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Das Buch

Erst nach dem Tod ihres Mannes findet Shelby heraus, dass Richard sie eiskalt belogen hat. Die scheinbar sorglose Existenz, die er ihr und der gemeinsamen dreijährigen Tochter ermöglichte, ist hoch verschuldet. Zudem tauchen Hotelrechnungen für Doppelzimmer, gefälschte Ausweise und ein Privatermittler auf, der behauptet, Richard habe unter einem anderen Namen Diebstähle in Millionenhöhe begangen. Wer war der Mann, den Shelby geliebt und dem sie vertraut hat? Sie entschließt sich, vor der Wahrheit zu fliehen und in ihrem Heimatort in Tennessee neu anzufangen. Dort wird sie mit ihrer Tochter von Familie und Freunden aufgenommen und trifft auf Griffin, der die beiden in sein Herz schließt. Gerade als Shelby sich wieder geborgen fühlt, bricht Richards dunkle Vergangenheit erneut in ihre Welt ein. Und plötzlich ist ihr Leben in Gefahr …

Die Autorin

Nora Roberts wurde 1950 geboren und gehört heute zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von über 450 Millionen Exemplaren, und auch in Deutschland erobert sie mit ihren Romanen regelmäßig die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland, USA.

nora roberts

Ein Leuchten im Sturm

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christiane Burkhardt

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Copyright © 2015 by Nora Roberts
Published by Arrangement with Eleanor Wilder
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel The Liar bei G. P. Putnam’s Sons, Published by the Penguin Group (USA) LLC, a Penguin Random House Company, New York
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Redaktion: Claudia Krader
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München
Umschlagmotive: © Ansley/Trevillion, Shutterstock
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-18469-8
V003
www.diana-verlag.de
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Für meine fantastische, treue Freundin JoAnne

Teil I

Alles Lug und Trug

Nicht die Lüge schmerzt, die zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hinausgeht, sondern die, die uns im Gedächtnis haften bleibt.

Francis Bacon

1

In dem riesigen Haus, das Shelby insgeheim immer nur das Riesenhaus nannte, nahm sie am wuchtigen Schreibtisch ihres Mannes Platz. Sie saß in dem Ledersessel, der die Farbe von Espresso hatte und nicht etwa einfach nur braun war. Auf solche Feinheiten hatte Richard großen Wert gelegt. Der glänzende Designer-Schreibtisch war aus afrikanischem Zebraholz und eine Maßanfertigung aus Italien.

Als sie einmal im Scherz gesagt hatte, ihr sei neu, dass es in Italien Zebras gebe, bedachte er sie nur mit diesem Blick, der besagte, dass sie trotz der Riesenvilla, trotz der eleganten Kleider und trotz des dicken Diamantrings am Finger immer Shelby Anne Pomeroy aus dem kleinen Kürbiskaff in Tennessee bleiben würde, in dem sie geboren und aufgewachsen war.

Früher hätte er über so eine Bemerkung gelacht. Früher hätte er gemerkt, dass sie nur einen Scherz machte. Früher, als sie sein Ein und Alles gewesen war. Doch leider hatte sie für ihn viel zu rasch an Reiz verloren.

Der Mann, den sie vor knapp fünf Jahren in einer sternenklaren Sommernacht kennengelernt hatte, hatte sie umgehauen und aus allem herausgerissen, was ihr vertraut war, in Welten entführt, von denen sie niemals zu träumen gewagt hätte.

Er hatte sie auf Händen getragen, ihr Orte gezeigt, die sie nur aus Büchern oder Filmen kannte. Und er hatte sie einmal geliebt, das durfte sie auf keinen Fall vergessen. Er hatte sie geliebt, begehrt und ihr alles zu Füßen gelegt, was sich eine Frau nur wünschen kann.

Er war für alles aufgekommen, wie er nie versäumte zu betonen.

Gut, er war ausgerastet, als sie schwanger geworden war, sodass sie es mit der Angst zu tun bekommen hatte. Aber dann hatte er sie nach Las Vegas entführt und geheiratet, als wäre das Leben ein einziges Abenteuer. Damals waren sie glücklich gewesen, das musste sie sich wieder in Erinnerung rufen. Sie durfte die guten Zeiten nicht vollkommen ausblenden, die es durchaus gegeben hatte.

Eine Frau, die mit vierundzwanzig Witwe wird, ist auf schöne Erinnerungen angewiesen.

Wenn eine Frau erfährt, dass ihr ganzes Leben eine einzige Lüge gewesen und sie nicht nur pleite ist, sondern erdrückende Schulden hat, ist sie gezwungen, sich an diese guten Zeiten zu klammern.

Die Anwälte, Steuerberater und Finanzbeamten hatten ihr alles erklärt, aber genauso gut hätten sie Chinesisch reden können: Hebelprodukte, Hedgefonds und Zwangsvollstreckung. Das Riesenhaus, das sie von Anfang an eingeschüchtert hatte, gehörte nicht ihr, sondern der Bank. Die Autos waren sowieso nur geleast, und sie war mit den Raten im Rückstand.

Die Möbel? Auf Pump angeschafft und längst nicht abbezahlt.

Hinzu kamen die Steuerschulden. Schon beim bloßen Gedanken daran wurde ihr ganz schlecht.

In den zwei Monaten und acht Tagen seit Richards Tod hatte sie sich nur mit Dingen beschäftigt, mit denen sie sich bisher nicht hätte abgeben sollen. Angeblich, weil sie sie nichts angingen, wie Richard ihr mit seinem warnenden Blick unmissverständlich klargemacht hatte.

Doch im Augenblick gingen sie ausschließlich sie etwas an. Sie war diejenige, die Schulden bei verschiedenen Gläubigern, bei der Bank und beim Staat hatte. Schulden, die so gigantisch waren, dass sie sich wie gelähmt fühlte. Aber sie konnte es sich nicht erlauben, in dieser Schockstarre zu verharren, denn sie hatte ein Kind zu versorgen. Ihre Tochter Callie war alles, was zählte, und sie war erst drei. Am liebsten hätte Shelby den Kopf auf die kühle, glänzende Tischplatte gelegt und hemmungslos geweint.

»Das wirst du nicht tun«, sagte sie sich. »Du bist alles, was sie hat, und deswegen wirst du tun, was getan werden muss.«

Sie öffnete einen der Kartons mit der Aufschrift Persönliche Unterlagen. Die Anwälte und Steuerfahnder hatten bereits alles durchsucht, sichergestellt und kopiert.

Callie zuliebe musste sie sich einen Überblick verschaffen und gucken, was sich retten ließ.

Irgendetwas musste sich retten lassen, damit sie ihr Kind ernähren und ihm ein Dach über dem Kopf bieten konnte, nach Abzug der Schulden natürlich. Sie würde sich selbstverständlich einen Job suchen, aber das war leider nicht genug.

Das Geld ist mir egal, dachte sie, als sie die Quittungen für Anzüge, Schuhe, Restaurant- und Hotelbesuche durchsah. Für Flüge mit dem Privatjet. Das war ihr bereits in dem ersten, stürmischen Jahr nach Callies Geburt klar geworden.

Damals hatte sie sich nichts sehnlicher als ein Zuhause gewünscht.

Shelby schaute sich in Richards Büro um, ließ die grellen Farben der modernen Kunst, die er so geliebt hatte, auf sich wirken, die knallweißen Wände, vor denen sie angeblich am besten zur Geltung kam, das dunkle Holz und das Leder.

Nein, das war kein Zuhause und wäre es auch nie geworden – nicht einmal, wenn sie acht Jahre hier gewohnt hätte statt der drei Monate, die seit ihrem Einzug vergangen waren.

Er hatte es gekauft, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen, und es eingerichtet, ohne Rücksicht auf ihren Geschmack zu nehmen. »Überraschung!«, hatte er gerufen und die Türen zu diesem monströsen Klotz in Villanova aufgerissen, dem angeblich besten Vorort von ganz Philadelphia. Sie hatte Begeisterung geheuchelt, aus Dankbarkeit, sesshaft werden zu können, auch wenn sie die grellen Farben und hohen Decken einschüchterten. Callie würde endlich ein Zuhause haben, auf eine gute Schule gehen, Freunde finden und behütet aufwachsen. Und auch sie würde hoffentlich bald Freundschaften schließen.

Nur dass sie gar nicht erst die Chance dazu bekommen hatte.

Genauso wenig wie die, sich die Lebensversicherung über zehn Millionen Dollar auszahlen zu lassen. Auch sie war eine einzige Lüge gewesen, genau wie die angeblichen Rücklagen für Callies College-Ausbildung.

Warum?

Sie verdrängte die Frage, weil sie sich nicht mehr beantworten ließ.

Sie konnte seine Anzüge, Schuhe, Krawatten, Sportsachen, Golfschläger und Ski zu Secondhandläden schleppen und sie zu Geld machen, alles verkaufen, was ihr noch geblieben war. Auf eBay, wenn es sein musste, oder über einen Pfandleiher.

Auch in ihrem eigenen Kleiderschrank gab es mehr als genug Überflüssiges, sogar Schmuck.

Sie betrachtete den Diamantring, den er ihr in Las Vegas angesteckt hatte. Den Ehering würde sie behalten, nicht aber den diamantenen Vorsteckring. Es gab genügend Dinge, die sie veräußern konnte.

Callie zuliebe.

Sie ging die Papiere durch, eines nach dem anderen. Sämtliche Computer waren beschlagnahmt worden, aber die Papiere waren noch da.

Sie schlug seine Patientenakte auf.

Er hatte sehr auf seine Gesundheit geachtet, und ihr fiel ein, dass sie die Mitgliedschaften im Country- und Fitnessclub kündigen musste. Er war topfit gewesen und hatte sich regelmäßig vom Arzt durchchecken lassen.

Sie nahm sich vor, die Vitamintabletten und Nahrungsergänzungsmittel wegzuwerfen, die er täglich genommen hatte. Wozu sie behalten, wozu diese Unterlagen behalten? Ihr kerngesunder Mann war mit gerade mal dreiunddreißig Jahren im Atlantik ertrunken, nur wenige Kilometer vor der Küste von South Carolina.

Am besten, sie vernichtete seine Patientenakten. Darin war Richard gut gewesen, er hatte einen Aktenvernichter im Büro. Die Gläubiger hatten kein Interesse an den Werten seiner letzten Blutuntersuchung, an seiner Grippeimpfung vor zwei Jahren oder an den Unterlagen aus der Notaufnahme, als er sich damals beim Basketball den Finger verstaucht hatte.

Meine Güte, drei Jahre war das jetzt her! Für jemanden, der bergeweise Akten vernichtete, hatte er seine medizinischen Unterlagen erstaunlich lange aufbewahrt.

Sie seufzte laut und entdeckte noch ein Dokument, das vor knapp vier Jahren ausgestellt worden war.

Sie wollte es gerade beiseitelegen, als sie stirnrunzelnd innehielt. Der Name des Arztes sagte ihr nichts. Gut, sie hatten damals in dem riesigen Wolkenkratzer in Houston gelebt, und wenn man jedes Jahr mindestens einmal umzieht, kann man sich unmöglich alle Namen merken. Aber dieser Arzt praktizierte in New York City.

»Das kann nicht sein«, murmelte sie. »Warum sollte Richard einen Arzt in New York aufsuchen, nur um …«

Sie erstarrte und hielt sich das Blatt Papier mit zitternden Fingern ganz nah vor die Augen.

Aber der Inhalt blieb derselbe.

Richard Andrew Foxworth hatte sich einem chirurgischen Eingriff unterzogen, durchgeführt von Dr. Dipol Haryana im Mount Sinai Medical Center am 12. Juli 2011. Einer Vasektomie.

Richard hatte sich heimlich sterilisieren lassen. Als Callie keine zwei Monate alt gewesen war, hatte er dafür gesorgt, dass sie keine weiteren Kinder bekommen konnten. Dabei hatte er so getan, als wünschte er sich mehr als ein Kind, sobald sie von einem zweiten gesprochen hatte. Er hatte eingewilligt, sich untersuchen zu lassen, genau wie sie, nachdem sie ein Jahr lang vergeblich versucht hatte, schwanger zu werden.

Sie hörte förmlich, wie er gesagt hatte: Du musst dich einfach nur entspannen, Shelby. Wenn du dich verkrampfst, wird es nie klappen.

»Nein, es hat deshalb nicht geklappt, weil du heimlich dafür gesorgt hast! Sogar in diesem Punkt hast du mich angelogen, während ich Monat für Monat erneut verzweifelt bin. Wie konntest du nur? Wie konntest du?«

Sie schob den Stuhl zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Juli, Mitte Juli: Callie war damals erst acht Wochen alt gewesen. »Eine Geschäftsreise«, hatte er gesagt, daran konnte sie sich genau erinnern. Nach New York. In Bezug auf den Ort hatte er sie nicht angelogen.

Sie hatte mit dem Neugeborenen nicht in eine so chaotische Großstadt fahren wollen. Das hatte er gewusst und alles von Anfang an genau geplant. Noch so eine Überraschung! Damals hatte er sie in ein Privatflugzeug gesetzt und nach Tennessee zurückgeschickt, sie und ihr Baby.

Damit sie Zeit mit ihrer Familie verbringen, das Baby herumzeigen und sich von ihrer Mutter und Großmutter verwöhnen lassen konnte.

Sie hatte sich so darüber gefreut, war ihm so dankbar gewesen. Dabei hatte er sie bloß loswerden wollen, um dafür zu sorgen, dass er keine Kinder mehr zeugen konnte.

Shelby griff nach dem Foto von Callie und sich, das sie für ihn hatte rahmen lassen. Ihr Bruder hatte es damals gemacht. Ein Geschenk, über das er sich angeblich gefreut hatte. Zumindest hatte er es in jedem ihrer Häuser auf den Schreibtisch gestellt.

»Noch so eine Lüge. Du hast uns nie geliebt, denn sonst hättest du uns nicht ständig belogen.«

Vor lauter Wut hätte sie am liebsten den Bilderrahmen zertrümmert, nur das Gesicht ihrer Kleinen darin hielt sie davon ab. Sie stellte ihn so behutsam zurück, als wäre er aus kostbarem Porzellan.

Dann setzte sie sich auf den Boden, denn an diesem Schreibtisch konnte sie jetzt unmöglich Platz nehmen. Sie setzte sich vor die mit greller Kunst behängte Wand und wiegte sich weinend vor und zurück. Nicht nur, weil der Mann tot war, den sie geliebt hatte, sondern auch, weil es ihn nie gegeben hatte.

***

Shelby konnte es sich nicht leisten, sich hinzulegen. Obwohl sie keinen Kaffee mochte, machte sie sich mit Richards italienischer Espressomaschine einen Riesenbecher.

Mit Kopfschmerzen vom vielen Weinen und mit Herzrasen vom Koffein sortierte sie die Unterlagen aus dem Karton zu mehreren Stapeln.

Jetzt, wo sie sie mit ganz anderen Augen sah, merkte sie an den Hotel- und Restaurantquittungen, dass er nicht nur ein Lügner, sondern auch ein Betrüger gewesen war.

Die Rechnungen für den Zimmerservice waren viel zu hoch für einen allein reisenden Mann. Nahm man dann noch die Quittung für den silbernen Armreif von Tiffany hinzu, den er ihr nie geschenkt hatte, die Fünfhundert-Dollar-Rechnung für La-Perla-Unterwäsche, die er auch an ihr sehr geliebt hatte, den Beleg für ein Wochenende in einem Bed & Breakfast in Vermont, an dem er angeblich ein Geschäft in Chicago abgewickelt hatte, dann war eigentlich alles klar.

Warum hatte er diese Dinge aufbewahrt, all die Beweise für seine Lügen, für seine Untreue? Ganz einfach. Weil sie ihm vertraut hatte.

Andererseits auch wieder nicht. Sie hatte geahnt, dass es Affären gab, und das dürfte auch ihm nicht verborgen geblieben sein. Trotzdem hatte er diese Unterlagen aufbewahrt, weil er davon ausgegangen war, dass sie es niemals wagen würde, darin zu wühlen.

Er hatte seine vielen Leben einfach unter Verschluss gehalten, ohne dass sie Zugang dazu gehabt hätte. Und sie hätte ihm niemals Fragen gestellt.

Wie viele Frauen hatte es gegeben? Spielte das überhaupt eine Rolle? Jede neben ihr war eine zu viel. Und jede Einzelne von ihnen war bestimmt deutlich raffinierter, erfahrener und klüger gewesen als das naive Mädchen aus dem Gebirgskaff in Tennessee, dem er mit neunzehn ein Kind gemacht hatte.

Warum hatte er sie bloß geheiratet?

Vielleicht hatte er sie doch geliebt, zumindest ein bisschen. Sie begehrt. Aber sie hatte ihm einfach nicht genügt, hatte es nicht geschafft, ihn so glücklich zu machen, dass er ihr treu blieb.

Spielte das wirklich eine Rolle? Er war schließlich tot.

Ja, dachte sie. Und ob es eine Rolle spielt!

Er hatte sie lächerlich gemacht, sie gedemütigt und ihr Schulden hinterlassen, die sie viele Jahre beschäftigen würden und die Zukunft ihrer Tochter bedrohten.

Noch eine ganze Stunde lang durchsuchte sie systematisch sein Büro. Der Safe war bereits leer geräumt worden. Sie hatte zwar gewusst, dass es ihn gab, aber die Zahlenkombination nicht gekannt. Deshalb erlaubte sie den Anwälten, ihn öffnen zu lassen.

Sie hatten fast alle Unterlagen mitgenommen, aber es lagen fünftausend Dollar in bar darin. Shelby legte sie genauso wie Callies Geburtsurkunde und ihre Pässe auf die Seite.

Sie schlug Richards Pass auf und betrachtete sein Foto.

Wie gut er ausgesehen hatte! Wie ein Filmstar mit dem dichten dunklen Haar und den bernsteingoldenen Augen. Wenn Callie nur seine Grübchen geerbt hätte! Sie war ganz hin und weg gewesen von diesen verdammten Grübchen.

Sie legte die Pässe auf die Seite. Auch wenn Callie und sie in nächster Zeit kaum verreisen würden, steckte sie ihren Ausweis ein. Richards Pass würde sie vernichten oder die Anwälte fragen, was sie damit machen sollte.

Sie fand nichts von Interesse, würde aber noch einmal alles durchgehen, bevor sie die Unterlagen vernichtete oder in Umzugskartons packte.

Benebelt von Traurigkeit und Kaffee, lief sie durchs Haus, querte das zwei Stockwerke hohe Foyer und ging die Wendeltreppe hinauf, glitt lautlos auf ihren dicken Socken über das Parkett.

Als Erstes sah sie nach Callie, ging in ihr hübsches Zimmer und küsste ihre wie immer auf dem Bauch schlafende Tochter auf die Wange, bevor sie die Decken um sie herum feststopfte.

Sie ließ die Tür offen und ging ins Schlafzimmer.

Sie hasste diesen Raum – wie sehr, wurde ihr erst in diesem Augenblick bewusst. Sie hasste die grauen Wände, das schwarze Betthaupt aus Leder und die scharfkantigen Möbel.

Da sie nun wusste, dass sie sich in diesem Bett geliebt hatten, nachdem er durch fremde Betten getobt war, hasste sie es noch mehr.

Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und ihr dämmerte, dass sie zum Arzt musste. Sie musste sich untersuchen lassen, um sicherzugehen, dass er sie nicht angesteckt hatte.

Denk nicht weiter darüber nach, ermahnte sie sich. Mach gleich morgen früh einen Termin aus, und denk nicht weiter darüber nach.

Shelby ging zu seinem Kleiderschrank, der so groß war wie ihr Zimmer zu Hause in Rendezvous Ridge.

Das meiste darin war fast ungetragen. Richard bevorzugte italienische Designer, zumindest in puncto Anzüge und Schuhe. Sie nahm ein Paar schwarze Schnürschuhe aus dem Regal und drehte sie um, um sich die Absätze anzusehen.

Dann holte sie sechs Kleiderschutzhüllen aus einem Schrank.

Morgen würde sie so viel Garderobe wie möglich zum Secondhandladen bringen.

»Das hätte ich schon längst tun sollen«, murmelte sie.

Aber wie nach dem Schock und der Trauer? Anschließend waren die Anwälte aufgetaucht, die Buchprüfer und Steuerfahnder.

Sie kontrollierte die Taschen eines grauen Nadelstreifenanzugs, überzeugte sich, dass sie leer waren, und steckte ihn in die Schutzhülle. In jede Schutzhülle passten fünf Anzüge, sodass sie vier für die Anzüge und dann noch einmal fünf oder sechs für die Sakkos und Mäntel brauchen würde. Anschließend würde sie sich um die Hemden und Freizeithosen kümmern.

Die mechanische Arbeit hatte etwas Beruhigendes, und das Ausräumen der Schränke fühlte sich irgendwie befreiend an.

Nachdem sie sich bis zur dunkelbraunen Lederjacke vorgearbeitet hatte, zögerte sie. Er hatte diese Fliegerjacke geliebt, und sie hatte ihm ausgezeichnet gestanden, vor allem der satte Braunton. Das war eines der wenigen Geschenke von ihr, die wirklich gut angekommen waren.

Sie strich über das butterweiche Leder der Ärmel und wollte die Jacke aus sentimentalen Gründen beiseitelegen.

Dann fiel ihr die Quittung des Arztes wieder ein, und sie durchwühlte rücksichtslos sämtliche Taschen.

Sie waren natürlich leer, denn er hatte seine Taschen allabendlich sorgfältig geleert. Das Wechselgeld kam in das Glas auf seiner Kommode, das Handy in die Ladestation, die Schlüssel in die Schale im Flur oder in seine Schreibtischschublade.

Nie vergaß er etwas in den Taschen, das sie ausbeulen könnte.

Doch als sie sie abtastete, spürte sie etwas. Diese Angewohnheit hatte sie sich beim Wäschesortieren von ihrer Mutter abgeschaut. Erneut kontrollierte sie die Tasche, doch sie war leer. Sie stülpte sie um.

Und entdeckte ein kleines Loch im Futter. Ja, er hatte die Jacke geliebt.

Sie trug sie zurück ins Schlafzimmer, holte ihre Nagelschere und erweiterte vorsichtig das Loch. Sie nahm sich vor, es zu flicken, bevor sie die Jacke verkaufte.

Dann griff sie in das Futter und zog einen Schlüssel hervor.

Ein Türschlüssel sieht anders aus, dachte sie und drehte ihn hin und her. Es war auch kein Autoschlüssel. Sondern der Schlüssel zu einem Schließfach.

Nur, in welcher Bank befand sich dieses Schließfach? Was wurde darin aufbewahrt? Wozu ein Schließfach, wo er doch einen Safe im Büro hatte?

Eigentlich müsste sie die Anwälte informieren, doch sie beschloss, darauf zu verzichten. Bei all den Frauen, mit denen er in den letzten fünf Jahren geschlafen hatte, hatte sie etwas bei ihm gut. Sie war genug gedemütigt worden.

Sie würde die Bank mit dem Schließfach ausfindig machen und sich einfach nehmen, was darin war.

Die Anwälte konnten das Haus behalten, die Möbel und Autos, die Aktien, Wertpapiere und Geldanlagen, die nicht gehalten hatten, was Richard versprochen hatte. Sie konnten die Kunst behalten, den Schmuck und den Nerz, den er ihr zu ihrem ersten – und letzten – Weihnachten in Pennsylvania geschenkt hatte.

Das bisschen Stolz, das sie noch hatte, würde sie sich nicht nehmen lassen.

***

Shelby schrak aus einem verstörenden Albtraum hoch, weil jemand an ihrer Hand zerrte.

»Mama, Mama, aufwachen!«

»Was ist denn?« Ohne die Augen zu öffnen, zog sie ihr kleines Mädchen zu sich ins Bett.

»Zeit zum Aufstehen«, sang Callie. »Fifi hat Hunger.«

»Hm.« Fifi, Callies heiß geliebtes Stofftier, wachte stets mit großem Hunger auf. »Okay.« Noch eine Minute.

Irgendwann hatte sie sich gestern Nacht voll bekleidet auf ihrem Bett ausgestreckt, sich mit der schwarzen Kaschmirdecke zugedeckt und war eingeschlafen. Auch wenn es ein Ding der Unmöglichkeit war, Callie – oder Fifi – dazu zu bewegen, noch eine Stunde zu schlafen, ließen sich durchaus ein paar Minuten herausschinden.

»Deine Haare riechen so gut«, murmelte Shelby.

»Callies Haare. Mamas Haare.«

Als Shelby spürte, wie jemand daran zog, musste sie lächeln. »Wir haben genau die gleichen.«

Das tiefe Goldrot stammte von ihrer Mutter, von der Seite der MacNees. Genauso wie die wilden Locken, die sie allwöchentlich herausgeföhnt und geglättet hatte, weil Richard das so besser gefiel.

»Callies Augen. Mamas Augen.«

Callie schob Shelbys Lider hoch, woraufhin tiefblaue Augen zum Vorschein kamen, die je nach Lichteinfall fast violett wirkten.

»Wir haben genau die gleichen«, bestätigte Shelby blinzelnd.

»Sie sind rot.«

»Allerdings! Worauf hat Fifi heute Appetit?«

Noch fünf Minuten, dachte sie.

»Fifi will Bonbons.«

Die Begeisterung in der Stimme ihrer Tochter brachte Shelby dazu, die rot unterlaufenen Augen aufzuschlagen. »Fifi?« Shelby drehte das fröhliche Plüschgesicht des rosa Pudels zu sich her. »Von wegen.«

Dann kitzelte sie Callie und genoss ihr entzücktes Quietschen, obwohl sie Kopfschmerzen hatte.

»Gut, frühstücken wir.« Sie hob Callie aus dem Bett. »Danach müssen wir einiges erledigen, Prinzessin, und ein paar Leute besuchen.«

»Martha? Kommt Martha wieder?«

»Nein, Schätzchen.« Shelby dachte an die Nanny, auf der Richard bestanden hatte. »Ich hab dir doch erklärt, dass Martha nicht mehr kommen kann.«

»Genau wie Daddy«, sagte Callie, als Shelby sie nach unten trug.

»Nicht ganz. Ich mache uns jetzt ein fantastisches Frühstück. Weißt du, was fast genauso lecker schmeckt wie Bonbons?«

»Kuchen.«

Shelby lachte. »Fast! Pfannkuchen, winzige Hundepfannkuchen.«

Kichernd ließ Callie den Kopf an Shelbys Schulter sinken. »Ich hab dich lieb, Mama.«

»Ich hab dich auch lieb, Callie.« Shelby schwor sich, alles zu tun, um ihrer Tochter ein behütetes Leben zu schenken.

***

Nach dem Frühstück half Shelby Callie beim Anziehen und packte sie dick ein. An Weihnachten hatte sie den Schnee genossen und ihn im Januar, nach Richards Unfall, kaum noch wahrgenommen.

Inzwischen war März, und sie konnte bald keinen mehr sehen. Draußen war es nach wie vor schneidend kalt und Tauwetter nicht in Sicht. Zum Glück war es in der Garage einigermaßen warm. Sie schnallte Callie in ihrem Sitz an und verstaute die schweren Tüten mit den Kleidern in dem Geländewagen, der ihr vermutlich nicht mehr lange gehören würde.

Sie musste genügend Geld für einen Gebrauchtwagen auftreiben, für ein gutes, sicheres, kinderfreundliches Auto. Am besten ein Kombi, dachte sie beim Zurücksetzen.

Shelby fuhr vorsichtig. Der Schneepflug war zwar schon durch, aber selbst dieses vornehme Viertel zollte dem Wetter Tribut, und es gab Schlaglöcher.

Sie kannte niemanden in der Gegend. Der Winter war so hart und kalt gewesen und ihre Lebensumstände waren so chaotisch, dass sie hauptsächlich drinnen geblieben war. Außerdem hatte Callie eine scheußliche Erkältung gehabt. Die Kälte war auch der Grund gewesen, warum Shelby zu Hause blieb, als Richard nach South Carolina fuhr. Eine Reise, die sie eigentlich mit der ganzen Familie hatten machen wollen.

Normalerweise wären sie mit ihm auf dem Boot gewesen, und als sie hörte, wie ihre Tochter sich mit Fifi unterhielt, konnte sie den Gedanken kaum ertragen. Sie beschloss, sich lieber auf den Verkehr und den Weg zum Secondhandshop zu konzentrieren.

Sie setzte Callie in den Kinderwagen, verfluchte den beißenden Wind und nahm die obersten drei Tüten aus dem Wagen. Während sie mit der Ladentür, den Tüten und dem Kinderwagen kämpfte, öffnete ihr eine Frau.

»Oh, wow! Warten Sie, ich helfe Ihnen.«

»Danke, aber sie sind schwer, ich sollte lieber …«

»Ich hab sie schon. Macey, hier kommen wahre Schätze.«

Eine weitere Frau kam aus dem Hinterzimmer, sie war hochschwanger. »Guten Morgen. Hallo, Süße«, sagte sie zu Callie.

»Du hast ein Baby im Bauch.«

»Ja, das stimmt.« Macey legte die Hand darauf und sagte lächelnd zu Shelby: »Willkommen bei Second Chance. Sie haben uns etwas mitgebracht?«

»Ja.« Shelby sah sich kurz um und entdeckte Ständer und Regale mit Kleidern und Accessoires. Sowie einen winzigen Bereich, der für Herrengarderobe reserviert war.

Enttäuschung machte sich breit.

»Ich hatte keine Gelegenheit, vorher vorbeizuschauen, deshalb wusste ich nicht, was Sie … Das meiste sind Anzüge, Herrenanzüge, Oberhemden und Sakkos.«

»Wir kriegen viel zu wenig Herrensachen.« Die Frau, die ihr aufgemacht hatte, klopfte auf die Schutzhülle, die sie auf die breite Ladentheke gelegt hatte. »Darf ich einen kurzen Blick darauf werfen?«

»Ja, bitte.«

»Sie sind nicht von hier, oder?«, bemerkte Macey.

»Äh, nein.«

»Sind Sie zu Besuch?«

»Wir … ich wohne momentan in Villanova, aber erst seit Dezember, allerdings …«

»Alle Achtung! Das sind fantastische Anzüge in einem fantastischen Zustand, soweit ich das beurteilen kann. Macey?«

»In welcher Größe, Cheryl?«

»52, Standard. Es sind bestimmt zwanzig.«

»Zweiundzwanzig«, sagte Shelby und verschränkte nervös die Hände. »Im Auto ist noch mehr.«

»Noch mehr?«, staunten die beiden Frauen unisono.

»Schuhe, Herrenschuhe. Mäntel und Jacken … Mein Mann …«

»Daddys Kleider«, rief Callie, als Cheryl einen weiteren Anzug an den Garderobenständer hängte. »Nicht mit klebrigen Fingern anfassen.«

»Das stimmt, Liebes. Es ist nämlich so, dass …« Shelby suchte nach den richtigen Worten, um ihre Situation zu erklären. Doch Callie war schneller.

»Mein Daddy ist im Himmel.«

»Das tut mir leid.« Macey berührte Callies Arm.

»Im Himmel ist es schön«, verkündete diese. »Dort gibt es Engel.«

»Ja, das stimmt.« Macey warf Cheryl einen kurzen Blick zu und nickte. »Holen Sie ruhig den Rest«, forderte sie Shelby auf. »Sie können sie … wie heißt du, Süße?«

»Callie Rose Foxworth. Und das ist Fifi.«

»Hallo, Fifi. Wir passen auf Callie und Fifi auf, während Sie die restlichen Sachen holen.«

»Wenn Sie meinen.« Shelby zögerte. Aber warum sollten zwei Frauen, von denen eine im siebten Monat schwanger war, mit Callie davonlaufen, während sie kurz zum Wagen ging? »Ich bin gleich wieder da, Callie, bitte sei schön brav. Mama holt nur was aus dem Wagen.«

***

Sie sind nett, dachte Shelby, als sie anschließend zur Bank fuhr, um sich dort nach dem Schließfach zu erkundigen. Die meisten Leute waren nett, wenn man ihnen Gelegenheit dazu gab. Die Frauen vom Secondhandshop hatten ihr alles abgenommen, vermutlich mehr, als sie brauchen konnten. Callie hatte sie mit ihrem Charme restlos verzaubert.

»Du bist mein Glücksbringer, Callie!«

Callie verzog die Lippen, zwischen denen ein Strohhalm steckte, zu einem breiten Grinsen, allerdings ohne den Blick vom an der Rücklehne befestigten DVD-Player abzuwenden, auf dem gerade zum millionsten Mal Shrek lief.

2

Sechs Banken später musste sich Shelby eingestehen, dass ihre Glückssträhne vorbei war. Außerdem musste die Kleine dringend etwas zu Mittag essen und ein Schläfchen machen.

Sie gab Callie ihr Mittagessen, ging mit ihr ins Bad und steckte sie ins Bett. Letzteres dauerte doppelt so lange wie gedacht. Dann hörte sie den Anrufbeantworter und ihre Handy-Mailbox ab.

Sie hatte Zahlungspläne mit den verschiedenen Kreditkartenfirmen ausgehandelt, die sie den Umständen entsprechend fair behandelt hatten. Mit dem Finanzamt hatte sie es genauso gehandhabt. Die Bank war einverstanden, dass sie das Haus kurzfristig verkaufte. Eine der Nachrichten stammte von der Maklerin, die die ersten Besichtigungstermine vereinbaren wollte.

Shelby hätte sich gern kurz hingelegt, aber sie musste die Stunde nutzen, die Callie hoffentlich schlafen würde.

Weil es am praktischsten war, benutzte sie Richards Büro. Sie hatte fast alle Zimmer in dem riesigen Haus abgesperrt, um Heizkosten zu sparen. Sie sehnte sich nach einem Kaminfeuer und schaute zu dem Gaskamin unter dem schwarzen Marmorsims hinüber. Er war das Beste an dem riesigen Haus. Wärme und Geborgenheit auf Knopfdruck.

Aber Gas war teuer. Dicke Pullis und Socken würden sie ebenfalls warm halten.

Sie holte ihre To-do-Liste hervor, rief die Maklerin zurück und erklärte sich einverstanden, ihr Haus samstags und sonntags für Besichtigungen zu öffnen.

Sie würde dann mit Callie verschwinden und alles der Maklerin überlassen. Inzwischen hatte sie die Firma ausfindig gemacht, die ihr die Anwälte genannt hatten, und die vielleicht das Mobiliar aufkaufen würde.

Sollte es ihr nicht gelingen, es im Ganzen oder zu einem guten Preis zu verkaufen, würde sie die Sachen eben einzeln im Internet anbieten. Vorausgesetzt, sie bekäme irgendwann den Computer zurück.

Im schlimmsten Fall würden sie gepfändet.

Ein Flohmarkt war in dieser noblen Gegend wenig vielversprechend, außerdem war es dafür zu kalt.

Als Nächstes rief sie ihre Mutter, ihre Großmutter und ihre Schwägerin zurück und bat sie, den Tanten und Cousinen, die ebenfalls angerufen hatten, auszurichten, dass es ihr gut gehe. Callie sei wohlauf, und sie schwer damit beschäftigt, alles zu organisieren.

Sie konnte ihnen unmöglich die Wahrheit sagen, zumindest nicht die ganze Wahrheit – noch nicht. Ein paar Dinge wussten sie natürlich, aber mehr konnte sie ihnen einfach nicht zumuten. Immer, wenn sie darüber reden musste, wurde sie wütend oder brach in Tränen aus. Das konnte sie sich im Moment nicht erlauben.

Um nicht untätig zu bleiben, ging sie nach oben ins Schlafzimmer und inspizierte ihren Schmuck. Ihren Verlobungsring und die Diamantohrringe, die Richard ihr zum vierundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Den Smaragdanhänger, den sie zu Callies Geburt bekommen hatte, sowie weitere Schmuckstücke und Geschenke. Seine sechs Uhren und seine Manschettenknöpfe.

Sie legte eine detaillierte Liste an wie bei den Kleidern, die sie zum Secondhandladen gebracht hatte. Sie verpackte den Schmuck mit den dazugehörigen Zertifikaten und Versicherungsunterlagen. Dann suchte sie mithilfe ihres Handys nach einem Juwelier in der Nähe, der Schmuck ankaufte.

Alles, was sie als ihren Privatbesitz betrachtete, verstaute sie in Umzugskartons. Das waren vor allem die Fotos und Geschenke ihrer Verwandten. Die Maklerin hatte ihr geraten, das Haus zu entpersonalisieren. Genau das würde sie tun.

Als Callies Mittagsschlaf beendet war, beschäftigte Shelby sie mit kleineren Aufgaben. Während des Packens begann sie mit dem Putzen. Personal, das die vielen Quadratmeter Fliesen, Holzdielen, Chrom- und Glasflächen schrubbte und polierte, hatte sie schließlich keines mehr.

Sie kochte das Abendessen und aß, so viel sie konnte. Nachdem sie Callie gebadet, ihr vorgelesen und mit ihr gekuschelt hatte, packte sie weiter und schleppte die Kartons anschließend in die Garage. Erschöpft gönnte sie sich ein heißes Bad in der Designer-Wanne mit den Massagedüsen und ging dann mit dem Notizblock ins Bett, um eine Liste für den nächsten Tag zu machen. Bevor sie das Licht löschen konnte, schlief sie ein.

***

Am nächsten Morgen zog Shelby wieder los. Mit Callie, Fifi, Shrek und Richards Aktenkoffer aus Leder, in dem sich ihr Schmuck, seine Uhren und seine Manschettenknöpfe befanden. Sie versuchte es bei drei weiteren Banken und vergrößerte ihren Radius, bis ihr klar wurde, dass sie sich Stolz nicht leisten konnte. Sie hielt vor einem Juwelier.

Callie war wütend, weil sie den Film nicht weiterschauen durfte, also bestach sie die Dreijährige und versprach ihr eine neue DVD. Sie redete sich ein, dass sie nur ein Geschäft abwickelte, nichts weiter, und schob Callie in den Laden.

Alles funkelte, und es herrschte eine Atmosphäre wie in einem Gotteshaus. Am liebsten hätte Shelby auf dem Absatz kehrtgemacht, zwang sich aber, auf die Frau zuzugehen, die ein schlichtes schwarzes Kostüm und geschmackvolle Goldohrringe trug.

»Entschuldigen Sie bitte, ich hätte gern mit jemandem gesprochen, der sich mit Schmuck auskennt.«

»Das tun wir alle. Das ist unser Beruf.«

»Nein, was ich eigentlich sagen wollte, ist Folgendes: Ich besitze ein paar Preziosen, die ich gern veräußern würde. Sie kaufen auch Schmuck an?«

»Natürlich.« Der Blick der Frau war genauso unterkühlt wie ihr Kostüm, während sie sie vom Scheitel bis zur Sohle musterte.

Gut möglich, dass ich im Moment nicht in Hochform bin, dachte Shelby. Gut möglich, dass es mir nicht gelungen ist, die dunklen Ringe unter meinen Augen zu kaschieren. Aber ich habe von meiner Großmutter gelernt, dass man Kunden immer mit Respekt behandelt.

Shelby richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und sah der Frau direkt in die Augen. »Gibt es einen Ansprechpartner für mich, oder soll ich meine Geschäfte lieber anderswo abwickeln?«

»Haben Sie die Original-Quittungen der einzelnen Schmuckstücke dabei?«

»Nein, nicht für alle, da es sich um Geschenke handelt. Aber ich habe die dazugehörigen Prospekte und Versicherungsunterlagen mitgebracht.«

Sah sie etwa aus wie eine Diebin, die ihre Tochter zu vornehmen Juwelieren schleifte, um Hehlerware loszuwerden? Shelby spürte, dass sie kurz davorstand zu explodieren. Das schien auch die Verkäuferin zu spüren, denn sie trat einen Schritt zurück.

»Einen Moment, bitte.«

»Mama, ich will heim.«

»Ach, Schätzchen, ich auch. Wir gehen gleich.«

»Kann ich Ihnen helfen?«

Der Mann, der nun auf sie zukam, sah aus wie der gütige Großvater in einem Hollywoodstreifen. Wie jemand, der reich geboren war und immer reich bleiben würde.

»Ja, Sir, gern. Wie ich gehört habe, kaufen Sie Schmuck an. Ich habe welchen dabei, den ich veräußern muss.«

»Natürlich. Am besten gehen wir dort hinüber, damit Sie sich setzen können, während ich mir in Ruhe alles anschaue.«

»Danke.«

Sie zwang sich, ihre aufrechte Haltung beizubehalten, während sie quer durch den Raum zu einem antiken Tisch gingen. Er zog den Stuhl für sie vor – eine Geste, nach der sie fast wie eine Idiotin drauflosgebrabbelt hätte.

»Ich habe einige Stücke dabei, die mir mein … mein Mann geschenkt hat. Samt den Broschüren und Versicherungsunterlagen.« Sie fummelte am Verschluss des Aktenkoffers herum, holte die Tütchen und Schmuckkästchen heraus sowie den braunen Umschlag mit den Unterlagen.

»Ich … er … wir …« Sie verstummte, schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. »Entschuldigen Sie bitte, ich habe so etwas noch nie gemacht.«

»Das ist vollkommen in Ordnung, Mrs. …?«

»Foxworth. Shelby Foxworth.«

»Wilson Brown.« Er nahm ihre Hand und schüttelte sie sanft. »Dann wollen wir doch einmal schauen, was Sie da haben, Mrs.Foxworth.«

Sie beschloss, das wertvollste Stück zuerst zu präsentieren, und öffnete das Kästchen mit ihrem Verlobungsring.

Er legte ihn auf ein Samtkissen, und während der Juwelier zu seiner Lupe griff, öffnete sie den Umschlag.

»Hier steht, dass er dreieinhalb Karat hat, Smaragdschliff und Farbe D. Den Unterlagen zufolge ist das ziemlich gut. Hinzu kommen sechs kleinere, in Platin gefasste Steine, stimmt’s?«

Er hob den Kopf. »Mrs. Foxworth, ich fürchte, das ist ein künstlicher Diamant.«

»Wie bitte?«

»Dieser Diamant wurde im Labor hergestellt genauso wie die kleineren Steine.«

Sie versteckte die Hände unter dem Tisch, damit er nicht sah, wie sie zitterten. »Das bedeutet, dass der Schmuck falsch ist.«

»Das bedeutet nur, dass er im Labor hergestellt wurde. Es ist ein sehr schönes Exemplar eines synthetischen Diamanten.«

Callie begann zu quengeln. Shelby hörte es trotz des lauten Pochens in ihrem Kopf. Mechanisch griff sie in ihre Handtasche und zog das Spielzeughandy heraus.

»Ruf Oma an, Schätzchen, und erzähl ihr, was du so treibst. Das bedeutet also, dass das kein Diamant mit der Farbbezeichnung D ist. Dass dieser Ring nicht den Wert besitzt, der hier angegeben ist. Er ist also keine hundertfünfundfünfzigtausend Dollar wert?«

»Nein, meine Verehrteste«, sagte er sanft, als wollte er sie trösten. Das machte es nur noch schlimmer. »Ich kann Ihnen gern andere Gutachter nennen, wenn Sie eine zweite Meinung einholen wollen.«

»Sie sagen die Wahrheit. Ich weiß, dass Sie die Wahrheit sagen.« Ganz im Gegensatz zu Richard, dem notorischen Lügner. Aber sie würde nicht zusammenbrechen, nicht hier. »Wären Sie bereit, sich den Rest anzuschauen, Mr. Brown, und mir zu sagen, ob er ebenfalls falsch ist?«

»Selbstverständlich.«

Die Diamantohrringe waren echt, mehr aber auch nicht. Sie hatten ihr gefallen, weil sie so schlicht waren, einfache Ohrstecker, mit denen sie sich nicht verkleidet vorkam.

Am stolzesten war sie auf den Smaragdanhänger gewesen, weil er ihn ihr zu Callies Geburt geschenkt hatte. Er war genauso falsch, wie Richard zeit seines Lebens gewesen war.

»Ich kann Ihnen fünftausend für die Diamantohrringe geben, falls Sie sie verkaufen möchten.«

»Ja, danke, das wäre prima. Können Sie mir sagen, wo ich den Rest hinbringen kann? Soll ich zu einem Pfandleiher gehen? Kennen Sie einen, den Sie mir empfehlen können? Ich möchte Callie nicht an Orte bringen, die … Sie wissen schon. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, wäre ich froh, wenn Sie mir in etwa sagen könnten, was das alles wert ist.«

Er lehnte sich zurück und musterte sie. »Der Verlobungsring ist gut gearbeitet, und, wie gesagt, der synthetische Diamant ist sehr schön. Ich könnte Ihnen achthundert dafür geben.«

Shelby musterte ihn, während sie den dazugehörigen Ehering vom Finger zog. »Wie viel können Sie mir für das ganze Set bieten?«

Sie brach nicht zusammen, sondern verließ den Laden mit fünfzehntausendsechshundert Dollar. Richards Manschettenknöpfe waren ebenfalls echt gewesen, was sich sicherlich positiv ausgewirkt hatte. Und fünfzehntausendsechshundert waren besser als nichts. Nicht genug, um ihre Schulden zu bezahlen, aber besser als nichts.

Außerdem hatte sie einen weiteren Laden genannt bekommen, wo man sich Richards Uhren ansehen würde.

Sie stellte Callies Geduld auf eine harte Probe, indem sie es bei zwei weiteren Banken versuchte, anschließend hatte sie für heute genug.

Callie suchte sich die DVD My Little Pony – Freundschaft ist Magie aus, und Shelby erstand ein Notebook und ein paar USB-Sticks. Eine vernünftige Investition, beruhigte sie sich, ich brauche das, um den Überblick zu behalten.

Sie nahm sich vor, den falschen Schmuck nicht als weiteren Betrug zu werten, sondern als Chance, Zeit zu gewinnen.

Während Callie ein Schläfchen machte, erstellte Shelby eine Excel-Tabelle mit den einzelnen Schmuckstücken und der jeweiligen Summe, die sie dafür bekommen hatte. Die Versicherung dafür kündigte sie, auch das sparte Geld.

Die Nebenkosten des riesigen Hauses waren trotz der abgesperrten Zimmer enorm, aber das Geld aus dem Schmuckverkauf erwies sich als eine große Hilfe.

Ihr fiel der Weinkeller ein, auf den Richard so stolz gewesen war. Also schleppte sie das Notebook nach unten und begann, die Flaschen zu katalogisieren.

Irgendjemand würde sie schon kaufen.

Ach, was soll’s, dachte sie, eine davon werde ich mir heute zum Abendessen gönnen. Sie entschied sich für einen Pinot Grigio. In den letzten viereinhalb Jahren hatte sie einiges über Wein gelernt und wusste, welcher ihr schmeckte. Der hier passte bestimmt gut zu Hühnersuppe mit Klößen, Callies Leibgericht.

Als es Abend wurde, hatte sie das Gefühl, einen besseren Überblick zu haben.

Erst recht, nachdem sie fünftausend Dollar in einem der Kaschmirsocken in Richards Schublade gefunden hatte.

Sie besaß jetzt zwanzigtausend Dollar, die das Schlimmste abfederten und ihr erlaubten, neu anzufangen.

Im Bett musterte sie den Schlüssel.

»Zu welchem Schließfach gehörst du? Und was werde ich darin vorfinden? So schnell gebe ich nicht auf.«

Was, wenn sie einen Privatdetektiv beauftragte? Der würde zwar eine ganze Stange Geld kosten, war aber vielleicht die beste Lösung.

Sie würde eine Weile warten und es bei anderen Banken versuchen, die weiter in der Stadt lagen, vielleicht sogar im Zentrum.

Am nächsten Tag konnte Shelby weitere fünfunddreißigtausend Dollar aus dem Verkauf von Richards Uhren verbuchen sowie die zweitausenddreihundert Dollar, die sie für seine Golfschläger, seine Ski und seinen Tennisschläger bekommen hatte.

Das machte sie dermaßen euphorisch, dass sie Callie zwischen den verschiedenen Bankbesuchen auf eine Pizza einlud.

Vielleicht konnte sie sich diesen Detektiv jetzt leisten? Doch erst musste sie einen Kombi kaufen, was ihre achtundfünfzigtausend Dollar gehörig zusammenschmelzen lassen würde. Außerdem sollte sie etwas von dem Geld dazu verwenden, die Kreditkartenschulden abzutragen.

Sie würde versuchen, den Wein zu verkaufen, und den Detektiv von diesem Geld bezahlen. Bevor sie nach Hause fuhr, würde sie es außerdem bei einer weiteren Bank versuchen.

Anstatt den Kinderwagen rauszuholen, setzte sie sich Callie auf die Hüfte.

Deren Augen funkelten gefährlich, sie war bockig und schmollte. »Ich will nicht, Mama.«

»Ich auch nicht, aber das ist wirklich die letzte, versprochen. Danach fahren wir nach Hause und spielen Verkleiden, mein Schatz.«

»Ich möchte Prinzessin sein.«

»Ganz, wie Sie wünschen, Eure Hoheit.«

Sie trug ihre inzwischen kichernde Tochter in die Bank.

Shelby wusste inzwischen, wie sie vorgehen musste, und stellte sich bei der kürzesten Schlange an.

Sie konnte Callie auf keinen Fall länger so herumzerren. Auch sie hatte große Lust zu bocken und zu schmollen, obwohl sie deutlich älter als drei war.

Das war wirklich die allerletzte Bank, anschließend würde sie sich nach einem Privatdetektiv umschauen.

Sie konnte die Möbel verkaufen und den Wein.

Höchste Zeit, dass sie etwas optimistischer wurde, statt sich ständig Sorgen zu machen.

Sie setzte Callie auf die andere Hüfte und marschierte auf die Angestellte zu, die sie über ihre rote Lesebrille hinweg musterte.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich hätte gern mit einem der Geschäftsführer gesprochen. Ich bin Mrs. Richard Foxworth und habe eine Vollmacht dabei. Mein Mann ist letzten Dezember gestorben.«

»Mein herzliches Beileid.«

»Danke. Soweit ich weiß, hatte er in dieser Bank ein Schließfach. Ich habe den Schlüssel dabei und die Vollmacht.«

Das war deutlich zielführender, als dem Personal zu erklären, dass sie zwar einen Schlüssel hatte, aber nicht wusste, zu welchem Schließfach er gehörte.

»Mrs. Babbington ist in ihrem Büro, sie wird Ihnen bestimmt weiterhelfen. Geradeaus und dann links.«

»Danke.« Shelby fand das Büro und klopfte an die offene Glastür. »Bitte entschuldigen Sie, Madam, aber man hat mir gesagt, dass Sie mir Zugang zum Schließfach meines Mannes verschaffen können.«

Sie betrat den Raum und setzte sich, nahm Callie auf den Schoß – noch so etwas, das sie inzwischen gelernt hatte.

»Wie gesagt, ich habe die Vollmacht dabei und den Schlüssel. Ich heiße Mrs. Richard Foxworth.«

»Lassen Sie mich kurz nachsehen. Du hast aber schöne rote Haare«, sagte die Dame von der Bank zu Callie.

»Die hab ich von meiner Mama geerbt.« Callie streckte die Hand aus und griff nach einer Strähne von Shelby.