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Buchforst-Connection

IV. Band der Peter-Merzenich-Reihe

Ein Kriminalroman von Gereon A. Thelen
Nach Motiven von Mark Klobukowski

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Math. Lempertz GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des

1. Auflage – Februar 2016

Text: Gereon A. Thelen

Titelbild: fotolia

ISBN: 978-3-945152-59-1
eISBN: 978-3-960580-16-4

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Gereon A. Thelen

wurde 1978 in Köln geboren. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung beim Zolldienst, sein Studium an der Fachhochschule schloss er als Diplom-Finanzwirt ab. Seit 2005 arbeitete er als Zollfahndungsbeamter beim Zollkriminalamt in Köln-Dellbrück. Heute ist er, noch immer in Dellbrück, für das Zollfahndungsamt Essen tätig. Sein Spezialgebiet ist das Verbrauchsteuerrecht. Gereon A. Thelens erster Peter-Merzenich-Krimi, „Ehrlos“, erschien 2009.

Buchforst-Connection

IV. Band der Peter-Merzenich-Reihe

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Ein Kriminalroman von Gereon A. Thelen
Nach Motiven von Mark Klobukowski

Prolog

Es war eine ausgelassene Feier, zu der mein bester Freund Marcel und seine Ehefrau Diana in den Schrebergarten von Marcels Vater Erich an jenem denkwürdigen Samstag eingeladen hatten. Die Septembersonne schien und hüllte die Gartenanlage am Pfälzischen Ring im äußersten Zipfel des Stadtteils Deutz in stimmungsvolles Licht. Vögel zwitscherten, ein lauer Wind streifte durch die hohen Hecken, die Erichs Parzelle begrenzten. Ab und an konnte man von dem Bahndamm, der hinter der Kleingartensiedlung lag, das Rauschen vorbeieilender Züge vernehmen. Störender empfand ich die Automassen, die sich die Zubringerstraße Richtung Zoobrücke und Autobahn hinaufquälten. Auch sie befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Gartenkolonie und torpedierte mit ihrem lärmenden allsamstäglichen Einkaufs- und Freizeitpendlerverkehr die Ruhe und Stille, die dieser beschauliche Gartenkomplex auszustrahlen versuchte.

Diana und Marcel Koslowski feierten ihren fünften Hochzeits- und Marcels siebenunddreißigsten Geburtstag. Im Innern des verhältnismäßig großen Gartenhauses hatten meine Freunde ein Buffet und eine Bar aufgebaut. Mehrere Fässer Kölsch waren in der hintersten Ecke des Gebäudes gestapelt.

Während sich die anwesenden Gäste – mehrere etwas weltfremd erscheinende angestellte Informatiker in Marcels Webdesign Firma, einige Freunde und Verwandte der beiden Eheleute sowie Marcels Vater Erich und dessen bester Freund Hartmut mitsamt Ehefrau Brigitte – zu den Klängen einer überdurchschnittlich guten Best-of-Eighties-CD unterhielten, betrachtete ich das Gartenhaus und schwelgte in Erinnerungen.

Es waren definitiv bessere Zeiten gewesen, als Marcel und ich hier auf dem Dachboden in unseren Schlafsäcken gelegen und den Hits von Uriah Heep, Status Quo und Genesis gelauscht hatten, die aus dem mitgebrachten Kassettenrekorder ertönten. Nie werde ich diesen Tag vergessen, an dem ich den damals elfjährigen Marcel aus jugendlichem Leichtsinn dazu überredete, seine erste – und bis heute letzte – Zigarette zu rauchen. Mann, war dem armen Kerl schlecht …

Etwas später, als unser Interesse für das weibliche Geschlecht erwacht war, luden wir ein paar Mädchen aus unserer Schulklasse ein und feierten hier zu den Klängen von Hot Chocolate und Dr. Hook wilde Partys, die nicht gerade jugendfrei waren …

Tja, das alles lag weit mehr als zwanzig Jahre zurück. Damals genossen wir noch das Leben der unbeschwerten Jugend in vollen Zügen.

Auch wenn die „Location“, wie man so schön auf Neudeutsch sagt, dieselbe war – bis auf die Erinnerung an die schöne Vergangenheit war von jener Zeit so gut wie nichts übriggeblieben.

Schließlich hatte sich seither – bei mir zumindest – vieles zum Negativen gewandelt. Von Maria war ich seit mehr als zwei Jahren geschieden, mein Privatleben war aus den Fugen geraten. Ich sah zu Diana und Marcel rüber, die bei einem Glas Kölsch mit Marcels Sekretärin Sabrina Polster plauderten und sich umarmten. Demgegenüber erschien mir mein Leben verpfuscht und sinnlos. Manchmal fragte ich mich, warum ich überhaupt noch da war.

Den letzten Rest hatte mir der vergangene Rosenmontag gegeben, als ich Maria aus reinem Zufall knutschenderweise im Müller-Lüdenscheidt entdeckt hatte. Seit diesem Tag, der ziemlich genau ein halbes Jahr zurücklag, war jeder Morgen, an dem ich erwachte, eine Qual. Ich musste mich jedes Mal aufs Neue überwinden, ins Büro zu gehen. Ohne meine „Freunde“ Kölsch und Schnaps wäre es mir wahrscheinlich oftmals unmöglich erschienen, meiner täglichen Arbeit nachzugehen. So langsam musste ich mir eingestehen, dass ich sehr dicht an der Schwelle zur Alkoholkrankheit stand. Aber warum hätte ich daran etwas ändern sollen? Meiner Exfrau wäre es wahrscheinlich egal gewesen, wenn ich irgendwann krepieren würde. Immerhin hatten wir seit diesem schlimmen Montag Anfang März keinerlei Kontakt mehr gehabt. Wie es ihr wohl ging? Ob sie manchmal auch an mich dachte?

Ich war viel zu stolz, den ersten Schritt zu wagen und sie anzurufen. Schließlich hatte sie mich verletzt und betrogen – zumindest redete ich mir das ein, um mich ein wenig besser zu fühlen.

Bereits den ganzen Tag verspürte ich starke Kopfschmerzen, die vom vergangenen Abend herrührten. Nach dem Dienst war ich mit meinem Freund und Kollegen Dario auf einen „Absacker“ in Gilbert’s Pinte am Zülpicher Platz eingekehrt. Nun, daraus war letztendlich ein Männerabend geworden, der bis in die frühen Morgenstunden gedauert hatte …

Trotz des heftigen Pochens in meinem Schädel hatte ich seit meiner Ankunft um drei schon wieder einige Gläser Kölsch zu mir genommen.

Marcels Vater Erich kam zu mir herüber. Er lächelte mich an und nahm mich in den Arm. „Na, Jung, ist doch ’ne tolle Party, oder?“

Im Hintergrund sang Murray Head seinen Welterfolg „One Night In Bangkok“.

„Doch, ist ganz lustig.“

„Du siehst heute völlig fertig aus“, sagte mein väterlicher Freund, in dessen Verantwortung die Leitung des Kriminalkommissariats 1 der Polizeiinspektion 8 lag, und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter.

„Das find ich aber auch!“ Hartmut Groß, Erichs bester Freund und mein ehemaliger Dienstgruppenleiter auf der Kalker Hauptwache, hatte sich zu uns gesellt und schüttelte mir die Hand. Ich unterhielt mich eine ganze Zeit mit den beiden älteren Kollegen, die ich – wie Marcel – seit meiner frühesten Jugend kannte. Sie erzählten von ihrer „Sturm- und Drangzeit“, in der sie sowohl privat als auch in ihrer damaligen Eigenschaft als Streifenbeamte unsere Heimatstadt Köln unsicher gemacht hatten. Ich fragte mich, ob sie bei ihrer Schilderung der Verfolgung eines Bankräubers mit ihrem VW Käfer anno 1972 nicht maßlos übertrieben. Aber das war mir egal. Ich genoss ihre Gesellschaft.

***

Inzwischen war es bereits halb fünf. Die beiden Gastgeber Diana und Marcel gesellten sich zu uns.

„Pitter, mein alter Freund, vielen Dank für deine tollen Geschenke!“ Marcel umarmte mich, was ihm seine zwölf Jahre jüngere Ehefrau alsdann nachmachte. Zu ihrem Hochzeitstag hatte ich ihnen Gutscheine für einen Wellnesstag in der Claudius Therme am Rheinpark geschenkt.

Aber Marcel schien sich noch mehr über mein ganz persönliches Geburtstagsgeschenk zu freuen. Es war der vergrößerte Abzug eines inzwischen schon verblassten Fotos, das ihn und mich bei der feierlichen Verleihung unserer Urkunden zum „Polizeihauptwachtmeister zur Anstellung“ – einem Dienstgrad, den es inzwischen schon seit etlichen Jahren überhaupt nicht mehr gab – im Februar 1988 zeigte. Stolz hielten wir darauf unsere Urkunden in Erichs Kamera und lächelten Arm in Arm um die Wette. Für diesen bedeutenden Tag hatten wir uns mächtig rausgeputzt und sogar die Messingknöpfe der Dienstjacke unserer grün-bambusbeigefarbenen Uniform auf Hochglanz poliert.

Doch zumindest bei Marcel, der mir über unsere langjährige Freundschaft hinaus ein treuer Streifenpartner wurde, hielt die Begeisterung für unseren Beruf nicht allzu lange an. Knapp sechseinhalb Jahre nach dem Entstehen dieser Aufnahme quittierte er den Polizeidienst und studierte Wirtschaftsinformatik. Inzwischen besaß er seine eigene Firma und lachte sich wahrscheinlich insgeheim über mein vergleichsweise mickriges Gehalt kaputt.

Kaum hatten mir die beiden gedankt, gingen sie zum Gartentor und begrüßten meinen Kollegen Dario Zimmermann und seine Verlobte Beate, die gerade eingetroffen waren. Auch ihn schien der vergangene Abend mitgenommen zu haben. Etwas lustlos schlurfte er in meine Richtung, nachdem er mich erblickt hatte.

„Na, Pitter, hast du den gestrigen Abend auch überlebt?“

„Hör bloß auf, Mann. War ganz schön heftig, oder?!“

„Wem sagst du das. Ich werd heute gar nicht mehr wach!“

Kriminalkommissar Zimmermann begrüßte Erich und Hartmut, die zwischenzeitlich ein neues Fass angestochen hatten und mit mehreren Kölsch in der Hand zu unserer kleinen Gruppe zurückkamen. Mein zunehmender Alkoholpegel ermöglichte es mir, die Party ohne meine trüben Gedanken genießen zu können.

Es war fünf, als die ersten Gäste begannen, sich zu den Klängen von „A Walk In The Park“ der Nick Straker Band im Rhythmus zu bewegen. Diana entdeckte mich am Rande des Gartenhauses auf der Holzbank sitzend und forderte mich zum Tanzen auf.

Wir hampelten eine ganze Weile herum, bis mir die Puste ausging. „Tut mir leid, Diana, aber ich muss mich ein wenig ausruhen“, sagte ich und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Mein knallbuntes Hawaiihemd klebte auf der Haut. Mit gespielter Entrüstung schüttelte sie den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften. „Na toll! Da will ich einmal mit dem besten Freund meines Liebsten tanzen und dann macht der schlapp! Du bist genauso tanzfaul wie mein Mann!“

„Aber Kind, dafür hast du doch mich!“ Erich Koslowski war hinter seine Schwiegertochter getreten und nahm sie in den Arm. Mein Ziehvater schaute mich an. „Soll ich dich ablösen, Jung?“

„Wenn’s dir nix ausmacht – ich hab genug …“

„Manchmal bist du ’n richtig schlapper Sack! Was willst du erst mal machen, wenn du in mein Alter kommst?“, fragte der Erste Kriminalhauptkommissar und tanzte mit der Frau seines Sohnes zu den Klängen des „Ketchup Songs“, des nervigen Sommerhits aus dem Vorjahr.

Ich konnte dieses Lied inzwischen nicht mehr hören. Die übrigen Gäste schienen meine Meinung nicht zu teilen. Vor allem Marcels hochintelligente Mitarbeiter, die spindeldürren Informatiker mit Seitenscheitel, dicker Hornbrille und Bundfaltenhose, bewegten sich – wenn auch höchst ungelenk und disharmonisch – zu dem Song, den selbst die Radiosender in der letzten Zeit aus ihrem Programm verbannt hatten. Dabei bildeten sie einen Kreis um die attraktive Sabrina Polster, die die spätpubertären, verträumten Blicke ihrer unerfahrenen Kollegen nur so auf sich zu ziehen schien. Hilfesuchend sah sie mich an. Als „Freund und Helfer“ bahnte ich mir meinen Weg durch die unbeholfene IT-Crew, die nicht so recht wusste, wie ihr geschah.

„Möchtest du was trinken?“, fragte ich die Dunkelhaarige, die mich am Telefon schon zigmal zu ihrem Chef Marcel durchgestellt hatte und die ich schon Ewigkeiten kannte.

„Sehr gerne!“, sagte sie und ließ sich widerstandslos von mir am Handgelenk abführen. Die umstehenden Computerfreaks sahen mich verdutzt an – gerade so, als hätte ich soeben ihre Festplatte gelöscht.

Ich zapfte zwei Kölsch und setzte mich mit Sabrina auf die hölzerne Bank der Biertischgarnitur im Schatten des Gartenhauses. „Du hast ja echt tolle Kollegen! Die begeistern mich immer wieder aufs Neue.“

Marcels hübsche Sekretärin verdrehte die Augen. „Wem sagste das?! Absolute Nervtöter! Der einzig ‚Normale‘ in der Firma ist der Chef selbst. Aber der ganze Rest – vergiss es! Die haben nix als Computer im Kopf. Grässlich! Ich bin dir so dankbar, dass du mich endlich vor denen gerettet hast!“

Ich nickte. Es war Viertel nach sechs. Eine ganze Weile plauderte ich mit Sabrina über meinen Job, für den sie sich – wie immer, wenn wir uns sahen – sehr zu interessieren schien.

Ich beobachtete meinen Kollegen Dario, der mit seiner Beate engumschlungen tanzte. Auch die übrigen Gäste bewegten sich zu „Come On Eileen“ der Dexy’s Midnight Runners. Die Stimmung war ausgelassen fröhlich.

Gegen sieben verabschiedete sich Sabrina, meine interessierte Zuhörerin.

Langsam lichteten sich die Reihen; mehrere Mitarbeiter Marcels, die eine derart ausgelassene Partystimmung aus ihrem computerdominierten Mikrokosmos wohl nicht kannten, gingen ermüdet nach Hause. Nun wurde es zunehmend kühler. Marcel erblickte mich in Gedanken versunken am Tisch sitzend und kam zu mir herüber. „Was ist mit dir los? Du bist in letzter Zeit irgendwie komisch.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Gar nix. Bin nur noch ein bisschen fertig von gestern Abend.“

Mein bester Freund schaute mich skeptisch an. „Ich bitte dich, Pitter! Wir kennen uns lange genug. Also: Was ist passiert?“

„Lass uns was trinken, Mann“, sagte ich und stand auf. Nachdem ich zwei frische Kölsch gezapft hatte, ging ich wieder zu meinem Platz. Marcel sah mich durchdringend an – wie seinerzeit die Fußgänger, die er dabei erwischt hatte, als sie bei Rot über die Ampel gingen.

„Super Party heute!“, warf ich ein, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Wir stießen an. Ich sah Hartmut und Brigitte, die miteinander tanzten und sich anlachten. Am anderen Ende des Gartens standen Beate und Dario, die sich innig küssten. Diana kam zu uns und setzte sich auf Marcels Schoß. Wo ich auch hinblickte – überall waren glückliche Paare, die Zärtlichkeiten austauschten. Je später es wurde, umso überflüssiger kam ich mir in dieser Runde vor. Nachdem sich auch Diana und Marcel zum Tanzen verabschiedet hatten, saß ich wieder allein an dem Tisch und trank ein Kölsch nach dem anderen.

Als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, war es bereits kurz vor acht. Außer meinen drei befreundeten Pärchen und Erich, der sich langsam daran machte, die Spuren der Party zu beseitigen, war niemand mehr anwesend. Ich ging erneut zu dem Fass und zapfte mir ein weiteres Kölsch. Der Rest der Gruppe nahm kaum noch Notiz von mir. Aus der Stereoanlage ertönte „Voyage, Voyage“ von Desireless. Mit jedem Schluck Kölsch wurde es mir wärmer. Erich prostete mir zu und setzte sich neben mich. Wenigstens er bemerkte mich noch. Wir erzählten uns Geschichten aus längst vergangenen Zeiten als Streifenbeamte – und tranken. Ich fühlte, dass sich mein väterlicher Freund in dieser Runde verliebter Turteltäubchen genauso deplatziert fühlte wie ich.

Gegen halb neun verschwand er kurz in seinem Gartenhaus und kam mit einer Flasche Bommerlunder sowie zwei Schnapsgläsern zurück. Der eiskalte Klare tat meiner angeschlagenen Seele gut. Wie aus weiter Ferne hörte ich, wie Marcel am Telefon mit jemandem sprach.

„Ja, wir sind noch in Erichs Garten – aber allzu lange werden wir wohl nicht mehr machen. Die meisten sind schon gegangen … Echt?! … Ja, der ist auch hier … Ich weiß nicht, ob das so ’ne gute Idee ist … Hey, da misch ich mich nicht ein … Musst du wissen … Okay, dann bis gleich …“

Ich bemühte mich, Erichs rührender Geschichte zuzuhören, die von einem Kalker Frührentner handelte, der aus Verzweiflung seinen Vermieter verprügelt hatte. Der herzlose Hausbesitzer hatte ihm und seiner pflegebedürftigen Frau aus „Eigenbedarf“ kurzerhand die Wohnung gekündigt und wollte sie so schnell wie möglich auf die Straße setzen. Und das nach gut dreißig Jahren. Da das Rentnerpaar so gut wie mittellos war und sie nicht wussten, wo sie hinsollten, war der Mann einfach durchgedreht. Erich hatte ihn an diesem Morgen stundenlang vernommen und war nun sichtlich mitgenommen. So schlimm diese Geschichte auch war: Ich war mit meinen Gedanken völlig woanders. Maria ließ mich einfach nicht los …

Unbeirrt tranken Marcels Vater und ich weiter aus der Flasche Schnaps. Je länger wir tranken, umso erschreckter musste ich feststellen, dass ich die Wirkung des Alkohols nicht im Geringsten spürte. Ich hatte mich viel zu sehr an hochprozentige Spirituosen gewöhnt.

Zu diesem Zeitpunkt wäre es sicherlich das Vernünftigste gewesen, mit dem Trinken aufzuhören und nach Hause zu gehen. Aber daran dachte ich nicht mal im Traum. Stattdessen goss Erich immer weiter nach und lallte vor sich hin – im Gegensatz zu mir hinterließ der Genuss des Bommerlunders sicht- und hörbare Spuren bei meinem Ziehvater. Aber ich gab mir auch immer weniger Mühe, ihn zu verstehen. An diesem Abend tranken wir in kürzester Zeit schier um die Wette. Alles um uns herum schien bedeutungslos geworden zu sein.

Selbst durch die Begrüßungsorgie, die nunmehr am Gartentor stattfand, ließen wir uns nicht stören.

Vorerst zumindest nicht …

1. Kapitel: Der Schock

Kleingartenanlage am Pfälzischen Ring, 50679 Köln-Deutz, Samstag, 6. September 2003, 21:37 Uhr

Diana und Marcel begrüßten eine Frau, die im Eingangsbereich des Gartens stand. Als ich sie erblickte, fühlte ich mich wie vom Schlag getroffen: Es war meine Exfrau Maria! Mit Diana und Marcel kam sie zu Erich und mir an den Tisch. Ich spürte die aufkommende innere Unruhe. Ein stechender Schmerz durchfuhr mein Herz. Meine Gefühle für sie hatten sich noch immer nicht geändert – auch wenn ich wütend und enttäuscht war.

Maria kam direkt auf mich zu und streckte mir ihre Hand entgegen. Ihr Blick war jedoch alles andere als warmherzig.

„Hallo Pitter, wie geht’s dir? Wir haben uns ja lange nicht gesehen“, sagte sie lapidar.

„Kann schon sein. Und bei dir ist auch alles klar?“, fragte ich gespielt gleichgültig. Ich musste wieder mal feststellen, dass sie mich immer noch faszinierte. Obwohl ich sie eigentlich längst vergessen haben wollte … „Sicher“, antwortete sie schnippisch. Sie deutete auf Erich und die Flasche Schnaps, die vor uns auf dem Tisch stand. „Dann will ich euch zwei auch mal nicht weiter stören. Ich bin eh nur vorbeigekommen, um Diana und Marcel zu gratulieren.“

„Aber ein Gläschen Sekt wirst du mir doch nicht abschlagen können?!“, meinte Diana und umarmte Maria, mit der sie sich schon vor Jahren angefreundet hatte. Ich erinnerte mich an die schönen Pärchenabende, die ich wahrscheinlich nie vergessen würde.

Während Diana ihre Freundin in ein Gespräch verwickelte, versuchte ich krampfhaft, mich auf das Gespräch mit Erich zu konzentrieren, den ich von Minute zu Minute und von Glas zu Glas weniger verstand. Er brachte kaum noch einen klaren Satz heraus. Ich hoffte darauf, dass Maria gleich noch mal zu mir an den Tisch kommen und sich mit mir unterhalten würde. Aber meine Erwartungen wurden bitter enttäuscht. Sie ignorierte mich regelrecht und schien sich prächtig zu amüsieren. Meine Wut wurde immer stärker. Wenn sie nicht mit mir reden wollte – warum musste sie dann überhaupt auf der Party auftauchen?

Jedenfalls schien Marcel gemerkt zu haben, dass ich innerlich kochte. Als eine Art „Friedenspfeife“ stellte er drei randvolle Kölsch auf unseren Tisch. „So, ich finde, wir drei sollten mal zusammen anstoßen. Prost, Männer!“

Erich hatte sichtlich Mühe, das Glas zu ergreifen. Ich sah meinem Freund fest in die Augen. „Warum ist die hier?“

„Hey, Jung, sie hat eben angerufen, ob sie noch vorbeikommen kann. Schließlich ist sie auch ’ne Freundin von uns. Da konnte ich schlecht Nein sagen. Tut mir leid!“

„Ach, ist doch echt Scheiße! Na ja, lass uns trinken!“, sagte ich und kippte das randvolle Glas in einem Zug runter. Marcel blickte mich besorgt an. „Du bist immer noch nicht drüber hinweg, oder?“

„Und wenn’s so wäre? Ich kann eh nix dran ändern. Maria scheint das ja anders zu sehen. Wahrscheinlich ist’s zu spät. Komm, reden wir von was anderem!“

Marcel faselte irgendwas von unserer Vereinsweihnachtsfeier, die er momentan plante, und von einem Großauftrag für ein Unternehmen aus Hannover, den er an Land gezogen hatte. Alltägliche Themen, die mich zu diesem Zeitpunkt nicht im Geringsten interessierten. Stattdessen beobachtete ich verstohlen Maria, die sich mit Diana und dem Ehepaar Groß sowie mit Dario und Beate unterhielt.

Obwohl ich wenige Minuten vor dieser merkwürdigen Situation fast lethargisch auf mein Schnapsglas gestarrt hatte, war ich mit einem Schlag wieder hellwach. Die Wut stieg immer weiter in mir auf und schien meinen Kopf zum Platzen zu bringen.

Was bildete sich diese blöde Kuh eigentlich ein, auf der Party meines besten Freundes aufzutauchen?

„Hier, Pitter, trink noch was!“, sagte Marcel und reichte mir ein Glas Kölsch. „Danke, mein Freund!“, sagte ich und stieß mit ihm an. Erichs Augen waren zwischenzeitlich zugefallen. Maria hielt es immer noch nicht für nötig, mit mir zu reden.

Langsam fiel es auch mir schwer, klar zu denken. Erich erschien nun vor meinen Augen vereinzelt doppelt, der Garten begann sich ab und an um mich zu drehen. Aber wir tranken weiter. Tja, während Marcel im Inneren der Laube verschwunden war, um Ordnung zu schaffen, lachte Maria immer lauter und ließ Sätze wie „Glaubt mir, ich hab noch nie einen so netten Mann wie Stefan kennengelernt!“ oder „Wir passen so gut zusammen!“ fallen. Sie dachte wohl, dass ich ihr Gespräch nicht mehr mitbekäme, da ich schon einiges getrunken hatte und in den Seilen hing.

Je länger ich diesem gequirlten Liebesgesülze und diesen Lobhudeleien auf den mir unbekannten Stefan – offensichtlich Marias neuem Lover – zuhören musste, desto unerträglicher wurde es für mich. Ich kann selbst heute beim besten Willen nicht nachvollziehen, wie ich diesen Scheiß tatsächlich fast zwei Stunden aushalten konnte. An diesem Abend wurde meine Geduld auf eine mehr als harte Probe gestellt. Marias Benehmen war doch einfach nur widerwärtig – auch wenn sie davon ausging, dass ich es nicht mitbekam!

Irgendwann reichte es mir dann doch. „Natürlich wollen wir Kinder haben!“, sagte sie, was die anwesenden Damen mit Sätzen wie „Oh, wie schön!“ quittierten. Ich kippte meinen Schnaps runter und ging zu dieser harmoniesüchtigen Truppe. Aus einiger Entfernung vernahm ich mehrere lautstarke Signalanlagen von Einsatzfahrzeugen.

„Willst du das den armen Kindern tatsächlich antun, Maria?!“, sagte ich zu meiner verdutzten Exfrau. „Ich mein – die kannst du ja auch nicht nach ein paar Jahren in die Wüste schicken, wenn du kein Interesse mehr an ihnen hast. So ’n Kind heißt Verantwortung. Und ’ne eiskalte, karrieregeile Tussi wie du hat doch eh nur ihren eigenen Vorteil im Kopf! Da ist kein Platz für andere! Also ich würd mir das gut überlegen!“

Die ringsum stehenden Pärchen schauten mich bestürzt an. Maria war vor Schreck erstarrt. Ihr wurde nun bewusst, dass ich ihre Unterhaltung Wort für Wort verfolgt hatte. „Pitter, ich …“

Aber ich winkte nur barsch ab und ging zu Erich rüber, der schon wieder eingeschlafen war.

Ich konnte vernehmen, wie die Damen untereinander tuschelten. „Nein, ist okay. Ich werde jetzt eh abgeholt! Ist auch besser, wenn ich gehe! Ich werde draußen warten“, sagte Maria und verabschiedete sich von den anderen.

Marcel kam zu mir an den Tisch. „Was war das denn eben?“, wollte er von mir wissen.

„Ach, ist doch wahr! Diese blöde Kuh hat von ihrem Neuen erzählt! Da bin ich halt ausgerastet!“

Maria war gegangen. Sie hatte tatsächlich einen anderen. Fassungslos starrte ich auf den Gartentisch. Tränen stiegen mir in die Augen. Marcel nahm mich in den Arm. „Hey, ist ja gut! Irgendwann wirst du auch wieder glücklich!“

Aber ich schüttelte ihn ab. „Lass mich doch in Ruhe!“, fauchte ich ihn an. „Ihr könnt mich alle mal! Ich hau ab!“ Ich sprang auf, wobei ich das Kölschglas auf den Boden schmiss.

Das Martinshorn-Konzert im Hintergrund war nun bedrohlich nahe. Marcel packte mich unsanft an der Schulter. „Ich glaub, das wäre jetzt auch besser, Mann!“

Wie vom Donner gerührt schaute ich Marcel an. Nicht nur, dass mein bester Freund meiner Verflossenen gestattete, auf seiner Party aufzutauchen und von ihrem Neuen zu reden – nein, er schmiss mich auch noch raus! Das ertrug ich nicht. „Ist das dein Ernst?! Okay: Dann feier noch schön – ohne mich!“, schrie ich wutentbrannt. Dario und Hartmut glaubten an eine Eskalation und packten mich an Ärmel und Schultern. Ich schüttelte sie jedoch ab. „Glaubt ihr wirklich, ich fang hier Ärger an?!“ Kopfschüttelnd und wortlos verließ ich Erichs Parzelle und bahnte mir den Weg durch die Kleingartenanlage. Über das Verhalten meiner Freunde war ich unendlich enttäuscht. Da entdeckte ich Maria, die am Straßenrand stand. Ich erstarrte. Meine Verzweiflung und die unerwiderten Gefühle waren unerträglich.

Als dann auch noch ein Z3 mit offenem Verdeck anhielt und ein blonder Hüne angeberisch über die Beifahrertür sprang, um Maria in die Arme zu schließen und zu küssen, reichte es mir.

„Ist das dein Stefan?“, brüllte ich über die ganze Straße, die vom flackernden Blaulicht, das offensichtlich aus der Karlsruher Straße kam, erleuchtet wurde. Maria hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, als sie mich entdeckte.

Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. Es schien, als ob sie ihn zum Aufbrechen drängen wollte. Dieser Stefan blickte sich hilflos um und grinste verlegen in meine Richtung, als ich auf sie zukam. Meine Wut steigerte sich fast ins Unermessliche, als dieser Idiot, der fast zwei Köpfe größer war als ich und den Blick auf seine strahlend weißen Zähne preisgab, mir die Hand geben wollte, obwohl Maria versuchte, ihn davon abzuhalten.

„Hallo Pitter, schön, dich kennenzulernen. Ich heiße Stefan. Stefan Osterloh. Mary hat mir schon viel von dir erzählt.“

Oh Gott, was für ein Arschloch! Wie konnte er sie nur „Mary“ nennen? Auf so ’ne hirnrissige Idee war ich nie gekommen …

Ich verspürte den starken Wunsch, mit diesem Penner mal für ein paar Runden in den Ring zu steigen. Mal sehen, ob der sich dann immer noch freuen würde, meine Bekanntschaft zu machen.

„Tach. Du bist also Marias Neuer?“ Ich muss ihn angesehen haben, als wollte ich ihn umbringen. „Na ja, ich wusste gar nicht, dass du so ’nen schlechten Geschmack hast!“

„Hey, was soll das denn? Also, das war jetzt nicht besonders nett!“, so sein unbeholfener Einwurf.

„Oh Mann, Maria, was hast du dir denn da für ’nen Weichspüler an Land gezogen?! Ist das ein Scheiß hier! Das ist ja kaum zum Aushalten!“, sagte ich und verschwand grußlos, bevor ich mich nicht mehr unter Kontrolle halten könnte.

Ich ging auf die Fußgängerbrücke, die den Pfälzischen Ring überspannte und zu der Straßenbahnhaltestelle führte, und schaute auf die Uhr: 23.32 Uhr. Da ich mich noch nicht vollends abgeschossen hatte, beschloss ich, mit der Bahn in die Altstadt zu fahren. Vielleicht war im Haxenhaus oder in der Kulisse noch was los. Aber zunächst wollte ich mich ein wenig ausruhen.

Wie ein nasser Sack ließ ich mich auf den kühlen Asphaltboden des Überwegs fallen, lehnte mich an das Metallgeländer und betrachtete den sternenklaren Himmel, während ich vom Blaulicht mehrerer Einsatzfahrzeuge in der Nähe angestrahlt wurde.

Allen Ernstes fragte ich mich, welchen Sinn dieses Scheißleben überhaupt noch hatte. Obwohl ich spätestens nach dem Vorfall von Rosenmontag wusste, dass es völlig überflüssig war, noch weiter um Marias Gunst zu kämpfen, schmerzte es mich nun maßlos, sie mit einem neuen Mann zu sehen. Schlagartig wurde mir klar, dass unsere Beziehung tatsächlich Geschichte war. Diese Erkenntnis bestärkte mich in meinem Wunsch, meinen Schmerz im Alkohol zu ertränken.

Minutenlang saß ich auf dem Überweg und schaute gen Himmel. Ich beobachtete einen Jet, der alle Scheinwerfer und Positionslampen eingeschaltet hatte und sich im Landeanflug auf den Flughafen Köln/Bonn befand.

Eine Minute später waren mir die Augen zugefallen. Ich schlief tief und fest.

Drei auf die Karlsruher Straße abbiegende Fahrzeuge holten mich aus meinem Ausflug ins Traumland in die gnadenlose Realität zurück. Ich sah gerade noch das Heck des weißen Sprinter-Kastenwagens, dessen Reflektorstreifen von den Straßenlaternen taghell beleuchtet wurden. Die Anwesenheit dieses Mercedes-Lieferwagens, den ich nur allzu gut kannte, verhieß nichts Gutes: Es handelte sich um den Tatortwagen des Präsidiums, der in seinem großen Laderaum alle möglichen Gerätschaften und Utensilien zur Durchführung der Spurensicherung an einem Tatort beherbergte.

Ich sah, wie der Sprinter nach wenigen Metern auf der Karlsruher Straße abbremste und an einer kleinen Einmündung am rechten Fahrbahnrand zum Stillstand kam, an der bereits mehrere Einsatzfahrzeuge geparkt waren. Da ich die Gartenanlage schon Ewigkeiten kannte, wusste ich, wozu diese Einmündung gehörte, zu der die mit weißen Schutzanzügen bekleideten Beamten nun liefen: zu der Wermelskircher Straße, die in diesem Abschnitt nur einen Anliegern vorbehaltenen Weg bildete, welcher die Grenze zwischen der Gartenkolonie und dem Bahndamm markierte.

Obwohl mich die Neugier gepackt hatte, harrte ich noch mehrere Minuten an meinem Standort aus und beobachtete das Schauspiel, das sich mir in einigen Metern Entfernung bot. Zwei emsige Beamte schienen die gesamte Fracht des Lieferwagens zu entladen. Die beiden Kollegen entnahmen dem Transporter Stativstrahler und schwere Aluminiumkoffer.

Schließlich raffte ich mich doch auf und ging zu der Einmündung an der Karlsruher Straße. Ich kämpfte mich durch die dichten Reihen geparkter Einsatzfahrzeuge die kleine Anhöhe hinauf. Die Blaulichter, Stroboskopblitzer, Abblendscheinwerfer und Warnblinker der Streifenwagen, des Rettungswagens sowie des Notarzteinsatzfahrzeuges sorgten für ein buntes Lichtermeer, das den „Kölner Lichtern“ alle Ehre gemacht hätte. Zwei Rettungssanitäter und der Notarzt bestiegen gerade ihre Fahrzeuge und brausten davon.

Ein uniformierter Polizeioberkommissar, auf den ich direkt zulief, überschlug sich regelrecht bei seinem an die Leitstelle adressierten Funkspruch. Mit festem Griff hielt er das klobige Handsprechfunkgerät umklammert.

„KK 11 und ED am ‚TO‘ eingetroffen!“, sagte er laut und hektisch.

„Ja, verstanden!“, entgegnete eine Stimme aus dem Lautsprecher des Funkgeräts.

Die unzähligen Lampen und Scheinwerfer brachten seinen schwarzen Lederblouson zum Glänzen. Da er in seinem Funkspruch von einem „TO“, also einem Tatort und vom Eintreffen meines KK 11 und des Erkennungsdienstes, der für die Spurensicherung zuständig war, gesprochen hatte, wollte ich wissen, was genau passiert war.

Doch ich wurde am Weitergehen gehindert. Jemand griff mir von hinten an die Schulter.

„Hallo Pitter, du auch hier? Was ist denn jetzt genau passiert? Deine Kollegen von der Trachtengruppe wollen nicht mit uns reden. Wir wissen nur, dass der Tote ein Ausländer ist. Gibt’s da vielleicht einen rechtsextremistischen Hintergrund?“ Hinter mir stand ein untersetzter Mann meines Alters, der zu Jeanshemd und -hose eine schwarze Lederweste trug.

Sein strähniges, nackenlanges, schwarzes Haar mit grauen Koteletten hielt er mit einer Sonnenbrille im Zaum, die er wie einen Haarreif auf dem Kopf trug. Sein entschlossen dreinblickendes Gesicht war mit Pockennarben übersät. Der ihn begleitende Fotograf hielt die Spiegelreflexkamera bereit. In seiner Hand hielt Hannes Lüssem, der von allen nur „Der Schnelle Schäng“ genannt wurde und als Polizeireporter für die Kölner Lokalredaktion der BILD arbeitete, einen Notizblock und sah mich erwartungsvoll an.