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Sterbefasten

 

 

 

 

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Christiane zur Nieden, geb. 1953, Studium der Romanistik und Geschichte in Münster, 25-jährige Mitarbeit in einer Praxis für Allgemeinmedizin und ehrenamtliche Tätigkeit als Sterbe- und Trauerbegleiterin. Heilpraktikerin für Psychotherapie, Beraterin für Kommunikation am Lebensende, Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. Sie ist verheiratet mit einem Arzt für Allgemein- und Palliativmedizin und Mutter einer Tochter.

Christiane zur Nieden

Sterbefasten

Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit

Eine Fallbeschreibung

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Der Einfachheit halber wird häufig nur das männliche Geschlecht verwendet; gemeint sind aber natürlich alle Geschlechter.

2., aktualisierte und korrigierte Auflage 2017

Lektorat und Umschlaggestaltung: Franziska Brugger, Frankfurt am Main

Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen,

die Jugendstunden sind, wie lang, wie lang verflossen,

April und Mai und Julius sind ferne,

ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.

Friedrich Hölderlin

Inhalt

Geleitwort

Teil ITagebuch eines Sterbens

1Letzter Atemzug

2Erste Hinweise

3Rosenmontag – der Entschluss

4Gründe

5Veilchendienstag – Gefühlschaos

6Schöner Tod?

7Aschermittwoch – Nagende Zweifel

8Warum ausgerechnet jetzt?

9Klärung

10Zuhause

11Durst

12Aufräumen

13Verabschieden

14Lachen

15Deal mit Gott

16Dauert es noch lange?

17Freunde

18Endlich

Teil IIErläuterungen zum Sterbefasten

19Begriff und Geschichte

20Physiologie des Sterbefastens

21Gute Begleitung und geeignete Orte

Zuhause

Im Heim

Hospiz

22Ärztliche Unterstützung

23Sterbefasten aus Sicht eines Hausarztes

24Die richtige Pflege

Mundpflege

Pflege von Schleimhäuten und Augen

Stuhlausscheidung

Urinausscheidung

Antidekubitusmatratze

25Gelungene Kommunikation

26Anregungen für die verbleibende Zeit

27Suizid?

28Rechtliche Voraussetzungen

Wohlerwogenheit

Freiverantwortlichkeit und Modifizierung der Garantenpflicht

Die neue Gesetzeslage

Patientenverfügung

Vorsorgevollmacht

29Schuld

30Mut

31Schlusswort

32Dank

33Literaturverzeichnis

34Anhang

Geleitwort

Das Thema Sterben und Tod beschäftigt mich seit meiner Kindheit. Vater und Mutter waren Lehrer in einem kleinen Dorf, das einzige Klassenzimmer befand sich in dem Haus, in dem wir auch wohnten, und das grenzte, wie damals üblich, an den Friedhof. Schon früh erlebte ich, auf meinem Lieblingsplatz im Apfelbaum versteckt, viele Beerdigungen mit, und wunderte mich jedesmal: Was war da passiert? Das, was da eingebuddelt wurde, war ja nur ein Teil des Menschen, den ich gekannt hatte – wo aber war der andere? Einmal wurde ein altes Grab ausgehoben, weil ein neuer Toter hinein wollte. Zum Vorschein kam eine völlig unversehrte Puppe. Sie hatte der Schwester meiner Großmutter gehört, die als kleines Mädchen gestorben war. Von der körperlichen Hülle des Mädchens war nichts übriggeblieben – in der Puppe jedoch lebte es mit seiner Liebe zu ihr weiter.

Ende der 1970er Jahre musste ich das lange Dahinsiechen meiner geliebten Mutter mit ansehen, durch die lebensverlängernden Maßnahmen der Schulmedizin qualvoll in die Länge gezogen – verzweifelt und hilflos, weil ich ihr nicht helfen konnte.

Vor einiger Zeit kam ich nach einem Schwächeanfall vorsorglich auf die Intensivstation und verbrachte mehrere Nächte in einem Raum mit einem 93-jährigen Schlaganfallpatienten. Er war halbseitig gelähmt, konnte nicht mehr sprechen und nicht mehr schlucken, wurde künstlich ernährt. Ich fragte mich, ob er wohl damit einverstanden war? Ob er bereit wäre, in diesem Zustand weiter zu leben? Unwillkürlich kam mir dabei der Gedanke an mein Sterben.

Ich bin nach einem Burnout selbst schlaganfallgefährdet, habe inzwischen natürlich sorgfältig eine Patientenverfügung verfasst, die von mir nicht gewünschte, das Sterben nur hinauszögernde medizinische Maßnahmen verbietet. Ich fürchte, wie wohl die meisten Menschen, ein langes Dahinsiechenmüssen mehr, als das Sterben selbst.

Dann erfuhr ich von der Möglichkeit des Sterbefastens, das man letztendlich nach einigen Tagen ohne negative Folgen noch abbrechen kann – wie beim Heilfasten –, wenn der Betroffene zu einer anderen Einsicht kommen sollte.

Inzwischen habe ich die erste Auflage dieses wunderbaren Buches von Christiane zur Nieden gelesen. Sie beschreibt, wie sie, unterstützt durch ihren Mann, Arzt für Allgemein- und Palliativmedizin, den Wunsch ihrer 88-jährigen Mutter erfüllte, mit Hilfe des Sterbefastens ihr Leben zu beenden.

Das Besondere an diesem Sterbefall ist, dass die Mutter nicht sterbenskrank war, sondern nur satt vom Leben, sie hatte „genug gelebt“. Christiane zur Nieden schildert zwar durchaus die Probleme, die die Angehörigen mit dem zunächst als Zumutung empfundenen Entschluss der Mutter hatten, macht aber auch Mut und schafft es manchmal sogar zu erheitern. Sie fordert auf, sich generationsübergreifend und rechtzeitig mit dem Thema Sterben und Tod auseinanderzusetzen, statt es zu verdrängen. Ihr fundiertes Wissen über selbstbestimmtes Sterben durch Fasten kann Sterbewilligen wie auch Angehörigen die Angst vor einem leidensverlängernden, medizinisch hinausgezögerten Sterbevorgang nehmen, denn es zeigt eine Alternative auf.

Ich finde diesen Gedanken ungemein tröstlich: Wenn ich nicht mehr kann und will, kann ich innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes mein Leben ohne Gewaltakt, lediglich durch den Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit, selbstbestimmt beenden.

Und noch etwas: Was unter dem viel strapazierten Begriff „würdevolles Sterben“ zu verstehen ist, hat nicht der Staat vorzuschreiben. Das muss jeder einzelne Mensch für sich selbst entscheiden dürfen.

Ich wünsche dem Buch den großen Erfolg, den es verdient!

Barbara Rütting

Schauspielerin, Autorin, Politikerin und Initiatorin der Petition „Gestorben wird zuhause – Ja zum begleiteten Sterbefasten“1 Marktheidenfeld, Herbst 2016

1http://www.change.org/p/gestorben-wird-zuhause-ja-zum-sterbefasten

Teil I

Tagebuch eines Sterbens

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Portrait meiner verstorbenen Mutter, gezeichnet von meinem Bruder, Michael Görler.

1Letzter Atemzug

27. Februar 2010, sieben Uhr früh. Ich habe gerade das Handy am Ohr, um meiner Tochter Bescheid zu geben, dass sie rasch kommen solle, da es wohl mit Mama zu Ende gehe, als plötzlich Mamas Atmung stockt. Der Puls meiner Mutter verlöscht. Sie liegt ganz still und friedlich da. Dann – nach einer langen Pause – noch ein Atemzug. War das ihr letzter? Nein, es folgt nach einer weiteren Pause noch ein sanfter, flacher Atemzug.

Dann ist alles still.

Mama hat es geschafft. Sie hat ihren letzten Weg gemeistert. Sie ist gestorben, dreizehn Tage nach ihrem freiwilligen Entschluss, das Essen und Trinken komplett einzustellen. Es waren schwierige dreizehn Tage, die wir Zeit hatten, den Entschluss meiner Mutter zu akzeptieren und ihr Sterben zu begleiten. Diese kurze Zeitspanne war für die gesamte Familie so wichtig, so einschneidend, so traurig, so emotionsgeladen, oft sogar sehr fröhlich und insgesamt so erfüllend, dass mir der Gedanke kam, dieses Ereignis später einmal aufzuschreiben. Ich wollte es weitergeben an Menschen, die sich im hohen Alter eventuell auch für diese Art des Sterbens entscheiden sollten, um ihnen Angst zu nehmen und sie auf Probleme vorzubereiten. Und an deren Angehörige und Freunde, die ich mit diesem Buch ermutigen und unterstützen möchte, diesen Weg als Begleiter oder Begleiterin mitgehen zu können.

Mein Entschluss ist geblieben, diese Sterbensphase meiner Mutter mit allen „Pros“ und „Kontras“, mit rechtlichen, moralischen, sozialen, kommunikativen und spirituellen Aspekten aus der Sicht einer begleitenden Tochter weiterzugeben. Jetzt, vier Jahre nach ihrem Tod, ist es endlich so weit oder besser gesagt: bin ich endlich so weit. Ich bin zwar auf dem Gebiet der Sterbebegleitung keine Anfängerin, da ich seit 1989 Sterbende und Trauernde begleite, aber weil es in der eigenen Familie geschah und es um das Sterben meiner eigenen Mutter ging, war auch ich befangen. Die emotionale Neutralität, die ich sonst bei den professionell begleiteten Menschen meist aufbringen konnte, fehlte mir hier. Leider kam erst kurz nach dem Tod meiner Mutter das hervorragende Buch von Boudewijn Chabot und Christian Walther Ausweg am Lebensende. Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken heraus. Wie gut hätte ich es mit seinen vielen Vorschlägen, Hinweisen und Erfahrungen in der Begleitung meiner Mutter gebrauchen können!

Unsere ganze Familie, mein Mann, meine Tochter, meine Schwester, mein Bruder und ich haben alle in unserer höchst eigenen Art und Weise und in unserem individuellen Tempo die unterschiedlichen Trauerreaktionen1 zum Teil bereits in den dreizehn Tagen des Sterbens durchlebt und durchlitten. Vielleicht hat uns die Offenheit und Direktheit, mit der wir schon immer täglich mit Sterben und Tod umgehen, geholfen, die Phasen abzukürzen. Aber ich erinnere mich beispielsweise noch gut an mein Nicht-Wahrhaben-Wollen, meine Wut, mein Unverständnis, mein Verhandeln, bis ich erkennen konnte: Meine Mutter meint es ernst mit ihrem Sterben-Wollen, ich kann und muss es akzeptieren, da wir jetzt handeln müssen. Meine eigenen Reaktionen kamen mir sehr bekannt vor, spiegelten sie doch die erste Trauerphase nach dem Tod eines geliebten Menschen wieder, in der wir ja mehr oder minder nur funktionieren, da es so viele Dinge zu regeln gibt. Die richtige Trauer sollte sich erst später zeigen.

1Trauer- und Sterbephasen nach Verena Kast: 1. Nicht-Wahrhaben-Wollen, 2. Intensive aufbrechende Emotionen, 3. Suchen, Finden, Loslassen, 4. Akzeptanz und Neuanfang.

2Erste Hinweise

Am Tag vor Rosenmontag hole ich morgens meine Mutter mit dem Auto zu uns nach Hause. Wir wollen den Tag gemeinsam verbringen. Sie möchte mir wieder helfen, meine und ihre Wäsche zu falten, eine Tätigkeit, die sie gut auf dem Sofa sitzend erledigen kann. Sie lehnt es heute ab, sich bei uns zu duschen, was sie sonst einmal die Woche tut, da sie mich beim Duschen als Sicherheit in ihrer Nähe haben will. An diesem Sonntag ist sie zu müde. Sie liegt fast den gesamten Tag ausgestreckt auf dem Sofa, kommt zum Suppe Essen kurz in die Küche, klagt aber über Magenschmerzen. Seit Jahren leidet sie darunter, vor allem wenn sie einen leeren Magen hat. Mit vielen kleinen Zwischenmahlzeiten und einem speziellen Magenmedikament (Pantozol) hatte sie die Schmerzen bisher gut in den Griff bekommen, aber heute scheint sie gesundheitlich angeschlagener zu sein als die Tage zuvor.

Unser kleiner Hund Chipie sitzt neben ihr auf dem Sofa, und ich setze mich auch dazu. Nein, Fußpflege solle ich heute nicht machen.

„Sag mal, Christiane, ich will sterben. Wie mache ich das?“, fragt sie mich.

Ich kenne diese Frage. Sie hat sie mir in den letzten drei Jahren des Öfteren gestellt. Wir haben ab und zu über die Möglichkeiten zu sterben gesprochen, aber nie so konkret. Wie oft hat sie gesagt: „Ich bin ja mal gespannt, woran ich sterben werde.“

Heute kontert sie auf jedes Argument, warum sie noch leben solle, warum es sich noch lohne, für wen sie noch in diesem Leben wichtig sei, dass sie noch Zeit habe, mit: „Ja, aber …!“

„Was hab ich denn noch vom Leben? Nichts kann ich mehr selber machen! Zu allem brauch ich deine Hilfe. Immer muss ich dich belasten. Wie alt soll ich denn noch werden? Kann ich nicht alle meine Schlaftabletten auf einmal nehmen? Reicht das nicht?“

„Nein, Mama, das reicht nicht. Davon bekommst du Bauchschmerzen, schläfst zwar lange, erbrichst eher und stirbst vielleicht an deinem Erbrochenen, aber das ist kein sicherer und auch kein schöner Tod.“

„Wie lange dauert es denn noch, bis ich sterbe?“

„Ach, Mama, du bist alt und hast viele Gebrechen, aber keines davon bringt den Tod!“

„Ja, aber kann denn Christoph2 mir nicht einfach eine Spritze geben, und ich bin weg. Das kann er doch als Arzt?“

„Mama, das geht eben nicht! Du weißt doch, wenn das irgendwie rauskäme, dann würde er seine Approbation verlieren.“ Ich erkläre ihr, dass meine Schwester, die ebenfalls Ärztin ist, ihr ebenso wenig eine tödliche Spritze geben darf.

„Außerdem weiß ich nicht, ob die beiden mit der Tatsache, dir die Todesspritze gegeben zu haben, weiterleben könnten. Du kannst nicht von ihnen erwarten, dass sie das tun.“

„Aber wie soll ich es denn machen? Wie würdest du es denn tun, wenn du jetzt nicht mehr leben wolltest?“

Ja, und dann hab ich ihr gesagt, dass ich „einfach“ die Ernährung und die Flüssigkeit weglassen würde.

„Du meinst, wenn ich sterben will, dann sollte ich nichts mehr essen und trinken. Geht das denn? Kann man das überhaupt aushalten und durchhalten?“

Ich erinnere mich noch gut an die vielen Sterbebegleitungen, die ich in meinem Leben schon gemacht habe, bei denen die Sterbenden krankheitsbedingt oder auch selbstgewählt die Nahrungsaufnahme verweigert haben und zum Teil auch die Getränke ausgeschlagen haben. Sie haben diesen Verzicht alle gut ausgehalten. Es schien ihnen in ihrer Situation nicht einmal besonders schwerzufallen.

Ich versuche, meiner Mutter kurz zu erklären, wie der Sterbeprozess in einem solchen Fall abläuft: „Wenn du nichts mehr isst und trinkst, versagen allmählich deine Nieren. Das bedeutet, du würdest immer müder und schläfriger werden bis hin zur Bewusstlosigkeit. Du würdest also sozusagen in den Tod schlafen. Mit guter Mundpflege und liebevoller Betreuung, glaube ich, kann das ein recht angenehmer Tod sein. Früher starben die kranken und sehr alten Menschen an ‚Auszehrung‘. Das war nichts anderes! Da galt diese Sterbeart als normal und war nichts Ungewöhnliches.“

In diesem Moment kommt mein Mann Christoph mit einer Jeans in der Hand die Treppe herunter.

„Christoph, Mama will unbedingt sterben.“

Christoph, der ein wunderbares Verhältnis zu meiner Mutter hat, schaut sie an und sagt: „Ich trau es mich ja kaum zu sagen, aber könntest du mir vorher noch einen Knopf an meine Hose nähen?“

Wir alle drei beginnen von Herzen zu lachen. Bei meiner Mutter mischen sich ein paar Tränen dazu. Dann aber wendet sich Christoph ernsthaft meiner Mutter zu. Auch er hält den Verzicht auf Essen und Trinken für eine würdige Form des selbstbestimmten Sterbens und bestätigt ihr, dass er diese Sterbeart von vielen Patienten gut kennt.

„In vertrauter Umgebung und mit liebevoller Begleitung kann das eine schöne Art zu sterben sein.“

Mein Mann und ich haben gelernt, dass es wichtig ist, geäußerte Sterbewünsche von Patienten ernst zu nehmen und nicht gleich mit Gegenargumenten vom Tisch zu fegen. So halten wir es auch bei meiner Mutter. Wir sprechen in unserer Familie oft über Themen wie Sterben, Tod, Trauer, Beerdigung und Trauerfeier, auch mit meiner Mutter, ebenso wie mit unserer mittlerweile erwachsenen Tochter. Aber wen mag das verwundern: Mein Mann ist Palliativmediziner, der täglich viele Hausbesuche macht, vor allem bei Schwerkranken und Sterbenden, und ich arbeite seit 25 Jahren als Sterbe- und Trauerbegleiterin. So ist auch dieses Gespräch für uns nicht ungewöhnlich, da die Themen Sterben und Tod im Grunde immer irgendwie präsent sind. Auch die Tatsache, dass meine Mutter einen Sterbewunsch äußert, ist nicht erstaunlich. Schon des Öfteren hatten wir darübergesprochen. Mal ernsthaft und nachdenklich, aber auch lustig und ironisch. Irgendwann ist das Thema dann wieder vom Tisch und wir unterhalten uns über alltägliche Begebenheiten. Gegen Abend will Mama noch vor dem Abendbrot wieder nach Hause gefahren werden.

„Mama, ich hol dich dann morgen früh gegen zehn Uhr ab, dann können wir doch zusammen die Karnevalsumzüge im Fernsehen anschauen und Mittagessen zusammen kochen. Einverstanden?“

„Ja, gut, dann noch einen schönen Abend. Bis morgen.“

2Mein Ehemann Christoph ist Allgemein- und Palliativmediziner.

3Rosenmontag – der Entschluss

Es ist zehn Uhr. Ich schließe Mamas Wohnungstür auf und rufe sie. Sie antwortet nicht. Mama liegt im Bett und reagiert nur verzögert auf mein lautes Rufen und auf meine Anwesenheit.

„Was machst du da? Ich wollte dich doch jetzt holen!“

„Ich habe doch gesagt, ich will sterben“, antwortet sie. „Lass mich einfach hier liegen.“

Auf dem Nachttisch liegt eine Packung Schlaftabletten. Ich kann erkennen, dass sie mindestens vier Tabletten genommen hat. Mich würde diese Dosis erst einmal nicht wach werden lassen. Aber bei einem Menschen, der, wie Mama, seit ihren beiden Hüftoperationen vor 27 Jahren regelmäßig Schlafmittel nimmt, wirken diese eben nur verhalten.

„Mama, das bringt doch nichts, davon stirbst du nicht.“

„Doch, ich habe nur einen Zwieback gegessen, trinke nur ein wenig Tee und weiter nichts. Du hast doch gesagt, dass man dann sterben kann.“

Ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen! Wie oft hatten wir schon ein mögliches Sterben besprochen, aber es war nie konkret. Ich bin auch entsetzt über das, was ich ihr alles gestern erzählt habe. Habe ich da nicht einen großen Fehler gemacht? Ich hätte intensiver nachfragen müssen, warum sie im Moment ans Sterben denkt. Ich will mit ihr reden, ich will nicht wahrhaben, dass sie wirklich sterben will, und es nicht nur bei der „Besprechung“ bleibt. Aber ich kann nicht richtig mit ihr kommunizieren, sie lallt mehr, als dass sie spricht. Sie schläft immer wieder ein – mitten im Satz.

Ich stehe im Schlafzimmer an ihrem Bett, völlig geschockt von dem, was sie da im Begriff ist zu tun. Meine Mutter liegt da mit geschlossenen Augen und gibt immer wieder kurze Schnarchgeräusche von sich. Ich bin entsetzt und fühle mich überrumpelt, ja, sogar wütend. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und bin im Grunde sprachlos, ebenso wie sie durch ihre Schlaftabletten.

Man sieht und spürt einen Unterschied zwischen einem Menschen, der „normal“ schläft und einem, der vollgepumpt ist mit Schlaftabletten. Ich empfinde schlafende Menschen mit ihren entspannten Gesichtszügen als schön. Aber ein Mensch, der Schlafmittel genommen hat, sieht verändert aus. Auch bei meiner Mutter sehe ich in ein Gesicht, dessen Muskeln völlig erschlafft sind, der Unterkiefer hängt herunter, die Augäpfel fallen ein und das Gesicht ist wie aufgequollen. Sie wirkt auf mich wie eine völlig betrunkene Frau, die ihren Rausch ausschläft. Das ist nicht meine Mama! Ich empfinde Wut und will ihr die Schlaftabletten wegnehmen. Sie wacht auf und protestiert: „Das darfst du nicht! Es ist mein Entschluss und den hast du zu akzeptieren!“

Ich bin fassungslos. Was soll ich tun? Ich verabschiede mich erst einmal und fahre verwirrt nach Hause. Ich rufe meine Schwester an, berichte ihr alles. Ich verspreche ihr, sie auf dem Laufenden zu halten. Mittags überfalle ich meinen Mann mit der Nachricht, nachdem er aus der Praxis nach Hause kommt. Ich bin nicht ganz sicher, ob Mama es nun wirklich ganz ernst meint. Da ich ganz unruhig bin, fahre ich noch viermal zu meiner Mutter, aber die Situation ist unverändert. Immer wenn sie wach wird, nimmt sie eine Schlaftablette, trinkt ein wenig und isst einen Zwieback. Ein Gespräch mit ihr ist kaum möglich. Ich empfinde sie als bockig und stur. An diesem Abend fahre ich nach Hause mit dem Vorsatz, morgen, also Dienstag, ganz früh zu ihr zu fahren. Dann beruhige ich mich ein wenig. Vielleicht hat sich die Situation auch bis dahin bereinigt. Vielleicht kommt sie bis morgen „zur Vernunft“.

4Gründe

Ich möchte Ihnen gerne meine Mutter als Person etwas näher bringen, so dass es Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einfacher fällt, sich ein Bild von ihr zu machen. So können Sie letztendlich besser verstehen, was sie zum aktiven Einleiten ihres eigenen Sterbeprozesses bewogen hat.

Meine Mutter hatte im Januar noch gemeinsam mit all ihren Lieben ihren 88. Geburtstag gefeiert. Sie hatte den Tag richtig genossen; alle waren gekommen, alles schien perfekt.

Wer meine Mutter kannte, erinnert sich an eine freundliche, liebenswerte und liebenswürdige Frau, adrett, immer gut und farblich passend gekleidet, gut duftend nach Eau de Lancôme. Sie lachte gerne, war geistig rege, übte täglich französische Vokabeln, um in ihrer ersten Muttersprache fit zu bleiben, hatte nur kleine Gedächtnislücken in Bezug auf Termine und Namen, aber ansonsten war sie interessiert am politischen Weltgeschehen sowie an Fußball, an der Arbeit der Kinder und den Plänen der Enkel.

Sie hat die Krankheiten in ihrem Leben alle gut meistern können, auch die Hüftprothesen, die ihr 27 Jahre vor ihrem Tod beidseits eingesetzt werden mussten. Überlegen Sie mal, knapp drei Jahrzehnte dieselben Kunsthüften! Das kam uns wie eine Rekordzeit vor. Und ich bin mir sicher, dass das nur möglich war durch „sture“, konsequente tägliche gymnastische Übungen im Bett und durch das Beibehalten ihres geringen Körpergewichts. Aber diese „alten“ Hüften waren in den letzten fünf Jahren wackelig geworden und bereiteten ihr immer mehr Sorgen. Die Einschränkungen in ihrem alltäglichen Leben wuchsen stetig, wurden immer größer, bis die Probleme nicht mehr von ihr selbst zu lösen waren. Wie das Leben eben spielt!

Sie konnte ab einem bestimmten Zeitpunkt nichts mehr tragen, kaum noch laufen, nur kurz stehen, sich nicht mehr bücken, im Bett nur noch auf dem Rücken, nicht mehr auf den Seiten liegen, hatte Angst zu stürzen und ins Krankenhaus zu müssen. (Übrigens hatte ich ihr vor einiger Zeit das Versprechen geben müssen, sie auf keinen Fall mehr – egal für welchen Befund – ins Krankenhaus zu bringen.) Aber es kamen noch weitere körperliche Einschränkungen hinzu, wie Konzentrationsschwäche, häufiger Schwindel, kaputte Knie, konstante (Nüchtern-)Magenschmerzen, Unverträglichkeiten von Essen, häufige Übelkeit. Die Blase verlangte häufige Toilettengänge.

Alle diese körperlichen Symptome hatten einschneidende Auswirkungen auf ihr alltägliches Leben. So waren keine Spaziergänge mehr möglich. Sie konnte nicht mehr alleine einkaufen, den Müll nicht selbst wegbringen, nicht mehr putzen und waschen, schaffte es nur fraktioniert, Geschirr zu spülen, da langes Stehen schmerzte. Sie hatte keinen Spaß mehr am Kochen, da der Magen nichts mehr akzeptierte, traute sich keine langen Fahrten, etwa ins Theater, mehr zu – wegen fehlender Pinkelpausen.3 An Urlaubsreisen war nicht mehr zu denken. All diese sich häufenden Unfähigkeiten und Unmöglichkeiten ließen sie zunehmend in Unselbständigkeit geraten. Immer mehr musste sie delegieren, darum bitten, war abhängig von der Zeit und dem guten Willen der anderen.

Wenn ich in ihrer Nähe war (wir wohnten 200 Meter voneinander entfernt), dann war sie beruhigt, dann war alles einigermaßen in Ordnung. Obwohl sie sich immer grämte, mich zu sehr mit ihren Unzulänglichkeiten zu belasten, egal wie oft ich ihr auch versicherte, gern für sie da zu sein. Aber wenn ich dann einmal weg war, etwa im Urlaub oder auf Fortbildung, beschlich sie immer Angst, dann war ihr „Rettungsanker“ nicht direkt greifbar. Diese sich dann noch steigernde Angst und Unruhe machten sich durch noch mehr Magenschmerzen und Schlafstörungen bemerkbar.