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NACHTS IN
BERLIN

Dirk Schiller ist Jahrgang 1981 und hat das Ruhrgebiet so früh wie möglich in Richtung Berlin verlassen, wo er inzwischen unter seinem echten Namen für die Bundesregierung arbeitet. Abends widmet er sich dem Schreiben von erotischen Romanen und Krimis, für die er sich in den Bars und Clubs der Hauptstadt Inspiration sucht. Dirk Schiller lebt alleine und ist damit sehr zufrieden.

DIRK
SCHILLER

NACHTS
IN BERLIN

EROTISCHER KRIMI

BRUNO GMÜNDER

© 2016 Dirk Schiller
Umschlaggestaltung: Matthias Panitz unter
Verwendung einer Fotografie von © Exterface.com
Satz: Robert Schulze

ISBN 978-3-95985-141-1
eISBN 978-3-95985-200-5

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www.brunogmuender.com

KAPITEL 1

Brenner hatte die Schnauze voll. Er stand so plötzlich auf, dass sein Stuhl nach hinten umkippte, und beugte sich weit über den schmalen Tisch im Personalraum des kleinen Supermarktes.

»Du bleibst also dabei, dass du keine Ahnung hast von irgendeinem Kreditkartenbetrug?«, knurrte er dem kleinen Scheißer, der da vor ihm saß, ins Gesicht.

»Absolut keine Ahnung«, antwortete der monoton, ohne Brenner anzusehen, und der Hauptkommissar konnte beim besten Willen nicht sagen, ob dieser höchstens achtzehnjährige, spindeldürre Bengel mit der blassen Haut und den straßenköterblonden Haaren einfach nur Desinteresse oder viel eher Überheblichkeit ausstrahlte. Zumindest schien er keine Angst zu haben, was Brenner umso wütender machte. Und hilfloser. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, und der laute Knall sorgte zumindest dafür, dass der Bubi ihm jetzt endlich in die Augen sah.

»Wenn wir hier nicht weiterkommen«, sagte Brenner bedrohlich und zog jetzt sein letztes Ass aus dem Ärmel, »bleibt mir nichts anderes übrig, als dich aufs Revier mitzunehmen und unsere Unterhaltung dort fortzusetzen. Dazu muss ich dir aber leider Handschellen anlegen, an denen ich dich dann einmal durch den ganzen Supermarkt zerre. Vorbei an deinem Chef und an allen Kunden. Da wäre die Kacke aber schön am Dampfen für dich.«

»Das machst du nicht«, sagte der Junge genauso monoton wie zuvor, doch Brenner war sich sicher, dass er jetzt ein kurzes Lächeln auf den schmalen Lippen aufflammen sah. »Du nimmst mich nicht mit aufs Revier«, wiederholte der kleine Scheißer jetzt. »Warum, weiß ich nicht. Aber irgendeinen Grund wird es schon geben. Sonst wären wir längst dort.«

Brenners Mund klappte auf. Dieser blasse Bengel hatte ihn durchschaut. Er konnte ihn nicht mit aufs Revier nehmen, weil das zwangsläufig für Papierkram gesorgt hätte, und er war auf dem kleinen Dienstweg hier. So nannten sie es auf der Wache, wenn gewisse Dinge unter dem offiziellen Radar erledigt werden mussten, um keine Wellen zu schlagen: Der Sohn des Dienstleiters klaut ein Bier am Kiosk? Kleiner Dienstweg. Die Frau des Polizeirats setzt im Suff den Mercedes an ein Stoppschild? Kleiner Dienstweg. Und jetzt: Das halbe Revier entdeckt seltsame Abbuchungen auf ihren Kreditkartenabrechnungen. Klar, kleiner Dienstweg. Wäre ja peinlich, wenn die Polizeireporter davon Wind bekämen.

Eigentlich war Brenner nur wegen einer beschissenen Wette hier. Er hatte sich von seinem dämlichen Kollegen Armin Scherrer zu der Behauptung hinreißen lassen, jeder Idiot könnte herausfinden, was hinter diesen ominösen Abbuchungen steckte, worauf dieser blöde Wichser Scherrer Brenner dazu gebracht hatte, einen Hunderter darauf zu setzen, dass er bis zum Ende der Woche einen Verdächtigen einbuchten würde. Also hatte Brenner sich mit sämtlichen Kollegen unterhalten, denen Unregelmäßigkeiten auf ihren Abrechnungen aufgefallen waren, und es hatte sich herausgestellt, dass sie alle mit ihrer Kreditkarte in dieser Bruchbude von Supermarkt bezahlt hatten, die keine hundert Meter vom Revier entfernt war.

»Du hältst dich für schlau, oder?«, fragte Brenner jetzt und beugte sich noch etwas weiter über den Tisch, sodass sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von der pickeligen Nase des Jungen entfernt war.

»Ich bin schlau«, antwortete der völlig unbeeindruckt.

Brenner fletschte die Zähne und knurrte. An diese Taktikscheiße mit dem guten und dem bösen Cop hatte er noch nie geglaubt. Er spielte seit Jahren böser Cop und noch böserer Cop, und er war beides in Personalunion. Allein durch seine körperliche Präsenz – einen Meter neunzig, hundert gut marmorierte Kilo, dunkle Haare mitsamt wildem Fünftagebart – schüchterte er die meisten Zeugen und Verdächtigen derart ein, dass er in der Regel nur noch eine Augenbraue hochziehen brauchte, damit sie sich vor Angst in die Hose machten und ihm alles erzählten, was er wissen wollte. Doch ausgerechnet dieser blasse Bengel hier war der erste seit langer Zeit, der absolut keine Angst vor ihm zu haben schien. Weder vor ihm als Person noch vor ihm als Kriminalbeamter. Und das wirkte sich ganz und gar nicht gut auf Brenners Laune aus.

»Ich fasse es dir ein letztes Mal zusammen«, sagte der Kommissar, der jetzt langsam um den Tisch herum- und auf den Kassierer zuging. »Meinen Kollegen fehlt Geld. Nicht besonders viel, deshalb hätten es die meisten dieser Flachtaucher wahrscheinlich nicht einmal gemerkt, wenn nicht plötzlich einer von ihnen Alarm geschlagen hätte. Danach haben sie alle in ihre Abrechnungen geguckt, und siehe da: Dem einen wurden zehn Euro abgebucht, dem nächsten fünfzehn, keinem mehr als zwanzig. In der Summe kommt aber ganz schön was zusammen.«

Inzwischen war er bei dem Jungen angekommen. Er packte den Stuhl, auf dem der Kleine saß, und drehte ihn mit einem Ruck zu sich, sodass der Bengel Brenners Gemächt direkt vor seiner Nase hatte. Brenner hatte am Morgen keine Zeit gehabt zu duschen, und seine Jeans hatte er auch bereits seit einigen Tagen an. Sollte der bockige Scheißer also ruhig den Moschusduft seiner Klöten einatmen, damit er vielleicht auf diese Weise lernte, wer hier der Chef im Ring war.

»Sämtliche Kollegen, denen das passiert ist, holen sich hier ab und zu mittags was zu essen«, fuhr er fort. »Und die haben dabei alle schon mindestens einmal mit ihrer Kreditkarte bezahlt. Das ist die einzige Verbindung, die ich finden konnte. Du bist die einzige Verbindung, die ich finden konnte. Weil du hier jeden Mittag Dienst schiebst.«

»Ist doch nicht meine Schuld, wenn die so dämlich sind und ’ne Butterbrezel mit der Visa bezahlen, oder?«, antwortete der Junge jetzt langsam, wobei er stur geradeaus auf Brenners Beule glotzte. »Da bettelt man doch förmlich darum, dass mal einer kommt und sich bedient.«

»Du gibst es also zu?«, fragte Brenner und bemühte sich, sein Erstaunen zu verbergen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Junge es ihm plötzlich so leicht machen würde.

»Ich geb’s zu, Herr Kommissar. Die Sache mit den Kreditkarten und den Mord an Kennedy. Kann ich jetzt wieder an die Arbeit gehen?«

»Hauptkommissar«, antwortete Brenner. »Und wenn du denkst, dass die dich noch eine Sekunde an die Kasse lassen, wenn ich mit dem Marktleiter gesprochen habe, bist du noch dümmer, als ich dachte.«

Jetzt blickte der Junge nach oben und ließ für eine Sekunde wieder dieses Lächeln aufblitzen: »Ein Rabe«, sagte er, und sein Lächeln wurde nun zu einem unerträglich frechen Grinsen.

»Was?«, fragte Brenner irritiert.

»Ein Rabe«, wiederholte er, »auf deinem Schambein.« Er legte seinen rechten Daumen auf Brenners Ledergürtel. »Genau hier. Ist ein echt hässliches Tattoo.«

Brenner machte einen Schritt zurück. »Ich weiß nicht – «

» – was ich damit sagen will?«, fragte der Kassierer. »Ich will damit sagen, dass ich behaupten werde, du hättest deinen Schwanz rausgeholt und mir angeboten, dass wir die Sache auf sich beruhen lassen, wenn ich dir schön einen lutsche. Und wer von uns beiden steht dann dümmer da, Herr Haupt-Kommissar?«

Brenner fühlte sich, als hätte man ihn gerade in eine Badewanne voller Eiswürfel geworfen. Er hatte den Instinkt, einfach wegzulaufen, doch gleichzeitig wollte er diesem grinsenden, kleinen Bastard die Tracht Prügel seines Lebens verpassen. Aber er wusste, dass ihm beides nicht geholfen hätte. Also zwang er sich, sich zusammenzureißen.

»Wie kommst du darauf, dass ich ein Tattoo habe?«, fragte er so ruhig wie möglich.

»Komm her, ich zeig’s dir.« Der Kassierer griff in den Hosenbund des Polizisten und zog ihn daran wieder näher zu sich. Dann öffnete er geschickt Gürtel, Knopf und Reißverschluss und schob Brenners Unterhose ein kleines Stück nach unten. »Siehst du«, sagte er, »ein Rabe.«

Jetzt zog er die Unterhose noch ein Stück weiter herunter und griff nach Brenners inzwischen im Freien baumelndem, fettem Fleischpimmel. Er streifte sanft mit der Hand darüber, und der Schwanz begann sofort, härter zu werden und sich aufzurichten.

»Ich bin ein verheirateter Mann!«, sagte Brenner, der so perplex gewesen war, dass er das alles hatte geschehen lassen.

»Ich weiß«, antwortete der Junge und umgriff Brenners inzwischen steinhartes Teil, um es sanft zu wichsen. »Schicker Ehering übrigens. Breit und schlicht. Passt zu dir.«

Brenner stöhnte leise auf und drehte sich zur Tür des Aufenthaltsraums, um sich zu vergewissern, dass sie geschlossen war.

»Du erinnerst dich nicht an mich, oder?«, fragte der Junge, der jetzt mit der zweiten Hand die Eier des Hauptkommissars kraulte. »Dachte ich mir schon, warst ja auch ganz schön besoffen. Wie immer eigentlich.«

»Wann?«, fragte Brenner. Er ließ seine große Hand über das Gesicht des vorlauten Bengels wandern und gab ihm dabei leichte Ohrfeigen.

»Vor achtzehn Tagen. Im Stall. Hab dich schon öfters dort gesehen, und jedes Mal biste sturzbesoffen, wenn du reinkommst. Muss sich wohl einer Mut antrinken, bevor er sein Weibchen mit ein paar Typen betrügen geht.«

Brenner verpasste dem Kerl eine deutlich festere Ohrfeige: »Nicht von meiner Frau reden. Und schon gar nicht so, du kleine Fotze. Was ist passiert vor achtzehn Tagen?«

Der Junge zuckte mit den Schultern: »Das Übliche. Bist besoffen reingetorkelt, hast erstmal noch ’n Bier und ’n Schnaps gezogen, um dann in den Darkroom zu wanken, wo die Typen schon Schlange standen, weil jeder wenigstens einmal dieses fette Rohr in den Rachen geschoben kriegen will. Und letztes Mal war ich der Glückliche. Dabei hab ich dein Tattoo gesehen.«

»Nur aus Neugier«, sagte Brenner schwer atmend. Dieser Kerl war wirklich verdammt geschickt mit den Händen. »Wie hast du das gemacht mit den Kreditkarten?«

»Ziemlich einfach. Wenn ich irgendwo drei Sekunden lang draufgucke, kann ich mir alles merken. Name, Nummer, Ablaufdatum, Sicherheitscode. Kein Problem.«

»Fotografisches Gedächtnis?«, fragte Brenner.

»Hm-mh«, antwortete der Junge, der inzwischen mit der Zunge an Brenners Schwanzspitze spielte.

»Und jetzt erzählst du mir gleich, dass du eigentlich viel zu clever bist, um als Kassierer zu arbeiten, und das nur machst, um an die Daten von möglichst vielen Leuten ranzukommen?«

»Hm-mh.«

Brenner zog seine Eichel aus dem Maul des kleinen Ganoven und verstaute das knallharte Rohr mit einiger Mühe wieder in seinem Slip. Er hätte zwar nichts lieber getan, als dieser vorlauten kleinen Hure den Rachenfick ihres Lebens zu verpassen, doch die Gefahr war zu groß, dass einer der anderen Angestellten ohne Vorwarnung zur Tür hereinkam.

»Hier ist mein Angebot«, sagte er zu dem enttäuscht aussehenden Bengel, während er seinen Gürtel wieder schloss. »Du hörst mit dieser Scheiße auf, zumindest bei den Leuten, die drüben im Kommissariat arbeiten. Sonst fangen die irgendwann doch noch an, offiziell zu ermitteln, und dann werden die bald wieder hier auf der Matte stehen.« Er packte den Kassierer grob am Kinn und drehte seinen Kopf nach oben, sodass die beiden sich jetzt direkt ansahen. »Hast du das verstanden?«

Der Junge nickte.

»Gut«, sagte Brenner. »Und deine Strafe sind hundert Euro.«

Der Scheißer holte Luft, um zu protestieren, doch er merkte selbst, dass es zwecklos sein würde. Schließlich wussten beide, dass er sich im Laufe der letzten Monate ein Vielfaches davon zusammengeklaut hatte. Also zog er seufzend zwei Fünfziger aus seinem Geldbeutel, die Brenner wortlos einsteckte. Zum Abschied legte er sich seinen Zeigefinger auf die Lippen und sah den Jungen ein letztes Mal ernst an, bis dieser nickte.

»Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen«, rief er im Rausgehen dem Filialleiter zu, der gerade die Haltbarkeitsdaten von Tütensuppe kontrollierte. »Ihr Kassierer konnte mir wirklich weiterhelfen. Sehr fähiger Junge. Wirklich sehr fähig.«

Kaum, dass er das Revier betreten hatte, kam dem Kommissar schon der dämlich grinsende Idiot Scherrer entgegen. »Heute ist Freitag, Kollege«, rief der einmal quer über den Gang. »Und wir haben noch keinen Verdächtigen, nehme ich an?«

Brenner schob ihm im Vorbeigehen die zwei Fünfziger zu, die er dem Kassierer abgenommen hatte, und murmelte: »Gewonnen.«

»Tja, mach dir nichts draus, Falk«, grinste Scherrer und klopfte Brenner kumpelhaft auf die Schulter, was den fast zur Weißglut brachte. »Auch die Besten übernehmen sich mal. Ach, übrigens: Winter will dich sehen, und zwar so schnell wie möglich. Er sah nicht gerade happy aus.«

»Hm-mh, gleich«, brummte Brenner und lief auf direktem Weg zum Klo. Dort sperrte er sich in eine der Kabinen und holte sich in Ruhe einen runter.

KAPITEL 2

Albert Winter war seit fünfzehn Jahren Dezernatsleiter des LKA 11, jener Abteilung des Berliner Landeskriminalamtes, die sich hauptsächlich mit Tötungsdelikten beschäftigte, und er war eine Art Ziehvater für Kriminalhauptkommissar Falk Brenner. Als Brenner Winters Büro betrat, stand der schlanke Mann mit den streng nach hinten gekämmten Haaren und der wie immer tadellos sitzenden Kleidung mit dem Rücken zu ihm am Fenster und blickte über die Häuser hinweg auf den nahegelegenen Tiergarten.

»Du wolltest mich sprechen?«, fragte Brenner.

»Ich nehme an, du hast dich noch nicht entschieden«, gab Winter zurück, ohne sich umzudrehen.

»Ich hatte mich schon letzte Woche entschieden. Und das habe ich dir auch gesagt. Ich werde es nicht machen.«

»Und ich hatte dir gesagt, dass du es dir noch einmal überlegen sollst, Falk.« Winter drehte sich jetzt um und schaute Brenner streng an. »Der Posten des Dienstgruppenleiters wird in zwei Monaten frei, und ich muss ihn besetzen. Und ich verstehe beim besten Willen nicht, warum du dich so standhaft gegen eine Beförderung wehrst.«

Brenner bemühte sich, seine Wortwahl in Schach zu halten: »Du weißt es ganz genau, Albert. Ich tauge nicht zum Gruppenleiter. Ich bin viel zu undiplomatisch, keine von den Pappnasen da draußen kann mich leiden.«

»Sie müssen dich nicht leiden können, sie müssen nur tun, was du sagst. Und an Autorität mangelt es dir sicher nicht.« Winter hob beschwichtigend die Hände, weil er den Ausdruck der aufwallenden Ungeduld im Gesicht seines Schützlings nur zu gut kannte: »Du bist jetzt fünfunddreißig …«

»Sechsunddreißig«, korrigierte Brenner.

»… und du solltest allmählich den nächsten Schritt machen.«

»Wie viel Autorität hab ich denn als Chef, wenn alle ganz genau wissen, dass du mich nur deshalb befördert hast, weil du mich schon seit Jahren bevorzugst? Die zerreißen sich doch jetzt schon das Maul darüber, ob ich wohl dein unehelicher Sohn bin. Oder was noch viel Schlimmeres.«

»Ich bevorzuge dich, weil ich an dich glaube, Falk«, erwiderte Winter resigniert. »Und weil sich wenigstens einer um dich kümmern muss, wenn du es schon nicht selber tust.«

»Wenn das alles ist«, sagte Brenner scharf. Er hatte absolut keine Lust darauf, diese Diskussion zum tausendsten Mal zu führen, und griff nach der Türklinke.

»Nein, das ist nicht alles. Setz dich.«

Brenner seufzte tief und ließ den Griff los. Allerdings blieb er in der Nähe des Ausgangs stehen und verschränkte wie ein trotziger Junge seine Arme, doch Winter schien ohnehin nicht damit gerechnet zu haben, dass Brenner seiner Aufforderung, sich zu setzen, nachkommen würde. Er nahm seine Brille ab und begann, ihre Gläser zu polieren. Weil Brenner wusste, dass Winter das immer tat, wenn ihm etwas besonders schwer auf der Seele lag, nahm er jetzt doch Platz und fragte besorgt: »Was ist los?«

Auch Winter setzte sich nun und fragte nach langem Schweigen: »Habe ich dir je von Hermann Seidel erzählt?«

»Nein.« Brenner hatte ein hervorragendes Namensgedächtnis, doch von diesem Mann hatte er noch nie etwas gehört.

»Er war ein sehr guter Freund von mir.«

»War?«

Winter setzte seine Brille wieder auf, nur um sie direkt noch einmal abzunehmen und weiter zu polieren. »Er ist heute Nacht gestorben«, sagte er nach einer Weile.

»Das tut mir leid.«

»Danke.«

»Brauchst du Hilfe bei irgendwas?«, fragte Brenner. Er hatte Winter bisher erst einmal so mitgenommen gesehen, und das war nach dem Tod seiner Frau Dorothee gewesen, die vor zwei Jahren an Krebs gestorben war und die Winter über viele Monate aufopfernd gepflegt hatte.

»Ich brauche tatsächlich deine Hilfe, Falk. Ich möchte, dass du zu Seidel nach Hause fährst und mit seinem Chauffeur sprichst.«

»Seinem Chauffeur?«, fragte Brenner überrascht. Er hatte nicht gewusst, dass sein Chef so reiche Freunde hatte.

»Wenn dir der Name Hermann Seidel nichts sagt, dann doch bestimmt Seivensis, oder?«

»Sicher, der Pharmakonzern.«

»Hermann hat ihn gegründet und bis zu seinem Tod geleitet.«

Brenner zog beeindruckt die Augenbrauen hoch. »Und was soll ich jetzt mit seinem Chauffeur besprechen?«, fragte er.

»Er hat Hermann am frühen Morgen gefunden, da war er schon tot. Laut seinem Hausarzt war es ein Herzinfarkt, was einerseits nicht verwunderlich wäre, weil Hermann ungefähr tausend Krankheiten und Gebrechen hatte. Eine feine Ironie, oder? Der Aufsichtsratsvorsitzende von Europas fünftgrößtem Pharmaunternehmen war der mit Abstand kränkste Mensch, den ich kannte.«

»Ich verstehe immer noch nicht, was –«

»Die Sache gefällt mir nicht, Falk«, sagte Winter mit Nachdruck und blickte Brenner jetzt zum ersten Mal, seit sie an seinem Schreibtisch saßen, direkt in die Augen. »Ich weiß, dass man uns Polizisten immer einschärft, dass die wahrscheinlichste Erklärung meistens auch die richtige ist. Aber diese Sache gefällt mir einfach nicht. Ich will nur, dass du einmal hinfährst und dich umhörst. Inoffiziell. Wir wollen schließlich niemanden aufscheuchen, nicht den potenziellen Mörder, und schon gar nicht die Presse.«

»Hatte Seidel Feinde?«, fragte Brenner.

Winter lachte bitter. »Wenn wir alle Leute, die ihn gehasst haben, zum Verhör laden, wird das eine Schlange von meinem Büro bis zur Siegessäule geben!«, antwortete er dann. »Hermann war nicht immer einfach, rein menschlich. Dazu dieser Firmenskandal vor ein paar Jahren.« Brenner erinnerte sich. »Und innerhalb der Firma wollten ihn zuletzt wohl auch einige loswerden. Sein Führungsstil wurde anscheinend nicht mehr als zeitgemäß empfunden.«

»Wer erbt die Firma jetzt?«, fragte Brenner.

»Seivensis ist seit vielen Jahren eine Aktiengesellschaft. Aber Hermann hielt einen großen Teil dieser Aktien, die dürften viele Millionen Euro wert sein. Vor dieser Sache wäre es wahrscheinlich noch eine Milliarde gewesen.« Diese Sache. Seivensis war drei Jahre zuvor in den USA zu einer Rekordstrafe verurteilt worden, weil sich ein von der Firma entwickeltes Aids-Medikament als wirkungslos erwiesen hatte und man vor Gericht nachweisen konnte, dass der damalige Laborchef Studien manipuliert hatte. »Wie dem auch sei«, fuhr Winter fort, »diese Aktien erbt jetzt Hermanns Sohn, Mark Seidel.«

»Dann wird er jetzt der neue Firmenchef?«, fragte Brenner, doch Winter schüttelte traurig den Kopf.

»Mark hatte es mit seinem Vater nicht leicht, was im Umkehrschluss sicherlich genauso zutrifft. Natürlich hatte Hermann sich gewünscht, dass Mark in die Firma einsteigt, doch der hatte schon immer andere Pläne. Er lebt schon seit einigen Jahren in Kopenhagen und ist Chef seines eigenen Unternehmens. Die beiden haben seit einer Ewigkeit nicht mehr miteinander gesprochen, soviel ich weiß. Ich bin Marks Patenonkel, und ich war es, der ihn heute Morgen angerufen und über den Tod seines Vaters informiert hat. Er wird heute noch nach Berlin kommen. Mein Verhältnis zu meinem Patenkind ist eng und gut. Er ist sozusagen der zweite Problemfall, um den ich mich in den letzten Jahren gekümmert habe.« Winters Blick fiel wieder auf Brenner, und er zog leicht seine rechte Augenbraue nach oben. »Und ich würde für euch beide meine Hand ins Feuer legen. Er ist nicht der Mann, den wir suchen. Das heißt, sofern wir überhaupt jemanden suchen. Wahrscheinlich war es tatsächlich einfach nur Hermanns Herz. Aber ich würde ruhiger schlafen, wenn ich wüsste, dass du dort warst und dir dein Gefühl das Gleiche sagt.«

»Gut«, sagte Brenner und stand auf. »Deine Sekretärin hat die Adresse?«

Winter nickte. »Noch eine letzte Sache«, sagte er dann. »Du hast ab heute einen Praktikanten.«

»Einen was?« Brenner hatte schon wieder vergessen, dass er eigentlich mitfühlend und pietätvoll sein wollte.

»Du hast mich schon richtig verstanden. Ein Kriminologiestudent namens Niklas Dankwart. Heute ist sein erster Tag, und ich habe ihn dir zugeteilt, für die nächsten zwei Wochen.«

»Hast du nicht gesehen, dass ich nächste Woche Urlaub habe?«, fragte Brenner entgeistert.

»Doch, habe ich. Und dann habe ich ihn dir gestrichen.«

»Das ist nicht dein Ernst, Albert!«

»Ist es. Falls an dieser Sache mit Seidel etwas dran sein sollte, will ich, dass du den Fall übernimmst, und kein anderer. Außerdem ist es mir wichtig, dass du mit Herrn Dankwart zusammenarbeitest.«

»Wieso drückst du den nicht Scherrer aufs Auge?«

»Herr Scherrer hatte schon drei Praktikanten, um die er sich aufopfernd gekümmert hat.«

»Na also«, maulte Brenner.

»Ich möchte aber, dass du lernst, dich um den Nachwuchs zu kümmern. Und dieser junge Mann schien mir als Erster robust genug, dass man ihm einen Stinkstiefel wie dich zumuten kann. Er hat ein überaus sonniges Gemüt, das wirst du schon noch sehen. Du wirst ihn nicht so schnell zum Weinen kriegen, mach dir also erst gar keine Hoffnungen.« Brenner holte tief Luft, doch Winter ließ ihn nicht antworten: »Das ist eine Dienstanweisung, Falk!«, sagte er nachdrücklich. »Und jetzt fahr zu Seidel, aber natürlich erst einmal ohne Herrn Dankwart. Dazu ist die Sache vorläufig zu heikel. Ich werde sehen, dass wir ihn solange hier beschäftigen können, und du kannst ihn dann dazunehmen, falls es tatsächlich etwas zu ermitteln geben sollte. Ich danke dir.«

Der Kommissar atmete tief durch, dann nickte er knapp und verließ das Büro.

Eine halbe Stunde später hielt Brenners Wagen vor dem schmiedeeisernen Tor am Eingang zu Hermann Seidels Grundstück, und der Kommissar kurbelte das Fenster herunter, um auf die Klingel zu drücken. Nichts tat sich.

»Scheiß Dahlem«, murmelte er, während er wartete und dabei wieder und wieder läutete.

Nach einer Ewigkeit öffnete sich das Gitter majestätisch langsam und völlig geräuschlos, und Brenner überprüfte kurz sein Aussehen im Rückspiegel: übernächtigt, blass, unrasiert. Den geplanten Urlaub nächste Woche hätte er bitter nötig gehabt. Scheiß drauf.

Während er an die Villa heranfuhr, die man von der Straße aus nicht sehen konnte, stellte er überrascht fest, dass sie im Bauhaus-Stil erbaut worden war und nicht in diesem kitschigen Pseudoklassizismus, den er erwartet hatte. Es war ein riesiger, aber trotzdem nicht protziger Bau, der sich im kalten Nieselregen vor dem grauen Novemberhimmel erhob, und er erinnerte den Kommissar ein wenig an drei versetzt übereinandergestapelte Schuhschachteln, die mehr aus Glas als aus Beton zu bestehen schienen. Vor der Haustür, an der er sein Auto parkte, erwartete ihn bereits die Haushälterin.

»Verzeihen Sie, wenn Sie warten mussten, Herr Hauptkommissar«, sagte sie und sah dabei ziemlich verheult aus. »Aber es ist so viel zu tun.«

»Sie wussten, dass ich komme?«, fragte Brenner.

»Ihr Vorgesetzter hat sie angemeldet. Und ich bin froh, dass sie sich alles einmal anschauen wollen. Man kann ja nie wissen.«

Die Frau war um die fünfzig, korpulent, aber sehr gepflegt, und sie hatte sich auch an diesem Morgen die Zeit genommen, ihre langen Haare aufwendig hochzustecken. Entweder war sie eine sehr gute Schauspielerin, oder der Tod ihres Chefs hatte sie tatsächlich mitgenommen. Doch diese erschrockene Blässe im Gesicht konnte man wohl kaum spielen, dachte Brenner. Er folgte ihr ins Haus und durchquerte hinter ihr die große Eingangshalle.

»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«, fragte er.

»Seit vierunddreißig Jahren«, antwortete sie. »Es war meine erste Anstellung nach der Hauswirtschaftsschule, und ich war jeden einzelnen Tag gerne hier.«

Brenner war sich nicht sicher, ob er ihr das Glauben sollte, doch offensichtlich verboten ihr ihre Erziehung und vor allem ihre Berufsehre, schlecht über ihren toten Chef zu sprechen. Das imponierte ihm. »Herr Seidels Chauffeur hat ihn heute Morgen gefunden?«, fragte er weiter.

»Stephan, ja. Ich werde ihm Bescheid sagen, dass Sie mit ihm sprechen möchten. Aber ich bringe Sie am besten erst einmal ins Wohnzimmer. Herr Seidels Sohn ist vor dreißig Minuten eingetroffen. Er lebt in Dänemark, doch er kam, so schnell er konnte. Sicher möchten Sie auch mit ihm sprechen.«

»Gerne«, sagte Brenner und sah auf seine Uhr. Kurz nach zwei am Nachmittag. Wenn die Todesnachricht den Sohn zwischen sieben und acht erreicht hat, muss er wirklich alles stehen und liegen gelassen und den ersten verfügbaren Flieger nach Berlin genommen haben.

Die Haushälterin klopfte diskret und öffnete dann die Tür zum Wohnzimmer, wo Mark Seidel mit dem Rücken zu ihnen an einer der beiden komplett verglasten Wände stand und über den parkähnlichen Garten blickte.

»Mark, der Herr von der Polizei ist jetzt da.«

Der Sohn des Toten drehte sich zu ihnen um und musste sich sichtbar beherrschen, seinen Schock zu verbergen, was ihm allerdings nur schlecht gelang.

»Vielen Dank, Marianne«, sagte er. »Lassen Sie uns bitte alleine.«

Sobald die Haushälterin die Tür hinter sich geschlossen hatte, stürzten die beiden Männer aufeinander zu und fielen sich in die Arme.

KAPITEL 3

»Seit wann heißt du Mark?«, fragte Brenner.

»Schon immer«, antwortete Mark, und seine Stimme klang dabei dumpf, weil er seinen Kopf in Brenners starken Armen vergraben hatte.