Todd Hasak-Lowy ist seit über zwanzig Jahren Schriftsteller und lehrt Kreatives Schreiben und Literatur am School of the Arts Institute von Chicago. Außerdem übersetzt er hebräische Literatur ins Englische. Er lebt mit seiner Frau, zwei Töchtern, einem Hund und zwei Katzen in der Nähe von Chicago.
Für Ariel
4 widersprüchliche Regungen in Darren Jacobs’ Brust, die er heftig zu ignorieren versucht, kurz bevor er ein bestimmtes Mädchen aus der elften Klasse um einen echt großen Gefallen bittet. Zeitpunkt: Freitag, 25. April, 10:38 Uhr:
1. Seine Abneigung dagegen, zu einem Vollversager/Kiffer/Kriminellen zu werden. In genau diese Richtung könnte es nämlich gehen, falls er sie um diesen Gefallen bittet (und sie sich darauf einlässt). Oder falls er sich mit Leuten wie diesem speziellen Mädchen überhaupt abgibt, das (der Zigarette, den schwarzen Klamotten und den Piercings nach zu urteilen) ziemlich eindeutig eine Vollversagerin und/oder Kifferin ist, wenn auch wahrscheinlich keine Kriminelle. Letzteres möchte Darren jedenfalls schwer hoffen, aber wer kann das heutzutage schon sagen? Darren bestimmt nicht, denn er macht momentan dauernd die Erfahrung, dass die Leute nicht das sind, wofür er sie gehalten hat.
2. Neugierde, was wohl passieren würde, wenn er etwas täte, das normalerweise nur Vollversager/Kiffer/Kriminelle tun. Bloß dieses eine Mal. Im Großen und Ganzen ist Darren nämlich zeit seines Lebens ein ziemlich braver Junge gewesen. Was wäre also, mal ehrlich, so schlimm daran, wenn er dieses eine Mal etwas täte, das vielleicht nicht ganz so schlau ist?
3. Das Verlangen, sie zu küssen und von ihr zurückgeküsst zu werden, gleich hier und jetzt. Absolut ausgeschlossen, dass das passiert, obwohl es dazu nichts weiter bräuchte, als dass sie es beide wollten. Denn an der North High School sieht man praktisch jeden Tag irgendwelche Schüler beim Küssen und sogar beim richtig Rummachen, also ist es nicht so, als ob er davon träumen würde, auf dem Mond zu spazieren oder so was.
Und es ist auch keine große Sache, dass er sich sogar ein- oder zweimal ganz konkret vorgestellt hat, dieses spezielle Mädchen zu küssen. In seiner Vorstellung hat er (wenn wir mal ehrlich sein wollen) bestimmt schon ungefähr fünfzig bis sechzig Mädchen aus seiner Schule geküsst. Mindestens. Er ist sich einigermaßen sicher, dass er sich noch nie vorgestellt hat, irgendwelche Jungen zu küssen. Darauf schwören würde er aber nicht, weil Vorstellungen dieser Art immer wie von selber auftauchen, ob man es will oder nicht.
Du trinkst zum Beispiel gerade einen Schluck Wasser am Trinkbrunnen vor der Mensa, und plötzlich überlegst du, wie es wohl wäre, mit Christie Banks rumzumachen, die gar nicht mal besonders hübsch ist, und zwar nicht nur wegen dieses Dings da auf ihrer Nase. Sie steht einfach gerade neben dir, weil sie auch Durst hat, das ist der einzige Grund. Solche Sachen passieren so oft, dass Darren, wenn er wirklich hundertprozentig ehrlich sein wollte, zugeben müsste, dass er sich ein- oder zweimal (na gut, sagen wir vierzehnmal) sogar vorgestellt hat, Ms Gleason zu küssen. Die zufällig seine Englischlehrerin ist. Sie ist möglicherweise die jüngste seiner Lehrerinnen und ihre Haut ist perfekt, aber trotzdem, ich meine, was ist denn da bitte los?
4. Der vergebliche Versuch, sich einzureden, dass es hier nur um ihn selbst gehe. Denn irgendwie hat er das dumpfe Gefühl, tief aus dem Bauch heraus, dass das Ganze auch etwas mit dieser speziellen Elftklässlerin zu tun haben könnte, die einen guten Meter von ihm entfernt dasteht und ihn mit diesem halb neugierigen, halb genervten Blick ansieht, von wegen Öh, alles klar bei dir?. Oder es könnte, genauer gesagt, mit ihm und mit ihr zu tun haben, also mit ihnen beiden als einer Art Einheit oder so ähnlich. Nicht unbedingt als Paar, aber irgendwie in die Richtung. Eine Er-und-sie-Kiste vielleicht. Eine Sie-beide-Geschichte.
Denn haargenau jetzt wartet sie ganz allein und gut einen Meter von ihm entfernt nur darauf, dass er endlich aufhört, wie ein lahmer Idiot herumzustehen. Doch sobald er sie um diesen Gefallen bittet und sie sich darauf einlässt, wird es, wenn auch nur für kurze Zeit, ein neues »Sie beide« geben. Und wer weiß, vielleicht hält das »Sie beide« ja bloß eine halbe Stunde, doch es ist auch nicht auszuschließen, dass es ein Eigenleben entwickelt. Dann könnte es etwas Gutes sein, aber vielleicht auch etwas Schlechtes. Oder sogar etwas sehr Schlechtes. Oder etwas sehr, sehr, sehr Gutes. Und das macht Darren mehr Angst als alles andere.
Weil Darren nämlich in letzter Zeit schon genug Kummer abbekommen hat, den so ein »Sie beide« verursachen kann. Daher sollte er, um künftigen Schaden zu vermeiden, vielleicht nicht tun, was er jetzt gerade tut, genau in diesem Moment, der womöglich ein neues »Sie beide« hervorbringt, bei dem er selbst dazugehört.
»Hey«, sagt er. »Äh. Ja. Hör mal, könntest du mich vielleicht zur S-Bahn fahren, damit ich in die Stadt komme und an der Union Station in den Bus steigen kann, um meinen Bruder in Ann Arbor zu besuchen. Weil …«
Na gut, schon zu spät.
I
6 Wörter, von seiner Mom gesprochen, deren Stimme durch Wände und die Treppe herauf zu Darren dringt, der sich fragt, warum seine Mutter um Himmels willen schon um 5:24 Uhr telefoniert. Und sie klingen wie
Malla
Schneff
Tuppsn
Abrallo
Inhem
Gettaflapp.
10 Sätze oder Satzbruchstücke, die Darren seine Mutter im Laufe der letzten zwei Jahre so oft durch Wände und die Treppe herauf hat sagen hören, dass es garantiert dieselben sind, die sie auch jetzt von sich gibt, obwohl es nach wie vor irgendwie klingt wie »Antförm« oder »Weffelwüm«:
Sag mir, warum.
Mehr verlange ich gar nicht.
O Gott, das ist ja wohl nicht dein Ernst.
Verschon mich damit.
Nur dieses eine Mal.
Ach komm, hör auf.
Blöd. Sinn.
Egal, Howard.
Ist mir egal.
Was redest du da wieder für eine Scheiße.
3 Angaben, die genauere Auskunft über Howard geben dürften:
Darrens Vater
Darrens Mutters Exmann
Der Mann, der früher der Besitzer dieses Hauses war und darin gewohnt hat, aber seit ungefähr zwanzig Monaten nicht mehr hier ist. Es kann allerdings sein, dass es ihm immer noch zur Hälfte gehört. Darren weiß nicht mit Sicherheit, worauf sie sich am Ende geeinigt haben, denn als dieses Ende kam und sie sich auf was auch immer einigten, da hatte Darren von den Diskussionen, die er ständig mithören musste (oft durch Wände und die Treppe herauf usw.), dermaßen die Schnauze voll, dass er einfach nicht zuhörte, als sie ihm mitteilten, worauf sie sich am Ende geeinigt hatten.
4 Gefühle, die Darren aus den eindeutig näher kommenden Schritten seiner Mutter heraushört:
Wut
Verachtung
Reue
Kummer
3 Namen, mit denen sie ihn kurz hintereinander anspricht, während sie sich auf seine Bettkante setzt und ihn sanft an der Schulter berührt, um ihn zu wecken, obwohl er mittlerweile sowieso schon hellwach ist:
Liebling
Schätzchen
Darren
9 Namen, die Darren für sich selbst passender findet als den Namen Darren:
Gabe
Max
Sam
Noah
Adam
Jordan
Nate, wenn der nicht schon vergeben wäre
Mo, vielleicht
Jacob, wenn er nicht mit Nachnamen Jacobs hieße
6 von seiner Mutter angekündigte Ereignisse:
dass ihr Taxi jeden Moment vor der Tür stehen wird
dass sein Vater gegen 7:30 Uhr das Haus betreten wird
dass sein Vater ihm Frühstück machen und sein Pausenbrot einpacken wird
dass sein Vater etwas Wichtiges mit Darren zu besprechen hat
dass sein Vater ihn zur Schule bringen wird
dass ihr Taxi, wenn es ausnahmsweise mal pünktlich wäre, jetzt gleich kommen müsste
7 Gründe, warum Darren seiner Mutter nicht die naheliegende Frage stellt, was genau denn mit Punkt 4 auf der vorherigen Liste gemeint sei:
Er möchte es gar nicht wissen.
Vielleicht weiß sie’s selber nicht, und dann wäre sie sauer.
Sie weiß es, hat aber versprochen, nichts zu sagen, worüber sie eh schon sauer ist, warum also riskieren, dass sie noch saurer wird und über seinen Dad herzieht?
Er hat im Moment echt keine Lust auf irgendwelche Gespräche.
Je weniger er sagt, desto schneller ist sie weg.
Vielleicht kann er dann sogar noch mal einschlafen.
Und wer weiß, vielleicht ist das alles ja nur ein Traum, was mal eine richtig gute Nachricht wäre. Ehrlich gesagt, hätte er nichts dagegen, wenn die ganzen letzten zwei Jahre ein einziger langer Traum gewesen wären. Allerdings ist das eher unwahrscheinlich, es sei denn, Darren hätte da einen ungewöhnlich ausführlichen und lebhaften Traum am Wickel, der zwar nicht unbedingt ein Albtraum ist, aber ungefähr fünfmal so beschissen, wie man sich ein normales Leben vorstellt.
2 bedauerliche Umstände, die dazu führten, dass Darren den Namen Darren erhielt:
Es war eine Art Kompromiss zwischen seinen Eltern.
Mit anderen Worten: für keinen von beiden die erste Wahl.
2 Gegenstände, in denen sich, kurz bevor Darrens Mutter sein Zimmer verlässt, ein mattes und unbestimmtes Licht spiegelt:
Ihr linker Stiefel, der aus dunkelbraunem Leder und der letzte Schrei ist. Solche Sachen trägt sie zurzeit andauernd, vor allem, wenn sie auf Reisen ist, und in letzter Zeit reist sie andauernd. Tatsächlich stehen ihr die Stiefel ziemlich gut, vor allem, wenn sie die teuren Jeans oben hineinstopft. In erster Linie aber erinnern diese Stiefel Darren daran, dass sich seine Eltern, als sie sich trennten und dann scheiden ließen, alle beide praktisch von heute auf morgen total verändert haben. Solche topmodischen Stiefel hat seine Mutter früher, in den ersten ungefähr vierzehn Jahren seines Lebens, allerhöchstens dreimal getragen.
Ihr rechter Stiefel.
3 Gedanken, die Darren kommen, als sie leise die Tür schließt:
In ein paar Minuten werde ich allein im Haus sein.
Was sich noch immer jedes Mal komisch anfühlt.
Andererseits spielt es eigentlich keine Rolle, vor allem, weil Nate im Augenblick ja sowieso nicht hier sein kann.
7 mehr oder weniger freiwillige Aktivitäten, mit denen Darrens Mom in den letzten sieben Jahren einen Großteil ihrer Zeit verbracht hat:
ZUMBA
Ein extrem seltsames Fitnessprogramm mit Tanz.
SICH ÜBER STUDIENGÄNGE INFORMIEREN
Weil sie arbeiten gehen wollte, aber die Jobs, die sie interessierten, nicht kriegen konnte, ohne noch mal zur Uni zu gehen.
SICH DEN KOPF DARÜBER ZERBRECHEN, OB SIE NOCH MAL STUDIEREN SOLL ODER NICHT
Immerhin war klar, dass es, wenn überhaupt, irgendwas mit Computern oder Marketing zu tun haben müsste. Oder Computer und Marketing. Was immer das sein soll.
MASSEN AN FACHLITERATUR ÜBER WEBDESIGN UND E-COMMERCE SAMMELN
Letzten Endes beschloss sie, doch nicht noch mal zu studieren, weil sie überzeugt war, dass sie auch so einen guten Job kriegen werde.
N. D. DESIGN GRÜNDEN
Was »Nate-und-Darren-Design« bedeutete. Das war eine Art Computer-Marketing-Firma, die ihr Büro in ihrem Gästezimmer hatte.
N. D. DESIGN VERKAUFEN
Offenbar gab es ein paar Leute mit ziemlich viel Geld, denen ihre Firma echt gefiel. Hinterher ist die ganze Familie für zehn Tage in die Karibik geflogen.
KOFFERPACKEN VOR REISEN NACH KALIFORNIEN UND DANACH WIEDER AUSPACKEN
Wie gestern Abend. Und diese Geschichte läuft jetzt schon seit zwei Jahren.
12 Eckdaten zur Person von Darren Jacobs:
fünfzehn Jahre alt
ein Meter neunundsechzig
82 Kilo
Weißer
lockige, braune Haare
braune Augen
29. November
rechtes Auge 95 %, linkes Auge 100 %
Rechtshänder
der jüngere von zwei Brüdern
jüdisch
Jungfrau
1 Fantasievorstellung, die Darren eines Nachts plötzlich befiel, als er nicht schlafen konnte, an die er jetzt aber oft ganz bewusst denkt, vor allem, wenn er abends einzuschlafen versucht:
1. Darren legt sich auf den Fußboden und nimmt ein Messer, oder eigentlich schwebt dieses Messer einfach so durch die Luft, und dann bohrt es sich mitten auf seiner Stirn in die Haut. Es tut weh, denn das Messer dringt ja durch die Haut, aber es tut nicht so schlimm weh, wie man denken würde. Eher wie ein Stich mit einer sehr großen Nadel, und es blutet nicht einmal besonders stark. Ein bisschen so, als hätte man sich an Papier geschnitten. Und dann bewegt sich das Messer langsam die Stirn hinunter, seine Nase entlang, dann über seinen Mund und das Kinn und schneidet dabei immer ungefähr einen Zentimeter tief in die Haut. Das Messer ist unglaublich scharf, so scharf, dass die Haut wie von selbst aufklappt, was die Sache irgendwie viel weniger schmerzhaft macht. Außerdem stellt sich heraus, dass direkt unter seiner Haut gar nichts ist, eigentlich nur Luft, sodass das Messer mühelos weitermachen kann, seinen Hals hinunter und dann geradewegs durch seinen riesigen Brustkorb.
Als das Messer knapp unterhalb des Herzens angelangt ist, spürt er, wie die aufgetrennte Haut allmählich weit zur Seite klafft. So ähnlich wie bei der Reisetasche, die seine Mom immer benutzt – die mit dem Reißverschluss genau in der Mitte. Und es tut überhaupt nicht weh, im Gegenteil, es ist ein irres Gefühl, als könnte er zum ersten Mal seit zwei oder drei Jahren wieder richtig atmen, und sobald das Messer an seinem Bauchnabel vorbei ist, setzt Darren sich langsam auf. Er zieht seine neuen, dünnen Arme aus den alten, schwabbeligen Armen heraus und streift dann sein altes Ich ab. So wie man aus einem Schlafsack herauskriecht. Er steht auf und blickt auf die Haut hinab und auf das ganze Fett, das noch an ihr hängt. Da steht der neue Darren und betrachtet den alten Darren, der reglos am Boden liegt.
3 Dinge, die Darren nach dem Aufwachen sofort auffallen und die beweisen, dass er vorhin nicht geträumt hat:
Unten in der Küche ist jemand.
Es ist ein Trällern zu hören, das nach »The Girl from Ipanema« klingt, was bedeuten würde, dass der Jemand sein Dad ist.
Seinen dunkelblauen Morris Minor sieht Darren auch schon in der Auffahrt stehen. Es ist ein super Auto, aber in Verbindung mit seinem Dad ist es Darren irgendwie peinlich, auch wenn es ihn gar nicht überrascht, was die Sache noch ein Stück peinlicher macht.
6 Gründe, die Darren nennen würde, wenn er raten müsste, warum seine Eltern sich haben scheiden lassen:
1. Sein Dad ist total seltsam geworden und hat plötzlich ganz anders geredet, und irgendwann konnte seine Mom es nicht mehr aushalten.
2. Ungefähr zu der Zeit hat seine Mom N. D. Design verkauft und ist von da an oft nach Kalifornien gefahren. Ihre Arbeit wurde eindeutig zum wichtigsten Teil ihres Lebens.
3. In Kalifornien hatte seine Mom wahrscheinlich Sex mit anderen Männern, weil seine Eltern es anscheinend nicht mehr miteinander machten, das hat jedenfalls Nate ihm erzählt. Darren weiß allerdings nicht genau, ob sie mit all diesen Männern (wahrscheinlich) Sex hatte, weil seine Eltern es nicht mehr miteinander machten, oder ob es genau umgekehrt war.
4. Nate verzog sich aufs College, also war Darren das einzige Kind im Haus, und seine Eltern konnten die Zeit schon kommen sehen, wenn gar keine Kinder mehr im Haus sein würden, obwohl Darren gerade mal in der neunten Klasse war. Und da er ein eher stilles Kind ist, das nicht viel Ärger macht, bekamen sie gleich einen Vorgeschmack darauf, wie es ist, wenn keine Kinder mehr im Haus sind, und da wurde ihnen klar, dass sie dann, wenn es so weit wäre, auch nicht mehr verheiratet sein wollten, wozu also noch warten?
5. Eines Tages schlug seine Mom plötzlich vor, sie sollten alle nach Kalifornien ziehen. Sein Dad sagte, das wolle er nicht. Seine Mom bat seinen Dad, es sich zu überlegen oder bitte wenigstens darüber nachzudenken. Also versuchte er das, aber am Ende erklärte er, dass er es sich nicht vorstellen könne. Seine Mom war mit dieser Antwort nicht zufrieden, was zur Folge hatte, dass sie immer wieder darüber redeten, wochen- und vielleicht sogar monatelang. Aber eigentlich war es gar kein Reden, jedenfalls nicht mehr nach den ersten Wochen. Es war eher ein Streiten. Sie stritten sich über Kalifornien, über die Arbeit seines Dads und darüber, was das Beste für Darren und Nate und die ganze Familie sei, bis Darren sich ernsthaft zu fragen begann, ob Taubsein nicht vielleicht doch mehr Vorteile hätte als Nachteile.
6. Chick und Dell, ihre Katzen, wurden langsam alt und fingen an, überall hinzupinkeln. Sie versauten das Sofa im Hobbyraum, die meisten Schuhe seiner Mutter und den Läufer im Hausflur. Schließlich erklärte seine Mom eines Tages: »Ich schwöre bei Gott, wenn sie noch einmal irgendwo hinpissen, lass ich sie einschläfern.«
Worauf sein Dad erwiderte: »Das wirst du hübsch bleiben lassen.«
Also brachten Darren und sein Dad die beiden Katzen am nächsten Tag zur Tierärztin, wo sie für ungefähr dreihundert Dollar Medikamente und gute Ratschläge erhielten, die bestimmt helfen würden, wie die Ärztin versicherte. Und tatsächlich, ungefähr drei Monate lang passierte nichts mehr, bis Darren seine Mom eines Abends laut schreien hörte. Es ging um irgendwelche Kleidung, die auf dem Schrankboden gelegen hatte und unsäglich teuer gewesen war, und dann schrie auch sein Dad: »Das wirst du nicht tun!«, und seine Mom schrie zurück: »Das wollen wir doch mal sehen!«, und danach wollte das Geschrei gar nicht mehr aufhören.
Als Darren am nächsten Tag aus der Schule kam, fiel ihm auf, dass Dell ihn gar nicht an der Tür begrüßte wie sonst immer, wenn Darren nach Hause kam. Darren suchte das ganze Haus ab, konnte aber weder Dell noch Chick irgendwo finden. Und das war seltsam, selbst wenn seine Mom das ganze Geschrei vom Abend zuvor vollkommen ernst gemeint hatte, denn sie war früh am Morgen nach Kalifornien geflogen. Sie hatte die vollgepinkelte Kleidung ja gefunden, als sie für diese Reise gepackt hatte, dabei hätte sie die aber sowieso nicht mitnehmen können, weil sie auch ohne Katzenpisse ein Fall für die Reinigung war.
Aber das spielte jetzt alles keine Rolle mehr, denn das letzte Zimmer, in dem Darren sicherheitshalber noch mal nachguckte, war das Schlafzimmer seiner Eltern. Als er die Tür öffnete, sah er seinen Dad auf dem Bett liegen, wach und mit gerötetem Gesicht, weil er immer noch ein bisschen heulte. Er lag einfach da, ein Glas Wein in der Hand und eine leere Flasche auf dem Nachttisch neben ihm.
Auch wenn Darren es irgendwann so oder so herausgefunden hätte, wünschte er sich plötzlich mit aller Macht, er wäre nach der Schule mit zu Nicky Smith gegangen und erst später nach Hause gekommen. Vielleicht wäre sein Dad dann nicht mehr betrunken gewesen und hätte nicht mehr geheult und die ganze Zeit gesagt: »Tut mir leid, Darren, es tut mir so leid«, während Darren einfach nur dastand und sich fragte, wie es sein konnte, dass von zwei Katzen, zwei Eltern und einem Bruder urplötzlich nur noch ein Elternteil und er selbst übrig geblieben waren. Mal ganz abgesehen davon, dass er sich meistens eigentlich keine großen Gedanken um die Katzen gemacht hatte, auch wenn es natürlich ganz nett war, wie Dell ihn immer an der Haustür begrüßte, wenn er nach Hause kam.
1 Spitzname (hergeleitet aus den Anfangsbuchstaben seines Namens), den Darren einmal halbherzig unter die Leute bringen wollte, damit sie nicht mehr Darren zu ihm sagten, den aber selbst Nate nie benutzt hat, weil es zwar ein ausgesprochen cooler Spitzname war, der aber überhaupt nicht zu Darren passte:
DJ
7 wichtige Bestandteile von Darrens Alltagsgarderobe:
dunkelblaue flache Chucks, Größe 42
weiße Sportsocken mit einem oder zwei blauen oder grünen oder roten Streifen am oberen Rand
blaue Jeans (W 36, L 30)
kein Gürtel
Boxershorts, meistens kariert, manchmal aber auch einfarbig (Gr. 38–40)
graues oder schwarzes T-Shirt in XL, in der Regel bedruckt, mit Ortsnamen oder irgendeinem Design, das ihm im Grunde aber ziemlich egal ist
grauer Kapuzenpullover mit Reißverschluss
4 ziemlich merkwürdige Bestandteile des Geschehens, das Darren in der Küche erwartet:
1. Sein Dad steht da und legt einen Donut mit Glasur auf einen Teller. Was eigentlich nicht besonders merkwürdig sein sollte, denn seit der Zeit, als Darren noch ein Baby war, bis vor ungefähr zwei Jahren hat sein Dad bestimmt nicht weniger häufig in dieser Küche gestanden als irgendwer sonst. Es ist garantiert nicht das erste Mal, dass Darren seinen Dad in genau dieser Küche einen solchen Donut auf einen solchen Teller hat legen sehen.
2. Trotzdem ist es merkwürdig, weil sein Dad nicht hier wohnt und sich außerdem offiziell gar nicht mehr in diesem Haus aufhalten darf.
3. Und da es sich um seinen Dad handelt, gibt es noch einige andere Merkwürdigkeiten. Dieser Dad, der hier erschienen ist, obwohl er eigentlich nicht mehr hier erscheinen dürfte, legt eine völlig andere Erscheinung an den Tag als früher, als er hier noch erscheinen durfte. Kahler Kopf und ein modisches Outfit: teure und ganz schön enge Jeans; schickes Hemd mit Button-down-Kragen, aber keins, das man zu einem Anzug tragen würde; und tiefschwarze Lederschuhe, an denen auch nicht die kleinste Schramme zu sehen ist. Die Schuhe sind für Darrens Dad, was die Stiefel für seine Mom sind. Und die Jeans und das Hemd sind vielleicht das Gegenstück zu ihrer neuen Frisur und dem knalligen Lipgloss.
4. Das Gefühl in Darrens Magen. Anders ausgedrückt, regt das, was hier abgeht, nicht gerade Darrens Appetit an. Obwohl es immerhin ein Donut mit Schokoglasur ist, von dem wir hier sprechen.
6 unerwartete und ziemlich seltsame Reden, die Darrens Dad seit der Scheidung Darren gegenüber (oder auch nur in seiner Gegenwart) geschwungen hat und an die Darren jetzt denken muss, weil er irgendwie das Gefühl hat, die Nummer 7 könnte auch gleich anstehen:
Man sollte doch meinen, dass das Mitgefühl eine etwas größere Rolle spielen müsste, wenn über Werte diskutiert wird. Man hört ständig von Mut und Ehre und Entschlossenheit, aber davon haben wir eher zu viel, wenn du mich fragst. Manchmal könnte man meinen, das Mitgefühl gehöre auf die Liste der gefährdeten Arten.
Ich hab’s abrasiert, Darren, weil ich seit Jahren Probleme mit dem Haarausfall hatte. Jetzt habe ich die Sache selbst in die Hand genommen. Meine Haare waren wohl ganz versessen darauf, auszufallen, und da dachte ich mir: Erspare ich ihnen doch die Mühe.
Falls du jemals Lust darauf hast, Marihuana zu rauchen – Shit, Dope, Gras, egal wie ihr jungen Leute das heutzutage nennt –, kannst du es ruhig hier bei mir tun. Wenn du möchtest, kannst du mit ein paar Freunden hier am Wochenende mal was rauchen. Mir wäre es um einiges lieber, wenn dein erstes Mal in einer sicheren Umgebung stattfinden würde. Ich könnte sogar für ein paar Stunden aus dem Haus gehen, wenn du das willst. Nur falls du Lust hast.
Die Welt, in der wir leben, ist in mancher Hinsicht verkommen. In vielerlei Hinsicht sogar. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit, auch wenn diese Verkommenheit ständig weiter fortschreitet. Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass es nach wie vor ein paar richtig gute Flecken auf der Welt gibt, großartige Menschen, Dinge, die ganz und gar nicht verkommen sind. Irgendwo da draußen gibt es sie, ich weiß es.
Deine Mutter tut ihr Bestes, Darren, da bin ich mir sicher. Genau wie ich. Ach, du weißt schon. Wir alle tun unser Bestes. Auch wenn es in letzter Zeit ziemlich mittelmäßig ausgefallen ist.
Ich liebe dich, Darren. Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst. Ich liebe dich genau so, wie du bist. Und ich werde dich immer lieben, egal was kommt. Dir ist wahrscheinlich gar nicht klar, was für ein wunderbarer Mensch du bist, aber du wirst mir irgendwann bestimmt unendlich dankbar dafür sein, dass du Darren Jacobs bist und niemand sonst.
5 Beiträge, die Darrens Dad zur Unterhaltung an diesem Morgen beisteuert, bevor Darren selbst etwas sagt:
Guten Morgen, Captain America.
Halt, nicht bewegen. Mein Gott, ich könnte schwören, du bist seit Sonntag schon wieder ein Stück gewachsen.
Frisch gepressten O-Saft?
Ist er nicht köstlich? War noch warm, als sie ihn beim Bäcker eingepackt haben.
Übrigens, die Niederschlagswahrscheinlichkeit liegt heute Nachmittag bei vierzig Prozent. Nur zu deiner Information.
2 Aspekte des morgigen Tages, auch unter dem Namen Freitag bekannt, die Darren geholfen haben, eine ziemlich langweilige Woche zu überstehen, die trotz dieses überaus feinen Donuts wohl gleich noch ein bisschen langweiliger werden wird:
Fahrt nach Ann Arbor (wenn auch mit seinem Dad zusammen)
Besuch bei Nate an der University of Michigan
12 absolut coole Sachen am College, nach Aussage von Nate:
Mädchen.
Jeden Tag ausschlafen, außer dienstags und donnerstags, wo schon um halb zehn BWL ist, was er aber, ehrlich gesagt, schon ein paarmal verpasst hat, weil man sich ziemlich schnell ans Ausschlafen bis mittags gewöhnt. Außerdem kann man sich die ganzen Vorlesungen auch online reinziehen.
Keine Eltern und definitiv keine geschiedenen Eltern.
Sein Zimmergenosse Kyle, dessen Eltern stinkreich sind, weshalb er und Nate einen gigantischen Fernseher mit Plasmabildschirm plus ein geiles Stereo-Soundsystem im Zimmer haben.
Bier.
Partys, zumindest einige davon. Oder die meisten. Eigentlich so ziemlich alle.
Footballspiele, obwohl die Mannschaft der U of M nicht mehr das ist, was sie früher mal war.
Spätabends in den Supermarkt gehen und Cracker mit Erdnussbutter kaufen, dann einfach über den Campus ziehen, die Cracker essen, Dr Pepper dazu trinken und gucken, was abgeht.
Dieses Seminar »Einführung in die Filmwissenschaft«, wo sie über Der Pate und Taxi Driver und lauter so cooles Zeug reden.
Jeden Morgen ungefähr sechs Schüsseln Cap’n Crunch zum Frühstück essen, jedenfalls an den Tagen, an denen man rechtzeitig aufgewacht ist, um noch frühstücken zu können.
Es kümmert keine Sau, ob du cool oder beliebt bist.
Mädchen. Sie haben es verdient, zweimal aufgeführt zu werden. Glaub mir.
4 räumliche Abstände, die zwischen Darren und seinem Dad liegen, während der drei Minuten unmittelbar vor, in und nach dem Moment, in dem Darren endlich erfährt, warum sein Dad heute Morgen hier ist:
1. DREIEINHALB METER
Nachdem er ungefähr das dritte Mal von seinem Donut abgebissen hat, bemerkt Darren, dass sein Dad ziemlich schräg drauf ist, und da er, seit er und Darrens Mom sich getrennt haben, ziemlich oft schräg drauf war, muss er sich diesmal schon extrem schräg verhalten, dass es Darren überhaupt auffällt. Normal wäre, wenn Darrens Dad sich jetzt zu ihm an den Tisch setzen würde, aber stattdessen bleibt er einfach mitten in der Küche stehen, wie angewurzelt. Außerdem hat er seit seiner sinnlosen Bemerkung zum Wetter keinen Ton mehr gesagt. Darrens Dad hat einen Ausdruck im Gesicht, als würde ihm gerade klarwerden, wie verrückt es ist, dass er jetzt in dieser Küche steht, aber in seinen Augen ist ein Leuchten, das vielleicht bedeutet, dass er es gut-verrückt findet und nicht schlecht-verrückt. Wer zum Teufel soll sich da noch auskennen. Das Schweigen seines Dads kommt Darren plötzlich vor wie das Schweigen eines Mönchs, der ein Schweigegelübde abgelegt hat. Es ist, als würde sein Dad überhaupt nicht daran denken, mal wieder was zu sagen. Außerdem hebt er dauernd die Faust zum Mund und klopft sich damit leicht gegen die Lippen. Aber er meidet Darrens Blick nicht, im Gegenteil, er sieht ihm direkt in die Augen und lächelt sogar dazu.
2. NEUNZIG ZENTIMETER
Als Darren ungefähr drei Viertel von seinem Donut, der zugegebenermaßen wahnsinnig lecker ist, aufgegessen hat, bewegt sich sein Dad doch noch und setzt sich gegenüber von Darren an den Tisch.
Plötzlich sagt er etwas.
»Darren.«
Aber dann erst mal nichts mehr.
Also spricht Darren, immer noch kauend, sein erstes Wort an diesem Tag: »Ja?« Er versucht, den Mund dabei möglichst geschlossen zu halten.
»Ich muss dir was sagen«, sagt sein Dad, »etwas, das ich dir schon seit Monaten sagen will, seit fast einem Jahr sogar.« Darren versucht, zuzuhören und gleichzeitig weiterzukauen, aber der Donut und der O-Saft in seinem Mund fühlen sich inzwischen an wie Kleister. »Darren«, sagt sein Dad, »das wird jetzt vielleicht nicht einfach für dich, aber ich muss es dir trotzdem unbedingt sagen.«
Darren zwingt sich, den plötzlich ekligen schokoladig-orangigen Kleisterklumpen hinunterzuschlucken, und es gelingt ihm einen Moment lang fast, sich einzureden, dass diese Sache, was immer es sein mag, schon nicht so schlimm sein wird, schließlich hat er in letzter Zeit ja reichlich Übung in Sachen bekommen, die nicht einfach für ihn waren. Trotzdem wünschte er, er hätte das alles schon vorausgeahnt und heute Morgen um 5:24 Uhr aufstehen und nach unten gehen können, um seiner Mom das Telefon aus der Hand zu nehmen und – ohne dabei allzu offensichtlich Partei für seine Mom zu ergreifen – seinem Dad zu sagen, dass dieser Morgen kein guter Moment sei, um herzukommen und Darren etwas zu sagen, das nicht einfach für ihn sein würde.
»Ich bin schwul, Darren«, sagt sein Dad. »Schwul.« Er wiederholt das Wort.
Darren greift langsam nach den letzten anderthalb Bissen Donut und bemerkt, dass die Welt ganz kurz ihre Farben zu verändern scheint, als würde alles Blaue plötzlich rot, dann grün und schließlich wieder blau. Oder dass sie mit einem Mal auf dem Kopf steht, um sich dann genauso schnell wieder umzudrehen, sodass alles wieder richtig rum ist. Darren ist sich allerdings nicht sicher, ob diese Sachen wirklich passieren, denn egal was es ist, was da passiert, es passiert mit einer wahnwitzigen Geschwindigkeit. Das heißt, alles scheint wieder haargenau so zu sein wie vorher, aber irgendwie auch anders.
Darren legt den Donut hin und bemerkt den Daumenabdruck in der Schokolade. Er hebt den Kopf und sieht seinen Dad, der ihm mit einem leicht glasigen Blick zuzulächeln versucht. Sein Dad beginnt irgendwas zu stammeln von wegen »Ich liebe dich trotzdem immer noch, Darren«, aber Darren fährt ihm dazwischen und steht schnell von seinem Stuhl auf, schneller als geplant, obwohl es fraglich ist, ob er überhaupt etwas geplant hatte. Sein Dad hört auf zu reden, während Darren um den Tisch herum auf ihn zugeht.
3. NULL ZENTIMETER
Darren beugt sich vor und umarmt seinen Dad. Kann sein, dass er in seinem Kopf die Worte hört: »Ich umarme meinen schwulen Dad«, während er ihn umarmt. Sein Dad legt die Arme um Darren, zuerst so lasch, dass Darren daran denken muss, wie er ihn vor acht Jahren einmal umarmt hat, kurz nachdem seinem Dad ein Weisheitszahn gezogen worden war. Dann aber umarmt sein Dad ihn fester, sogar ziemlich fest. In den Schultern und Oberarmen seines Vaters steckt ganz schön viel Kraft und Muskelmasse. Wahrscheinlich hat sein Dad in letzter Zeit Gewichte gestemmt, so was betreibt ein schwuler Dad vermutlich regelmäßig.
4. DREI TAUSENDSTEL EINES KILOMETERS UND IMMER MEHR
Sobald Darren sich aus der Umarmung gelöst hat, hat er es eilig, in sein Zimmer zu kommen, denn das ist der bisher einzige Bestandteil seines Plans, wie er die Mitteilung seines Dads verarbeiten könnte. Oben auf der Treppe bleibt Darren stehen und entdeckt etwas Schokolade an seinem Daumen, den er sich in den Mund steckt, aber nur ganz kurz, denn ein Daumenlutscher war Darren nie, nicht einmal als kleines Kind.
3 Personen, denen Darren gerne eine Nachricht schicken würde. Da das aber nicht geht, schickt er sich selbst eine: Was zur Hölle? Zum ersten Mal hat er das, mehr aus Spaß, vor ungefähr zwei Jahren gemacht.
Sein alter Freund Bugs, der in dem Sommer, bevor sie auf die Highschool kamen, weggezogen ist und jetzt in der Pazifischen Zeitzone lebt, wo es im Augenblick noch nicht mal sechs Uhr morgens ist. Das heißt, er ist noch nicht wach, es sei denn, seine Eltern (die nach wie vor verheiratet und beide hetero sind, soweit Darren informiert ist) streiten sich gerade in der Küche darüber, ob Bugs’ Dad nicht genau heute mal zu Besuch kommen und Bugs erzählen sollte, dass er schwul ist.
Nate, schläft auch noch.
Seine Mom, sitzt im Flugzeug.
1 zusätzlicher und vielleicht sogar der Hauptgrund dafür, dass seine Eltern sich haben scheiden lassen:
Was du nicht sagst!
16 Kurznachrichten auf Darrens Handy, die zusammengenommen etwas ergeben, das noch am ehesten einem Tagebuch ähnelt:
Ich: Was zur Hölle. Gesendet: 4. Februar
Ich: Was zur Hölle. Empfangen: 4. Februar
Ich: Was zur Hölle? Gesendet: 26. März
Ich: Was zur Hölle? Empfangen: 26. März
Ich: Was zur Hölle. Gesendet: 14. Mai
Ich: Was zur Hölle. Empfangen: 14. Mai
Ich: Was zum? Gesendet: 4. Juli
Ich: Was zum? Empfangen: 4. Juli
Ich: Was. Zur. Hölle. Gesendet: 11. Oktober
Ich: Was. Zur. Hölle. Empfangen: 11. Oktober
Ich: Was zur Hölle, verdammt! Gesendet: 20. Dezember
Ich: Was zur Hölle, verdammt! Empfangen: 20. Dezember
Ich: Was zur Hölle. Gesendet: 20. Dezember
Ich: Was zur Hölle. Empfangen: 20. Dezember
Ich: Was zur Hölle? Gesendet: 24. April
Ich: Was zur Hölle? Empfangen: 24. April
3 Strategien, seinem Vater aus dem Weg zu gehen, die Darren kurz in Erwägung zieht, bevor er mit seinem Rucksack wieder die Treppe herunterkommt:
Aus dem Fenster klettern und nach unten springen, worüber er immerhin lange genug nachdenkt, um zu dem Schluss zu kommen, dass der Aufprall, selbst wenn er zuerst sein Kissen und seine Decke hinauswerfen würde, zu hart wäre.
Aus seinem iPhone, einem halb zusammengebauten solarbetriebenen Radio, das er zum elften Geburtstag bekommen hat, und vielleicht ein paar gebrauchten Unterhosen eine Zeitmaschine basteln, damit er in die 1890er-Jahre zurückreisen kann, die, wie Nate ihm mal erzählt hat, wahrscheinlich das unchaotischste Jahrzehnt in den letzten hundertfünfzig Jahren waren.
Sich in seinem Schrank verstecken, eine Möglichkeit, die er am längsten und am ernsthaftesten erwägt, bis ihm einfällt, dass »aus dem Schrank kommen« im Englischen ein anderer Ausdruck für »sich outen« ist, wobei er diesen Doppelsinn unter anderen Umständen vielleicht komisch finden würde, aber jetzt, in diesem Moment, nicht die Bohne.
10 Themen, die Darren und sein Dad während der Fahrt zur Schule nicht erörtern:
Die globale Erwärmung.
Die Aussichten für Musiker, im Zeitalter digitaler Tauschbörsen von ihrer Musik leben zu können.
Das Für und Wider sozialer Medien.
Die Chancen für eine friedliche Beilegung des Konflikts zwischen Arabern und Israelis.
Die sexuelle Orientierung seines Dads.
Das Recht der Frauen auf selbstbestimmte Fortpflanzung.
Was eigentlich passieren wird, wenn die Ölreserven der Erde aufgebraucht sind.
Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwo im Universum noch anderes intelligentes Leben existiert.
Die Tatsache, dass Darren und sein Dad für morgen eine vierstündige Autofahrt geplant haben, um Nate zu besuchen, was offensichtlich bedeutet, dass sein Dad seine Mitteilung heute Morgen gemacht hat, um Darren ein bisschen Zeit zu geben, die Tatsache zu verdauen, dass Dad = schwul ist, damit sie, wenn der morgige Tag gekommen ist, wieder in Dads sportliche Tuntenschleuder steigen und sich ganz in Ruhe und ohne Unterbrechung darüber unterhalten können, o welche Freude.
Die Frage, ob es einen gütigen Gott geben kann, wenn es so viel unnötiges Leid auf der Welt gibt.