Petra Mattfeldt / Burkhard P. Bierschenck
Schattenfeuer
Science-Fiction-Stories
DrachenSternVerlag
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Alle Akteure dieser Geschichten sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von den Autoren nicht beabsichtigt.
Copyright © 2016 by DrachenStern Verlag, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH
1. Auflage 2016
Korrektorat: Thilo Fahrtmann
Satz/Layout: Martina Stolzmann
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
E-Book: Mirjam Hecht
Made in Germany
ISBN 978-3-95669-067-9
www.drachenstern-verlag.de
Impressum
Inhalt
Vorwort
Wenn der Mond im Blut erwacht
Autorin
Auf die Größe kommt es an
Autor
Die Auslöschung des Ghouls
Autor
Schwarzfeuer
Autorin
Die Geburt des neuen Zeitalters
Autor
Die Smooths
Autor
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Hoppla, eine Seele
Autorin
Ignis
Autorin
Der Tempel auf der Teufelsley
Autor
Böser Zwilling
Autorin
Nebelflammen
Autorin
Das ewige Bernsteinfeuer
Autorin
Epilog
Bauernopfer
Autori
Warum Magier keine Familie haben
Autor
Das Weibsstück
Autorin
Magie der alten Zeit
Autorin
Merlin
Autor
Planet der Schmetterlinge
Autor
Mehr vom DrachenSteinVerlag
Als eigenes Literaturgenre entstand die Fantasy im 20. Jahrhundert. Fantasy schöpft ihre Motive und Erzählstrukturen aus der uralten Literaturform der Sagen und Heldenepen, in denen frühere Kulturen die Geschichten ihrer Götter, Halbgötter und Helden festhielten, etwa Homers Ilias, dem Nibelungenlied oder dem Sagenkreis um König Artus.
Die Fantasy greift oft auf erprobte Motive der Abenteuerliteratur zurück: Schwertkämpfe und Monsterbegegnungen, Reisen zu exotischen Orten, epochale Schlachten, Hofintrigen und der Kampf gegen einen mächtigen Gegner, der eindeutig dem Bösen zugerechnet werden kann. In der Fantasy-Welt sind die Religionen oft polytheistisch, wobei sich oft konkurrierende Religionsgemeinschaften und ihre Götter gegenüberstehen.
Religion wird dabei häufig nicht nur allgemein mythisch, sondern auch konkret magisch aufgefasst: Einzelne Menschen sind in der Lage, direkt in die physikalischen Gesetze der Welt einzugreifen. Gerne geschieht dies durch die magischen Kräfte von Zauberern oder mit göttlicher Hilfe durch Priester. Auch gewöhnliche Individuen sind in diese magische Ordnung eingebunden. Die klassische Fantasy-Welt weist daher häufig eine Einheit von Politik und Religion auf, was einer idealisierten Form der mittelalterlichen Ordnung entspricht.
Diese Anthologie ist das Ergebnis eines Wettbewerbs. Die Geschichten, die es auf die Shortlist geschafft haben, finden sich in diesem Buch wieder und geben einen guten Überblick über das schriftstellerische Schaffen aktueller Autoren im Bereich der Fantasy.
Burkhard P. Bierschenck
Petra Mattfeldt
von Wilfried Abels
Wilfried Abels, Jahrgang 1971, ist seit 2012 Hobby-Autor und Mitglied der Schreibwerkstatt des Kulturvereins »Alles-wird-Schön« in Hamburg-Harburg, wo er die Technik des Schreibens lernt. Hier schreibt er hauptsächlich Kurzgeschichten aus dem fantastischen Bereich und hat erfolgreich an mehreren Schreibwettbewerben teilgenommen. 2015 erlangte er beim Schreibwettbewerb der Deutschen Bahn den 4. Platz und wurde in der Anthologie »Endlich Zeit« mit der Kurzgeschichte »Zwischenstopp« veröffentlicht.
Verschwommen drehte sich alles in seinem Kopf. Nur weg, weg von den Menschen, die nichts sehnlicher wünschten als seinen Tod. Wut und Panik trieben ihn voran. Blut sickerte aus seiner rechten Seite und verklebte sein struppiges Fell. Der nächtliche Himmel riss auf und das silberne Licht des vollen Mondes floss alles verschlingend um ihn herum. Er blieb stehen. Ein langes, raues Heulen entrann seiner trockenen Kehle und ließ den Wald erbeben.
Dann rannte er weiter. Was war passiert? Bilder zerfetzter Hühner huschten durch seine Gedanken. Er erinnerte sich an den Geschmack des warmen Blutes aus der Kehle eines noch zuckenden Ochsen und Erregung erfasste ihn. Er brauchte Ruhe und er brauchte Futter. Sein Hunger war unbändig. Eine neue Welle von brennendem Zorn brodelte durch seinen geschundenen Körper. Er sollte der Jäger sein und nicht das flüchtende Wild. Er musste einen Unterschlupf finden und Nahrung. Nahrung, Nahrung, seine Gedanken drehten sich immer stärker. Doch er konnte keine Beute wittern. Der Wald war wie ausgestorben. Nur der Mob wütender Bauern und er lieferten sich eine erbarmungslose Hatz. Wieder heulte er wütend den Mond an und verfluchte die Nacht, als sein altes Leben starb.
Plötzlich war da ein frischer, fast schon blumiger Geruch. Er fletschte die Zähne. Die Witterung erfüllte all seine Gedanken. Seine Verletzung war vergessen. Er pirschte sich so leise er konnte der Beute entgegen. Speichel sammelte sich in seiner Schnauze. Es war ein herrlicher, warmer Duft. Süß und würzig. Leicht und doch kräftig. Und dann wusste er, was er witterte. Es war menschlich. Eine junge Frau. Er erinnerte sich. Doch mit der Erinnerung an seine menschliche Existenz kam sein Gewissen zurück. Er wusste, er würde die Frau töten. Er blieb stehen und versuchte, sich abzuwenden. Doch das Feuer in seinen Adern zwang ihn auf den alten Pfad zurück. Jede Faser seines Körpers sehnte sich danach, die scharfen Zähne in die Beute zu schlagen. Er wollte Knochen brechen und blutige Fleischstücke herunterschlingen. Panik breitete sich in seiner schwindenden Menschlichkeit aus. Noch hatte er keine Person getötet, hoffte er. Sein Gewissen kämpfte. Doch der Wolf war stärker. Schritt für Schritt näherte er sich. Er erreichte eine Lichtung. Geduckt drückte er sich durch das Unterholz und sah die Frau. Sie saß mit dem Rücken zu ihm auf einem Stein und schaute gedankenverloren zu dem alles erleuchtenden Mond. Ihr Haar war zu einem dicken Zopf geflochten und schlängelte sich locker ihren Rücken hinunter. So jung und unschuldig. Das perfekte Opfer. Ihr nackter Hals schimmerte verführerisch. Er schlich lautlos an sie heran. Nur noch wenige Meter. Sie rührte sich nicht. Zwei Schritte noch. Er spannte alle Muskeln und setzte zum tödlichen Sprung an. Er schnellte vor, riss seine Schnauze auf. Zähne blitzten und zielten auf die zarte Haut ihres Halses. Dann wurde es dunkel um ihn.
Er erwachte. Wirre Träume verblassten und hinterließen ein Gefühl von Hilflosigkeit. Sein Kopf dröhnte. Ihm war schlecht und schwindlig. Er rollte zur Seite und erbrach sich.
»Ganz ruhig. Bleib liegen, beweg dich nicht«, sanft sprach eine Frauenstimme zu ihm. Licht brannte in seinen Augen. Er konnte nur verschwommen sehen. Er lag in einem Bett und sein Körper stöhnte unter Schmerzen. Doch er war ein Mensch!
»Wo bin ich? Was ist passiert?«, fragte er mühsam und spürte wieder Schmerzen durch seinen Kopf pulsieren.
»Ganz ruhig. Du warst mehrere Tage im Fieberwahn. Beweg dich nicht so stark. Sonst platzen deine Verbände auf.«
Vorsichtig versuchte er, sich zu orientieren. Zum ersten Mal schaute er die Frau an, die gerade notdürftig sein Erbrochenes aufwischte. Dieser dichte Zopf, rotbraun wie er jetzt sah, der lange Hals. Es war die Frau, die er angegriffen hatte! Aber wieso lebte sie noch? Hatte er sie denn wirklich angegriffen? Auf einmal kam ihm das alles so unwirklich vor. Oder war das nur ein böser Traum? Fieberwahn? Er wusste es nicht. Die Frau erhob sich und reichte ihm eine Schale mit einer heiß dampfenden Flüssigkeit.
»Hier, trink. Das wird dir gut tun.«
Widerstandslos leerte er die Schale. Anschließend fiel er in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Wieder erwachte er. Diesmal fühlte er sich besser. Sein Kopf schmerzte noch leicht, aber sein Körper hatte sich erholt. Erleichtert stellte er fest, dass er noch immer ein Mensch war. Es war wohl alles nur ein böser Traum gewesen. Vorsichtig setzte er sich auf und schaute sich um. Es war ein kleines Zimmer. Einfache Bretter bildeten die Wände und die nackten Balken des Daches waren zu sehen. Ein Fenster und eine Tür gab es. Eine kleine Hütte schien es zu sein. Neben dem Bett stand eine Kiste, auf der ein Krug mit Wasser und ein tönerner Becher standen. Durstig griff er danach und trank gierig das frische Wasser. Im Nebenraum hörte er leise Stimmen, die intensiv miteinander redeten. Er erhob sich vorsichtig. Es strengte ihn an, doch er konnte gehen. Er tastete seinen Körper ab. Ein Verband bedeckte seine rechte Hüfte. Er berührte diesen zaghaft und ein glühender Schmerz durchfuhr ihn. Das Bild einer Mistgabel, die nach ihm stach, zuckte durch seinen Geist. Noch etliche weitere Verbände bedeckten ihn. Er griff sich die Decke und wickelte diese um seinen nackten Leib. Mit kleinen, behutsamen Schritten schlich er zur Tür.
»Da ist ja unser Gast. Du scheinst ihn also erfolgreich gesund gepflegt zu haben, Schwesterchen.«
Er stand in der Tür und stützte sich am Rahmen ab. Unsicher lächelte er die beiden Frauen an. Die Stube bestand aus einem rustikalen Raum. An der Seite zu seiner Linken stand ein Herd, in dem ein Feuer leise knisternd vor sich hin prasselte. Darauf stand ein großer Topf mit einer angenehm duftenden Suppe. Die Wände waren vollgestellt mit Regalen. Dosen, Gläser und Bücher reihten sich überquellend aneinander. An einer Wand waren zwei Schlaflager aus Decken und Fellen aufgeschlagen. Von der Decke hingen Bündel zum Trocknen aufgehängter Kräuter. Die beiden Frauen saßen zu seiner Rechten an einem Tisch und schauten auf, als er eintrat. Ein schiefes Fenster gewährte einen Blick auf eine weiße Winterlandschaft. Neben der ihm bekannten Frau saß eine hochgewachsene mit langen pechschwarzen Haaren und trank aus einem dampfenden Becher Tee. Ihr spitzes Gesicht mit kräftigen Wangenknochen musterte ihn. Er lächelte unsicher.
»Guten Tag die Damen.«
»Nun, werter Herr«, sprach die Schwarzhaarige mit einem deutlich ironischen Unterton, »da du schon hier bist und wohl noch ein bisschen bleiben wirst, ich bin Tara und das hier ist meine Schwester Lina. Mit wem haben wir denn das Vergnügen?«
Wer war er? Er stutzte einen Moment.
»Eric, glaube ich. Doch ja, das ist mein Name.«
»Gut, Eric, komm schon her und setz dich, bevor du da noch umfällst und wir dich wieder in das Bett zurückwuchten müssen!«
»Tara, nun lass ihn doch ein bisschen in Ruhe. Deine spitze Zunge wird er schon früh genug kennenlernen.« Doch Lina lachte und schob Eric einen Stuhl an den Tisch heran, auf den er sich dankbar niederließ.
»Hunger?« fragte Lina und holte ihm, ohne auf Antwort zu warten, einen Teller heißer, kräftiger Suppe.
Die nächsten Tage erholte Eric sich rasant. Von Tag zu Tag fühlte er sich besser und seine Kraft kehrte zurück. Aber auch wenn seine Verletzungen schnell heilten, so hatte er doch das Gefühl, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Er konnte sich nur schwammig an die Zeit vor seinem Aufwachen bei den Frauen erinnern. Seine Vergangenheit lag in einem dunklen Nebel und nur ab und zu blitzten wirre Bilder in seiner Erinnerung auf. Nachts plagten ihn Alpträume. Immer rannte er durch eine eisige Einöde. Etwas verfolgte ihn. Etwas, das er nicht sehen konnte. Doch er wusste, dass es nur einen Schritt hinter ihm lauerte. Tagsüber lenkte er sich ab, indem er den beiden Frauen half, so gut er konnte. Er hackte Holz und mistete den kleinen Stall hinter dem Haus aus. Die körperliche Arbeit in der klaren winterlichen Luft lenkte ihn ab und verschaffte ihm das Gefühl, sich nützlich machen zu können.
Eine Zeit schienen die Alpträume schwächer zu werden. Doch sie kehrten zurück. Er war inzwischen knapp drei Wochen bei den Frauen. Einmal mehr wachte er nachts schweißgebadet auf. Durch das Fenster leuchtete der Mond drohend hinein und bohrte sich mit seinen silbernen Strahlen direkt in seinen Kopf. Etwas tief in ihm wurde unruhig. Er setzte sich auf und atmete stoßweise. Er hatte das unbändige Gefühl, aufspringen und rennen zu müssen. Dann hörte er die Tür knarren. Lina schlich herein. Sie war nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet. Vor sich trug sie eine flackernde Kerze.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte sie besorgt. Er drehte sich schwer atmend zu ihr. Die Kurven ihres Körpers drückten sich deutlich unter dem Stoff ihres dünnen Hemdes ab.
»Nicht gut«, hauchte er nervös, als sie sich seinem Bett näherte, »ich habe wieder diese Träume.«
Lina stellte die Kerze neben seinem Bett ab. Ungläubig beobachtete er, wie sie ihr Hemd abstreifte und es achtlos zu Boden fallen ließ.
»Was?«, fragte er verwirrt. Doch sie lächelte nur und legte einen Finger auf ihre Lippen.
»Ich kann dir helfen«, flüsterte sie und schlüpfte unter seine Decke.
Später lagen sie eng umschlungen nebeneinander. Noch immer schien der Mond hell in das Zimmer. Er spürte sein Leuchten tief in seiner Seele pulsieren. Doch Ruhe war in ihm eingekehrt. Linas Finger spielten verträumt mit den Haaren auf seiner Brust, während ihr Kopf in seiner Armbeuge lag. Für ein paar Minuten schmiegten sie sich einfach nur schweigend aneinander. Dann setzte Lina sich auf.
»Ich möchte dir etwas geben, Eric.«
Bevor er etwas sagen konnte, griff sie in die Tasche ihres Nachthemdes und hielt ihm eine Halskette hin. Diese bestand aus einem dünnen Lederband und einem schwarzen Onyx als Anhänger. Der Stein glänzte sanft im Licht des Mondes.
»Der ist schön«, sagte er fasziniert.
»Darf ich dir die Kette umlegen?«
Nach einem Moment des Zögerns nickte er. Sie kniete sich über seinen Bauch und legte ihm den Anhänger um den Hals. Der Onyx lag warm und beruhigend auf seiner Brust. Lina verknotete mit geschickten Fingern die Enden der Lederschnüre hinter seinem Nacken. Sie schaute ihm in die Augen. Ihre Lippen bewegten sich schweigend. Dann zog sie den Knoten fest und Eric spürte ein schwaches Kribbeln durch seinen Körper fluten. Er runzelte die Stirn.
»Was? Was war das?«
Statt einer Antwort beugte sie sich zu ihm hinunter und küsste ihn. Am nächsten Morgen erwachte er ausgeschlafen und gestärkt. Er wusste nicht mehr, wie lange Lina und er sich diese Nacht noch geliebt hatten. Aber als er endlich in den Schlaf fiel, war es ein traumloser und erholsamer gewesen. Gut gelaunt betrat er die Stube, wo Lina und Tara schon beim Frühstück saßen.
»Da kommt ja unser Langschläfer. Gut geruht, der Herr?«, lästerte Tara und beide Frauen kicherten. Weibsvolk, dachte er. Wahrscheinlich hatte Lina schon längst jedes Detail der letzten Nacht ihrer Schwester haarklein berichtet.
»Danke der Nachfrage. Und ja, ich habe seit Langem nicht mehr so gut geschlafen wie letzte Nacht«, antwortete er grinsend und ohne jede Scham.
Die nächsten Nächte schlief er ebenfalls besser. Die Träume blieben zwar, doch sie waren nicht mehr so beängstigend. Jetzt wanderte er durch dichte grüne Wälder. Tiere streiften umher und er verfolgte sie unbemerkt. Der Mond als bestimmendes Element blieb aber. Übermächtig beäugte dieser ihn. Tagsüber bemühte er sich, nicht über diese Träume nachzudenken und verbrachte lieber viel Zeit mit Holzhacken. Doch diese Arbeit forderte ihn nicht genug. Er wurde unruhiger und brauchte mehr Bewegung. Viel mehr. Er begann, barfuß und mit nacktem Oberkörper durch die eisige Landschaft zu laufen. Stundenlang rannte er querfeldein durch den Schnee. Der Schweiß dampfte in der kalten Luft und sein Atem waberte in Nebelschwaden hinter ihm her. Dies half zumindest kurzfristig. Als er nach so einem ausgedehnten Lauf zur Hütte zurückkam, hörte er die beiden Frauen miteinander reden. Still blieb er neben dem geöffneten Fenster stehen.
»Er wird sich nicht mehr lange kontrollieren können«, mahnte Tara in besorgtem Ton.
»Der Stein beruhigt ihn. Das sollte helfen«, erwiderte Lina.
»Schwester, der kann keine Wunder wirken. Heute Nacht ist Vollmond. Glaubst Du, dass du ihn da noch kontrollieren kannst?«
»Er ist jung. So stark ist er noch nicht. Außerdem, du hilfst mir doch. Oder?«
Eric hörte ein tiefes Seufzen.
»Natürlich, du bist meine Schwester. Ich werde dir helfen, so gut ich kann.«
Eric verstand nicht, was er hörte. Zornesfalten bildeten sich auf seinem Gesicht. War er nur ihr Spielzeug, eine interessante Kreatur? Wer waren diese beiden? Er fühlte sich verraten. Besonders von Lina. Zornig griff er nach seiner Halskette und wollte sie herunterreißen. Er zerrte mit aller Kraft, doch sie hielt. Er zwang sich zur Ruhe und versuchte, den Knoten zu lösen. Aber auch dieser ließ sich nicht öffnen. Wut kochte in ihm hoch. Er schaute auf seine geballten Fäuste und Panik erfasste ihn. Schwarze Büschel Fell bedeckten die Handrücken. Inzwischen stand die Sonne tief am Himmel. Er fühlte mit jeder Faser seines Körpers, wie der Mond hinter dem Horizont lauerte. Groß und kräftig. Dieser rief nach ihm. Mit einem lauten Knall stieß er die Tür zur Hütte auf. Holz splitterte. Die beiden Frauen schreckten von ihrer Arbeit auf. Schweißtriefend knurrte er:
»Was bin ich?«
Lina schaute ihn ruhig, aber sehr aufmerksam an.
»Das weißt du doch schon längst.«
»Sag es mir. Ich will es von dir hören!«
Lina wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.
»Es ist doch klar. Du bist ein Werwolf.«
Tara hatte sich inzwischen erhoben und stellte sich demonstrativ neben ihre Schwester. Eric schaute Lina an.
»Was ist vor einem Monat passiert? Ich wollte dich töten!«
Sie lächelte und zuckte mit den Schultern.
»Du bist noch sehr jung und warst schwer verletzt. Du warst keine Gefahr für mich.«
»Wer seid ihr?«, fragte er mit aufgeblähten Nasenflügeln. Tara mischte sich ins Gespräch ein.
»Dreimal darfst du raten. Zwei Frauen, die alleine im Wald leben. Zwei Frauen, die sich vor einem Werwolf nicht gleich kreischend in die Ecke drücken? Na, was sind wir wohl? Die meisten bezeichnen uns als Hexen, du Dummkopf! Auch wir sind Wesen der Schatten. Sei froh, dass wir dich vor dem wütenden Mob versteckt haben!«
Eric zögerte.
»Und, …, warum habt ihr das gemacht?«
Lina und Tara wechselten einen Blick, dann antwortete Tara:
»Meine Idee war das nicht. Ich gebe unumwunden zu, dass ich nicht viel für deinesgleichen übrig habe. Aber Lina kann kein krankes Wesen leiden sehen.«
Diese antwortete: »Ohne Rudel und so dicht in der Nähe von Menschen hättest du keine Chance gehabt.«
Tara rollte mit den Augen: »Kranken, nicht lebensfähigen Tieren gibt man eigentlich den Gnadentod. Aber Lina wollte dir helfen.«
Eric sah die Sonne untergehen. Die Knochen in seinem Körper knirschten. Die Bestie erwachte. Es zog in seinen Sehnen. Brennendes Feuer pulsierte durch seine Adern. Tara rief wütend:
»Nicht hier drinnen!«, ihre Hand begann zu leuchten. Eine Welle aus Licht schoss hervor und traf Eric in den Magen. Rückwärts flog er durch die Tür und blieb im Schnee liegen. Er heulte auf. Knochen verschoben sich. Scharfe Reißzähne traten hervor. Etwas Mächtiges zog an seinem Hals. Der Onyx an der Kette schien anzuschwellen. Doch er hatte keine Zeit, darauf zu achten. Lina und Tara traten aus der Hütte. Erics Augen glühten rot. Von diesen beiden Weibern würde er sich nichts mehr gefallen lassen. Er fauchte und stürmte auf Tara zu. Sie fixierte ihn und wieder leuchteten ihre Hände. Diesmal war er vorbereitet. Als Tara den Zauber warf, rollte er zur Seite und sprang sie in einer fließenden Bewegung an. Wo war sie? Einen Moment zögerte er. Dies war ein Fehler. Plötzlich spürte er jemanden auf seinem Rücken landen. Lina musste das sein. Tara entdeckte er kühl lächelnd ein Stück neben sich. Er hörte ein Klicken und bemerkte, dass statt des zierlichen Anhängers jetzt schweres Eisen an seinem Nacken zerrte. Und schon war Lina wieder abgesprungen. Sie hielt eine Kette in der Hand, die zu seinem Hals führte. Er bäumte sich laut schreiend auf und fletschte die Zähne.
»Schluss jetzt!« schrie Lina. Mit einem Ruck riss sie an der Kette. Funken züngelten an den Gliedern entlang und ein höllischer Schmerz flutete durch seinen Körper. Jaulend ging er zu Boden.
Sie kam einen Schritt näher und ihr Blick bohrte sich in seine Augen.
»Du wirst lernen, zu gehorchen, dann muss ich nicht so hart sein. Vorerst geht es nicht anders.«
Tara trat neben ihre Schwester und betrachtete mitleidig den am Boden winselnden Wolf.
»Ich hoffe, du weißt, was du tust, Schwester. Vielleicht wäre es doch gnädiger gewesen, ihn zu töten. Ich würde nicht als Kettenhund enden wollen.«
von Ulrich Borchers
Ulrich Borchers, geboren 1961 in Flensburg, also ein echtes Nordlicht. Als Geschichtenerfinder, Anthologiejäger und Wettbewerbsschreiber ist er literarisch auf der Kurzstrecke unterwegs und grübelt ständig, ob er sich auch mal auf die Langstrecke begeben soll. Zwei Anthologien mit eigenen Kurzgeschichten sind bereits erschienen.
Noch mehr über ihn erfahrt ihr auf ulrichborchers.jimbo.com Zum Beispiel etwas über den mutigsten Moment seines Lebens.