Zweite Auflage
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
© Peter Gaßmeyer 2016
Das Buch ist als Paperback (ISBN 978-3-7345-3376-1)
und auch als e-Book (ISBN 978-3-7345-3378-5) erhältlich.
… ich will, daß er bleibe, bis ich komme
Auftrag und Aktualität des Johannesevangeliums
2015
Inhaltsverzeichnis
Vorwort |
|
Stil und Aussage |
|
Die Kapitel und ihre Deutung: |
|
Kapitel 1, |
Kosmologie |
Kapitel 2, |
Hochzeit zu Kana |
Kapitel 3, |
Jesus und Nikodemus / der Menschensohn (der Heilige Geist ersetzt Mystik) |
Kapitel 4, |
Jesus und die Samariterin / Wasser des Lebens |
Kapitel 5, |
Heilung eines Kranken am Teich Bethesda |
Kapitel 6, |
Speisung der 5000 |
Kapitel 7, |
Reise zum Laubhüttenfest |
Kapitel 8, |
Jesus und die Ehebrecherin (Christus und die unerlöste Seite in uns: der Doppelgänger) |
Kapitel 9, |
Heilung eines Blindgeborenen |
Kapitel 10, |
Der gute Hirte |
Kapitel 11, |
Auferweckung des Lazarus |
Kapitel 12, |
Salbung zu Bethanien |
Kapitel 13, |
Die Fußwaschung |
Kapitel 14, |
Der Hingang zum Vater |
Kapitel 15, |
Der rechte Weinstock |
Kapitel 16, |
Wirken des Heiligen Geistes |
Kapitel 17, |
Das hohepriesterliche Gebet |
Kapitel 18, |
Gefangennahme Jesu und Verhör vor Pilatus |
Kapitel 19, |
Geißelung und Verspottung Szene unter dem Kreuz |
Kapitel 20, |
Der Ostermorgen |
Kapitel 21, |
Jesus verabschiedet seine Jünger |
Die Frage der Autorenschaft |
|
Wer ist Johannes ? |
|
Verhältnis Lazarus - Jesus |
|
Vom reichen Jüngling zu Lazarus ? |
|
Komposition des vierten Evangeliums |
Peter Gaßmeyer,
geboren 1941 in Schweidnitz/Schlesien, Oberstudienrat, verheiratet, drei Kinder. Nach Beendigung der beruflichen Lehrtätigkeit Beschäftigung mit Geisteswissenschaft, insbesondere der Erkenntnistheorie. Eigentliches Anliegen: Neubelebung des christlichen Glaubens durch Hinwendung des einzelnen zur Spititualität.
Das Umschlagbild: Michelangelo Buonarroti (1475-1564)
Die Erschaffung Adams, c. 1511
Ausschnitt aus dem Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle, Vatikan
Vorwort
Am Beginn stand meine Beschäftigung mit den biblischen Gleichnissen. Wie rasch versagten da die intellektuellen Bordmittel, mit denen mich Schule und öffentliches Leben ausgestattet hatten! Die Formel „gegeben ist – gesucht wird durch Verbinden mit Kausalketten“ eröffnete bestenfalls Teilaspekte. Nicht dass das logische Schlussfolgern außer Kraft gesetzt gewesen wäre, aber ich merkte rasch, dass es nicht zum eigentlichen Problemlöser taugte, sondern nur Hilfsfunktion hatte.
Hinzu kam eine Diskussion, die 150 Jahre historisch-kritische Bibelauslegung ausgelöst hat in den letzten Jahren: das Bedürfnis nach mehr spiritueller Exegese.
Im Beitrag von Ursula Batz (Publik-Forum Nr. 24, 2013) wird das thematisiert. Ist es möglich, die Bibel ohne Verlust kritischen Denkens und ohne Verlust der spirituellen Tiefe in die Gegenwart zu holen?
Dabei wird die Notwendigkeit betont, „die Geschichten und Gestalten der Schrift als Metaphern und Gleichnisse für die persönliche Glaubenspraxis lebendig zu machen“, was eben die historisch-kritische Methode nicht leiste. Gleichzeitig wird warnend der Finger erhoben, letztere nicht „zugunsten einer spiritualistisch-symbolischen Interpretation über Bord zu werfen“. Meditation wird in diesem Artikel gleichgesetzt mit „besinnlichem Nachdenken über Worte der Bibel und die sinnliche Realität“. Sinneswahrnehmungen seien jedoch nie „reine“, sondern stets kulturell und historisch bedingt, weswegen sich demgemäß auch die Meditation in einem politisch-sozialen Kontext bewege.
Gotteserfahrung, als dritter und letzter Schritt, sei der Contemplatio vorbehalten, der unio mystica. Sie sei nicht mehr vermittelbar, da die Unzulänglichkeit menschlicher Sprache dies verhindere. Im Übrigen sei unklar, ob die Gotteserfahrung personal oder apersonal vorzustellen sei.
So viel geistige Bedenkenträgerei und Übernahme von altbekannten Klischees war mir ein dankbares Gegenüber und eine Möglichkeit, meinen eigenen Weg leichter zu klären. Es ging mir vor allem um den Erkenntnisweg der Meditation. Er wird uns angeboten als „symbolische Interpretation“ und „besinnliches Nachdenken“. Letzteres gab mir den Geschmack schöngeistiger Literatur auf die Zunge, einer Form der Beliebigkeit, welche der Existentialität der Thematik nicht gerecht wird. Die symbolische Interpretation vollends ließ mich die ganze Blutleere des scholastischen Nominalismus empfinden, gepaart und weiterentwickelt mit dem reinen Kantianismus, den der Protestantismus ja bekanntlich mit der Muttermilch aufsaugt.
Das Symbol steht in ihm für ein leeres Gedankenkonstrukt, von dem der Mensch unterschwellig weiß, dass er sein Schöpfer ist, und das ihn deshalb kalt lässt. Vom „besinnlichen Nachdenken“ kommt ebenfalls keine Wärme herüber, da es auf die Sinne zurückgeführt wird und die erklärt uns heute die Naturwissenschaft.
Dass Meditation gerade erst im Sich-Freimachen von aller sinnlicher Verstrickung beginnt, war gar kein Thema. Und so kristallisierte sich nach und nach mein eigenes denkerisches Vorgehen heraus, das den meisten ungewohnt sein dürfte. Es geht das Problem als Ganzheit an, indem es diese zunächst nur auf den Menschen einwirken lässt. Bilder Atmosphäre, Handlungen werden so nur angeschaut, wahrgenommen, ohne dass versucht wird, etwas in sie hineinzulegen. Damit wird alles ausgeschaltet, was uns so durch den Kopf schießt als Bild- oder Sinnfetzen, aus denen unser Drang nach schneller Antwort eine kleine Theorie zusammenbasteln möchte. Die stimmt oder nicht, wozu wir in die Sekundärliteratur vermeintlich schlauerer Spezialisten blicken müssen, zumindest solcher mit einem Namen. Titel schaden dabei nicht, zumindest in Deutschland. Da geht der eigene Geist ergeben in die Knie, d. h. er gibt sein Urteilsvermögen ab, bzw. lässt es erst gar nicht zur Entfaltung kommen.
Was auf der Strecke bleibt bei einem solchen Vorgehen, ist das Erleben. Gedanken, die wir nicht auch erleben, sei es in ihrer Entstehung, sei es in ihren Weiterungen, lassen uns kalt, berühren uns nicht. Damit sind sie Kopfgeburten, die uns als ganzen Menschen nicht erreichen.
Die Texte der Bibel aber, allen voran die Evangelien, sind einmal geschrieben worden, um auch die Menschen zu entzünden, die beim Geschehen um Jesus nicht dabei sein konnten, weil sie Nachgeborene sind. Zu einmalig und großartig war das von diesen Ereignissen Berichtete oder Erlebte, als dass man es dem Vergessen hätte anheimgeben können.
Die Sprache des Sinnbildhaften indessen wendet sich an alle in uns veranlagten Wahrnehmungsmöglichkeiten, dabei auch die unterbewussten und die gefühlsmäßigen. Sie alle stellen eine eigenständige Wirkung und Realität in uns her, die nur darauf wartet, aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt zu werden. Der Prinz in diesem Märchen ist die immer wieder aus dem Wachbewusstsein, also dem Verstand und dem Willen erfolgende Durchimpulsierung des Ganzen im Sinne einer Thematik oder einer Fragestellung. Der Prinz weckt die schlafende Schöne, worauf sie erwacht und in ihrer Schönheit erblüht. Nüchterner ausgedrückt, wie es unserem Zeitgeist entspricht, heißt das: Die Allegorien und Verschlüsselungen der Schrift erfordern ein multiples mentales Vorgehen. Alle Erkenntniskräfte werden gleichzeitig eingesetzt und genutzt. Das Sinnbild als Ganzes mit seiner eigenen Wirksamkeit, das Empfinden, der Verstand und die höheren Formen des Erkennens wie die Meditation. Zusammen tragen sie dazu bei, dass sich aus dem geistigen Welthintergrund unseres Unterbewusstseins Impulse melden, die ins Bewusstsein des Wortes, der Sprache aufsteigen wollen. Dieser Prozess ist ein dialektischer, d. h. ein Geben und Nehmen, das am Ende zu immer größerer Klarheit sich läutert, um am Ende als Antwort dazustehen, die aus sich selbst spricht. In ihr sind die bisher offenen Fragen gelöst.
Das nenne ich das Wesen der Dinge sprechen lassen. Und was kann ich mehr wollen? Sein Gegenmodell ist das Theorie-Aufstellen. Wissenselemente werden dabei im Sinne der Fragestellung kombiniert, bis sich ein eigener Sinnzusammenhang zeigt. Den legt man an das zu lösende Problem an und kontrolliert, ob eine Übereinstimmung zwischen diesem und der Frage besteht. Es ist das uns aus der Naturwissenschaft bekannte Vorgehen der Empirie. Haut es nicht hin, weil zu viel offen, d. h. ungeklärt oder widersprüchlich bleibt, ist eine neue, verbesserte Theorie zu entwickeln und so fort.
Statt zurückzutreten und die Dinge aus sich sprechen zu lassen, wird ihnen permanent ein fremder Wille, eine fremde Sicht übergestülpt. Wenn diese in sich logisch erscheint, ist der Zeitgenosse bereit, die These als Lösung zu akzeptieren. Was nicht bedacht wird dabei: Diese Logik muss nicht der Natur der zu erkennenden Dinge entsprechen.
Für einen glaubensbereiten und -fähigen Menschen ist zusätzlich zu bedenken: Christus sagt nicht ohne Grund und Unterlass, dass er spreche, wie er höre, und meint damit das Wort des Welten-Vaters. Er legt expressis verbis Wert darauf, dass er die Welt nicht nach seiner subjektiven Sicht erklärt, sondern nach dem Geist, der der Schöpfung zugrunde liegt, zu dem er aber unmittelbar Zugang hat. Damit fordert er uns auf, ein Entsprechendes zu tun, wozu er uns mit seinem Tod den Geist des Vaters entbunden hat. Wäre dieser dem Menschen nicht grundsätzlich zugänglich, wäre Christi Tat und Reden null und nichtig. Deswegen kann es auch nicht sein, spirituelle Erkenntnisse, die sich zweifelsfrei aus biblischen Texten ergeben, wissenschaftlichen Erkenntnissen nachzuordnen.
Und ein Weiteres folgt daraus: Waren die Evangelisten vom Geist Gottes geführt, und wer wollte daran zweifeln, wenn er auf dem Boden des Glaubens steht, dann müssen auf die Fragen, die sich aus den Texten ergeben, die Antworten auch in den Texten gesucht werden. Diese Antworten können nur verschlüsselt gegeben worden sein, weil sie dem Geist von Jahrtausenden genügen sollen und der Mensch so gezwungen ist, seinen Geist zu aktivieren und das Verwandlungspotenzial freizusetzen, das in den Texten ruht.
Diese Aktivitäten und ihre Wirkung an mir selbst erlebt zu haben, gehörte und gehört zum Größten, das mir im Leben geschenkt wurde. Davor habe ich so manchen Traum gehabt, der in seiner Aussage mir den Hintergrund meines Lebensweges angedeutet hat. Mit dem Arbeiten am Johannesevangelium haben diese Hinweise schlagartig aufgehört, sodass ein Zusammenhang zwischen beidem nicht zu übersehen war. Es war, wie wenn es mir geschenkt worden wäre, diese Welt aus ihrer jenseitigen Verankerung zu lösen und den Himmel ein Stück weit in mich hereinzuholen. Mein letzter großer Traum hatte dies auch angedeutet. Ganz verstanden habe ich ihn aber erst durch meine Arbeit am Evangelium, bzw. durch deren Wirkung auf mich.
Es war mein Bestreben, Johannes zu verstehen und zu deuten nur mit den Mitteln, zu denen der Mensch heute geistig-seelischen Zugang haben kann und die jenseits jeglicher Irrationalität liegen. Dass damit selbst Fragen wie die nach dem Autor zu lösen sind, war für mich eine der überraschenden Erkenntnisse. Am nachhaltigsten beeindruckt hat mich aber diese Einsicht: Solange unser Rang- und Ehre-Denken vor der Welt all unsere übrigen seelischen Kräfte aufzehrt, wird die Liebe in der Welt und damit Christus, keine Heimstatt in uns finden. Gegen diesen herrschenden Ungeist gibt es nur ein Mittel: zu einem wahrhaftigen Ich zu gelangen, in welchem Christus auferstehen kann. Um dieses johanneische Ziel muss unser Ringen gehen.
Stil und Aussage
Stil als literarisches Mittel kann Ausdruck einer Epoche, einer Geschmacksrichtung sein ebenso wie Markenzeichen eines einzelnen Autors. In jedem Fall steht er im Dienste einer künstlerischen Vermittlung des Inhaltes eines Werkes. Johannes entzieht sich weitgehend diesen Kriterien. Der Autor – derzeit nicht bekannt und hinterm Werk verschwindend. Künstlerische Überhöhung – nicht erkennbar. Wirkung des Textes stellt sich auf völlig anderen Wegen ein. Bindung an Geschmacksrichtung? Der Text ist dem Überzeitlichen verpflichtet. Was hervorsticht, ist die Nähe zum Stil des Sinnbildhaften, wie es in Gleichnissen vorliegt, und eine Knappheit in der Vermittlung des Inhaltes. Beide zwingen den Leser unmittelbar in eine gedankliche Auseinandersetzung mit dem Text, allem voran das Sinnbildhafte.
Statt der Gleichnisse bei den Synoptikern stehen bei Johannes die Wundertaten Jesu; sie sind ein Zeichen der Verwandlung, zu der der Einzelne die Voraussetzung seines Glaubens, Jesus aber die Wirkung beisteuert.
Die Wunder sind oft Auslöser von Streitgesprächen zwischen Jesus und seiner verfassten Gegnerschaft, den Pharisäern. Sie dienen dazu, einerseits den Glauben des Alten Bundes dort zu kritisieren, wo er als überholt erscheint, da erstarrt im Formalismus des Gesetzes und tot nach und durch den Geist des Buchstabens. Die Streitgespräche dienen aber auch dazu, Jesu weit über die Gruppe der Pharisäer hinaus zielende Heilsvorstellungen zu transportieren. Überragendes Stilelement aber bleibt die Bildersprache des Evangeliums, auch weil sie im Dienste eines Paradigmenwechsels des Bewußtseins steht, wie wir an Johannes Kap. 16, 25 und 29, noch deutlicher ausgesprochen in Matthäus Kap. 13, 10 ff und 18 ff, erkennen können.
Diese Belegstellen besagen:
1. |
Zur Zeit Jesu war die auf Verstand und Vernunft gegründete Sprache unserer Zeit dem Volke noch nicht so selbstverständlicher Besitz wie uns Heutigen. Dafür hatte es noch einen natürlichen Zugang, d. h. einen über Empfindungen und Gemüt, zu Bild und Symbol, was umgekehrt uns heute eher schwerfällt. Letzteres können Sie, lieber Leser, leicht überprüfen. Sie brauchen nur mal ein paar mittelschwere Gleichnisse aus Matthäus Menschen ohne biblische Kenntnisse und unter Ausschluss von Zuhilfenahme von Interpreten vorlegen und Sie werden feststellen, wie schwer sich der heutige Mensch mit ihrem Verständnis tut. |
Die Jünger Jesu hatten Zugang zu beidem: zum Bildhaften, als Erbe der Vergangenheit, zu Verstand und Vernunft dank individueller Prädis position für die kommende Zeit und dank Jesus, weil geschult im Gespräch mit ihm.
2. |
Die doppelte Bedeutung und Wirkung des Bildhaften |
Aus den genannten Stellen geht hervor, dass die Intelligenz, das Erkenntnisvermögen der Menschheit, eine Entwicklung durchmacht, aber eben nicht in linearer Weise, wie sich das die heutige Wissenschaft so schön vorstellt. Der Gegenbeweis wurde oben ja bereits angedeutet. Wäre es nicht so, dann dürfte eine Interpretation von Gleichnissen aus eigener Kraft uns heute nicht die Probleme bereiten. Tut es aber.
Anlass genug, sich über die Entwicklung modernen Denkvermögens Gedanken zu machen.
Dieses beginnt etwa 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Griechische Literatur und Philosophie bezeugen es. Die Übergänge freilich sind schleichend und dauern Jahrhunderte. So lange hängen die Menschen noch am alten, d. h. am gefühlsmäßigen Auffassen einer Geistes- und Götterwelt über die Plastik, das Bild, den Tanz, den Gesang. Nur in ihren fortschrittlichsten Vertretern, oft dargestellt im Mythos, z. B. des Prometheus, oder in Gestalten wie Oedipus oder Odysseus, meldet sich schon mächtig die neue Zeit, die kommen will und muss:
Eine individuelle Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Welt. Will besagen: Der Einzelne, das Individuum, nabelt sich ab von der Götterwelt, deren Vermenschlichung ja ein erster Hinweis auf diesen Prozess ist, und tritt ihr gegenüber.
Dadurch empfindet er sie mehr und mehr als fremdes Objekt, zu dem er nur über Benutzung seines erwachenden Verstandes in eine neue Beziehung treten kann. Nicht ohne Grund war dies erste Reflektieren die Geburtsstunde der Philosophie in Griechenland.
Durch das Gegenübertreten und eigenständige Denken wurde aber gleichzeitig ein neues Selbst-Gefühl geboren: Das Selbstbewusstsein meldet sich (Beispiel: der den Göttersohn Polyphem, den einäugigen Riesen, schmähende, sich seiner List brüstende Odysseus) und mit ihm das Erleben des eigenen Ich.
Nicht mehr Gruppen-Sippenseele zu sein (bei den Israeliten z. B.: der Vater Abraham und wir/ich sind eins; siehe auch Johannes Kap. 8, 42) bekam zunehmende Bedeutung. Christus, das Welten-Ich-bin (siehe seine Ich-bin-Worte) will den Menschen mitnehmen in diese Entwick lung einer nächsten Bewusstseins-Stufe, weil er nur so in ihm würde auferstehen können. Indem der Mensch lernt, das Sippen-Bewusstsein zu ersetzen, und sagen und erleben lernt „Christus, der Vater und ich sind eins“ (Johannes Kap. 17, 21).
Dies neue Denken brauchte Zeit, sich zu entwickeln, und konnte sich nur mühsam gegen das alte Gruppen-Empfinden und Bild-Empfinden durchsetzen. Die Menschen sträuben sich gegen das Neue, weil es ungewohnt ist und Mühe macht. Das war und ist zu allen Zeiten so, wie wir selbstkritisch einräumen müssen.
Jesus geißelt diese Unlust (Matthäus Kap. 13, 13ff) mit diesen Worten: „… denn mit sehenden Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören/verstehen sie nicht“. Um in 18 ff, also anschließend, seinen Jüngern das Gleichnis in unserer heutigen, verstandes- und vernunftgeprägten Sprache zu erklären!
Seitdem sind ca. 2000 Jahre vergangen und haben wir es in der Ausbildung der Ratio und ihrer Ableger (Naturwissenschaft, Technik, Kapitalismus etc.) so herrlich weit gebracht, dass sich schon gewaltige Schattenseiten zu zeigen beginnen. Es zeigen sich Kräfte, die das Leben selbst bedrohen, weil sie Erstarrung und Tod in sich tragen. Das einer solchen Entwicklung zugrunde liegende Denken muss erneut belebt werden, wollen wir nicht in einer Sackgasse enden und uns Menschen eine Zukunft sichern.
Dabei sollten wir vom Erreichten das Positive bewahren, so dieses von der Verstandes-Kultur:
- das logische Schlussfolgern
- den Respekt vor Tatsachen
- die Genauigkeit
Die Vernunft könnte uns lehren, eine neue Gefühls-Kultur von unbewusster Emotionalität zu unterscheiden und den Willen unter die Kontrolle dieser Werte zu nehmen.
Gleichzeitig sollten wir unser Denken beleben durch Erweitern um diese Qualität: Bild und Bildhaftes meditativ so auf uns einwirken zu lassen, bis, nach entsprechender Zeit, die darin enthaltene geistige Botschaft in unserem Bewusstsein aufleuchtet. Denn wenn Gott existiert, dann existiert er auch als eine Kraft, zu der wir grundsätzlich Zugang haben müssen.
Ohne die Errungenschaften des Verstandes aufzugeben und damit eine Gabe der in Gott gründenden Evolution, müssen wir diese Bewusst seins-Stufe heben auf die nächst höhere durch Verlebendigung.
Nichts anderes ist im Johannes-Evangelium angelegt und erfüllt somit die von uns bereits erkannte Aufgabe des Fortwirkens des Evangeli ums. Zwei Beispiele sollen das veranschaulichen und den Sinn für ein Verstehen des Evangeliums wecken.
1. Beispiel:
In Kapitel 2, Reinigung des Tempels, gibt uns Johannes selbst ein Beispiel, wie bei ihm Stil und Verstehen des Textes ineinander verzahnt sind und man dennoch zu einem Verständnis kommen kann: In Vers 19 fordert Jesus die Juden (= Pharisäer) auf, den Tempel abzubre chen, denn in drei Tagen wolle er ihn wieder aufrichten. Das nehmen die Juden wörtlich und verstehen es demzufolge falsch. Die richtige Antwort gibt der Autor selbst: „Er (Jesus) aber redete von dem Tempel seines Leibes und von seiner Auferstehung von den Toten.“
Zum Verständnis der drei Tage muss man wissen, dass, nach Vorstel lung der älteren Menschheit, der gestorbene Mensch sich erst nach drei Tagen mit seinen Wesensgliedern von der Erde löst und in die geistige Welt eingeht, daher auch die Regel, nicht vor Ablauf des dritten Tages zu bestatten.
Ich möchte den kennenlernen, der an anderen, entsprechenden Stellen des Evangeliums ohne Vorbildung oder langjährige Vorarbeit in der Lage wäre, auf Anhieb die richtige Antwort auf ein solches hermetisches Bild zu geben.
Und doch ist es nicht mehr, aber auch nicht weniger, wozu uns das Johannes-Evangelium auffordert, denn in aller Regel wird in ihm die Antwort auf solche Rätsel nicht vorgegeben.
Finden wir sie nicht selbst eines Tages oder lassen uns von den Ant worten anderer so weit überzeugen, dass es ist, als hätten wir sie selbst gefunden, so bleibt uns nicht nur deren Sinn verschlossen, sondern das Evangelium kann seine eigentliche Kraft an uns nicht entfalten: seine unsere Seele verwandelnde Wirkung.
Man sieht, wie der Stil bei Johannes kein literarisches Mittel ist, sondern im Dienst einer höheren Aufgabe steht. Vielleicht wird jetzt noch verständlicher, warum am Beginn meines Buches der Satz steht „ich will, dass er bleibe …“
Christus selbst hat dem Evangelium nach Johannes eine menschenbildende, menschenformende Aufgabe zugewiesen; sein Geist ist in besonderer Weise in ihm gegenwärtig, heute nicht weniger denn je, eher mehr, weil wir diesen Geist bitter benötigen im Kampf der Überwindung des Materialismus. Weil Er will, dass wir leben und eine Zukunft haben.
Nichts ist daher näherliegend, als dass der Lieblingsjünger der Verfasser dieses Textes ist und vom Geist Christi unmittelbar inspiriert wurde, dass es daher aber abwegig ist, anzunehmen, dass er von einer Redaktion verfasst worden sein könnte. Die mag in der einen oder anderen Abschrift daran herumhantiert haben. Entscheidend ist doch dieses: Ist der voranstehend besprochene Stil erkennbar, d. h. steht er im Zusammenhang mit den spirituellen Aussagen des Text-Ganzen oder nicht?
2. Beispiel
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass hermetische Stellen oft eine Entsprechung, eine Art Schlüssel zum Verständnis, im Text-Ganzen des Johannes haben. So etwas liegt auch vor in der Kreuzesszene, wo der sterbende (Kap. 19, 28) Jesus bittet: „Mich dürstet!“
Wo ist im Text-Ganzen die Rede vom Durst-Löschen, vom Wasser, welches den Durst löscht? Das ist in Kapitel 4, 10 und 14, Jesus und die Samariterin.
Dort ist vom Wasser des Lebens die Rede, welches Jesus zu spenden vermag und das den Durst des Menschen für immer zu stillen in der Lage ist.
Das löst die Frage aus, warum dürstet Jesus am Kreuz, und die nächste Frage, jedenfalls nach dem Gesetz der Konsequenz (siehe unsere Überlegung zur Rolle der Bewusstseins-Stufe): Der, der für uns Menschen den köstlichsten Durstlöscher bereithält, nämlich den Geist seines Wortes, was löscht denn seinen Durst?!
Dass dies keine irdische Substanz sein kann, analog zu oben, werden Sie nun selbst empfinden, selbst wenn von Essig die Rede ist, den man ihm reichte. Doch davon später.
Die weitere Suche nach der Antwort erfordert nun wieder ein Vorstel len und Denken, die über dem rein Verstandlichen angesiedelt sind. Von Empfinden war nicht ohne Grund die Rede; es belebt unser Denken, macht es durchlässiger, dem Wasser vergleichbar. Nicht ohne Grund spricht Jesus, als er das Kommen des Heiligen Geistes ankündigt, von „Strömen lebendigen Wassers“, welche fließen werden (Johannes Kap. 7, 38-39). Mit ihrer Hilfe erreichen wir auf meditativem Weg eine höhere Bewusstseins-Stufe, weil auf ihr das Geistige in uns einfallen kann. Wir müssen dabei zum Gefäß werden, indem wir dazu die notwendige geistig-seelische Haltung in uns erzeugen: Konzentration ohne Verkrampfung durch Freimachung von allen von außen kommenden Einwirkungen, plus Herstellung reiner Demut und Erzeugung von Ruhe und Abwarten-Können; denn im Geistigen, welches nicht selbst gemachte Theorie ist, werde ich zum Empfangenden und ein anderer, ein Größerer als der Mensch, wird zum Gebenden, zum Schenkenden.
Das Warten-Können und sich immer wieder Neueinstellen schützt vor allzu schnellen Antworten, die der Unrast der Phantasterei entspringen, möglichst schnell zu einer Lösung zu kommen. Denn merke auf: Dies ist kein Wettbewerb menschlicher Eitelkeiten und nicht die schnellste Antwort hat Gewicht, sondern die, die uns am meisten berührt, geistig und seelisch, die anstehende Fragen und Widersprüche auflöst, sodass unser Innerstes, unser Ich, nicht unser Ego, zustimmen kann. Denn in ihm ist ein Stück des Welten-Ich, des Christus in Form des Heiligen Geistes, anwesend.
So löste sich für mich auch das Rätsel des Durstes Christi, auch wenn die Antwort manchem als wenig spektakulär erscheinen mag; doch dürfen solche menschlichen Kriterien hier keine Rolle spielen! Christus dürstet nach Menschen, die bereit und willens sind zu seiner Nachfolge.
Diese Bereitschaft steht heute noch auf schwachen Füßen, ja trifft in der Mehrzahl der Fälle auf totale Ablehnung. Sinnbilder für diese Positionen sind die Substanzen, die dem sterbenden Herrn von den Soldaten gereicht werden: Galle bei Matthäus, Essig bei Johannes.
Die Galle verweigert Jesus, vom Essig jedoch nimmt er. Was will uns das sagen? Mit der Galle drückt Matthäus die völlige Überforderung des Menschen aus, auf die größte Liebestat der Weltgeschichte angemessen zu reagieren!
Johannes dagegen weiß aus tieferer Einsicht in die geistigen Welten, dass die gegenwärtige Antwort des Menschen mit dem Essig zwar noch ein großes Ungenügen ausdrückt; dass andererseits Christus mit der Annahme des Essig nicht nur dessen Nähe zur Symbolkraft des Weines andeuten will, sondern uns Menschen dieses sagen: „Das ist zwar noch nicht eure wahre, menschenwürdige Antwort auf meine Bitte, mir zu trinken zu geben, d. h. mir nachzufolgen, aber ich habe solches Vertrauen in euern guten Willen, in eure Kräfte, dass ich euch das Finden des rechten Weges, meine Nachfolge, zutraue in der Zukunft.
Darin drückt sich Jesu Wesen aus: noch im Sterben gibt er seinem Glauben und seiner Liebe in diejenigen Ausdruck, die dabei sind, ihn zu Tode zu quälen.
Bei Matthäus fehlt dieses letzte Liebesbekenntnis des Christus. Daraus lässt sich erahnen, um wie viel tiefer Johannes mit Christus verbunden war als Zeitzeuge und aus Liebe Wissend-Gewordener.
Vielleicht, lieber Leser, empfinden Sie nun besser, wie jedes Wort bei Johannes seine ganz eigene Bedeutung hat und von uns aus dem Dornröschenschlaf erweckt werden will, weil es erst so seine, unsere Seele verändernde, Kraft entfalten kann.
Es war Christus selbst, der darauf hinweisen wollte mit den geheimnisvollen Worten: „ich will, dass er bleibe, bis ich komme.“