, um im gleißenden Sonnenlicht besser sehen zu können. Okay, das muss er sein. Die Schrankwand in Jeans und dunkelgrauem Poloshirt, die gerade aussteigt. Seine breiten Schultern schiebt er vorsichtig durch die schmale Tür und duckt sich rechtzeitig, um sich den Kopf nicht anzustoßen. Das beeindruckt mich jedoch wenig. Bären sind in der Regel groß und breit gebaut. Dabei haben die meisten einen … ähm … nennen wir es mal: intensiven Körpergeruch. Hey, ich bin mit Old Bear an meiner Seite aufgewachsen, der mich als Kind auf seinen Knien geschaukelt hat. Trotzdem fällt mir jeden Tag aufs Neue sein Bärengeruch auf, der ihn so völlig von uns Löwen unterscheidet. Es ist ein etwas strenger, scharfer, urwüchsiger und wilder Duft. Unser Gast sieht sich bereits suchend um und ich stoße Old Bear aufmunternd an der Schulter an.

»Los komm, gehen wir Judd begrüßen.«

Ich winke dem jungen Kodiakbären zu und laufe ihm die letzten paar Meter entgegen. Er bleibt wie angewurzelt stehen und starrt in meine Richtung. Hat er jemand anderen erwartet? Vielleicht hat Tajo ihm am Telefon nicht gesagt, dass ich ihn in Springbok abholen würde.

Als ich endlich vor ihm stehe, muss ich zu ihm hinaufschauen, denn er überragt mich um bestimmt einen ganzen Kopf.

»Hi, ich bin Keyla Bruns. Judd Brown, nicht wahr? Ich bin dein Abholservice.«

Ich strecke ihm die Hand entgegen und zwinkere ihm freundlich zu, bemerke aber sein leichtes Zögern, bevor er sie ergreift. Seine riesige Pranke schließt sich vorsichtig um meine Hand, die in seiner vollkommen verschwindet.

»Ja … Ähm, ich meine, ja, ich bin Judd.« Er räuspert sich kurz. »Judd Montgomery Brown, der Dritte.«

Die tiefe Stimme klingt leise, etwas geistesabwesend, aber sehr angenehm. Sein Händedruck ist kaum spürbar und er lässt sofort wieder los, als habe er sich verbrannt. Ach, wie peinlich, wahrscheinlich habe ich eine verschwitzte Handfläche. Verlegen wische ich mir die Hand an meinen Shorts ab. Auch Old Bear begrüßt unseren Besuch, allerdings wortlos, mit einem simplen Handschlag. Typische Bären. Keine großen Worte.

Jetzt nehme ich auch Judds Geruch wahr - oh, völlig anders als der von Hank oder Old Bear. Eher würzig, holzig, mit einem Hauch … Honig. Überrascht atme ich nochmals tief ein. Ja, er riecht tatsächlich nach Honig. Das ist ja witzig. Als hätte er in einem Topf Honig gebadet. Wie Winnie Pooh. Der Gedanke lässt mich unvermittelt grinsen, was bestimmt total idiotisch aussieht. Ich beeile mich daher, wieder ein freundliches, aber eher geschäftsmäßiges Lächeln aufzusetzen.

»Dort drüben steht unsere Cessna. Bis zur Mikuyu-Farm sind es noch gute 100 Kilometer, aber in einer halben Stunde werden wir da sein. Hast du noch mehr Gepäck dabei?« Zweifelnd wandert mein Blick zu dem großen Rucksack, den er nachlässig über der Schulter trägt. Judd sieht mich eher entgeistert an und schüttelt langsam den Kopf.

»Äh, nein, warum?«

»Oh. Okay. Nur so.«

Mann, was stelle ich hier für blöde Fragen? Der muss mich ja für vollkommen bekloppt halten. Als würde ein Mann für einen Aufenthalt von ein oder zwei Wochen mit Unmengen an Gepäck anreisen. Schnell deute ich erneut auf unsere Cessna.

»Na, dann können wir ja jetzt starten.« Ich steuere unser kleines Flugzeug an und schwinge mich auf den Pilotensitz.

Judd klettert neben mir ins Cockpit, da sich Old Bear vornehm zurückhält und im hinteren Teil der Maschine Platz genommen hat.

»Du fliegst?«

Etwas pikiert sehe ich ihn von der Seite her an.

»Ja. Seit meinem sechzehnten Lebensjahr.« Oh, Mist, das klang ein wenig angefressen. Aber ich hasse das. Nur, weil ich erst einundzwanzig bin, heißt das schließlich nicht, dass ich so ein kleines Flugzeug nicht fliegen darf. Oder als Frau nicht weiß, wie man das macht.

»Sorry.« Judd schaut mich betroffen an. »Ich war nur überrascht. Sonst nichts.«

Hinter uns lacht Old Bear leise auf. Ich werfe ihm einen tadelnden Blick über die Schulter zu, aber der alte Bär hält sich zum Glück mit weiteren Kommentaren zurück. Irgendwie hatte ich schon befürchtet, er würde jetzt vor Judd einige meiner Jugendsünden breittreten. Zum Beispiel, wie ich als Kind Daddys Flugzeug gegen die Hangarwand gefahren habe, weil ich es einparken wollte. Wozu mich natürlich meine Zwillingsschwester Anna angestiftet hatte, alleine wäre ich als Sechsjährige niemals auf so eine bescheuerte Idee gekommen.

Ich melde dem Tower vorschriftsmäßig unseren Start und werfe den Propeller an. Der kraftvolle Motor vibriert, das Dröhnen klingt jedoch etwas anders als sonst. Merkwürdig, vorhin war noch alles in Ordnung. Aber die Maschine beschleunigt wie gewünscht und ich konzentriere mich auf den Startvorgang. Erleichtert atme ich auf, als die Cessna den Bodenkontakt verliert und sanft, aber stetig in den Himmel steigt. Okay, der Motor zieht nicht richtig durch. Das muss ich Daddy gleich sagen, sobald wir gelandet sind, dann können er oder Hank mal nachsehen. Nun, die Instrumente geben an, dass noch alles im grünen Bereich ist, auch wenn der Zylinderdruck gerade etwas erhöht ist.

Ich greife nach vorne zum Instrumentenpult und regele die Benzinzufuhr, um dies auszugleichen. Dabei bemerke ich aus den Augenwinkeln, dass Judds Blick direkt auf meine Hände gerichtet ist. Komisch. Ich teste es einfach mal, greife zum Knopf für die Klimaanlage und schalte sie aus, wir brauchen sie auf dem kurzen Flug sowieso nicht. Oh ja, seine Augen kleben förmlich an meinen Fingern. Was sieht er da nur? Habe ich Dreck unter den Fingernägeln, oder was? Ich ziehe die Hand zurück und prüfe es verstohlen nach. Nein, da ist nichts. Keine dreckigen oder eingerissenen Nägel, Gott sei Dank.

Der Weg zur Farm ist mir mehr als vertraut, ich brauche daher keine Instrumente um zu navigieren. Die Landschaft mit ihren charakteristischen roten Hügeln und Felsen reicht aus, um sich nicht zu verfliegen. Bald schon sehe ich die Grenzen unseres Privatbesitzes vor mir, das gut 5000 Hektar große Land, das an einer Seite vom Kgalawi, einem Nebenfluss des Orange River, begrenzt wird. Unsere Landebahn ist bereits zu erkennen, ich lasse die kleine Maschine langsam sinken und setze sicher auf. Die Cessna rollt vor dem Hangar aus und ich schalte den Motor ab. Der Jeep nähert sich, Anna hat uns kommen hören und wird uns zum Haupthaus fahren.

Meine Schwester unterzieht unseren Gast einer ungenierten Musterung, während sie ihn höflich begrüßt.

»Hallo Judd, ich bin Anna, Keylas Zwilling. Schön, dass du da bist.«

Oh ja, ich kann die Gedanken hinter Annas Stirn lesen. Es heißt nicht umsonst, dass Zwillinge oftmals wie eine Einheit agieren, dafür kennen wir beide uns einfach zu gut.

Lecker Kerlchen, denkt meine Schwester gerade. Und ich muss ihr notgedrungen recht geben. Judd sieht einfach zum Anbeißen aus, seine breiten Schultern, die muskulösen Oberarme, das gutmütige, ebenmäßige Gesicht mit dem leichten Bartschatten, die sanften braunen Augen - uh, ich muss aufpassen, dass ich nicht gleich zu sabbern anfange. Der Arme scheint sich jedoch unter dem intensiven Blick meiner Schwester eher unwohl zu fühlen, brummt ein kurzes »Hallo Anna« und flüchtet geradezu in den Jeep. Anna macht in meine Richtung ein bedeutsames Grinsekatzengesicht, das so viel heißen soll wie ›Klasse Typ, aber voll schüchtern!‹ und fährt uns gottlob ohne weitere Bemerkung zum Haus hinüber. Tajo kommt uns bereits auf der Veranda entgegen.

»Hallo Judd, prima, dass du da bist. Ich zeige dir gleich, welche Installationen ich geplant habe. Die Technik ist bereits geliefert worden ...« Mein Gott, großer Bruder, lass den armen Bären doch erst einmal richtig ankommen! Aber Tajo ist so voller Tatendrang, dass er sich nicht um den Gast zu sorgen scheint, der immerhin eine lange Anreise aus Kanada hinter sich hat.

Ich lasse die beiden Männer bei ihrem Fachgespräch zurück und atme ein wenig auf, als ich das kühle Wohnzimmer betrete. Erleichtert puste ich mir eine schweißnasse Haarsträhne aus der Stirn. Es tut gut, der Mittagshitze zu entkommen. Als Löwen mögen wir keine kalte Luft aus Klimaanlagen, aber das Haus ist so gebaut, dass es hier immer angenehm temperiert ist. Judd betritt jetzt hinter mir das Wohnzimmer, das spüre ich, ohne hinzusehen. Gerade stellt er sich Jon vor, wiederum mit seinem vollen Namen. »Judd Montgomery Brown, der Dritte«. Ich muss mich echt zusammenreißen, um nicht zu lachen. Das klingt so überzogen, dass es schon wieder süß ist. Irgendetwas brummt der Bär jetzt vor sich hin, was Jon zum Lachen bringt, aber ich höre nicht genau zu.

Ein wenig erschöpft lasse ich mich auf die große Couch vorm Kamin sinken und schiebe die blonde Haarsträhne erneut hinters Ohr zurück. Gott, ich muss schrecklich aussehen, so durchgeschwitzt wie ich bin. Jedenfalls hält mein Pferdeschwanz, den ich heute Morgen gebunden habe, kaum noch, etliche Strähnen haben sich mittlerweile gelöst. Entspannt schlage ich die Beine übereinander. Erst ein wenig ausruhen, dann vielleicht ein Bad im Pool, um mich abzukühlen. Viel mehr, als Judd abzuholen, habe ich ja heute nicht zu tun, daher kann ich es mir gemütlich machen.

Apropos Judd: Ich spüre plötzlich seinen Blick auf mir ruhen und sehe zu ihm hinauf. Jetzt steht der Bär mitten im Raum und glotzt mich offen an. So langsam finde ich das echt nicht mehr lustig. Ich sitze hier, bin wahrscheinlich nicht gerade eine Augenweide und der Kerl schaut mich an, als hätte ich einen Pickel auf der Nase. Ich starre einfach zurück. Ganz nach Katzenart kann ich mir das nun nicht mehr verkneifen. Oha, jetzt hat er bemerkt, worauf das Ganze hier hinausläuft, das erkenne ich an dem angedeuteten ironischen Lächeln in seinen Mundwinkeln. Ja, mein Lieber, was du kannst, kann ich schon lange. Tatsächlich, jetzt verengt er die Augen ein wenig und setzt eine eher grimmige Miene auf. Soll mich das beeindrucken? Neben ihm höre ich Jon leise auflachen, wende meinen Blick aber nicht von Judds haselnussbraunen Augen ab. Der Typ will sich mit mir anlegen? Ein kleines Spielchen? Kann er haben. Anstarren bis zum Umfallen. Ich habe zuletzt als Kind solche Spiele gespielt und meine Brüder haben regelmäßig gegen mich verloren. Jetzt bin ich allerdings erwachsen und verfüge über ganz andere Mittel, um zu gewinnen. Über die Waffen einer Frau.

Fest sehe ich in Judds Augen und gebe ihm zu erkennen, dass er kein Nachgeben von meiner Seite zu erwarten hat. Allerdings lässt sich der Bär dadurch nicht aus der Ruhe bringen, die er mit seiner ganzen Haltung ausstrahlt. Okay, dann muss ich härtere Geschütze auffahren.

Langsam fahre ich mit der Zungenspitze über meine Unterlippe, befeuchte sie, ziehe sie langsam ein und beiße kurz darauf, damit sie schön rot glänzt. Bevor ich überhaupt dazu komme, das gleiche Spielchen mit meiner Oberlippe zu machen, senkt sich Judds Blick zu meinem Mund. Wie ferngesteuert verfolgt er die Bewegung, unterbricht dabei allerdings den Augenkontakt. Ich lache belustigt auf. Ätsch, verloren! Sein Blick fliegt sofort wieder nach oben, zu meinen Augen. Herrlich, der fassungslose Gesichtsausdruck des Bären ist zu köstlich. Er kann diese kleine Schlappe anscheinend nur schwer verwinden. Jon neben ihm kann sich das Lachen kaum noch verkneifen und wirft mir einen anerkennenden Blick zu. Zu Judds Glück kommt jetzt auch Tajo herein und nimmt ihn mit einem weiteren Gespräch über die geplante Alarmanlage in Beschlag. Schwein gehabt, Bär!

Ich höre nur auf halbem Ohr zu, es interessiert mich nur mäßig. Eine Bewegung an der Tür nehme ich dennoch sofort wahr – Steven Lampard, der Leoparden-Wandler, steht im Türrahmen. Seine lauernde Miene verrät mir nichts Gutes, daher spanne ich mich sofort an.

»Wie willst du verhindern, dass das WLAN angezapft wird und damit die Alarmanlage von außen abgeschaltet werden kann?«, fragt Judd gerade nachdenklich.

»Dafür habe ich den besten Mann hier bei uns«, erklärt Tajo stolz. »Mein Freund Marc ist IT-Spezialist und wird das System soweit schützen, dass außer uns niemand daran herumpfuschen kann.«

»Er ist nicht nur sein Freund, sondern auch seine menschliche Fickstute!« Lampards gehässiger Kommentar ist kaum verklungen, da höre ich ein Reißen und meinen Bruder zornig aufbrüllen. Löwengebrüll. Scheiße, Tajo hat sich verwandelt und stürzt in Richtung des Leoparden! Unwillkürlich möchte ich Tajo anfeuern, Steven so richtig eine aufs Maul zu geben, aber der Leopard ist als fast so stark einzuschätzen, wie mein Bruder. Wenn die beiden kämpfen, wird es Verletzte geben! Schnell springe ich auf, aber bevor ich eingreifen kann, gellt eine weitere Stimme durch das Wohnzimmer.

»Tajo, nicht!« Marc eilt mit großen Schritten durch die Terrassentür und tatsächlich hält mein Bruder auf halbem Weg inne. Wahnsinn, das hätten nicht einmal meine Eltern bei ihm bewirken können! Marc läuft direkt auf Tajo zu, stellt sich sogar zwischen ihn und Lampard, als würde er nicht sehen, in welcher Gemütsverfassung sein Löwe gerade ist.

»Ein Mensch!«, murmelt Judd und schüttelt verständnislos den Kopf. »Der kleine Mensch muss entweder lebensmüde oder total verrückt sein, sich vor eine aggressive Katze zu stellen.«

Insgeheim muss ich dem Bären Recht geben. »Marc, bist du verrückt geworden?«, entfährt es mir. Hastig schiebe ich mich zwischen Marc und Tajo und versuche, ihn zu schützen. Diese kleinen Menschen sind so … empfindlich. So leicht zu verletzen. Und mein großer Bruder faucht immer noch bedrohlich, er hat seine kampfbereite Haltung noch lange nicht aufgegeben. Sein wütender Blick ist starr auf den Leoparden gerichtet, der wie versteinert im Türrahmen steht. Ich spüre Lampards Anspannung, er ist kurz davor, sich ebenfalls zu verwandeln. Es fehlt nur noch eine winzige Kleinigkeit, und der Kampf ist durch nichts auf der Welt aufzuhalten. Und Marc steht genau zwischen ihnen.

Marc schnaubt jedoch nur verächtlich und schiebt sich an mir vorbei.

»Los, raus hier, lass den Arsch doch reden«, meint er mit fester Stimme zu Tajo und schubst ihn einfach zurück. Er schubst ihn! Ich halte die Luft an, denn Tajos Krallen fahren kurz aus, bevor er tatsächlich nachgibt und von Lampard zurückweicht. Unfassbar – Tajo gibt nach! Dass ich das noch erleben darf. Mit sanftem Nachdruck bugsiert Marc den noch immer fauchenden Löwen aus dem Wohnzimmer. Erst jetzt gestatte ich es mir, die angehaltene Luft mit einem tiefen Seufzer entweichen zu lassen.

»Wie um Himmels willen macht er das nur?«, flüstere ich, mehr zu mir selbst.

Jon wendet sich jetzt Lampard zu und kommt endlich seiner Pflicht als Alpha-Löwe nach, hier für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Mit einem geknurrten »Steven, wir müssen reden!« schiebt er den Leoparden zur Tür hinaus.

Etwas verdattert steht Judd da und schaut Jon irritiert nach. Ich kann förmlich sehen, woran er gerade denkt. An unsere seltsame, nicht ganz alltägliche Zusammensetzung des Rudels.

»Der Leopard hat es nicht gut aufgenommen, dass meine beiden Brüder schwul und Tajo und Marc ein Paar sind«, wende ich mich daher an ihn und sehe ihn ernst an. »Ich hoffe für dich, dass du kein Problem damit hast?«

Okay, den Überraschungskeks, dass auch Jon schwul ist, muss er wohl erst einmal verdauen. Ist er denn auch so jemand, der glaubt, alle Schwulen würden als Dragqueen oder im rosa Tutu herumlaufen? Er antwortet nicht sofort. Anscheinend muss er die Sache gründlich überdenken.

»Nein, das habe ich nicht«, erwidert er nach gefühlten zehn Minuten und sieht mich mit aufrichtiger Miene an. Ich kann deutlich spüren, dass er die Wahrheit sagt – das ist so eine Eigenart von uns Löwen. Lügen können wir sehr gut durchschauen.

»Ich bin der Meinung, dass jeder das Recht hat, den zu lieben, den er möchte«, fährt er sogar fort und sein intensiver Blick jagt mir einen Schauer über den Rücken. Wie hat er das denn jetzt bitteschön gemeint? Die Doppeldeutigkeit seiner Worte ist mir nicht entgangen.

Allerdings spricht er klar aus, was er denkt und ist erfreulicherweise nicht homophob eingestellt. Damit habe ich bei ihm auch nicht wirklich gerechnet – ich weiß nur nicht, warum ich das im Gefühl hatte. Dafür belohne ich ihn jetzt mit einem sehr liebevollen Lächeln und sehe erstaunt, dass er ein klitzekleines bisschen zusammenzuckt.

Hank atmet neben uns hörbar erleichtert auf und zerstört damit das leichte Knistern, das sich gerade zwischen Judd und mir entwickelt.

»Die Auseinandersetzung mit Lampard hat sich in den letzten Tagen schon angekündigt. Aber ich hatte gehofft, dass Steven die Tatsache, dass Marc ein Mensch und zudem mit Tajo zusammen ist, doch noch akzeptieren könnte, nachdem er ihm das Leben gerettet hat.«

Judd legt nachdenklich den Kopf auf eine Seite. »Sieht nicht danach aus«, brummt er.

Bevor wir hier weiter rumstehen wie die Ölgötzen, besinne ich mich auf meine gute Erziehung.

»Judd, komm mit, ich zeige dir erst einmal dein Zimmer.« Ich warte ab, bis er seinen Rucksack wieder aufgenommen hat und gehe voran zu dem Zimmer, das wir gerade noch haben freimachen können. Aber nur, indem ich zu Anna hinübergezogen bin und dort auf einem Beistellbett schlafe. So langsam wird es eng hier auf der Farm. Meine Eltern, die beiden Bären Hank und Old Bear, meine Cousins Sebastian und Luke Le Gall samt ihren Eltern, Steven Lampard, die Wildhunde Tyrone Banks und seine Tochter Elli, Marc und meine beiden Brüder – inklusive Anna und mir sind es nun siebzehn Personen, die sich hier zusammenrotten. Uh, ich bin zwar ein Familienmensch, aber selbst mir wird das mittlerweile ein bisschen zu viel. Nur gut, dass die Farm so weitläufig ist und man sich durchaus aus dem Weg gehen kann, wenn man das möchte.

Ich öffne meine Zimmertür und lasse Judd höflich den Vortritt. Er bleibt inmitten des Raumes stehen und sieht sich unschlüssig um. Aufmerksam folge ich seinem Blick. Bett, Schreibtisch, Bücherregal, Kleiderschrank, ein eigenes angrenzendes Bad – nichts Ungewöhnliches. Warum guckt er so irritiert? Habe ich irgendwelche verfänglichen Kleidungsstücke vergessen wegzuräumen? Hastig schaue ich mich ebenfalls um. Nein, ich hatte heute Morgen schließlich gründlich aufgeräumt.

»Das ist dein Zimmer«, stellt er mit leiser Stimme fest und dreht sich zu mir um.

Ich nicke bestätigend. »Ja, warum?«

»Es riecht nach dir«, gibt er zu – und läuft knallrot an. Jetzt bin ich es, die heiße Ohren bekommt und soeben bestimmt die Farbe einer überreifen Tomate angenommen hat. Denn ich sehe es in seinen Augen, dass er das … als Kompliment gemeint hat. Und nicht, dass ich vergessen habe, zu lüften.

Wie angewurzelt stehe ich da. »Oh« ist das einzige, was mir über die Lippen kommt. Gerne hätte ich jetzt einen saloppen Spruch losgelassen – aber darauf fällt mir wirklich nichts ein. Mist, ich bin doch sonst nicht auf den Mund gefallen! Wenn man mit zwei großen Brüdern aufwächst, so wie ich, lernt man automatisch, sich niemals in die Ecke drängen zu lassen, sondern grundsätzlich angemessen zu kontern.

»Ich … Ich gehe dann mal«, bringe ich hervor und lasse ihn einfach stehen. Na toll. Echt super. Das habe ich ja mal wieder gut hinbekommen. Der hält mich doch jetzt für total beschränkt. Klasse, Keyla, blamiere dich ruhig weiter!

 

Ich muss mich echt beherrschen, um nicht zu rennen und steuere gemessenen Schrittes meine Notunterkunft in Annas Zimmer an. Die Aussicht auf eine Abkühlung im Pool wird immer verlockender, aber zuvor muss ich mich umziehen. Gott sei Dank, Anna ist nicht hier. Sie würde mir sofort ansehen, was los ist, aber auf ihre bohrenden Fragen und ihre üblichen Sticheleien habe ich nun wirklich keine Lust. In Windeseile ziehe ich die verschwitzten Sachen aus und streife stattdessen meinen Badeanzug über. Warum ich den neuen Bikini nicht anziehe, der daneben in der Schublade liegt, möchte ich nicht einmal mir selbst beantworten. Auf einen Bademantel verzichte ich, es ist einfach zu heiß heute. Große Badehandtücher liegen sowieso immer am Pool bereit.

Ich trete auf die Veranda und sehe gerade noch, wie Jon mit Luke zusammen in Richtung der Südgrenze unseres Grundstücks verschwindet. In Löwengestalt. Na, dann werden die beiden wohl die Mittagswache in der Wüste übernehmen. Ich bin erst heute Abend wieder dran, bis dahin habe ich noch ein paar Stunden Zeit. Glücklicherweise ist der Pool verlassen, alle anderen scheinen sich ins kühle Haus verzogen zu haben.

Langsam lasse ich mich in das Wasser gleiten, stoße mich vom Beckenrand ab und tauche die ersten Meter, bevor ich mit langen Armzügen die Bahn hinab schwimme. Oh Mann, das tut gut! Das Wasser ist herrlich erfrischend und fast habe ich den Eindruck, als könne es selbst die blöden Gedanken der letzten Minuten wegspülen.

Doch kaum habe ich die zweite Bahn vollendet, tritt meine Mutter auf die Veranda, sieht sich zunächst suchend um und steuert dann direkt auf mich zu. Och nö, das kann nur bedeuten, dass sie mir irgendeine Arbeit aufhalsen will!

»Keyla-Mäuschen, kannst du bitte heute Mittag auf die Kleinen aufpassen? Ich habe noch im Büro zu tun«, fragt sie mich jetzt auch tatsächlich. Ich unterdrücke ein gequältes Stöhnen und schwimme zum Beckenrand hinüber. Nur kurz überlege ich, mich mit einer Ausrede zu drücken - das wäre sowieso sinnlos. Gegen meine Mom kommt man einfach nicht an, wenn sie etwas möchte, hat man keine Chance, es ihr abzuschlagen.

»Okay, Mom«, murmele ich daher ergeben, stemme mich am Beckenrand hoch und klettere aus dem Pool heraus. Meine Mutter reicht mir bereits ein Handtuch und ich nehme es dankend entgegen. Sie lächelt entspannt.

»Tess und Carla sind irgendwo im Haus. Ich bin dann mal im Arbeitszimmer«, sagt sie und lässt mich allein am Pool zurück. Schnell trockne ich meine Haare ein wenig ab und schlinge das Handtuch um mich. Wenn die zwei Rabauken alleine im Haus und unbeaufsichtigt sind, haben sie nur Dummheiten im Kopf.

Meine beiden Schwestern sind jetzt fünf Jahre alt, also in der wilden Ich-experimentiere-mal-herum-was-ich-alles-für-einen-Blödsinn-anstellen-kann-Phase. Das weiß ich nur zu gut, schließlich war ich auch mal ein Kind. Das Wohnzimmer ist verlassen, ebenso wie die Küche. Wo stecken die beiden bloß? Kaum wendet man ihnen den Rücken zu, verschwinden sie und man kann hinter ihnen die Scherben aufsammeln. Da, ich höre eine helle Kinderstimme, direkt vor dem Haus.

»Wie heißt du?«, fragt Tess gerade irgendjemand.

»Judd Montgomery Brown«, antwortet eine tiefe Stimme. Fuck, das war ja so klar! Ich registriere, dass Judd dieses Mal das »Der Dritte« weggelassen hat, wahrscheinlich, um die Kleinen nicht zu verwirren. Hastig schlinge ich das Handtuch um mich und trete durch die Vordertür auf die überdachte Veranda, die das ganze Haus umgibt.

Judd ist gerade dabei, den Jeep mit allem möglichen Zeug zu beladen und die Zwillinge haben sich wohl an ihn herangeschlichen. Tess und Carla haben jeweils ihren Teddy unterm Arm klemmen und schauen dem Bären interessiert zu, der sich aber offenbar keineswegs gestört fühlt. Nein, jetzt geht er sogar ein wenig in die Hocke, um mit den Kindern auf die gleiche Höhe zu kommen.

Tess legt ihren Kopf schief und starrt den Bären unverhohlen an. »Dann heißt mein Teddy jetzt auch Schatt«, meint sie und deutet nickend auf ihr Lieblingsplüschtier.

»Und meiner Monty, weil du ja auch Montgommy heißt«, kommt es etwas leiser von Carla. Klar, die Zweitgeborene ist zwar wesentlich schüchterner als ihre forsche Schwester, will ihr aber in Nichts nachstehen. Das kenne ich. Tess und Carla halten mir ständig den Spiegel vor und erinnern mich an meine Kindheit mit Anna. Als würden meine Eltern nur eine Sorte Kinder fabrizieren können.

Ich bemerke, wie Judd mir einen schnellen Blick zuwirft, sich dann aber wieder völlig auf die Kinder konzentriert.

»Und wie heißt ihr?«, fragt er mit sanfter Stimme.

»Ich bin Tess. Und das ist meine Schwester Carla. Wir sind fünf!«, erklärt Tess sofort. Carla nickt dazu einfach.

»Uih, schon fünf!«, bemerkt Judd und lächelt. Er lächelt! Das ist das erste Mal, dass ich das sehe. Das Lächeln erreicht auch seine Augen und kleine Lachfältchen erscheinen an deren Seiten. Ein sanftes Ziehen macht sich in meinem Unterleib breit. Scheiße, der Kerl sieht einfach unwiderstehlich gut aus. Sofort werde ich mir bewusst, dass ich mit nassen, angeklatschten Haaren hier stehe und ihn anstarre. Wollen die Peinlichkeiten denn heute gar kein Ende nehmen?

»Was machst du da?«, fragt Tess jetzt interessiert nach. Langsam werden die Kinder dem Bären bestimmt lästig, ich muss sehen, wie ich die Kleinen aus seiner Reichweite bekommen kann.

»Ich helfe deinem Bruder, was zu bauen. Die Sachen hier brauchen wir dafür«, erklärt er jedoch. Hm, er macht nicht den Eindruck, als würden ihn die Kinder stören. Und er hat meine Hochachtung, dass er es versteht, sein Tun in einer kindgerechten Sprache zu erklären.

Jetzt muss ich ihn aber dennoch von den beiden Mädchen erlösen. »Tess, Carla, lasst Judd in Ruhe arbeiten! Kommt, wir gehen mal in die Küche und schauen nach, ob Anna uns noch ein Eis übriggelassen hat.«

Das wirkt. Wie immer. Beide fahren auf dem Absatz herum und rennen an mir vorbei ins Haus. Nicht einmal für einen Abschiedsgruß an Judd nehmen sie sich Zeit. Genervt verdrehe ich die Augen. Mann, das ist so mühsam, den beiden etwas Höflichkeit und Anstand einzubläuen. Als würde man gegen eine Wand reden. Zum Glück gehen sie ab dem nächsten Jahr auf ein Internat, so wie wir großen Geschwister das auch getan haben. Die Lehrer dort tun mir allerdings jetzt schon leid.

Judd richtet sich wieder auf und klopft sich den Staub von seiner Jeans.

»Entschuldige, wenn die Kinder dich bei der Arbeit gestört haben«, versuche ich den schlechten Eindruck, den die beiden Kleinen sicherlich hinterlassen haben, etwas abzumildern. »Ich soll auf sie aufpassen, aber sie waren wieder einmal verschwunden, bevor ich überhaupt dazu gekommen bin.«

»Macht nichts«, erwidert er. »Sie haben mich nicht gestört. Ich mag Kinder.« Mit einer eher verlegen wirkenden Geste wischt er sich die Hände an der Hose ab und fährt fort, den Jeep mit den Kisten und Kartons zu beladen, die auf der Veranda herumstehen. Unschlüssig schaue ich ihm dabei zu. Gerne würde ich helfen, aber - ich habe keine Hand frei. Denn noch immer stehe ich hier im Badeanzug und halte das Handtuch vor meine Brust gedrückt.

»Ähm, wo ist denn Tajo? Hast du niemanden, der dir hilft?«, frage ich stattdessen.

»Ich bin hier sowieso gleich fertig«, meint Judd einfach und verzurrt die Ladung mit einem Haltegurt. »Geht doch schnell. Aber dann müssen wir nicht morgen früh im Dunkeln anfangen, das Zeug einzuladen.«

Ich nicke verstehend. »Ich bin froh, wenn die Alarmanlage installiert ist«, gebe ich zu. »Dann muss ich nicht mehr nächtelang Wache halten.«

»Hast du heute noch Wachdienst?«, fragt Judd plötzlich ganz beiläufig. Holla! Da er mir den Rücken zuwendet, kann ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. Aber seine Stimme klingt dermaßen bemüht lässig, dass es direkt auffällig ist. Hat er etwa Interesse? An mir? Wow.

»Ja, ab 22 Uhr. Die Nordseite.« Ich deute automatisch mit einer Hand in die Richtung der kleinen Hügel im Norden, obwohl Judd mir weiterhin den Rücken zukehrt und es gar nicht sehen kann. Er nickt bloß, fragt aber nicht weiter nach.

»Bis später. Ich gehe besser mal nach den Kindern sehen«, verabschiede ich mich daher und wende mich der Haustüre zu. Ich habe schon die Klinke in der Hand, als ich einen Blick über die Schulter zurückwerfe. Judd steht am Jeep und schaut mir nach. Eine leichte Gänsehaut jagt über meinen Rücken, die angesichts der Nachmittagshitze wohl nichts mit den Temperaturen zu tun hat. Denn sein Blick ist eindeutig auf meine Beine gerichtet. Ein wenig fühle ich mich – abgecheckt. Boah, Männer! Das erinnert mich an die lustigen T-Shirts, auf denen »Ich habe auch Augen, du Arsch!« steht.

Aber verstecken brauche ich mich sicherlich nicht, daher nehme ich die Blicke gerne als weiteres Kompliment.

Mit einem belustigten Grinsen trete ich ins Haus. Seiner Miene nach scheint dem Bären wenigstens zu gefallen, was er da anstarrt.

Kapitel 2

 

Gegen Abend füllt sich die Terrasse mit hungrigen Gestaltwandlern, die allesamt ungeduldig darauf warten, dass mein Dad den großen Holzkohlegrill anfeuert und die Steaks darauf brät. Elli hat Brot gebacken und ich helfe ihr, es aufzuschneiden und nach draußen zu tragen. Sofort suchen meine Augen nach Judd. Ah ja, dort drüben steht er bei Tajo. Die beiden scheinen sich gut zu verstehen. Judd hält ein monströs großes Bierglas in den Händen und sieht sehr entspannt aus, während er meinem Bruder irgendetwas erzählt. Tajo schaut plötzlich auf und unsere Blicke treffen sich. Er lächelt nicht und wirkt eher nachdenklich, weshalb ich kurz innehalte und ihn fragend ansehe. Mein Bruder schüttelt jedoch nur andeutungsweise mit dem Kopf und nickt mir anschließend flüchtig zu, nimmt Judd am Arm und zieht ihn ein Stück von den anderen weg.

Hm, merkwürdig. Ich werde das Gefühl nicht los, dass da irgendetwas im Busch ist. Etwas, das mit mir zu tun hat.

Die Atmosphäre ist locker und gelöst. Kein Wunder, sobald Essen auf den Tisch steht, haben alle zu tun und vergessen für einen Moment ihre kleinen Streitigkeiten. Ich nehme mir eine großzügige Portion und, wie üblich, setzt sich Marc mit seinem Teller in der Hand zu mir.

»Hey, Keyla, wie war dein Tag?«, fragt er höflich.

»Danke, gut«, erwidere ich aufrichtig. »Schließlich konnte ich die Mädchen davon abhalten, im Garten nach Skorpionen zu graben, ihre Zimmerwände anzumalen und ihre Zöpfe abzuschneiden.« Ich seufze leise auf und Marc kichert verhalten.

»Du Arme. Musstest du schon wieder den ganzen Tag auf sie aufpassen?«

»Nein, nur heute Nachmittag ein paar Stunden, dann hatte Anna das Vergnügen. Aber das hat schon gereicht, das kannst du mir glauben.«

»Oh ja. Ich habe die Mädchen heute Morgen bei Sonnenaufgang zum Wasserloch mitgenommen, weil sie keine Ruhe mehr gegeben haben. Da wollten sie dann eigenständig eine Giraffe erlegen. Ich glaube, wir konnten von Glück sagen, dass die große Dame das eher mit Humor genommen hat.«

Wir seufzen im Gleichklang auf und lachen gemeinsam los. Stimmt, die Kleinen halten uns wirklich ganz schön auf Trab. Ein weiterer Grund, weshalb ich für meinen Teil den Gedanken an eigene Kinder noch ganz weit von mir schiebe.

Marc säbelt ein Stück von seinem Steak ab und schiebt es sich in den Mund. Er kaut sichtlich genussvoll und schaut nachdenklich zu meinem Dad hinüber, der eine weitere Ladung Steaks grillt und sich dabei mit Old Bear und Hank unterhält.

»Ich weiß zwar nicht, was das für ein Fleisch ist, aber es schmeckt fantastisch«, murmelt Marc zwischen zwei Bissen.

Prüfend sehe ich mir sein Steak genauer an, nehme den Geruch in meine feine Nase auf und grinse, da ich es sofort erkenne.

»Willst du es wirklich wissen? Nun ja, sagen wir mal so: Es hat heute Morgen noch gelebt und sich begeistert im Schlamm nahe des Wasserlochs gesuhlt.«

Schlagartig hört Marc auf, zu kauen. Herrje, seine entgeisterte Miene ist einfach zu köstlich. Hey, er lebt mit Raubtieren zusammen, die normalerweise nicht zum Metzger gehen, um sich ihr anonymes Stück Fleisch zu besorgen, sondern es lieber selbst erlegen. In aller Regel schauen wir der Beute gerne ins Gesicht und wollen wissen, ob sie auch gesund und damit nahrhaft ist, bevor wir sie verspeisen. Dann jedoch nimmt Marc das Besteck beherzt wieder fester in die Hand und isst in aller Ruhe weiter.

»Warzenschwein oder Hängebauchschwein?«, fragt er sogar interessiert nach.

»Warzenschwein«, bestätige ich grinsend und schiebe mir ebenfalls einen Happen in den Mund. Das zarte, würzige Fleisch zergeht einem wirklich auf der Zunge. »Hängebauchschweine kommen in dieser Gegend nicht vor. Leider. Die schmecken nämlich auch super.«

»Oh Mann. Ich esse ein Warzenschwein. Wie gerne würde ich das Daniel erzählen! Der hat mich immer damit aufgezogen, wie weit er schon in der Welt herumgekommen ist und was er dabei alles erlebt hat, während ich lieber in Deutschland geblieben bin.«

Angesichts des sehnsüchtigen Untertons in seiner Stimme schaue ich ihn prüfend von der Seite an. Marc scheint seinen besten Freund wirklich sehr zu vermissen.

»Hast du schon eine Antwort von ihm bekommen?«, frage ich verständnisvoll nach, da ich mich erinnere, dass er Daniel gestern eine Mail geschrieben hat.

»Ja, heute Morgen kam eine E-Mail von ihm. Er war schon wieder voll im Stress und ist auf dem Weg nach New York. Sein Job als Broker an der Börse verlangt ihm viel ab. Manchmal zu viel, denke ich, er hat sich zu einem richtigen Workaholic entwickelt. Weißt du, dass in diesem Berufsfeld ein Haufen Leute bereits mit 40 Jahren einen Herzinfarkt erleiden?« Marcs Stimme klingt traurig.

Schlagartig wird mir bewusst, wie viel Marc aufgegeben hat, als er sich für meinen großen Bruder und damit für ein Leben unter Gestaltwandlern entschied, das sich mehr oder weniger im Geheimen, im Verborgenen abspielt. Schließlich weiß der Rest der normalen Welt nichts von unserer Existenz, beziehungsweise von unseren Besonderheiten. Das wäre auch fatal, denn angesichts des Misstrauens der Menschen gegenüber allem, was sie nicht verstehen, würde man uns wahrscheinlich ausrotten. Oder uns in Zoos einsperren.

Anscheinend hat Marc damals die Entscheidung, alles aufzugeben und sein früheres Leben hinter sich zu lassen, mehr spontan und aus dem Herzen heraus getroffen. Jetzt, nachdem ein wenig Zeit vergangen ist, scheint Marc zu merken, dass er doch einiges von dem vermisst, was er in Deutschland so Knall auf Fall zurückgelassen hat. Wobei Daniel der wichtigste Mensch in seinem Leben ist, da seine Mutter und einzige Verwandte früh verstorben ist.

»Wenn die ganze Sache mit Shirkou Soran hinter uns liegt, kannst du ihn bestimmt mal hierher einladen«, versuche ich ihn aufzumuntern. »Obwohl du Daniel natürlich niemals erzählen solltest, dass du mit einem Löwen liiert bist.« Es scheint zu klappen, denn Marc lächelt mir freudig zu.

»Meinst du? Oh ja, das wäre klasse. Und du wirst ihn mögen, auch wenn er das komplette Gegenteil von mir ist. Etwas verrückt und durchgeknallt, aber immer lustig und gut drauf.«

»Klar werde ich ihn mögen«, bestätige ich. »Wenn er dein Freund ist, wird er auch unserer sein.« Und das ist nicht einfach so daher gesagt. So ist das in einer Löwenfamilie eben. Wir leben, lieben und leiden gemeinsam.

Satt und zufrieden stellen wir beide unsere Teller auf dem Tisch ab. Ich schaue kurz auf meine Uhr, auch wenn mein Zeitgefühl mir sagt, dass ich noch eine gute halbe Stunde habe, bevor ich zu meiner Wache aufbrechen muss. Dann fällt mein Blick auf Marcs Hand, mit der er geistesabwesend über den Verband an seinem verletzten rechten Unterarm streicht.

»Soll ich nochmal nach deinem Arm sehen?«, frage ich Marc besorgt. Er wiegelt aber sofort ab.

»Nein, lass mal. Es heilt gut und es reicht, wenn du morgen früh den Verband nochmal wechselst.«

»Okay. Dann sehen wir uns morgen früh«, verabschiede ich mich und stehe auf, um mir noch etwas zu trinken zu holen, bevor ich Richtung Wüste losziehen muss.

Marc steht ebenfalls auf und greift wie selbstverständlich nach unseren schmutzigen Tellern, um sie in die Küche zu tragen. Oh Mann, der kleine Mensch ist wirklich verdammt süß – und so ordentlich. Ganz anders als meine großen Brüder, die ständig etwas herumliegen lassen und erwarten, dass man hinter ihnen herräumt. Lächelnd schaue ich ihm nach, wie er mit den Tellern das Haus betritt, verfolgt von einer zeternden Elli, die es immer noch nicht aufgegeben hat, ihn davon abhalten zu wollen. Als könne man Marc von etwas abhalten, das er sich in den Kopf gesetzt hat! Unmöglich.

Mit einem amüsierten Grinsen auf dem Gesicht schlendere ich hinüber zu der kleinen Bar und halte gleichzeitig Ausschau nach meinem Patenonkel Old Bear, der mich zur Wachschicht begleiten soll.

Der große Bär steht jedoch noch immer mit Dad zusammen am Grill und macht keine Anstalten, ihr Gespräch zu unterbrechen. Ich nehme daher mein Glas Wasser mit, das ich mir gerade eingeschenkt habe, und geselle mich zu ihnen.

»Hey, Daddy Bear, es wird Zeit. Wir sollten Lampard und Onkel Sam an der Nordseite ablösen, bevor sie sich gegenseitig zerfleischen.«

Old Bear wendet sich mir zu und zieht mich mit seinen riesigen Pranken in eine liebevolle Umarmung.

»Keyla, mein kleines Engelchen, du wirst heute leider auf mich verzichten müssen. Dein Dad und ich haben etwas zu besprechen und außerdem will Judd sich nochmal die Nordseite ansehen, bevor er morgen früh mit Tajo mit den Arbeiten an der Alarmanlage beginnt.« Er streichelt mir über den Kopf und drückt mir einen festen Schmatzer auf die Wange. Mann, du alter Bär, ich bin doch kein Kind mehr! Das scheint er aber regelmäßig zu vergessen. Nun ja, ich verzeihe ihm dies nur zu gerne, viel zu wohl fühle ich mich in seiner Nähe. Seine Stärke, wegen der er mich wie ein rohes Ei behandelt, vermittelt mir immer wieder das Gefühl, behütet und beschützt zu sein.

Ich knuffe ihn zärtlich in die Seite. »Also lässt du mich hängen? Nun gut, dann werde ich eben Judd mitnehmen und ihm bei der Gelegenheit unser Land zeigen.« Ich schäle mich aus der festen Umarmung heraus und sehe gerade noch, wie mein Vater leicht die Stirn runzelt. Er sagt jedoch nichts, weshalb ich ihm ebenfalls einen Kuss auf die Wange drücke und mich verabschiede.

»Ciao, Dad, bis morgen früh. Löst du mich dann ab?«