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Mit 25 Schwarz-Weiß-Fotos und einem Nachwort von Michael Miersch
ISBN 978-3-492-97275-8
Juni 2016
© 2009 Piper Verlag GmbH, München/Berlin
Erstausgabe: C. Bertelsmann Verlag GmbH, München, Gütersloh, Wien 1974 unter dem Titel: »Auf den Mensch gekommen. Erfahrungen mit Leuten«
© des Nachworts: 2009 Michael Miersch
Covergestaltung: Büro Hamburg. Anja Grimm, Stefanie Levers
Covermotiv: Christian Grzimek/Okapia
Bildredaktion: Büro Hamburg. Alke Bücking, Sandra Schmidtke
Fotos Bildstrecke: Michael, Bernhard und Erika Grzimek/ Okapia
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Vor beinahe zehn Jahren flog ich zufällig zusammen mit einem englischen Buchverleger von Ostasien nach Europa. Das ist ein langer Flug; wir konnten nicht viel schlafen und erzählten uns Geschichten aus unserem Leben. Damals kam dieser Verleger auf den Gedanken, ich müßte meine Lebenserinnerungen schreiben. Seitdem hat er sich fast jedesmal im Oktober zur Buchmesse in Frankfurt mit mir getroffen oder hat mich wenigstens angerufen und daran erinnert, ein solches Buch zu schreiben.
Nun ist das für einen Menschen wie mich gar nicht so einfach. Immerhin habe ich schon neunzehn Bücher verfaßt, von denen die meisten noch im Handel sind. Darin habe ich alles berichtet, was ich mit Tieren erlebt habe, und das ist nun einmal das meiste in meinem Leben.
Wie oft habe ich gehört: »Ich beneide Sie um Ihren Beruf! Tiere haben keine Weltanschauungen, keine Nationalgefühle und keine politischen Parteien. Sie haben sich für das Richtige entschieden!«
Aber leider ist das nicht ganz so. Ein Mensch, der sich für Tiere und die Natur einsetzt, auch der Direktor eines zoologischen Gartens, muß sich mit Menschen auseinandersetzen, um seine Ziele zu erreichen. Für einen Zoodirektor gibt es hundertsiebzig Mitarbeiter, drei Millionen Menschen, die seinen Garten in jedem Jahr aufsuchen, Stadtverordnete, Bauleute, Stadträte und Bürgermeister, Berufskollegen, Tierhändler – er muß sich geradezu zwingen, jeden Tag wenigstens eine gewisse Zeit für die Tiere selbst zu erübrigen. Natur-schützer haben mit Ministern in Afrika, Amerika, der Bundesrepublik zu tun, sich mit Zeitungsleuten, Politikern, Geldgebern, Buchverlegern, Fernsehmenschen herumzuschlagen, wenn sie etwas für die Natur und die Tierwelt erreichen wollen. Das ist der weniger schöne Teil ihres Lebens. Er steht nicht in meinen Tierbüchern.
Dieses Buch handelt vom Umgang mit Zweibeinern, der manchmal sehr schön, oft aber auch aufregend und niederdrückend war. Tiere sind nur dort erwähnt, wo es notwendig ist, um den Zusammenhang zu wahren. Sie werden hoffentlich nicht den Eindruck gewinnen, ich sei ein Menschenverächter, etwa nach dem Satz, »seitdem ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere«, den ich immer mißbilligt habe. Im Gegenteil, ich habe mich immer für die Säugetierart Mensch begeistern können, natürlich besonders für den weiblichen Teil davon. Aber das ist der Teil der Erlebnisse, den man nicht in Lebenserinnerungen bekanntmacht. Schreibt man so etwas nieder, dann wird einem bewußt, was für Zeitläufe man durchlebt hat, wie viele Freunde gestorben sind und wie alt man eigentlich schon ist. Doch das ist keineswegs niederdrückend, wie viele junge Leute heute anzunehmen scheinen. Ganz im Gegenteil.
Wenn ich in den vergangenen Jahrzehnten mit gleichaltrigen Menschen an einer Tafelrunde saß, habe ich mir manchmal den Spaß gemacht zu fragen: »Wer von Ihnen hat eigentlich schon einmal im Gefängnis gesessen – Hand aufs Herz!« Fast immer waren es etwa die Hälfte oder sogar zwei Drittel der Anwesenden – als Nazigegner unter Hitler oder als Hitleranhänger nach 1945, andere waren zwar nicht im Gefängnis gewesen, hatten aber im Ersten oder im Zweiten Weltkrieg oft mehrere Jahre im Kriegsgefangenenlager verbracht. Ich aber konnte dann immer einen Trumpf ausspielen: »Das war ja nur alles politisch – ich habe kriminell gesessen!«
Geboren wurde ich im Jahre 1909 in der Stadt Neisse an der Glatzer Neiße – einem der drei Flüsse dieses Namens, die ihr Wasser nach dem Oderstrom hinführen. Ich war das jüngste von sechs Kindern des Rechtsanwaltes und Notars Paulfranz Grzimek, der später den Titel Justizrat erhielt, wie das damals in Preußen üblich war. Da mein Vater schon drei Jahre nach meiner Geburt an einem schweren Herzleiden starb, kann ich mich nicht an ihn erinnern. Aus der Schwesterwitzer Dorfschule kommend, hatte er auf dem Oppelner Gymnasium eine Klasse übersprungen und dann in Breslau, Marburg und Berlin studiert. Er war ein gläubiger Katholik und Zentrumsanhänger; wegen seines Herzleidens mußte er es ablehnen, sich für ein Reichstagsmandat aufstellen zu lassen. Er machte gern Auslandsreisen und frönte seiner Bücherliebhaberei, indem er sich eine große Bibliothek zulegte. Später habe ich als Pennäler noch bewundernd entdeckt, daß in einer Gesamtausgabe der »Summa theologica« des Thomas von Aquin überall schriftliche lateinische Randbemerkungen von ihm standen. Wegen seiner Kenntnisse soll er als Gesprächspartner von Geistlichen immer etwas gefürchtet gewesen sein. Vorausschauend beanstandete er die damalige deutsche Polenpolitik.
Seine erste Frau Maria starb schon nach neunjähriger Ehe an Tuberkulose – eine Krankheit, die in jener Zeit sehr häufig und damals kaum heilbar war. Ihre Tochter Barbara, meine Halbschwester, war zwanzig Jahre älter als ich. Mein Vater soll immer Wert darauf gelegt haben, daß wir keine Stiefgeschwister, sondern Halbgeschwister waren, denn diese sind blutsverwandt. Meine Mutter Margot, die Tochter des Amtsgerichtsrates Bernhard Wanke in Ratibor, gebar ihm dann von 1903 bis 1909 fünf Kinder. Wie alle Jüngsten mußte ich immer die Kleider und Schuhe tragen, aus denen die Älteren herausgewachsen waren, und mußte mich den Älteren fügen. Andererseits haben die Erzieher ihre Mühen und Künste meistens schon an den Älteren erschöpft, und so bleibt man als Kleinster ziemlich unbehelligt. Ich weiß nicht, wer für die lange Reihe von Vornamen verantwortlich ist, mit denen man mich belastet hat: Bernhard, Klemens Maria Hoffbauer, Pius. Jedes von uns Kindern erhielt als einen der Vornamen den des regierenden Papstes, bei mir war es Pius X. Den Familiennamen des heiliggesprochenen Wiener Redemptoristen Klemens Maria Hoffbauer hat man mir im Standesamt ebenfalls als Vornamen eingetragen. Aber das alte lateinische Sprichwort Nomen est omen, der Name ist Vorbedeutung, hat sich bei mir nicht erfüllt: Ich bin weder ein Heiliger noch fromm geworden.
An meine ersten Kinderjähre erinnern sich meine älteren Geschwister besser als ich selbst. Geschwister sind meistens nicht so sehr liebenswürdig. Meine Schwester Fränze schreibt über mich: »Bernhard hat als Kind viele unfreiwillige Witze geliefert. Er war als Kleinkind sehr behäbig, hatte einen ziemlich großen Kopf und sprach sehr langsam und überlegt, so daß wir Geschwister ihn gerne ›Bruder Langsam‹ nannten. Selbst wenn wir uns über ihn lustig machten: ›Komm' ich nicht heute, so komm' ich eben morgen‹, störte ihn das nicht. Manchmal wurde er dazu von den anderen auf den Tisch gestellt! Auch wenn wir ihn wegen seines Kopfes Kürbis nannten, geriet er keineswegs aus der Fassung.
Der praktische Arzt Sanitätsrat Dr. Ernst Gehlig war der Hausarzt der Familie. Er erschien in diesen guten alten Zeiten bei der geringsten Erkrankung, von der sehr ängstlichen Mutter telefonisch herbeigerufen. Er saß dann – heute kaum noch vorstellbar! – manchmal bis zu einer Stunde am Bett des jeweils Erkrankten. Dr. Gehlig sprach ein breites, sonst in gebildeten Kreisen verpöntes Schlesisch im gleichen langsamen Tonfall wie Bernhard auch. So fragte er den Kleinen mal: ›Bernhardel, was fehlt dir denn eigentlich?‹ Darauf die Antwort: ›Ich weiß nicht, Onkel Doktor, aber ich denke, Typhus wird es nicht sein, denn ich bin in nichts getreten« (Tief-Fuß).«
Im obersten Stockwerk des längst zerstörten Hauses Bahnhofstraße 9 – wir wohnten dort von 1913 bis 1915 – lebte eine Dame, mit der sich meine Mutter anfreundete: Es war Elfriede von Winckler, eine ehemalige Erzieherin und Hausdame aus verarmtem schlesischem Adel. Sie wurde von uns Grzimek-Kindern »Tante« genannt. Diese Tante Friedel besaß in einem großen Vogelbauer einen schönen, ausgestopften Papagei, der mein ganzes Entzücken bildete. Tante Friedel versprach ihn mir als Erbstück. Als meine Mutter einmal abwesend war, betete diese Tante mit mir am Bett das Abendgebet. Sie war sehr gerührt, daß ich zum Schluß noch ein besonderes Vaterunser für sie selbst anfügte. Auf ihre Frage, warum ich denn so besonders an sie denke, kam dann die bedächtige Antwort: »Damit du bald sterbst und ich den Papagei bekomme ...«
Tante Friedel war im Ersten Weltkrieg als Rote-Kreuz-Schwester eine Treppe herabgestürzt und schwer gehbehindert. Sie fürchtete sich wohl deshalb 1945 sehr vor der Flucht aus der Heimat, machte einen Selbstmordversuch, wurde aber gerettet. Sie mußte dann in einem Altersheim in Amberg, Oberpfalz, mit mehreren sehr einfachen Frauen zusammen in einem Zimmer hausen und ist todunglücklich erst mit über achtzig Jahren dort gestorben.
Die Lust zum Bücherschreiben habe ich wohl von der Großmutter Wanke geerbt – das Wort Oma war bei uns verpönt, und »Mama« mußte, wenn überhaupt, dann mit der Betonung auf der zweiten Silbe, also französisch, ausgesprochen werden. Sie hat für jedes ihrer zehn Enkelkinder je ein Märchen geschrieben, dessen Hauptgestalt nach dem betreffenden Kind benannt war. Diese Geschichten wurden in Familienzeitschriften gedruckt. Als ich an Scharlach erkrankte und daher innerhalb der großen Wohnung allein liegen mußte, kam die Großmutter aus Ratibor und las mir Märchen vor. Ich sehe sie noch vor mir in einem hohen Polsterlehnsessel neben dem Bett sitzen. Als ich einmal von ihr den Begriff »Geist« erklärt haben wollte, machte ihr das einige Schwierigkeiten. Schließlich drückte sie es so aus: »Ein Geist ist ein Wesen, das keinen Leib besitzt.« Darauf ich: »Ach, da fangen beim lieben Gott die Beine gleich am Hals an?«
Mir tun die heutigen Kinder leid, die mit ihren Eltern in den Ferien vier Wochen lang an der Adria oder in Südspanien Sandburgen bauen und im Meereswasser planschen müssen. In meiner Jugend hatten fast alle Familien Verwandte auf dem Lande, zu denen man in den Ferien fuhr. Dort konnte man Kühe melken, bei der Ernte helfen, bei Regen in der Scheune spielen, Kartoffeln auf dem Felde braten, mit Pferden kutschieren und reiten, Heu wenden, Eier sammeln, jeden Tag was anderes. Mein Vater Paulfranz Grzimek war seit Jahrhunderten, ja vermutlich Jahrtausenden der erste von unserer väterlichen Familie, der in der Stadt lebte, in der Kleinstadt Neisse, die etwa 30 000 Einwohner hatte. Schlesien war lange Zeit von den polnischen Piasten-Fürsten regiert worden, die viele deutsche Siedler in ihr Land geholt hatten. Das Neisser Land war ein Fürstentum, das den Breslauer Bischöfen gehörte. Viele dieser Fürstbischöfe sind in der Neisser Pfarrkirche begraben, die eigentlich eine gewaltige gotische Kathedrale, ein Dom ist. Nachdem Schlesien 1526 an die Habsburger kam, erlebte es bald eine kulturelle Hochblüte. Die Stadt Neisse hatte so viele schöne Kirchen und Klöster, daß sie bald den Beinamen »das schlesische Rom« trug. Der »Ring«, wie man in Schlesien und in Polen die Marktplätze der Städte nennt, war tief mit Kellern unterhöhlt. Neisse war nämlich auch ein Umschlagplatz für Wein und andere Handelsgüter, die aus Böhmen und dem übrigen Reich nach Polen und Rußland gingen. In dem berühmten Jesuiten-Kollegium »Carolinum« wurden der Afrikaforscher Emin Pascha (Eduard Schnitzer), der gefeierte amerikanische General Friedrich Wilhelm von Steuben erzogen, aber auch schon die polnischen Könige Michael Korybut Wiśniowiecki (1669–1673) und Johann Sobieski (1674–1696); dieser befreite 1683 die belagerte Stadt Wien in der Schlacht am Kahlenberg von den Türken.
Als Friedrich II. Preußens König wurde und eine gefüllte Staatskasse und ein schlagkräftiges Heer von seinem Vater übernahm, wandte er sich sofort gegen den deutschen Kaiser in Wien. Sein Bündnis mit Frankreich trug zu seinen Siegen in den Schlesischen Kriegen bei. Nach dem Siebenjährigen Krieg hatte er endgültig den Besitz Schlesiens und damit für Preußen die Stellung einer europäischen Großmacht erreicht. Friedrich der Große nützte diese Stellung bei der ersten Teilung Polens 1772 aus. Er war der »letzte große Zerstörer des Deutschen Reiches« (Der Große Brockhaus). Als Philosoph erklärte Friedrich der Große zwar, daß jeder nach seiner Façon selig werden solle, er erließ aber einen geheimzuhaltenden Cabinets-Befehl, daß die »regierenden Bürgermeisterstellen, desgleichen die Syndici und Kammerer überhaupt nicht anders als mit Subjectis besetzt werden, welche der evangelischen Religion zugetan seint, die katholischen hergegen sich mit dem zweiten Consulat und mit Rathsherrn-Bedienungen begnügen müssen.« Neisse wurde in schwere Festungsanlagen eingezwängt, durfte sich ein Jahrhundert lang nicht darüber hinaus ausdehnen/ an Neubauten kamen die Garnisonskirche, Kasernen und die kleinbürgerliche »Friedrichstadt« hinzu. Schlesien, einst das breite Durchgangsland nach dem Osten, war jetzt zu einem Zipfel, einem Enddarm Preußens geworden, in dem der Lebensstandard nunmehr im Durchschnitt immer etwas niedriger war als in Westdeutschland.
Seit Jahrhunderten war in der Stadt Neisse nur deutsch gesprochen worden, im Gegensatz zu manchen anderen Teilen Oberschlesiens. Aus diesem Grunde bin ich als Kind leider nicht zweisprachig aufgewachsen. Gerade in diesem Alter eignet man sich ja spielend eine zweite Sprache an, ohne jemals einen Satz oder ein Wort regelrecht auswendig lernen zu müssen wie im Sprachunterricht der Schule. Ich habe niemals eine slawische Sprache erlernt, was ich, besonders bei der neuen politischen Weltentwicklung, sehr bedauere.
Die Grzimeks stammen aus Oberglogau, wo man die ersten um 1670 als Kleinbauern in den Kirchbüchern eingetragen findet. Sie bauten damals Wein an. Der ist sicher sehr sauer gewesen, aber da es so umständlich und teuer war, in jenen Zeiten schwere Weinfässer über die Alpen oder aus dem Rheinland durch viele Zollsperren, auf ungepflasterten, schlammigen oder tief staubigen Wegen bis in die östlichen Länder zu karren, war man nicht so anspruchsvoll. Im letzten Weltkrieg habe ich in Polen vergeblich in den Fernsprechbüchern der Städte nach unserem Namen gesucht. Wer ihn trägt, dessen Vorfahren waren fast immer in der Gegend von Oberglogau in Oberschlesien zu Hause. Dort sprachen die Bauern deutsch und polnisch. Da sie seit Jahrhunderten keinen polnischen Schulunterricht mehr gehabt hatten, war das ein altertümliches Polnisch mit vielen deutschen Fremdwörtern, das »Wasserpolnisch«. Sie haben sich übrigens trotzdem nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg 1921 in der Volksabstimmung mit Mehrheit für Deutschland entschieden. Erst sehr viel später erfuhr ich von einer Grzimek-Sippe, die im 12. Jahrhundert, also vor der Germanisierung, aus Schlesien ausgewandert ist und seitdem in einem Dorf in der Tatra lebt. Sie hat einige bedeutende Männer hervorgebracht.
Mein Ururgroßvater Joseph Grzimek hatte 1804 den »Kretscham« (das Gasthaus) und einen Bauernhof in Schwesterwitz für 3000 Taler und 1700 Florianstaler gekauft. Diese Gastwirtschaft, der alte Kretscham, muß wohl eine Goldgrube gewesen sein, weil die Landstraße unmittelbar daran entlangführte und damals ja noch alles mit Pferdewagen befördert wurde. Um elf Uhr abends spielte ein Geiger ein Marienlied, danach gingen die Gäste nach Hause. Der ursprüngliche Holzbau wurde abgerissen und durch ein steinernes Haus ersetzt. Später wurde diese Gastwirtschaft ganz geschlossen, dafür eine neue am anderen Ende des Dorfes gebaut und verpachtet. Mein Ururgroßvater starb, als sein Sohn Joseph Michael erst fünfzehn Jahre alt war. Der junge Mann reiste bis nach Ungarn, wo er Jungochsen kaufte, die er dann in großen Ställen in Schwesterwitz mästete oder nach Kosel und Neisse zum Verkauf treiben ließ; er kaufte auch Äcker und Wiesen dazu. Nach und nach umfaßte der Besitz drei Wirtschaftshöfe mit einer Mälzerei, einer Brauerei für Einfachbier und etwa vierhundert Morgen recht guten Landes. Auf dem Balken in der großen Stube des Gutshauses, das heute einer Kolchose dient, steht noch eingeschnitzt »Joseph Grzimek 1827«. Wenn seine Frau Barbara Botta, meine Urgroßmutter, um 1830 nach Bad Landeck zur Kur fuhr, wurde ein paar Tage vorher ein Pferdegespann bis nach Neisse vorausgeschickt. Die Urgroßmutter konnte dann ohne Aufenthalt dort die Pferde wechseln und sofort weiterfahren. Damals war es übrigens üblich, die eigenen Federbetten zur Kur mitzubringen. Meine tüchtige Urgroßmutter hatte dreizehn Kinder, von denen allerdings vier schon jung starben. 1849 erkrankte ihre Tochter Julie in Oberglogau an Cholera. In ihrem Schmerz küßte meine Urgroßmutter die Sterbende. Noch auf dem Heimweg brach bei ihr selbst die Krankheit aus. Mein Urgroßvater jagte einen seiner Söhne zu Pferde nach Neisse, um den berühmten Arzt Dr. Goldammer zu holen. Aber auch dieser konnte ihr nicht mehr helfen, und schon wenige Tage später starb sie.
Mein Großvater Joseph IV Grzimek hatte das Brauhandwerk erlernt, obwohl die Brauerei für Einfachbier nur ein Nebenbetrieb des Schwesterwitzer Gutes war. Sein Vater hatte Wert darauf gelegt, daß sein Sohn eine Gesellenprüfung ablegte. Als junger Geselle beschloß Joseph, auf die Wanderschaft zu gehen. Dazu fuhr er in Begleitung seines Vaters und seines fünf Jahre älteren Bruders Anton bis nach Troppau in Österreich-Schlesien, ein Gebiet, das heute zur Tschechoslowakei gehört. Vermutlich benutzten sie noch die Pferdekutsche, obwohl Deutschland 1850 bereits über 6000 Kilometer Eisenbahnlinien gebaut hatte, im Gegensatz zu 27 Kilometer in der Schweiz und 12 Kilometer in Schweden. Von da an wanderte er zu Fuß durch halb Europa. Nur das kurze Stück von Brünn bis nach Wien fuhr er mit der neuen Eisenbahn. Er hat ein Tagebuch über diese Wanderung durch Europa geführt, das uns erhalten geblieben ist. In Wien sah er von den Stufen des Stephansdomes aus den großartigen Fronleichnamsumzug mit dem jungen Kaiser Franz Joseph und seiner Frau. Joseph hat dort vierzehn Schlösser und Museen besichtigt und dies in seinem Tagebuch vermerkt, darunter das Naturalien-Kabinett, das Polytechnische Institut, das Technische Kabinett. In der Nacht wurden ihm jedoch sein Geld und seine Uhr gestohlen, so daß er, nur mit seinem Ränzchen und dreißig Kreuzern in der Tasche, in der Fremde stand.
Er suchte erst vergeblich Arbeit, dann aber half ihm ein Landsmann aus Liebenthal bei Hotzenplotz in Oberschlesien, der in einer Wiener Brauerei tätig war. So konnte der junge Joseph dort als »facirender« arbeiten. Nach zwei Monaten kam endlich von seinem Bruder Anton weiteres Reisegeld, und schon zwei Tage später zog er mit einem anderen oberschlesischen Handwerksburschen aus Oberglogau weiter nach Süden. Die jungen Leute übernachteten, wie es damals üblich war, meistens in Brauereien. Sie meldeten sich mit dem Spruch »Gott gab Glück und Segen rein!« und bekamen dann alsbald ein halbes Bier, meistens auch Essen und Nachtlager. Nur einmal vermerkt er, daß ihn der Braumeister in Straß bei Graz erst angeschnauzt und ihm dann ganze sechs Kreuzer und ein Glas Wasser herausgerückt hätte – »Wasser« ist im Tagebuch unterstrichen. Sonst war man damals zu Wanderburschen des eigenen Handwerks sehr gastfreundlich. Die beiden kamen durch Erlau, Baden, Neustadt, Gloggnitz. Der junge Joseph wollte an sich mit der Bahn durch den neuen Semmeringtunnel fahren. Sein Kamerad redete ihm das aber aus, und so stiegen die beiden über den Paß, wo es ein fürchterliches Gewitter gab und sie bei einem unfreundlichen Mann in einer Holzfällerhütte Zuflucht nehmen mußten. Er beschreibt dann die ersten hübschen Steiermärkerinnen auf der anderen Seite, Nächte in ziemlich luftigen Heuböden, lustige Meisterinnen, die die beiden bewirteten und jedem zehn Kreuzer auf den Weg mitgaben.
Mein Großvater muß ungemein interessiert an Bauwerken und Kunst gewesen sein, denn sein Tagebuch ist voll von Beschreibungen alter Kirchen, Gemälde und Standbilder. Außerdem vermerkte er in jeder Stadt pflichtschuldig, ob das Bier gut war oder schlecht, wie zum Beispiel in der »Ungarischen Krone« zu Laibach (heute Ljubljana). Von Triest, das ja damals noch österreichisch war, fuhr er mit dem Schiff »Milano« bei ruhiger See in sechs Stunden bis nach Venedig, aber »ein Transport todter Fische, die an Deck des Bootes lagen und furchtbar stanken, hätten mich bald zum Kotzen bewogen. Es ging diesmal noch soso vorüber.«
Am nächsten Morgen holte er drei Kameraden, die nachgekommen waren, am Meer ab – unmittelbar am Markusplatz, wo damals die Schiffe noch landeten. Alle zusammen frühstückten dann für acht Kreuzer (= 25 Pfennig) – Venedig gehörte 1854 ebenfalls noch zu Österreich. In Venedig trafen sie den Schneider Scholl aus Leobschütz in Oberschlesien, der sich sein Brot als Fremdenführer verdiente. Wohl deswegen enthält das Tagebuch viele Seiten mit sehr genauen Beschreibungen von Kirchen, Grabmälern, Palästen und Gemälden. Mit der Eisenbahn fuhren sie von Venedig nur bis Mestre, der ersten Haltestelle auf dem Festland, und von dort ging es weiter zu Fuß nach Padua und nach Verona. Die Fußwanderung hat ihn offensichtlich nicht sehr beeindruckt. Er vermerkt: »Italiener faul. Häßliche Frauenzimmer, zweirädrige Wagen, oft mit Eseln bespannt. Unreine Kost.« Es folgten Fahrten auf dem Gardasee, dann wanderten sie zu Fuß nach Trient, der Etsch entlang bis Bozen, die erste Handelsstadt Tirols, damals 9000 Einwohner. »Hier hat jemand ein wunderthätiges längliches Papier erfunden – den Wechsel.« Weiter ging es auf Schusters Rappen nach Kollman, Sterzing, Steinach über den Brenner bis Innsbruck (damals 14 000 Einwohner) und Nürnberg. Über seine weitere Wanderung hat er keine Aufzeichnungen in dem kleinen Tagebuch gemächt. Ich habe überschlagen, daß er auf dieser Reise in rund einem Jahr 2500 bis 3000 Kilometer gewandert sein muß. Er hat in seinem Tagebüchlein auch den Text von siebzehn Gedichten und Liedern notiert, darunter solche von Heinrich Heine, Tieck, Otto von Redwitz, dem Freiherrn von Feuchtersieben, vom aufrührerischen Georg Herwegh und Wilhelm von Schlegel.
Mein Großvater hat das Gut Schwesterwitz in den neunziger Jahren, nach dem Tode seiner Frau, der Mutter seiner drei Söhne, verkauft. Wahrscheinlich geschah das auf das Betreiben meines Onkels Ludwig, der es hätte erben sollen. Der war inzwischen Reserveoffizier geworden; sein jüngster Bruder Rudolf war als aktiver Offizier Attaché an der deutschen Botschaft in St. Petersburg und wurde dann in einem jähen Sinneswandel katholischer Geistlicher. Die Nachkommen der anderen Schwesterwitzer Grzimeks aber hatten sich in Schlesien, bei Krakau und in Westpreußen Rittergüter erarbeitet oder gepachtet, einer war Mitinhaber und Leiter des dreihundert Jahre alten Handelshauses Molinari in Breslau geworden, das Gustav Freytag in seinem Roman »Soll und Haben« verewigt hat. Es paßte meinem Onkel Ludwig wohl nicht recht, daß unser Gut in Schwesterwitz zwar durch die große angeschlossene Mälzerei und den schweren, ertragreichen Boden gutes Geld einbrachte, aber eben doch nur vierhundert Morgen groß und kein Rittergut war. Mein Vater konnte den Großvater noch dazu überreden, wenigstens zwei Morgen Wiese zu behalten, die uns vermutlich heute noch in Schwesterwitz gehören.
Vor dem Verkauf des Gutes erwarb der Großvater einen Bauernhof im Dorfe, baute sich das Haus als Alterssitz aus und heiratete ein paar Jahre vor seinem Tode noch eine zwanzig Jahre jüngere Frau. Sie war der Grund, warum wir Neisser Grzimek-Kinder trotzdem so eng mit Schwesterwitz verbunden sind, obwohl uns unser Stammgut dort gar nicht mehr gehörte. Diese »Großmutter« war nur dreieinhalb Jahre älter als mein Vater und führte ihm jahrelang den Haushalt, nachdem seine erste Frau gestorben war. Wir Kinder nannten sie niemals »Großmutter«, sondern nur »Tante Hedwig«. Sie hat ihren Mann um mehr als vierzig Jahre überlebt. In den Ferien fuhren wir stets zu ihr nach Schwesterwitz. Das ehemalige Bauernhaus war zu einem Landsitz umgebaut, mit dunkelblauer Clematis und echtem (aber saurem) Wein berankt, das Gärtchen an der Stirnseite, zur Dorfstraße hin, immer voll blühender Blumen, wovon mir besonders der üppige Phlox noch heute in Erinnerung ist. Außerdem wuchs darin die heute ganz aus der Mode gekommene Reseda, die Lieblingsblume meines verstorbenen Vaters. Der frühere Bauernhof war mit Rasen bewachsen und mit Birken bestanden, hinter ihnen das Klosett, ein Bretterhäuschen. Es kostete uns Kinder einige Überwindung, nachts über den dunklen Hof dorthin zu gehen. Statt der Wasserleitung stand eine Pumpe hinter der Küche im Garten – »Plumpe« sagte man allgemein in Schlesien. Von Zeit zu Zeit wurde eine Zinkbadewanne in die Küche geholt, in der man die Kinder nacheinander abseifte.
Mir sind noch die schweren Gewitter bei blaugrauem Himmel in Schwesterwitz in Erinnerung. Vielleicht beeindrucken sie einen im Häusermeer der Großstadt nicht so sehr wie auf dem flachen Lande. Wir Kinder saßen dann ängstlich in einem großen Zimmer mit einer Gewölbedecke, dem früheren Kuhstall, und beteten mit unserem Kinderfräulein den Rosenkranz. Man hörte dort nur das Krachen des Donners, sah aber wenigstens nicht die Blitze. Bei dem prasselnden Regen konnte man nicht zum Örtchen laufen, obwohl die Angst uns dazu drängte. Deswegen war ein Nachttopf in Betrieb. Einmal war ich während eines Gewitters ganz allein im Haus. In meiner Verzweiflung schrie ich so lange durch die vergitterten Fenster des früheren Kuhstalles hinaus, bis mich jemand auf der Straße hörte und trösten kam. Es war einer von der Bauernfamilie der Magura. Ein Sohn dieser Familie, Dr. Wilhelm Magura, war später Ministerialrat im Bonner Ernährungsministerium und hat unter anderem fesselnde Untersuchungen über die Umwandlung der Landwirtschaft bei den Bantu in Südafrika durchgeführt.
Übrigens kam meine Mutter niemals mit uns zu Tante Hedwig nach Schwesterwitz, sondern fuhr zu ihren Verwandten nach Ratibor oder nach Bad Landeck. Wie ich später erfuhr, war das eine Bedingung von Tante Hedwig. Obwohl es trotz der mitkommenden Hausangestellten sicher nicht leicht war, mit uns fünf Kindern fertig zu werden, wollte sie nicht, daß zwei Befehlsgeber im Haus waren. Ich mußte in Schwesterwitz den Dorfjungen meinen Mut beweisen, indem ich barfuß eine Biene tottrat. Es tat furchtbar weh, und das Bein schwoll nachher bis unter das Knie dick an. Später war ich aber gegen Bienenstiche ganz unempfindlich. Auch barfuß über Stoppelfelder zu laufen, war zunächst nicht leicht. Man muß dazu die Füße dicht über dem Boden halten und nicht von oben her auf die spitzen Stoppeln aufsetzen. Am schlimmsten waren die vertrockneten Disteln dazwischen. Wir badeten fast täglich in der Straduna, dem Bach hinter dem Dorfe, in dem man auch Krebse fangen konnte.
In der Dorfkapelle, die meine Urgroßeltern gebaut hatten, wurde nur einmal im Jahr Messe abgehalten. Deswegen gingen wir jeden Sonntag in das Kirchdorf Twardawa, wo meine Vorfahren unter der Kirche beerdigt sind. Damals trugen die Bäuerinnen noch die alte Tracht mit den großen bunten Seidenschürzen und den Kopfhauben, von denen beiderseits des Gesichtes breite gestickte Seidenbänder herabhingen. Die Blusen hatten Puffärmel, die weiten, langen Röcke waren kostbar und teuer. Aber sie hielten wohl beinahe das ganze Leben hindurch als Sonntagsstaat aus. Welch ein Bild, wenn die Bauern und Bäuerinnen in Gruppen die Landstraße entlang unter den blühenden Kirschbäumen gingen!
Als sich die Ernennung meines Vaters zum Justizrat verzögerte, fuhr er in das preußische Justizministerium nach Berlin und fand dort in seinen Personalakten vermerkt, daß beim Begräbnis seiner Eltern in der Dorfkirche polnisch gesungen worden war. Er mußte den Beamten erst klarmachen, daß man in dieser Gegend eben damals stets und nur polnisch sang. Das war am Ausgang des »Kulturkampfes« im kleindeutschen Reich. Die Auflösung der Klöster, die Absetzung der Bischöfe und Pfarrer hatte zu einem starken Anschwellen der katholischen Zentrumspartei geführt.
Die Landstraßen, die Chausseen waren damals nicht asphaltiert, sondern nur geschottert. Die eine Hälfte war mit weichem Staub bedeckt, der sogenannte Sommerweg, damit die Pferde einen weichen Untergrund hatten. Überall lagen ausgefallene Hufnägel herum, an denen sich die wenigen und langsamen Autos die Reifen zerstachen. Wir legten gern einen schönen langen Lederriemen mitten auf die Straße. Ein darangebundener Bindfaden wurde mit Staub zugedeckt und führte zu uns in den Straßengraben, wo wir uns versteckt hatten.
Kam dann ein Bauer auf seinem hölzernen Kastenwagen vorbei, so hielt er stets nach ein paar Metern die Pferde an, stieg umständlich herunter, hängte bei jedem Pferd ein Zugseil ab, damit das Tier nicht anziehen konnte, während er wegging, band die Zügel an einem Wagensparren fest und ging zurück, um den Riemen aufzuheben. Der glitt dann plötzlich, wie eine Schlange, dicht vor seinen Händen weg, und aus dem Straßengraben sprang eine lachende Kinderschar heraus. Wir mußten dabei nur aufpassen, daß der Bauer nicht etwa noch seine Peitsche in der Hand hatte! Beim Dorfschmied konnte man den Blasebalg treten und stundenlang zusehen, wie die Eisen rotglühend gebogen und dann noch heiß auf den zurechtgeschnittenen Pferdehuf gelegt wurden, was scheußlich nach verbranntem Horn stank.
Doch zurück nach Neisse. Im zweiten Kriegsjahr, 1915, zog meine Mutter mit uns fünf Kindern in einen Außenbezirk, die Obermährengasse. Das Haus, mit zwei Siebenzimmerwohnungen, dazu Waschküchen und Bedientenräumen, steht heute noch. Wir bewohnten eine der beiden Wohnungen. Meine Mutter war als Witwe recht wohlhabend und hatte, wie das vor dem Ersten Weltkrieg in gutbürgerlichen Familien üblich war, stets eine Köchin, ein Kinderfräulein und ein »Dienstmädchen«. Neben dem Haus stand ein ungenutztes Sägewerk, dahinter lag der ehemalige riesige Holztrockenplatz, dann ein Obstgarten und hinter diesem die alten friderizianischen Festungswälle. Außerdem gab es noch leerstehende Ställe, in denen früher die Kutschpferde der Bewohner untergebracht waren.
Das war ein richtiges Paradies für mich und meine Geschwister. Hier konnten wir Tauben und Hühner halten und mit dem Hund herumtollen. Nur für eine Katze war meine Mutter nicht zu haben. Als wir uns trotzdem ein kleines Kätzchen schenken ließen, legte ich es ihr jeden Tag, wenn sie ihren Nachmittagsschlaf hielt, neben den Kopf auf die »Chaiselongue«, bis sie sich auch daran gewöhnt hatte. Als mein Bruder eine Schlange anbrachte erklärte sie: »Entweder bringst du die Schlange aus dem Haus, oder ich gehe!« Bedrückt ließ mein Bruder Notker die Schlange wieder laufen. Trotzdem war am nächsten Tag wieder eine im Terrarium! Notker verteidigte sich: »Du hast doch gesagt, ich soll die Schlange wegtragen – es waren aber zwei ...«
Damals ging ich das erste Jahr zur Schule. Die große Bonbontüte zum Schulanfang war bereits überwiegend mit Holzwolle angefüllt und hatte nur eine dünne Schicht Süßigkeiten obenauf, denn solche Dinge begannen im Krieg knapp zu werden. Eines Tages fragte ich meine Mutter: »Wie schreibt man eigentlich pst, Muttel?« Nachdem sie mir das buchstabiert hatte, kam ich eine Weile später stolz zurück und übergab ihr einen Briefumschlag mit einem Büschel Haare von mir, die damals noch sehr hellblond waren. Auf den Umschlag hatte ich geschrieben »hare von Barnard, selpst geschriben«. Dieser Umschlag wurde noch jahrelang aufgehoben.
Die katholische Volksschule hatte einen gemeinsamen Schulhof mit der gegenüberstehenden evangelischen Volksschule. Ein katholisches Kind durfte sich während der Pausen nur bis in die Mitte des Schulhofes vorwagen, denn sonst wurde es leicht von den Protestanten gepackt, hinter das Schulgebäude geschleppt und verprügelt. Natürlich machten wir es mit den anderen genauso. Ich entsinne mich noch, daß unser Religionslehrer sagte: »Ihr könnt wohl mit einem protestantischen Jungen umgehen, aber niemals sein richtiger Freund werden ...«
Ich wollte als Kind zuerst Kutscher werden, dann Franziskanerpater, später Offizier, schließlich entschied ich mich für die Landwirtschaft. Mit meinem älteren Bruder Ansgar lag ich so manches Mal in der Scheune auf dem Heu, wir malten uns aus, wie wir die Kühe unterbringen, was wir anbauen und wieviel Schweine wir halten würden. Wir hatten auch guten Grund zu solchen Zukunftsplänen, denn mein Onkel Ludwig hatte sich von dem Erlös des Schwesterwitzer Gutes ein Rittergut in Posen bei Hohensalza (Inowroclaw) mit schwerem Rüben- und Weizenboden gekauft. Und er war kinderlos.
Wir hatten einen weiten Schulweg von wohl einer guten halben Stunde. Dabei mußten wir den Exerzierplatz überqueren. Wenn unsere Schwestern das taten, machten sich die Unteroffiziere manchmal den Spaß, ihren Mannschaften solche Marschbefehle zu geben, daß die verschüchterten Mädchen allmählich ganz eingeschlossen waren.
Natürlich liefen wir immer barfuß bis in den tiefen Herbst hinein. Dann war manchmal die hölzerne Brücke über die Neiße schon mit Reif überzogen. Wir mußten schnell darüberlaufen, weil es sonst zu kalt an den Füßen war. Jungens, die in Schuhen oder in »Klapperlatschen« herumliefen, verachteten wir. Diese hölzernen Ersatzschuhe gingen ohnedies ständig entzwei.
Mein großer Wunsch war damals ein Schwein. Die Mutter wollte mir nicht erlauben, eins zu halten, und so quälte ich sie von früh bis abends. Als ich auch noch vor der Toilettentür wimmerte »Muttel, ein Schwein!«, war das meiner zwanzig Jahre älteren Halbschwester Barbara, die geradezu Besuch war, zuviel. Sie gab mir einen Klaps und schalt mich, worauf ich erklärte: »Du dumme Gake (schlesisch = Gans) hast mir gar nichts zu sagen, du bist doch bloß meine Schwester!« Mein Schweineferkel bekam ich dann doch, es lebte aber nur ein paar Wochen.
Wenn auf dem Wilhelmsplatz, dem Exerzierplatz, ein Zirkus ankam – meist war es der Zirkus Straßburger –, dann waren wir schon beim Aufbauen des Zeltes dabei. Kam unsere Mutter uns abends gute Nacht sagen, so lagen wir öfters voll angezogen im Bett, krochen nachher durch das Fenster im Erdgeschoß hinaus, schlüpften unter der Leinwand des Zirkus durch und kletterten oben auf die hintersten Stehplätze. Oft rückten wir während der Vorstellung von Bankreihe zu Bankreihe nach vorn. Einmal haben wir es so, ohne zu zahlen, bis zu den rotüberzogenen Logenplätzen geschafft. Die Karussells wurden damals noch nicht elektrisch betrieben. Wir schoben sie hoch oben unter dem Dach fleißig im Kreis herum. Wenn man sechs Fahrten gedreht hatte, durfte man herabsteigen und unten die siebte mitfahren.
Das leerstehende Sägewerk neben unserem Haus wurde während des Krieges mit Soldaten belegt. Auf dem großen Holzlagerplatz dahinter wurde täglich exerziert, bis dann die ausgebildeten Soldaten zur Front abreisten. Wenn der Feldwebel auf seiner Trillerpfeife pfiff, mußten alle Gruppen von Soldaten, die auf Befehl ihrer Unteroffiziere dort übten, plötzlich stehenbleiben. Sie erstarrten, bis dann für alle ein Kommando des Feldwebels kam. Wir schafften uns die gleiche Trillerpfeife an. Es gelang uns mehrmals, damit statt des Feldwebels den ganzen Exerzierbetrieb zum Erstarren zu bringen. Jede Gruppe von Soldaten fuhr nach ein paar Wochen vorübergehend nach Lamsdorf, um dort Scharfschießen zu üben. Während dieser Tage war alles leer. Fast immer gelang es uns, eine Tür oder ein Fenster aufzumachen und die Unterkünfte der Soldaten zu besichtigen. Die Flöhe in den Strohsäcken waren dann sehr ausgehungert. Einmal fing ich siebzehn Stück an einem Bein. Damals brachte man auch noch recht häufig Flöhe aus dem Kino mit nach Hause.
Die ziegelgemauerten Festungsgräben hinter dem riesigen Garten des Grundstücks hatten aus friderizianischer Zeit vielfach noch französische Namen, zum Beispiel »Hohes Retranchement« oder »Ziegel-Barrière«. Sie wurden während des Krieges nicht mehr sehr scharf bewacht. Deshalb spielten wir dort mit Begeisterung Indianer. Wir verschmähten gekaufte Papierschilder, sondern nagelten uns recht feste aus doppelten Brettern mit Bandeisen zusammen. Als Tomahawk benutzten wir kein Spielzeug, sondern richtige Zimmermannsbeile, als Speere dienten uns lange Bambusstäbe, allerdings ohne Spitze. Zum Glück wußte unsere Mutter davon überhaupt nichts. Um so einen fliegenden Speer auffangen zu können, brauchte man einen handkräftigen, festen Schild. Ein Klassenkamerad meiner Brüder, der neu hinzukam, hielt seinen Schild recht malerisch schräg nach oben, wie er es auf Indianerbildern gesehen hatte. Ein gegen ihn geschleuderter Speer traf seinen Brustkorb, er fiel besinnungslos um. Wir erschraken furchtbar, begossen ihn mit Wasser und waren froh, als er wieder zu sich kam.
Mühsam stemmten wir Löcher in die Ziegelwände der Festungsgräben und konnten bald spielend an bestimmten Stellen herauf- und herunterklettern, so daß uns kein Wachtposten mehr zu erwischen vermochte. Auch die alten Kasematten brachen wir oder andere Banden von Jugendlichen auf und nisteten uns in den unterirdischen Räumen ein. Wir entdeckten einen Gang, der unter einem Festungsberg schnurgerade weit ins Vorgelände führte. Das andere Ende konnte man im Dunkeln nur wie einen kleinen, hellen Punkt erblicken. Von diesem Gang gingen unterirdisch Seitenabzweigungen ab. Vermutlich hätten sie dazu dienen sollen, das Vorgelände mit den feindlichen Truppen darauf in die Luft zu sprengen. Immer weiter wagten wir uns in diesen unterirdischen Gängen vor, bis plötzlich der erste von uns aufschrie und im Dunkeln hinunter ins Wasser fiel. Entsetzt rannten wir alle zurück. Zum Glück schrie der Abgestürzte weiter, so daß wir dann nach einer Weile vorsichtig wiederkamen. Das Wasser in dem unterirdischen Brunnen war nur einen knappen Meter tief; wir holten ihn wieder heraus. Was aber wäre geschehen, wenn es eine sehr tiefe Zisterne gewesen wäre?
An die Obermährengasse, eine breite Straße mit mehreren Villen, einem Krankenhaus und einem Kloster, schloß sich die Mährengasse an, wo Bauernhöfe standen. Diese Mährengasse wurde von einer anderen Bande von Jugendlichen beherrscht. Wir Obermährengäßler konnten nicht allein dort hindurchgehen, sondern nur in Gruppen. Anderenfalls wurden wir sofort bekriegt oder »gefangengenommen«.
Am Küchenfenster unserer Wohnung, das tiach dem Militärübungsplatz hinausging, und dem Hintereingang standen in diesen Kriegszeiten häufig junge Soldaten. Denn wir hatten damals außer unserem »Fräulein« noch eine Köchin und ein Stubenmädchen namens Hedwig, die übrigens furchtbar schnell sprach. Unser Kinderfräulein lernte auf diese zwanglose Weise einen stattlichen Feldwebel kennen, einen Witwer aus Cosel-Oderhafen, den sie bald darauf heiratete. Der Bräutigam des »Dienstmädchens« Hedwig geriet in französische Gefangenschaft. Als die Nachricht von seiner Heimkehr kam, weinte das Mädchen. Das veranlaßte mich zu der erstaunten Frage an meine Mutter, warum Hedwig denn weine, statt zu lachen. Die Antwort, daß man auch vor Freude weinen könne, hat mich damals sehr beeindruckt. In einem alten Brief meiner älteren Schwester Fränze an eine Freundin vom Oktober 1917 steht zu lesen: »Mutter schimpfte erst heute wieder, daß wir alle solche Leseratten sind. Du müßtest mal meinen kleinen Bruder Bernhard beim Lesen sehen! Da ist er für nichts zu haben. Zehnmal kannst du schreien, ehe er hört. Und acht Jahre ist der Kerl alt! Aber das haben wir alle vom Vater, der las auch so viel.«
In den Kriegsjahren 1917, 1918 und 1919 wurden drei von meinen Geschwistern jeweils am Blinddarm operiert. Zwei davon, meine Brüder Notker und Ansgar, mußten dazu in die chirurgische Privatklinik von Dr. Nissen, dem Vater des bekannten, heute in der Schweiz lebenden Chirurgen. Ich wünschte mir daraufhin mit elf Jahren von meiner »Muttel« nichts anderes zu Weihnachten, als auch den Blinddarm herausgenommen zu bekommen. Dreißig Jahre später habe ich mitten im Busch in Afrika diesen Wunsch als gar nicht so töricht empfunden. Denn ich hatte als Kind miterlebt, daß mein Bruder Notker vor Schmerzen aufschrie, wenn man ihn nur anfaßte. Beinahe hätte sich der Eiter in die Bauchhöhle ergossen, was damals, ohne Antibiotika, leicht den Tod bedeutete. Wie schnell kann man, fernab von jeder chirurgischen Hilfe, irgendwo in der Wildnis daran zugrunde gehen. Um 1916/17 wurde die Ernährungslage recht ernst. Die Versorgung der deutschen Bevölkerung war im Ersten Weltkrieg längst nicht so gut geregelt wie im Zweiten; außerdem gab es noch nicht so brauchbare Ersatzstoffe. Die Schuhe wurden unten mit dicht aneinandergelegten, zusammengenähten Zöpfen aus irgendwelchen Fasern besohlt, manche Stoffe sollten aus Brennesselfasern gemacht sein und zerrissen, wenn man nur daran zog. Zwei meiner älteren Geschwister bekamen Fahrräder, aber nicht mit Gummireifen, sondern mit vielen kleinen Spiralstahlfedern rings um das Rad herum. Meine Schwester Fränze nahm mich sogar einmal auf dem Gepäckträger mit in die Schule, aber wir stürzten dabei scheußlich.
Ab 1917 gab es so wenig zu essen, daß wir nie satt wurden. Besonders mein ältester Bruder Notker und ich fielen, wenn wir in der Kirche oder in der Schule längere Zeit stehen mußten, manchmal vor Schwäche um. Die »Eierkuchen« aus grobem Maismehl in einer Pfanne gebacken, die mit Wachskerzen eingefettet war, schmeckten widerlich. Ein unbestimmbares braunes Pulver nannte sich »Morgentrank«, wurde aber auch zum Backen benutzt. Unser »Fräulein« versuchte, auf dem Schrank aus kleinen flachen Quarkhäufchen sogenannten Kochkäse zu machen; er wurde aber steinhart und war vollkommen ungenießbar. Aus Tierkadavern kochten wir Seife; sie war aber nur eine stinkende, braune Schmiere. Die Marmelade und Torten wurden aus Mohrrüben und irgendeinem Zuckerersatz hergestellt. Trotzdem habe ich sie mit Heißhunger und Begeisterung gegessen – ich möchte heute einmal erproben, wie so etwas wirklich schmeckt. Kartoffeln wurden immer knapper, wir lebten immer mehr von Kohlrüben, den sogenannten Klaken. Jedem stand für eine Woche ein Brot zu, das reichlich Kartoffeln enthielt und deswegen oft einen großen Hohlraum hatte. Wir kratzten Striche auf dem Laib ein, die uns anzeigten, wieviel wir jeden Tag abschneiden konnten. Heutzutage ahnt ja niemand, wie gut trockenes Brot schmecken kann! Natürlich hielten wir mit unseren knurrenden Mägen die Einteilung unseres Brotes nie so recht ein. Später hat mir meine Mutter erzählt, daß ich sie beim Gute-Nacht-Sagen im Bett so oft gebeten habe: »Muttel, gib mir doch ein Stückel trockenes Brot!« Und natürlich hat sie mir es gegeben – von ihrem eigenen Laib.
Ich aß mein trockenes Brot öfters vor den Augen einer alten Frau im Hinterhaus, denn ich hatte herausgefunden, daß sie mir dann manchmal mitleidig Zuckerrübensirup draufschmierte. Durch dieses ständige Hungern in den entscheidenden Wachstumsjahren habe ich Dauerschäden im Skelett erhalten. Die ersten Orangen, Bananen und richtige Schokolade habe ich mit Bewußtsein erst wieder mit fünfzehn oder sechzehn Jahren gegessen.