Verlag C.H.Beck
Paul Klee (1879–1940) gilt als einer der Hauptvertreter der klassischen Moderne in Deutschland. Er stand in engem Kontakt mit der Künstlergruppe «Der Blaue Reiter» und wirkte am Bauhaus in Weimar und Dessau. Dass er aber darüber hinaus ein äußerst geschickter Geschäftsmann war, der es verstand, sein Werk frühzeitig zu vermarkten, ist vielen nicht bekannt. Im Jahr 1911 begann er mit einem handschriftlichen Œuvre-Katalog, in dem er fortan über seine Produktion gewissenhaft Buch führte und alle Verkäufe verzeichnete. Bereits seit 1919 war er durch einen Generalvertretungsvertrag mit dem Galeristen Hans Goltz finanziell abgesichert. Im gleichen Jahr regte er Buchpublikationen zu seinem Werk an – mit dem Erfolg, dass schon 1920 die ersten Klee-Biographien erschienen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten schließlich brachen schwierige Zeiten für Klee an: Im Jahr 1933 verließ er Deutschland und kehrte mit seiner Frau in seine Heimatstadt Bern zurück. 1937 wurden mehrere seiner Werke in der Ausstellung «Entartete Kunst» gezeigt und insgesamt 102 seiner Arbeiten aus öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt.
Christian Rümelin zeichnet diesen Lebensweg anschaulich nach und führt in exemplarischen Werkbeschreibungen die Besonderheit und Vielfältigkeit von Klees künstlerischem Schaffen vor.
Christian Rümelin war einer der Projektleiter des Paul Klee-Werkverzeichnisses, das im Herbst 2004 abgeschlossen wurde. Er ist heute Leiter der Grafischen Sammlung des Musée d’art et d’histoire in Genf.
Paul Klees Leben und Werk
Das Frühwerk bis 1912
Kinder- und Jugendzeichnungen
Studienzeit in München
Italienaufenthalt
Rückkehr nach Bern und erste Radierungen
Hinterglaszeichnungen und Schwarzaquarelle als neues Medium
Zeichnung im Frühwerk
Beruhigung der Lebensumstände
Der Blaue Reiter
Der handschriftliche Œuvre-Katalog
Bekanntschaft mit anderen Künstlern
Die Tunesienreise
Der 1. Weltkrieg
Rezeption in den späten 1910er Jahren und Hinwendung zur Ölmalerei
Generalvertretung durch Hans Goltz
Bauhaus in Weimar und Dessau
Spuren der Lehre
Naturstudium und Schichtungsbilder
Quadratbilder
Klees Ägyptenreise und die Werke der späten 1920er Jahre
Umorientierung (Düsseldorf)
Exil und Erkrankung
Das Spätwerk
Serielles Arbeiten
Rezeption und Selbstinszenierung
Die nationale und internationale Rezeption
Klees «bürgerliche Biographie»
Anhang
Biographische Daten
Literatur
Fotonachweis
Personenregister
Noch während des Besuchs des Gymnasiums hatte sich Klee entschlossen, eine Ausbildung als Maler zu ergreifen. Diese Idee entstand aus einem regen Interesse an Zeichnung und generell bildender Kunst. Dieses Interesse ist nicht zuletzt auf die Anregung seiner Großmutter zurückzuführen, die dem Drei- oder Vierjährigen zum ersten Mal Buntstifte und Papier geschenkt hatte. Später hat Klee diese Kinderzeichnungen als den eigentlichen Beginn seiner künstlerischen Beschäftigung apostrophiert. Er wuchs in einem kulturell aufgeschlossenen Klima auf, sein Vater war Musiklehrer am Staatsseminar in Hofwil bei Bern und auch seine Mutter war an Musik sehr interessiert. Klee war im Schulhaus von Münchenbuchsee, einem kleinen Ort bei Bern, geboren worden, doch hatte der Vater 1880 die Erlaubnis erhalten, mit seiner Familie nach Bern zu übersiedeln. Es folgte eine eher kleinbürgerliche Schulzeit, mit den üblichen Verweigerungshaltungen und Schwierigkeiten eines Heranwachsenden, bis hin zum Abitur 1898, das Klee nur knapp bestand.
Klees Frühwerk kann in verschiedene Phasen unterteilt werden, die teilweise von ihm selbst vorgegeben sind, teilweise aber technischen oder formalen Merkmalen folgen. Demnach lässt sich nach seinen eigentlichen Kinderzeichnungen eine Reihe von Arbeiten Klees Jugendzeit bzw. den Münchner Jahren zuordnen.
Die Kinderzeichnungen hatte seine um drei Jahre ältere Schwester Mathilde aufbewahrt und ihm gegen 1911 wiedergegeben. Es ist bemerkenswert, dass Klee einige seiner Kinderzeichnungen als abgeschlossene Kunstwerke anerkannte und ihnen damit einen hohen Status innerhalb seines Œuvre beimaß. Wesentlich später, als er sich bereits als Künstler durchgesetzt hatte, nahm er diese Zeichnungen zum Anlass, seine Kunst in die Nähe von Kinderzeichnungen zu rücken, um seiner aktuellen Produktion eine gewisse Unbefangenheit zuzuschreiben und seine Biographie auf einen sehr frühen Zeitpunkt hin zu konstruieren.
Die Zeichnungen, die vor 1890 entstanden waren, zeigen entweder eine Auseinandersetzung Klees mit ihm aus Bilderbögen und -büchern bekannten Illustrationen, oder sie verweisen auf die Beschäftigung mit seiner direkten Umwelt. Nur in einer Zeichnung, datiert auf 1890, bezieht er sich auf eine reale Situation, indem ein Teil der Berner Stadtansicht wiedergegeben wird. Die Wahrnehmung der Umwelt und der Klee dargebotenen Reize reduziert sich aber nicht auf das Ausmalen oder Abzeichnen bekannter und vorgelegter Illustrationen, sondern weitet sich auf Zirkusdarstellungen im Skizzenheft seiner Kindheit und idealisierte Landschaftszeichnungen aus.
Später zeichnete Klee während seiner Schulzeit nicht nur wesentlich mehr, sondern reagierte auch direkt auf seine Umgebung. Klee genoss keinen systematischen Zeichenunterricht, und doch zeigen die Blätter eine zunehmende Sicherheit im Umgang mit grafischen Mitteln. In diesen Jahren verwendete er hauptsächlich kleinformatige Skizzenbücher und Blätter, auf die er dann in Bleistift oder Kreide zeichnete. Daneben dienten ihm Schulhefte als Raum für humoristische Randzeichnungen, ohne diesen später aber einen künstlerischen Wert beizumessen.
Er beschränkte sich meist auf Landschaftszeichnungen seiner näheren Berner Umgebung, wie der Elfenau, seines Zimmers in der elterlichen Wohnung in der Berner Marienstraße oder dokumentierte die Ausflüge zu seinen Tanten ins Berner Oberland nach Beatenberg, in die Bielersee Region auf die Petersinsel beziehungsweise die Reisen mit seinem Vater ins Tessin. Daneben zeichnete er viel nach Vorlagen, wie den Bildkalendern von Emil Lauterburg, den Büchern von Max Girardet, Zeichenlehrbüchern wie der «Allgemeinen Zeichenschule» von J. Scholz oder Illustrationen aus den deutschen Zeitschriften «Vom Fels zum Meer» und «Die Gartenlaube», die seine Mutter las. Klees Beschränkung auf die genaue Wiedergabe von Landschaftsbildern, einige Trachtendarstellungen, vereinzelte Porträts und einige Karikaturen zielt auf eine detaillierte Abbildung des Wahrgenommenen, ohne die Erscheinung zu charakterisieren, zu vereinfachen oder zu abstrahieren. Die Objekte und Motive bleiben in einer mittleren Distanz, so dass sie als Ganzheit abgebildet werden können und der Bildausschnitt nicht zu kompositioneilen Schwierigkeiten und Fokussierungen führt.
Nach seinem Abitur 1898 bewarb sich Klee mit seinen Berner Landschaftszeichnungen persönlich beim Direktor der Münchner Akademie Ludwig von Löfftz um Aufnahme, doch wurde er mit der Begründung abgelehnt, dass ihm die Übung im figürlichen Zeichnen noch fehle. Um sein Ziel, ein Studium der Malerei an der Münchner Akademie, zu erreichen, musste er sich deshalb zuerst an der privaten Zeichenschule von Heinrich Knirr einschreiben. Hier hatte Klee neben den üblichen akademischen Aktstudien während eines Ausflugs mit Studienkollegen ins nahe bayerisch-österreichische Grenzgebiet damit begonnen, die Landschaftsausschnitte wesentlich enger zu fassen und so die Spannung in den einzelnen Bildern zu erhöhen. Klee konzentrierte sich fast völlig aufs Zeichnen, und obwohl seine großen Fortschritte, speziell im Aktzeichnen, sicherlich für die Zulassung zur Akademie ausgereicht hätten, beschloss er, trotz des Drängens der Eltern, noch weiterhin bei Knirr zu bleiben. Erste Versuche, zeichnerische Wirkungen auch in einer herkömmlichen Ölmalerei zu erzielen, gestalteten sich schwierig, und Klee zweifelte zu Beginn seiner Karriere noch an seinen Qualitäten als Maler. Er war sich, trotz der anfänglichen Erfolge und der konstanten Motivation durch Knirr keineswegs sicher, ob er nicht doch eine Karriere als Musiker ins Auge fassen solle. Es war sicherlich mit auch das Verdienst seines Lehrers Heinrich Knirr und dessen beständige Aufmunterung, dass Klee seine Ausbildung in der bildenden Kunst nicht sofort wieder aufgab.
Die Schwierigkeiten, bestimmte visuelle Phänomene von der Zeichnung in die Malerei zu übertragen, und der damit verbundene persönliche Kampf Klees fanden ihren Niederschlag in seinen Tagebüchern und Briefen. So notierte er im Sommer 1900 in seinem Tagebuch, das er seit 1898 führte, dass er ein Testament skizziert habe, und «drin bat ich alles was an Kunstbestrebungen vorhanden sei zu vernichten. Ich wußte wohl, wie kümmerlich das alles war und wie nichtig im Vergleich zu den vorgefühlten Möglichkeiten» (Tgb. 105). Zwar setzte Klee gezielt seine Ausbildung seit Herbst 1900 in der Malklasse von Franz von Stuck fort, doch blieb seine Unsicherheit in der Behandlung der Farbe und der Ölmalerei. Wiederum in seinem Tagebuch fasste er seine Erfahrungen zusammen: «Stuckschüler zu sein hatte einen guten Klang. In Wirklichkeit war es aber nicht halb so glänzend. Ich kam anstatt mit ganzem Verstand mit tausend Schmerzen und Vorurteilen dahin. In der Farbe kam ich schwer vom Fleck. Da in meiner Beherrschung der Form der Gefühlston stark vorherrschte suchte ich wenigstens hier möglichstes zu profitieren. Und bei Stuck war auf dem Gebiet der Farbe wirklich manches zu holen. Natürlich fehlte es indessen auf dem Gebiet der Farbe nicht nur an mir. Ähnlich urteilte Kandinsky später in seiner Monogr. über diese Schule. Hätte mir dieser Lehrer das Wesen der Malerei so auseinandergesetzt, wie ich es später dann konnte, nachdem ich immer mehr eingedrungen war, dan[n] hätte ich mich nicht in einer so verzweifelten Situation befunden» (Tgb. 122). Klee sah dementsprechend seine Beschäftigung mit der Malerei als Mühsal, die zu keinem befriedigenden Ergebnis führe, im Gegensatz zu seinen Zeichnungen. Deshalb konzentrierte er sich zunehmend auf zeichnerische Medien und intensivierte die Suche nach einem angemessenen künstlerischen Mittel. Noch während seiner Zeit bei Heinrich Knirr hatte sich Klee überlegt, was die ihm angemessene Gattung sei. Dabei waren diese Überlegungen immer auch daraufhin orientiert, ob er sich der Musik oder der bildenden Kunst zuwenden solle, und was bei Letzterer seine Bestimmung wäre. Er tendierte zuerst in die konventionelle Richtung der Malerei, sah sich aber dort enormen Schwierigkeiten gegenüber. Deshalb überlegte er, ob nicht eine Beschäftigung mit der Skulptur geeignet sei. Eine von Stuck unterstützte Bewerbung um Aufnahme in die Skulpturenklasse bei Wilhelm von Rümann scheiterte schon im ersten Anlauf, da sich Klee einer Prüfung unterziehen sollte, die er nicht abzulegen gewillt war. Er begann daraufhin, sich wieder für Druckgrafik und Illustrationszeichnungen zu interessieren. Bereits während seiner Zeit bei Heinrich Knirr hatte er diesen Gedanken gefasst, ihn dann aber nicht weiterverfolgt und kam nun darauf zurück, da er mit derartigen Aufträgen seinen Lebensunterhalt bestreiten wollte. Die Illustrationszeichnungen, von denen nur wenige erhalten blieben, konnte er aber nicht absetzen, und zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der Druckgrafik kam es nicht.
Seine Münchner Zeit war für Klee sowohl in persönlicher als auch in künstlerischer Hinsicht spannungsgeladen und problematisch. 1899 hatte er seine spätere Frau Lily Stumpf, eine Pianistin, kennengelernt, was ihn aber nicht daran hinderte, eine Affäre mit einem Aktmodel anzufangen, das von ihm schwanger wurde. Das Kind starb jedoch kurz nach der Geburt. Gerade weil seine künstlerischen Bemühungen nicht in einer befriedigenden Richtung verliefen, brach er im Sommer 1901 seine Ausbildung in München ab. Nach einem kurzen Aufenthalt in Bern reiste er mit seinem Berner Freund und Studienkollegen Hermann Haller nach Italien, hauptsächlich nach Rom, Neapel und Florenz. Haller hatte ebenfalls bei Knirr Zeichenunterricht genommen, allerdings nach Klee. Speziell in Rom müssen eine große Anzahl von Zeichnungen entstanden sein, denn in Klees Briefen und Tagebuchaufzeichnungen werden zahlreiche Werke genannt, die aber größtenteils nicht identifizierbar und deshalb wohl nicht erhalten sind.
Klee besuchte während dieser Zeit viele Museen, zeichnete und malte oft im Freien, hatte aber, abgesehen von seinem Reisegefährten Hermann Haller sowie dem ihm von München her bekannten Jean de Castella und dem deutschen Maler Schmoll von Eisenwerth, keinen Kontakt zu anderen Künstlern. Er nutzte seine Zeit dazu, die Stadt und ihre Umgebung kennenzulernen und dabei häufig nach der Natur zu zeichnen. Aber die Mehrzahl der italienischen Werke überstanden eine spätere kritische Prüfung nicht und wurden von Klee offenbar zerstört. Nur drei farbige Zeichnungen aus seiner römischen Zeit blieben erhalten.
Abb. I: Paul Klee (I.) und Hermann Haller im Garten der Villa Borghese, Rom, Februar 1902, Photo: Karl Schmoll von Eisenwerth
Der Unterschied zu seinen vorherigen Zeichnungen ist offensichtlich. Der Strich wirkt fester und bestimmter, doch zeigen auch diese drei Blätter noch, dass Klee auf der Suche nach einer angemessenen künstlerischen Form und einer ihm entsprechenden Darstellungsart war. Die Konturen sind geprägt von einer deutlichen Unsicherheit, die trotz der Kombination von Aquarell und Federzeichnung erkennbar bleibt. Die Ursachen liegen nicht in einem zeichnerischen Unvermögen, sondern die einzelne Linie versucht in starkem Maße die Form einzugrenzen und damit auch das dargestellte Motiv in seiner materiellen Erscheinung greifbar werden zu lassen.
Was diese römischen Blätter aber auch aufzeigen, ist eine Rückkehr zu karikaturhaften Personendarstellungen, die Klee bereits zu Schulzeiten kultivierte und die speziell in seinen Skizzen bei Knirr wieder aufblitzen; sie wurden für einige Jahre sein bevorzugtes Stilmittel.
Seit Mai 1902, der Rückkehr von seiner Italienreise, war Klee wieder in Bern ansässig, wohnte in seinem Elternhaus und sicherte sich seinen Unterhalt durch Konzertengagements und -kritiken. Daneben versuchte er seine anatomischen Kenntnisse zu verbessern, indem er regelmäßig Anatomievorlesungen hörte, entsprechende Zeichnungen anfertigte und zudem seine zeichnerischen Fähigkeiten zu perfektionieren suchte. Aber viel entstand zu dieser Zeit nicht, zu sehr war er mit Konzerten beschäftigt und offensichtlich auch zu wenig selbstsicher, um Gemälde in Angriff zu nehmen. Er wählte einen alternativen Weg, indem er sich im Juni 1903 in seinem Tagebuch über seine künstlerische Krise Rechenschaft ablegte. Noch immer empfand er eine gewisse Depression und Frustration, dass seine Versuche in der Malerei nicht so erfolgreich verliefen, wie er erhofft hatte, und versuchte nun, sich via Zeichnung und Radierung wenigstens kleine Erfolgserlebnisse zu verschaffen. Konsequenterweise setzte er sich nun sehr intensiv mit Druckgrafik, speziell der Zinkradierung, auseinander.
Es entstanden eine Reihe von Radierungen zu drei verschiedenen Themenkomplexen, erstens Frauenbilder, und hier speziell Bilder von hässlichen und nicht-begehrenswerten Frauen, meist in einer allegorischen Form, zweitens Radierungen mit einem direkten Bezug zu Theater, speziell zur griechischen Tragödie, und drittens karikaturhafte, eher politische Blätter. Von den insgesamt 19 Arbeiten, die bis 1905 entstanden, fasste er zehn unter dem Titel «Inventionen» zusammen. Diese zehn Blätter, die 1906 auch zusammen ausgestellt wurden, zeigen eine Bandbreite von verschiedenen Themen, sind aber technisch, trotz ihrer im Detail unterschiedlichen Mittel, miteinander vergleichbar. Dementsprechend sind sie wesentlich mehr als lediglich tagespolitische Karikaturen eines jungen und auch ein wenig frustrierten Künstlers oder eine persönliche Stellungnahme zu einer persönlich noch nicht gelösten sexuellen Spannung.
Abb. 2: Jungfrau (träumend), 1903, 2, Radierung auf Zink, Druck vor der Auflage; 23, 6 × 29, 8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern
Eine Art Ausgangspunkt ist die erste Radierung der Jungfrau (träumend), 1903, 2 (Abb. 2). Klee setzt sich hier dezidiert mit der bourgeoisen Doppelmoral gegenüber weiblicher Sexualität auseinander. Bereits der Titel und die als Symbol der Unfruchtbarkeit zu verstehende Weide sowie die Stellung der Frau deuten diese Ambivalenz an. In seinen Briefen an seine spätere Frau Lily und in seinen Tagebuchnotizen beschrieb er, dass diese Jungfrau im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Konvention und eigener Sexualität zu sehen sei. Aber es ist nicht nur eine persönliche Annäherung an einen Bereich, der für ihn immer noch problematisch war, sondern auch der Versuch, etwas zu schaffen, das für ihn als künstlerisch wertvoll gelten konnte und Bestand hatte. So ist zumindest teilweise zu erklären, warum Klee hier ein Schraffursystem einsetzte, das sich in seinem vorherigen zeichnerischen Werk nicht findet. Die Unsicherheit des Strichs, die Suche nach der Form ist in den Radierungen einer meist fein abgestimmten Schraffur gewichen, die sowohl einzelne Volumina modelliert als auch zur stofflichen Differenzierung dient. Dadurch werden die einzelnen Bildelemente wesentlich subtiler dargestellt und nicht mehr auf eine primär flächige Wirkungsabsicht reduziert, wie es sich in den vorherigen Werken häufig findet. Zugleich geben sie die optische Erscheinung der Objekte aber nicht so detailliert und präzise wieder wie in den Jugendzeichnungen. Sie zielen auf eine nicht-realistische Darstellung, die die Sichtbarmachung von Phänomenen zum Zweck hat.
Abb. 3: Weib u.Tier, 1904, 13, Radierung auf Zink, Druck vor der Auflage; 23,6 × 29,8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern
Klee bewertete dieses Blatt in seinem Tagebuch als sein erstes gelungenes Opus, und es scheint, dass es endlich den Ansporn gab, den er sich davon erhofft hatte. In der Folge verwendete er zunehmend Zeichnungen als Grundlage für weitere Radierungen. Das Thema des Bezugs und der Wahrnehmung speziell weiblicher Sexualität beschäftigte ihn in den folgenden eineinhalb Jahren sehr intensiv. Ein erstes Resultat waren zwei Radierungen, von denen er eine nicht als abgeschlossen ansah, und eine weitere Radierung, die aber nach dem Druck verworfen wurde und von der kein Exemplar bekannt ist. Beide wurden von ihm als Weib u. Tier, 1904, 13 (Abb. 3), benannt und beziehen sich auf gängige psychologische Muster des 19. Jahrhunderts. Obwohl er nur im November 1903 und dann rund ein Jahr später seiner Verlobten Lily davon berichtete, muss ihn das Thema sehr beschäftigt haben. Im Grundsatz ist es die Gegenüberstellung einer Frau mit einem gierigen, ja fast räudigen Hund, einer Mischung aus Windhund und Gazelle. Die männliche Sexualität ist dabei durch die animalische Begierde symbolisiert, aber zugleich von der jeweiligen Person abgespalten, während es bei der Frau in Klees Verständnis noch eine Einheit bildet.
Die übersteigerte Darstellung findet sich wiederum in anderen Radierungen und Zeichnungen Klees: Eine der deutlichsten ist das Blatt Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begegnen sich, 1903, 5 (Abb. 4). Die beiden Männer sind unbekleidet, lediglich durch ihre Frisuren und Bärte sind sie als die beiden Kaiser Wilhelm II. und Franz Joseph I. erkennbar. Ihrer Insignien und Kleider beraubt, haben sie keine Anhaltspunkte mehr, ob ihre konventionellen Ehrbezeugungen nun angebracht sind oder nicht. Da sie davon ausgehen, dass ihr Gegenüber gesellschaftlich höher bewertet werden könnte, katzbuckeln sie voreinander. Klee bewertet dieses Verhalten als völlig unsinnig, was sich nicht nur aus der Überzeichnung der Gesichter ergibt, sondern auch aus der Angleichung der Körper an die karge Umgebung, mit ganz ähnlichen Formen und einer ebenso betonten Körperlichkeit der Kontur.
Trotz dieser Übersteigerung lässt sich diese Radierung nicht ausschließlich als Karikatur verstehen. Sie bezieht sich nicht auf ein bestimmtes Ereignis, was typisch wäre für eine echte Karikatur, sondern spiegelt ein generelles Phänomen wider, bei dem zwei prominente, politische Protagonisten als Träger einer allgemeinen gesellschaftlichen Kritik verwendet wurden. Obwohl Klee gewisse Mittel der politischen Illustration und Karikatur verwendet, sah er in solchen Bildern wesentlich mehr als eine lediglich illustrative und tagespolitische Tätigkeit. Er erhoffte sich zwar, im Zuge der Popularität entsprechender Blätter auch einige seiner Inventionen oder Zeichnungen absetzen zu können, doch war es nicht der einzige Antrieb für diese Radierungen.
Abb.4: Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begegnen sich, 1903,5, Radierung auf Zink, I. Zustand; 11,7 × 22,4 cm, Zentrum Paul Klee, Bern
Klees Ziel, neben seiner musikalischen Tätigkeit und den Anatomie- und Aktzeichnungen auch Werke zu schaffen, die für ihn als abgeschlossen gelten konnten, erreichte er mit diesen Radierungen. Mehr noch: Durch die ersten, psychologisch wichtigen Erfolgserlebnisse intensivierte sich auch seine Tätigkeit als Zeichner, was wiederum zu einer neuen Auffassung von Linie und Raum führte sowie zu einer anderen Behandlung der Kontraste. Die Radierungen sind somit die Zäsur zwischen seinen Jugend- beziehungsweise Ausbildungszeichnungen und dem für Klee selbst als wichtig bewerteten künstlerischen Frühwerk. Von nun an werden sowohl die Themenbreite wie die technischen Möglichkeiten wesentlich umfassender. Thematisch reicht dabei das Spektrum von Porträts, karikaturhaften Blättern, Landschaften und Ansichten bis zu Illustrationen von Voltaires Roman Candide, technisch umfasst das Œuvre nach 1905 alle Möglichkeiten der Feder- und Pinselzeichnung, des monochromen und polychromen Aquarells, der Druckgrafik mit Radierung und Kaltnadel auf Kupfer, Zink und Celluloid, der Hinterglasmalerei und -zeichnung sowie der Ölmalerei. Es bleibt zwar eine ausgeprägte Suche nach der künstlerischen Form erkennbar, und die Werke zeugen stark von technischen Experimenten, aber sie wirken in ihrer technischen Ausprägung und in ihrer thematischen Auswahl wesentlich homogener als vorher.