Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Japanische Geistergeschichten

Ingwa-Banashi

Der Tengu

Der Wahrsager

Furisodé

Ein Leidenskarma

Hundegeheul

Die Legende vom Yurei-Daki

Das Bild in der Teetasse

Nüchterner Verstand

Ikiryō

Shiryo

Die Fliege

Der Fasan

O-Kamé

Der Fall Chūgōrō

Der Traumfresser

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Lafcadio Hearn

 

Der Traumfresser

 

Japanische Geistergeschichten

 

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Japanische Geistergeschichten

 

 

 

Ingwa-Banashi

(Wirkung eines bösen Karmas)

 

Des Daimyos Weib lag im Sterben; sie wußte, daß es mit ihr zu Ende ging. Seit Frühherbst des zehnten Bunsei hatte sie das Krankenbett nicht mehr verlassen.

Es war der vierte Monat im zwölften Bunsei - was dem Jahre 1829 westlicher Zeitrechnung gleichkommt und die Kirschbäume standen in voller Blüte.

Das Weib des Daimyos dachte an die Kirschbäume in ihrem Garten und an den herrlichen Frühling draußen. Sie dachte an ihre Kinder. Sie dachte an ihres Gatten zahlreiche Nebenfrauen und vor allem an die neunzehnjährige Yukiko.

»Mein geliebtes Weib«, sagte der Daimyo, »du hast viel, viel gelitten in diesen drei langen Jahren. Wir haben alles getan, was in unseren Kräften stand, haben bei dir gewacht Tag und Nacht, haben für dich gebetet und oft und oft gefastet um deinetwillen. Aber trotz unserer Liebe und Sorgfalt und der Bemühungen unserer besten Ärzte will es jetzt scheinen, als ob es mit deinem Leben zu Ende ginge. Wahrscheinlich ist unser Leid größer als das deinige, daß du die Stätte verlassen wirst, von der der Buddha sagte: Die Welt, sie ist ein brennendes Haus.‹

»Ich werde anordnen, gleichgültig, was es auch kosten möge, daß die Priester alle religiösen Riten vollziehen sollen, die dir von Nutzen sein können für dein nächstes Dasein auf Erden; wir alle werden ohne Unterlaß für dich beten, daß du nicht mögest wandern müssen in den lichtlosen Abgrund des Totenreiches, sondern sogleich nach dem Hinscheiden ins Paradies gelangst und die Buddhaschaft erringst.«

Der Daimyo hatte voll Liebe zu seinem Weibe gesprochen und sie dabei zärtlich gestreichelt.

Die Augen geschlossen, antwortete sie ihm mit einer Stimme, so fein und leise wie das Schwirren zarter Insektenflügel:

»Ich danke dir, danke dir aus vollem Herzen für deine lieben Worte ... Ja, es ist wahr, was du sagtest: Ich bin krank gewesen drei lange Jahre, und ihr habt mich gepflegt mit Sorgfalt und treuester Hingabe. Warum sollte ich jetzt straucheln auf dem einzigen wahren Pfad, jetzt im Angesicht des Todes? ... Vielleicht ist es nicht recht, in dieser Stunde an irdische Dinge zu denken, aber ... ich habe eine Bitte auf dem Herzen. Nur eine einzige! ... Ruf mir Yukiko; du weißt, ich liebe sie wie eine Schwester. Ich will mit ihr über Dinge sprechen, die den Haushalt betreffen.«

Yukiko kam auf den Befehl des Daimyos herbei und kniete auf seinen Wink neben dem Bette nieder.

Die Sterbende schlug die Augen auf, blickte Yukiko an und sagte:

»Du bist hier, Yukiko? ... Ich bin so froh, daß ich dich noch einmal sehen kann, Yukiko! ... Komm näher zu mir, damit du mich hören kannst, ich bin nicht imstande, laut zu sprechen ... Yukiko! Ich muß sterben. Ich hoffe, du wirst in allen Dingen unserem lieben Gatten treu ergeben sein ... denn ich will, daß du meine Stelle einnimmst, wenn ich nicht mehr bin ... Ich hoffe, er wird dich immer lieben, hundertmal mehr noch, als er mich geliebt hat - und daß er dich bald, bald in einen höheren Rang erheben wird - und dich zu seiner wirklichen Gattin machen. Und ich bitte dich, umgib ihn mit deiner ganzen Liebe; laß es nicht geschehen, daß eine andere dir sein Herz stiehlt ... Das ist es, was ich dir sagen wollte, meine geliebte Yukiko ... Hast du alle meine Worte verstanden?«

»O du meine liebe Herrin«, wehrte Yukiko ab, »ich bitte dich, sprich nicht so seltsam zu mir! Du weißt wie Ich: ich bin arm und stehe tief im Range. Wie könnte es sein, daß ich jemals meine Augen zu ihm erheben dürfte in der Hoffnung, seine Gattin zu werden!«

»Nein, nein!« widersprach die Sterbende; »es ist jetzt keine Zeit, Worte äußerlicher Höflichkeit zu tauschen, wir müssen zueinander wahrhaftig sein. Du wirst nach meinem Tode sicherlich meine Stelle einnehmen. Und ich versichere dir: Ich wünsche, daß du sein Weib wirst. Ja, das wünsche ich, Yukiko. Wünsche es fast heißer noch, als die Buddhaschaft zu erringen ... Ach, Yukiko, beinahe hätte ich vergessen: Ich habe noch eine Bitte! Du weißt, im Garten steht ein Yae-Zakura, ein Kirschbaum mit doppelten gefüllten Blüten, den sie hergebracht haben vom Berge Yoshino in Yamato im vergangenen Jahre. - Er steht jetzt in voller Blüte. - So gerne möchte ich noch einmal seine Pracht sehen. - In einer kleinen Weile werde ich nicht mehr sein; ich muß ihn noch einmal sehen, ehe ich sterbe. - Ich möchte, daß du mich in den Garten trägst ... jetzt, jetzt, Yukiko, ... damit ihn meine Augen sehen ... Ja, auf deinen Schultern, Yukiko ... nimm mich auf deine Schultern ...«

Immer klarer und lauter war die Stimme der Sterbenden geworden, als habe die Sehnsucht ihr neue Kräfte gegeben; dann brach sie plötzlich in heftiges Weinen aus.

Regungslos blieb Yukiko auf den Knieen, unschlüssig, ob sie gehorchen solle, bis der Daimyo durch Neigen des Kopfes seine Einwilligung gab.

»Es ist ihr letzter Wunsch hier auf Erden«, sagte er. »Sie hat immer die Kirschblüten über alles geliebt, und ich weiß, sie sehnte sich danach, den Yamatobaum noch blühen zu sehen. Erfülle ihre Bitte, liebe Yukiko.«

Wie eine Amme ein Kind auf den Rücken nimmt, daß es sich an ihr halte, so bot jetzt Yukiko der Sterbenden ihre Schultern und sagte:

»Herrin, ich bin bereit; bitte, sag mir, wie ich dir am besten helfen kann.«

»Ja. So. So ist’s gut«, flüsterte die Sterbende und richtete sich mit fast übermenschlicher Anstrengung auf, um sich an Yukikos Schultern anzuklammern.

Dann, als sie aufrecht stand, ließ sie rasch ihre Hände über Yukikos Achseln hinweggleiten in das Busenkleid hinein, faßte die beiden Brüste des Mädchens und brach in ein scheußliches, grauenhaftes Lachen aus.

»Jetzt ist mein Wunsch erfüllt!« kreischte sie. »Mein Wunsch nach den doppelten Kirschblüten, wenn sie auch nicht auf dem Baum im Garten wachsen! - Ich hätte nicht sterben können, wär’ mir dieser Wunsch nicht in Erfüllung gegangen. - Jetzt hab’ ich alles. - Oh, welche Wonne!«

Bei diesen Worten fiel sie schwer gegen das zusammenbrechende Mädchen und war tot.

Sofort sprang alles zu, die Leiche von Yukikos Schultern zu lösen und sie auf das Bett zu legen, aber, seltsam, so leicht es scheinen sollte - es war unmöglich: Die erstarrten Hände hatten sich auf unerklärliche Weise in die Brüste des Mädchens festgekrallt - waren wie verwachsen mit dem frischen, lebenden Fleisch.

Yukiko verlor das Bewußtsein vor Schmerz und Entsetzen.

Man holte Ärzte.

Sie konnten den Vorgang nicht erklären.

Es gab kein Mittel, die Hände der Toten von dem Körper ihres Opfers zu lösen; zog man fest an ihnen, so trat Blut aus den Brüsten. Doch nicht, weil die Finger verkrampft gewesen wären! Nein, die Handflächen waren auf unbegreifliche Weise mit dem Fleische der Brüste verbunden und verwachsen.

 

Damaliger Zeit lebte in Yedo ein Fremder - ein holländischer Chirurg. Man ließ ihn holen, und nach langer, genauer Untersuchung sagte er, der Fall sei nicht zu erklären und die einzige Rettung für Yukiko bestünde darin, unverzüglich die Hände der Leiche abzuschneiden. Der Daimyo willigte ein, und die Hände wurden amputiert. Bald darauf wurden sie schwarz und trockneten ein - wie die Hände eines Menschen, der lange im Grabe gelegen hat.

Doch damit sollten die Schrecken nicht zu Ende sein ...

Wenn auch blutlos und mumienhaft, waren die Hände dennoch nicht tot.

Zu gewissen Zeiten begannen sie sich zu regen - heimlich, verstohlen, wie große graue Spinnen.

Und nachts darauf, immer wenn die Stunde des »Ochsen« kam, die zweite Stunde nach Mitternacht, in der nach alter japanischer Überlieferung die Gespenster der Toten freigegeben sind - da krampften sich die Finger zusammen, quetschten die Brüste und folterten Yukiko. Erst um 4 Uhr morgens, um die Stunde des Tigers, ließ die Pein nach.

Yukiko hat sich das Haar abgeschnitten und ist eine buddhistische Nonne geworden. -

Ihr Ordensname war Dassetsu.

Sie hat ein Ihai - das ist eine Totentafel -, die das Kaimyo ihrer verstorbenen Herrin aufwies: »Myo-ko-In-Den-Chizan-Ryo-Fu-Daishi«, selbst angefertigt und trug es bei sich bei allen ihren Wanderungen. Vor ihm bat sie jeden Tag die Tote demütig um Verzeihung und hielt die buddhistischen Riten ab, auf daß der eifersüchtige Geist Ruhe finden möge.

Aber das böse Karma, das die wahre Ursache alles dieses Leidens war, beanspruchte lange Zeit, bis es sich erschöpfte.

Jede Nacht um die Stunde des »Ochsen« quälten die Hände Yukiko länger als siebzehn Jahre hindurch - so berichteten die Leute, denen Yukiko ihre Geschichte zuletzt eines Abends im Hause des Noguchi-Dengo-Zayemon im Dorfe Tanaka, im Distrikte Kawachi, in der Provinz Shimotsuke, erzählte, wo sie einmal übernachtete. Das war im dritten Jahr Kokwa (1846).

Seitdem hat man von Yukiko nichts mehr gehört.

Der Tengu

 

In den Tagen des Kaisers Go-Reizei lebte ein frommer Priester im Tempel zu Saito auf dem Berge, den sie Hiyei-Zan nennen, in der Nähe von Kyōto.

Eines Sommermorgens kehrte dieser Priester nach einem kurzen Aufenthalte in der Stadt zum Tempel zurück und schlug den Weg über Kita-no-Ojy ein, da sah er, daß ein paar Knaben sich damit vergnügten, eine Gabelweihe, die sie mit Schlingen gefangen hatten, zu mißhandeln, indem sie sie mit Ruten schlugen.

»Oh, das arme Geschöpf!« rief, von Mitleid ergriffen, der Priester; »warum quält ihr denn den unglücklichen Vogel so, Kinder?«

»Wir wollen ihn töten, weil wir seine Federn haben möchten«, antwortete einer der Knaben.

Mit warmen Worten der Barmherzigkeit überredete der Priester die Kinder, ihm die Gabelweihe im Tausche gegen einen Fächer, den er bei sich trug, zu überlassen, und gab dem Vogel seine Freiheit wieder.

Das Tier war nur leicht verletzt und konnte ohne Mühe davonfliegen.

Glücklich, eine Tat im Sinne der buddhistischen Lehre vom Mitleid mit allen lebenden Geschöpfen vollbracht zu haben, setzte der Priester seinen Weg fort.

Er war noch nicht weit gegangen, da sah er einen fremdartig gekleideten Mönch aus einem Bambusgehölz eiligen Schrittes auf sich zukommen. Der Mönch grüßte ihn ehrerbietig und sagte:

»Herr, durch Ihr mitleidiges Verfahren haben Sie mir das Leben gerettet; mein heißester Wunsch ist, Ihnen meine Dankbarkeit zu beweisen!«

Erstaunt entgegnete der Priester:

»Wahrhaftig, ich kann mich nicht entsinnen, Sie jemals früher gesehen zu haben. Möchten Sie die Güte haben, mir mitzuteilen, wer Sie sind?«

»Es ist freilich kein Wunder, daß Sie mich in dieser Gestalt nicht wiedererkennen«, antwortete der Mönch. »Ich bin die Gabelweihe, die jene Knaben in der Nähe von Kita-no-Ojy gequält haben. Und was könnte es Wertvolleres geben als das Leben! Daher möchte ich mich Ihnen auf irgendeine Weise erkenntlich zeigen. Wenn es etwas gibt, das Sie gerne besäßen, wüßten oder zu sehen wünschen - kurz, irgend etwas, was ich für Sie tun könnte, so bitte, sagen Sie es mir; ich habe das Glück, die ›Sechs übernatürlichen Kräfte‹ der Magie, wenn auch in unvollkommenem Maße, zu beherrschen, und bin daher in der Lage, Ihnen fast jeden Wunsch, den Sie äußern, erfüllen zu können.«

Als der Priester diese Rede vernahm, wußte er sofort, daß er mit einem »Tengu« zu tun hatte, und erwiderte freimütig:

»Mein Freund, ich habe seit langem auf die Dinge dieser Welt verzichtet; weder Ruhm noch Vergnügen hat irgendwelche Anziehungskraft für mich. - Nur mein ferneres Schicksal, insoweit es meine zukünftige Wiederverkörperung betrifft, liegt mir am Herzen; doch das ist eine Angelegenheit, in der mir niemand helfen kann. Deshalb ist es überflüssig, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. - Nun wüßte ich ein Ding, das mir wünschenswert erscheint: Ich habe mich mein ganzes Leben lang gegrämt, daß es mir nicht vergönnt war, in Indien auf Erden zu wallen, als Buddha, der Herr, unter den Menschen weilte, und daß ich nicht mit unter der großen Versammlung war, als er auf dem heiligen Berge Gridhara Kuta predigte. - Ach, mein Freund, wäre es doch möglich, über Zeit und Raum zu stehen wie die Bodhisattvas, um einen Blick tun zu können auf jene wunderbare Versammlung! Wie glücklich wäre ich!«

»Nun, diesen frommen Wunsch«, rief der Tengu, »kann ich Ihnen leicht erfüllen. Ich erinnere mich genau der Versammlung auf dem Geierberge und kann bewirken, daß alles vor Ihren Augen neu ersteht, was sich damals begeben hat, und zwar mit sämtlichen Einzelheiten. Es ist unsere größte Freude, solche heilige Dinge wieder aufleben lassen zu dürfen. Kommen Sie, folgen Sie mir hier auf diesem Wege.«

Der Priester ließ sich bereitwillig zu einem Platze führen, der, von Pinien umsäumt, am Abhang eines Hügels lag.

»Sie müssen nun«, sagte der Tengu, »hier eine Weile warten und dabei die Augen geschlossen halten. Öffnen Sie sie erst, wenn Sie die Stimme des Buddha hören, wie er das große Gesetz vorträgt. Dann können Sie um sich blicken. Wenn Sie aber die Erscheinung des Buddha schauen, dann dürfen Sie sich unter keinen Umständen von Gefühlen überwältigen lassen; Sie dürfen sich weder verbeugen, noch dürfen Sie beten oder sich zu Ausrufen hinreißen lassen, wie: ›So ist es, o Herr‹, oder: ›O du Gesegneten. - Sie dürfen überhaupt kein Wort sprechen. Sobald Sie auch nur das geringste Zeichen der Ehrfurcht von sich geben, trifft mich ein Mißgeschick.«

Voll Freude versprach der Priester alles, und der Tengu entfernte sich eilig, um, wie es den Anschein hatte, seine Vorbereitungen zu treffen.

 

Der Tag verblaßte, die Dämmerung senkte sich hernieder, die Nacht kam, und geduldig wartete der Priester, die Augen geschlossen, unter einem Baume. Endlich ertönte eine Stimme über ihm - eine wundervolle Stimme, tief und klar wie das Dröhnen einer Glocke - die Stimme des Buddha Sakyamuni - und verkündete die Lehre vom Wege der Vollendung.

Der Priester schlug die Augen auf und sah ringsum Strahlenglanz; alle Dinge waren verändert: die Stelle, auf der er stand, in den Geierberg verwandelt, der in Indien Gridhwa Kuta heißt, und die Gegenwart war zurückversetzt in die Zeit des Sûtra der Lotos des Guten Gesetzes. - Die Pinien waren verschwunden, und statt ihrer standen seltsam aussehende Bäume umher, aus den »Sieben kostbaren Stoffen« gebildet, mit Blättern und Früchten aus Edelsteinen; der Boden war bedeckt mit vom Himmel gefallenen Mandarawa- und Manjuschaka-Blumen und die Nacht erfüllt mit Wohlgeruch, dem Glanze und der Süßigkeit der großen Stimme.

Und hoch zum Himmel ragend, strahlend wie der Mond, der auf die Erde herabscheint, auf dem Löwenthrone saß der Erhabene, den Jünger Samantabhadra zu seiner Rechten und den Jünger Manjusri zu seiner Linken. Und vor ihm versammelt, sich in zahllosen Reihen bis in die tiefsten Fernen des Weltraums verlierend, einer Flut von Sternen gleich: die Heerscharen der Mahasattvas und Bodhisattvas mit ihrem endlosen Gefolge von Göttern, Dämonen, Nagas, Kobolden, Menschen und den Wesen, die nichts Menschliches mehr an sich haben. - Den Jünger Sariputra sah der Priester, den Jünger Kasyapa und den Ananda samt allen Schülern des Tathagata, - dann die Könige der Halbgötter, die Könige der vier Himmelsrichtungen, die wie Säulen aus Feuer waren, dann die großen Drachenkönige, die Ghandarven und Garudas, die Gottheiten der Sonne, des Mondes und des Windes und die schimmernden Myriaden aus Brahmas Himmel. Und unfaßbar viel weiter noch als dieser Kreis der Glorie enthüllten sich dem Schauen des Priesters, sichtbar gemacht durch einen einzigen Lichtstrahl, der aus der Stirne des Erhabenen hervorbrach und die Grenzen der Urzeit erhellte, die achtzehnhunderttausend Buddhagefilde des östlichen Horizonts mit all ihren Bewohnern und den Wesen, die sich auf den »Sechs Stufen des Daseins« befinden, und sogar die einstigen Gestalten der erloschenen Buddhas, die hinübergegangen sind ins Reich des Nirvana.

Diese und alle Götter und alle Dämonen sah der Priester sich verneigen vor dem Löwenthrone; und er hörte wie Meeresbrandung die Scharen lobpreisen das Sûtra der Lotos vom Guten Gesetz. Da vergaß er - vom Wahne erfaßt, er stünde leibhaftig vor dem Buddha -, was er dem Tengu gelobt hatte, warf sich in Anbetung nieder, Tränen der Liebe und Dankbarkeit in den Augen, und rief mit lauter Stimme: »Oh, du, der du gesegnet seist.« -

Wie von einem Erdbeben erfaßt, zerbarst die Vision, und der Priester sah sich wieder allein in der Finsternis, auf dem Grasboden des Hügelabhanges kniend.

Eine unsägliche Traurigkeit ob des Verlustes und wegen seiner Gedankenlosigkeit, die ihn veranlaßt hatte, dem Tengu das gegebene Versprechen zu brechen, befiel den Priester.

Als er, tief in Sorgen, wieder heimwärts wanderte, erschien ihm noch einmal der gespenstische Mönch und sprach zu ihm, voll des Vorwurfs und des Schmerzes:

»Da du dein Versprechen nicht gehalten hast und dich von Gefühlen überwältigen hast lassen, hat sich der Gohotendo, der Hüter der Lehre, vom Himmel auf uns herabgestürzt und hat uns mit Furcht erfüllt, indem er uns anschrie: ›Wie könnt ihr euch vermessen, auf solche Weise einen frommen Mann in Täuschung zu verstricken?!‹ - Da sind die anderen Mönche, die ich versammelt hatte, in Angst geflohen, mir aber ist eine meiner Schwingen zerbrochen, so daß ich jetzt nicht mehr fliegen kann.«

Mit diesen Worten verschwand der Tengu für immer.

Der Wahrsager

 

Ich kannte einst einen Wahrsager, der wirklich und echt an die Zuverlässigkeit der Wissenschaft glaubte, die er sich zum Berufe erkoren hatte.

Diese Überzeugung war das Resultat vieljährigen und sorgfältigen Studiums der altchinesischen Philosophie; er hatte sie sich erworben, lange bevor er seine Kunst praktisch ausübte.

Als junger Mann hatte er in den Diensten eines reichen Daimyos gestanden, dann kamen die sozialen und politischen Umwälzungen von Meiji, und wie Tausende andere Samurais war er eines Tages brotlos geworden und ohne Erwerb.

So kam es, daß er den Beruf eines Wahrsagers ergriff - eines »Uranaiya«, der mühselig zu Fuß von Stadt zu Stadt wandert und kaum öfter als einmal im Jahre seine Heimat wiedersieht.

Er hatte als Wahrsager, wenn man es so nennen darf, Glück und Erfolg - wie ich glaube, dank seiner Ehrlichkeit und Offenheit - vielleicht auch wegen eines gewissen höflichen und gewinnenden Auftretens, das unwillkürlich Vertrauen einflößte.

Das System des Wahrsagens, dessen er sich bediente, war das der alten chinesischen Schule und fußte auf dem Buche Yi-King; zum Prophezeien benützte er ein Spiel Ebenholzwürfel, aus denen man sämtliche vorgeschriebenen chinesischen Hexagramme zusammensetzen konnte. Bevor er wahrsagte, verrichtete er stets im tiefsten Ernste ein Gebet an die Götter.

Diese Methode, so sagte er, sei unfehlbar, jedoch nur in der Hand eines Meisters.

Er gab mir gegenüber offen zu, daß er sich häufig genug geirrt habe, »aber stets«, so sagte er, »lag dann der Fehler an mir; ich hatte eben gewisse Textstellen mißverstanden oder die Diagramme falsch gedeutet.«

Um ihm volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, stelle ich fest, daß alles, was er mir selbst weissagte, buchstäblich eingetroffen ist, und zwar so erschütternd genau, daß es mich heute noch mit Grauen erfüllt.

Es ist eine eigene Sache, das mit der Wahrsagerei; man mag darüber lächeln, man mag äußerlich sich darüber empören - aber etwas wie ein nicht loszuwerdender, ererbter, jahrtausendalter Aberglaube lauert versteckt in fast allen Menschenseelen - wartet nur auf die Gelegenheit, sich zu offenbaren; einige verblüffende Ereignisse und heißes Hoffen auf ein günstiges Schicksal oder bange Furcht vor drohendem Unheil nimmt unser Herz gefangen.

Das Schicksal vorher zu wissen wäre ein namenloses Unglück. Man stelle sich vor, man wüßte, ohne zweifeln zu können, es stünde einem binnen zweier Monate etwas Unabwendbares, Gräßliches bevor!

Als ich den Uranaiya zum erstenmal sah - in Izumo -, war er bereits ein alter Mann, obwohl er bedeutend jünger erschien.

Später traf ich ihn in Osaka, in Kioto und in Kobe. Wiederholt hatte ich versucht, ihn zu überreden, die kältesten Monate des Winters in meinem Hause zuzubringen, denn er verfügte über ein ungewöhnliches Wissen in allem, was mit alten Überlieferungen zusammenhing, und darüber Näheres zu erfahren wäre für mich von größtem Werte gewesen. Aber das Wandern war ihm derart zur zweiten Natur geworden, und die Liebe zur Ungebundenheit und zigeunerhaften Freiheit hatte ihn so ergriffen, daß er es nie über sich bringen konnte, länger als jeweils zwei Tage mein Gast zu sein.

Jahr für Jahr, gewöhnlich im Spätherbst, pflegte er nach Tokio zu kommen, trieb sich ein paar Wochen in der Nähe der Stadt herum, tauchte bald in diesem, bald in jenem Distrikt auf und verschwand dann ebenso plötzlich.

Bei solchen Gelegenheiten versäumte er nie, mich zu besuchen und mich mit willkommenen Nachrichten aus Izumo - von Land und Leuten - zu erfreuen; auch höchst seltsame kleine Geschenke - meist religiöse Kultgegenstände, die aus berühmten Wallfahrtsorten stammten - brachte er mir mit. Dann plauderten wir gewöhnlich ein paar Stunden miteinander; er erzählte mir von sonderbaren Dingen, die er gesehen oder von denen er gehört hatte, oder wir kamen auf alte Legenden zu sprechen. Oder es war die Rede von der Kunst des Weissagens.