WILFRIED SCHMICKLER
SCHMICKLER
GEHÖRT ZU
DEUTSCHLAND
EINE INVENTUR
WILFRIED SCHMICKLER
SCHMICKLER
GEHÖRT ZU
DEUTSCHLAND
EINE INVENTUR
Haltet die Schnauze, da oben!
Man hört die Pantomime nicht mehr!
Jacques Prévert
TITELSEITE
MOTTO
DAS LETZTE
Kälter wird es nicht
Aus dem Tagebuch eines Gratwanderers I
Frischwurst
Der kleine Mann und seine kleine Frau
Aus dem Tagebuch eines Gratwanderers II
In der Bar zum Garten Eden
Aus dem Tagebuch eines Gratwanderers III
Wir fressen den Planeten leer!
Aus dem Tagebuch eines Gratwanderers IV
Letzte Lesung aus dem letzten Brief des letzten Apostels an die Leviten
MONTAGSFRAGEN 2015–2013
Montagsfragen 2015
5. Januar 2015
2. Februar 2015
9. März 2015
18. März 2015
23. März 2015
30. März 2015
20. April 2015
27. April 2015
11. Mai 2015
1. Juni 2015
8. Juni 2015
Montagsfragen 2014
27. Januar 2014
10. März 2014
28. April 2014
12. Mai 2014
11. August 2014
25. August 2014
20. Oktober 2014
10. November 2014
1. Dezember 2014
Montagsfragen 2013
4. Februar 2013
18. Februar 2013
25. Februar 2013
4. März 2013
8. April 2013
22. April 2013
6. Mai 2013
13. Mai 2013
27. Mai 2013
21. Oktober 2013
4. November 2013
9. Dezember 2013
16. Dezember 2013
23. Dezember 2013
DAS VORLETZTE
Ich weiß es doch auch nicht
Alles beginnt am 15. Juni 2012
Abschiedslied für einen, der auszog, das Kentern zu lernen
Ratz-Fatz
Merkel immer beliebter
Für Klaus Huber, Heinrich Pachl und all die anderen
Vorschläge
KLASSIKER
Wir sind wir
Wer wann warum
Die Gier
ANHANG
BILDTEIL
DANKSAGUNG
IMPRESSUM
Es drückten ihn die Sorgen schwer,
er suchte neues Land im Meer.
Es fällt der Schöpfung ein Zacken aus der Krone.
Der Aufprall hart, es splittert das Kristall.
Am Horizont schwebt eine unbemannte Drohne.
Sie hat die Augen und die Ohren überall.
Ein letzter Mensch läuft an der langen Leine.
Auf seinem Rücken klebt ein Etikett.
Er ist gut drauf, und Befehle braucht er keine.
Er braucht nur hin und wieder ein Komplett-Reset.
Der Typ ist pflegeleicht und ausgesprochen billig.
Die Server füttern ihn mit lecker Bohnenstroh.
Was in ihm vorgeht, transferiert er ganz freiwillig,
und ganz alleine ist er nirgends nirgendwo.
Selbst in der Nacht in seinen allerkühnsten Träumen
gibt’s einen Treiber, der die Träume treibt.
Ein weißes Rauschen in den animierten Räumen,
das ist das Letzte, was von ihm am Ende bleibt.
Ein letztes Gebet im letzten Hemd.
Ein letzter Schrei im letzten Moment.
Der letzte Reim im letzten Gedicht:
Komm, mach den Scheiß noch mal richtig heiß!
Denn kälter, kälter wird es nicht.
Nein, kälter wird es nicht.
Das spielt für ihn auch wirklich keine Geige.
Der letzte Mensch trägt Thermo-Moltopren.
Die Rohypnole gehen grad zur Neige,
drum sieht man ihn nachts in der Küche steh’n.
Da schlürft er Sanostol aus seinem Dampfer,
dreht zwei, drei Ründchen um den Küchentisch.
Zum Abendbrot gab’s Instant-Sauerampfer
mit selber ausgepacktem Tütenfisch.
Dazu ein Tröpfchen von dem guten Kot dü Roten
aus der Region um Bordoläse-Sangscherack.
Er trinkt ein Fläschchen auf die andren Vollidioten
und geht sich dabei selber auf den Sack.
Das letzte Exemplar der Herrenrassen
sieht irgendwie sehr überflüssig aus.
Sein ganzes Kamarama nicht zu fassen,
denn wo es reingeht, da geht’s auch wieder raus.
Das letzte Gebet im letzten Hemd.
Der letzte Schrei im letzten Moment.
Der letzte Stau im letzten Verkehr:
Komm, mach den Scheiß noch mal richtig heiß!
Denn wie es war, so wird es niemals mehr.
Nein, so wie es war, so wird es niemals mehr.
Tja, meine Damen und Herren, oder wie man heutzutage sagt, liebe Friends and Followers, so sieht es aus: Nichts bleibt, wie es ist. Nichts ist, wie es war. Und alles, was ist, ist in dem Moment, wo es ist, schon gar nicht mehr wahr. Was wir gerade erleben, ist eine nie da gewesene Beschleunigung der Welt. Der Mensch von heute lebt nicht mehr, er hechelt. Und zwar hinterher.
Alles, woran sich der suchende Mensch bis gestern noch festklammern konnte: die Zehn Gebote, die sieben Weltwunder, die drei öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme, die Bauernregeln, die Otto-Kataloge, die Bäckerblumen, das Dreikönigstreffen der Liberalen, das Godesberger Programm, das Kommunistische Manifest. Alles mitgerissen von gewaltigen Datenströmen, Informationstsunamis, Pixelausbrüchen.
Es ist noch gar nicht so lange her, da traf sich das Sinn suchende Individuum hin und wieder mal mit anderen Sinn suchenden Individuen zum entspannten Palaver über die großen Fragen des real kollabierenden Kapitalismus:
„Braucht es für eine revolutionäre Basis im reaktionären Überbau einen methodischen Neubau im Aufbau oder reicht ein gewöhnlicher Anbau im Altbau?“
„Gibt es einen aufrechten Gang durch die Institutionen und was bedeutet die Dialektik von Sitzfleisch und Zahnfleisch für den langen Marsch auf allen vieren?“
„Wenn die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann, warum gehen wir dann nicht einfach ins Freibad?“
Debatten im elitären Wolkenkuckucksheim! Erinnert sich noch jemand?
„Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen.“
Von wegen. Nichts bleibt mehr verborgen. Die Wolken heißen jetzt Clouds und grenzenlos sind nur die Möglichkeiten, alle Ängste, alle Sorgen in diesen Clouds zu erfassen und auf Vorrat zu speichern.
Allein wie eine Mutterseele strudelt der Mensch im Cyberspace und um ihn herum die leckersten Menüs: unter ihm eine digitale Bratwurst mit Kartoffelsalat, über ihm eine dreidimensional animierte Zweipersonenpizza und er das weitsichtige Fettauge des Avatar in einer synthetisierten Rinderkraftbrühe. Stimulation durch Simulation!
Wenn Sie sich früher so richtig stimulieren lassen wollten, dann war das in der Regel mit sehr viel Aufwand verbunden. Wenn Sie mal was richtig Neues machen wollten, mal eine ganz andere Welt kennenlernen, Phantasialand oder Euro-Disney, ja dann mussten Sie schon nach Brühl oder Paris, und schon ging der Stress los. Da standen Sie stundenlang im Stau, der Kühler kocht, der Köter kotzt auf den Rücksitz – vorbei!
Ich kenne Leute, die gehen gar nicht mehr vor die Tür, sondern hocken nur noch vor dem Computer und machen irgendwelche Rollenspiele, in denen sie vorgeben, jemand zu sein, der sie sein wollen, aber gar nicht sind, in einer Welt, die es eigentlich gar nicht gibt, in der sie dann tun, was sie tun würden, wenn sie der wären, der sie vorgeben zu sein. Und während diese Leute ihren Geist in der Scheinwelt aufgeben, verdienen sich andere daran dumm und dämlich.
Hört sich irgendwie krank an und – wenn wir der Drogenbeauftragten der Bundesregierung glauben – ist es das auch. Und deshalb will die Bundesregierung jetzt auch vorbeugende Maßnahmen ergreifen und die Menschen, vor allem die jungen, über die Gefahren und Folgen der Internetsucht informieren und ihnen entsprechende Hilfen anbieten. Und jetzt dürfen Sie dreimal raten, wo Sie diese Informationen finden. Genau, im Internet. Super. Der Alkoholiker geht zur Beratung in die Kneipe und der Wirt macht den Therapeuten.
Übrigens: Kennen Sie eigentlich die Schwester von Big Brother? Bei Big Brother denken die meisten Menschen ja gleich an dieses Camp, in dem Menschen gezwungen werden, verschimmeltes Schweinemett vom Fußboden zu fressen.
Ach nee, das war nicht das Dschungelcamp, das war diese Polizeiwache in Hannover. Aber das meine ich gar nicht. Ich meine den Big Brother von George Orwell. Die Älteren unter Ihnen werden sich erinnern: Big Brother is watching you!
Und dieser unangenehme Bruder, der hat eine Schwester. Big Sister! Die feiert in diesem Jahr ihren 56sten Geburtstag, sieht nach wie vor aus wie eine Zwanzigjährige und heißt Barbara Millicent Roberts. Sie kommt – wie die meisten direkten Verwandten des Großen Bruders – aus Amerika und ist eine berufstätige Frau ohne Ehemann und Kinder, aber mit mehreren Doktorhütchen und einer Pilotenlizenz. Und wenn Sie jetzt immer noch nicht wissen, wer Barbara Millicent Roberts ist, dann verrate ich Ihnen ihren Kosenamen: Barbie!
Genau, die süße, kleine, doofe blonde Modepuppe mit dem Kleiderschrank, der größer ist als jede Spielwarenabteilung.
Die hat jetzt einen Preis gekriegt, die Barbie. Den Big Brother Award. Der wird alljährlich von einer Jury aus Datenschützern verliehen an Institutionen, Firmen oder Einzelpersonen, die sich besonders verdient gemacht haben um die datenmäßige Totalerfassung des modernen Menschen. Und da mischt die Barbie inzwischen ganz weit vorne mit. Die kann sich nämlich seit Neuestem mit den Kindern unterhalten. Und was die Kinder ihr so erzählen, das schickt sie direkt in eine Wolke am großen Datenhimmel, wo es im großen Datenvorrat gespeichert und meistbietend verhökert wird an Spielzeughersteller, Krankenkassen oder Scheidungsanwälte. Barbie als Big Sister in der Puppenstube. Wenn das die Käthe Kruse wüsste.
Fragt die Barbie die Solveig: „Wie wäre es denn mal mit einem neuen trendy Handy?“
Sagt die Solveig: „Au ja, voll krass: ein neues trendy Handy.“
Und im gleichen Moment kriegen die Eltern von Solveig ein Supersonderangebot für das nagelneue Fünf-Zoll-LTE-Smartphone Hisense Sero 5 L691. Das Ding kommt zwar erst in drei Monaten auf den Markt, ist aber jetzt schon ein Relikt aus der Kommunikationssteinzeit.
Das ist ja das Einzigartige an diesem Mediamarkt. Da sind die Werbeprospekte für die aktuellsten Neuheiten auf der Produktpalette noch gar nicht gedruckt, schon drängt die nächste Generation aus den Entwicklungslaboren. Und Sie als Endgerät-Consumer liefern sich als analoger Hase ein schier aussichtsloses Rennen mit dem digitalen Igel. Da gehen Sie doch besser erst gar nicht an den Start. Und außerdem: Diesen ganzen smarten High-tech-Quatsch braucht doch in Wahrheit kein Mensch. Ich für meinen Teil kann sehr gut verzichten auf ein universelles Konzept zur totalen Vernetzung meiner Wohnung mit schaltbaren Chip-Lüsterklemmen, die am Ende eine Interaktion aller Haushaltsgeräte ermöglichen.
Ich möchte einfach nicht, dass mein Wasserkocher ein Verhältnis mit dem Kronleuchter im Wohnzimmer hat.
Aber, auch wenn es so innovationsfeindlichen Steinzeit-Nostalgikern wie mir nicht passt: Die Welt der Bits und Bytes hat auch ihre positiven Seiten. Genau: Online-Shopping. Millionen Menschen sitzen in jeder freien Minute zuhause vor dem Computer und bestellen. Vor allem Klamotten. Und wenn sie die dann bekommen haben, schicken sie die gleich wieder zurück. Also nicht gleich, vorher ziehen sie die Hemdchen und Kleidchen natürlich einmal an.
Es gibt in den Zentralen der großen Kleiderversandhäuser ganze Abteilungen, in denen schlecht bezahlte Mitarbeiterinnen die getragene und dementsprechend verschmutzte Umtauschware aussortieren. Da bestellt sich so ein cleverer Kunde eine Unterhose, trägt die einen Tag lang und statt in die Waschmaschine steckt er sie dann mit der anderen Schmutzwäsche in das Retourpaket. So spart man nicht nur die Energiekosten für den Waschvorgang, sondern rein theoretisch wäre es sogar möglich, sich jeden Tag von Kopf bis Fuß neu einzukleiden, ohne am Ende auch nur einen Cent dafür zu bezahlen.
Das ist natürlich eine tolle Sache. Wenn da nicht die Kleintransporter wären, die beim Shipping von all dem Shopping in der zweiten Reihe dafür sorgen, dass in den ohnehin verstopften Innenstädten überhaupt nichts mehr geht, sondern steht.
Es soll ja Pläne geben, den ganzen Versandhandel in die Kanalisation zu verlegen. In Zukunft brettern die Lieferanten mit Schutzanzug und Gasmaske in eigens konstruierten Amphibien-Transportern durch die Abwasserrohre und an jedem Gullydeckel wird angehalten und ausgeliefert. Dann stinken die gelieferten Unterhosen zwar nach Fäkalien, aber das tun sie nach dem Umtausch ja sowieso.
Oder man bildet Menschenketten aus Langzeitarbeitslosen von den Warenlagern direkt zu den Kunden. Wie beim Sandsacktransport während der großen Flutkatastrophen. Und zwar in Doppelreihen. Die eine für die Auslieferung, die andere für die Umtauschware. Da stünden die Langzeitarbeitslosen zwar immer noch auf der Straße, aber immerhin würden sie etwas Sinnvolles tun. Indem sie dafür sorgen, dass die bestellte Ware auch pünktlich beim Besteller ankommt.
Und weil der nicht mehr rausmuss zum Einkaufen, hat er Zeit, sich politisch zu engagieren, indem er Aktivitäten entfaltet, sogenannte Netzaktivitäten. Das heißt, der engagierte User ist ständig auf der Suche nach aktuellen Meldungen, zu denen er dann augenblicklich seinen höchstpersönlichen Kommentar absondert. Oder er geht noch einen Schritt weiter und verfasst eine Online-Petition. Wie zum Beispiel die Petition „Raus mit Markus Lanz aus meinem Rundfunkbeitrag“.
Ich habe daraufhin mal die Seite im Internet aufgerufen, auf der all diese Petitionen veröffentlicht werden. Und ich war echt von den Socken, wer da alles für und vor allem gegen was petitiert.
„Gegen die Windräder rund um Wildenberg und in der Maischieder Bucht!“
„Für den Erhalt der Toilettenanlagen am Kurpark in Albershof!“
„Kein Ponykarussell mehr beim Landauer Markt!“
Sagenhaft. Ich wusste irgendwann gar nicht mehr, wo ich zuerst unterschreiben sollte.
Aber damit wir uns richtig verstehen: Ich habe nichts gegen die engagierten Verfasser all dieser mutigen Petitionen. Die meinen es wirklich ernst, und vor allem verstehen die auch gar keinen Spaß. Ein böses Wort zu viel, und schon bricht er los: der Shitstorm. Da sitzen die Angehörigen der Internetgemeinde zuhause vor ihrem digitalen Altar und lassen mal so richtig die verbale Drecksau raus. Natürlich anonym und mit so lustigen Absendern versehen wie „rectal88“ oder „Dickdarm k.o.“. Es gibt unter der untersten Schublade nämlich noch einen digitalen Raum, in dem sich die zu Wort melden, die alles verloren haben: die Hemmungen, den Anstand und den Respekt.
„Schmickler, du fette Drecksau. Wenn ich dich sabbernden Kotzbeutel das nächste Mal auf der Straße treffe, stopf ich dir deine Wixfresse mit Schweinescheiße und häng dich mit den Eiern an die nächste Straßenlaterne.
Mit freundlichem Gruß Popey 2 Punkt Doppel-Null.“
In der letzten Zeit immer häufiger das Gefühl von zunehmender Verwirrung im Kopf. Gedankenlücken. Erinnerungssprünge. Gestern einfach mal die Probe aufs Exempel gemacht. Online in den Spiegel geguckt und sechs Schlagzeilen laut gelesen:
„Börsianer aus dem Häuschen – Dax im Höhenflug“,
„Flüchtlingsboot sinkt – 700 Tote“,
„Sensation am Amazonas – beispiellose Vielfalt an Darmbakterien entdeckt“,
„2015 sind Brillen aus Holz und Schiefer angesagt“,
„Kurden schwärmen: ‚Das G36 ist super‘“,
„Brandanschlag auf Asylantenheim: Steinmeier fürchtet um das Ansehen von Deutschland“.
Anschließend Seite geschlossen und versucht, das Gelesene handschriftlich wiederzugeben. Niederschmetterndes Ergebnis:
„Darmbakterien aus dem Häuschen – Flüchtlingsboot am Amazonas entdeckt“,
„Ansehen von Deutschland sinkt – G36 aus Holz und Schiefer“,
„Sensation im Asylantenheim – 700 Tote, Steinmeier im Höhenflug“,
„2015 ist Brandanschlag auf Kurden angesagt“,
„Super Dax – Börsianer schwärmen von beispielloser Vielfalt“.
Erst einmal durchatmen. Konzentrieren! 30 Minuten später: erneuter Versuch der Rekapitulation des Gelesenen. Desaster!
„Beispiellose Vielfalt im Flüchtlingsboot“,
„Steinmeier schwärmt von Asylantenhäuschen aus Holz und Schiefer“,
„Brandanschlag auf Börsianer am Amazonas“,
„2015 Brillen im Kurdendarm“,
„G36 im Höhenflug auf Bakterienheim“,
„Sensation im Dax – 700 Super-Tote ohne Ansehen für Deutschland entdeckt“.
Anschließend beschlossen, in Zukunft Tagebuch zu führen. Ordnung schaffen. Wider das Vergessen. Gleich heute Morgen erste Versuche. Fehlgeschlagen. Keine merkenswerten Vorgänge. Einfach zu früh. Der Wurm will gefangen sein, bevor er der Rede wert ist.
Tagebuch konsequenterweise vorläufig beiseitegelegt und erst einmal lange geplanten Ausflug in ein Vorstadtmöbelparadies unternommen. Grund: fehlende Sitzgelegenheiten. Im Paradies dann mehrere Bekanntschaften gemacht: Frode – zu unbequem. Esbjörn – zu hässlich. Nisse – zu teuer.
Vilmar – vergriffen. Am Ende trotzdem an der Kasse gestanden. Unter dem linken Arm ein schreiend gelber Spannbettbezug, unter dem rechten Arm ein Riesensack mit Teeleuchten. Keine Erinnerung an bewusste Kaufentscheidung. Mit Spannbettbezügen kann ich die Straße pflastern und ich hasse Teeleuchten. Irgendjemand muss mir das Zeug untergejubelt haben.
Auf dem Heimweg im Auto WDR-5-Nachrichten. Seehofer unterstreicht: „Islam gehört nicht zu Deutschland!“ Zuhause dann gleich ans Tagebuch gesetzt, um so eine Art völkische Inventur zu machen. Für mich ganz persönlich. Das heißt, alles, was nicht zu Deutschland gehört, wird aussortiert und abgeschoben.
Erste Frage: Gehört Köttbullar zu Deutschland?
Köttbullar, jene swedissse Spezialität, die ausschließlich angeboten wird in der Parallelgesellschaft des Konsumtempels, in dem Frode, Esbjörn, Nisse und Vilmar darauf warten, die deutsche Wohnkultur zu unterwandern. Zehn Köttbullars – oder sagt man Köttbullare? – mit Püree, Preiselbeeren und Rahmsauce für 4 Euro 95 – damit dürfte das Köttbullar-Menü in Deutschland zum billigsten gehören, womit sich der hungernde Mensch den Magen vollstopfen kann.
Was aber ist der Köttbullar in Wahrheit? Was sind die substanziellen Grundlagen, die dieses allerletzte Glied in der Nahrungskette ausmachen? Schwein? Rind? Pferd? Elch? Die Wahrheit kennt kein Mensch, außer dem Propheten des globalen Köttbullarismus, Ingvar Feodor Kamprad aus Församling.
Dementsprechend sind die Menschen hierzulande gespalten in Köttbullarphile und Köttbullarphobe. Die einen behaupten, das Köttbullar-Menü sei die ideale Marschverpflegung für den langen Weg vom Bücherregal über die Kücheneinrichtung bis zur Dekoleuchte, für die anderen ist es ein massiver Angriff auf die deutsche Esskultur mit dem Ziel der schleichenden Köttbullarisierung der einheimischen Speisekarte. Nieder mit dem Köttbullar – rettet das deutsche Hackfleischbällchen! So schallt es immer lauter aus den Verteidigungsreihen der Retter der kulinarischen Identität des deutsch mampfenden Abendbrotlandes.
Wo soll das alles enden? Und deshalb habe ich für mich persönlich beschlossen, dass der Köttbullar nicht zu Deutschland gehört. Basta. Und jetzt hole ich mir eine doppelte Currywurst mit Pommes und Mayo. Obwohl, gehören Mayo, Pommes und Curry eigentlich zu Deutschland?
Ach, egal, ist doch eh Wurst.
Und wo wir gerade bei Wurst sind – die sich übrigens quasi als blutwurstroter Faden durch dieses Buch zieht –, was macht Angela Merkel eigentlich an der Fleischtheke im Supermarkt? Nun, die Frau Merkel kauft ein. Manchmal frisch und manchmal abgepackt. Am liebsten mag Frau Merkel Emmentaler, im Winter kauft sie hin und wieder mal Entenbrust, und wenn es im Hause Merkel Linseneintopf gibt, dann nimmt sie dazu immer ein paar 1a-Schinkenknacker.
Das hat die Bild-Zeitung enthüllt. Exklusiv! Nach jenem Freitag im Februar, als der kleine Supermarkt plötzlich im Fokus der ganz großen Politik stand, denn – wie die Bild brühwurstwarm berichtete: „Da stand Frau Merkel mit dem chinesischen Ministerpräsidenten vor der Wursttheke, um ihm mal einen deutschen Supermarkt zu zeigen.“ Gekauft haben die hohen Besucher nichts, sie haben sich nur fotografieren lassen und dabei ein bisschen geplaudert.
Ich stell mir das so vor: Die Frau Merkel sagt so einen Satz wie: „Wir sollten die Flusskrebse, die aufgetischt sind, wirklich aufessen.“ Das ist so eine chinesische Redensart und bedeutet, dass man auch die schwierigen Themen wie Menschenrechte oder Hinrichtungen irgendwann mal auf den Tisch packen muss.
Daraufhin zeigt der chinesische Ministerpräsident auf die Schinkenknacker und antwortet mit dem urdeutschen Sprichwort: „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.“ Und dann sind sie wieder raus aus dem Lebensmittel- und zurück ins politische Geschäft, wo sie zahlreiche Verträge und Abkommen unterzeichnet haben, um – Zitat Merkel – „ein Zeichen zu setzen für die intensive Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China, die sich im Laufe der Jahre intensiviert hat“.
Die Frau Merkel weiß eben, dass es auf den globalen Märkten genauso zugeht wie im Supermarkt um die Ecke. Menschenrechte hin, Hinrichtungen her: Am Ende muss die Wurst verkauft werden. Und dann hat China für die Kanzlerin ja auch noch einen Riesenvorteil: Da muss sie wenigstens nicht mit Messer und Gabel essen. Und den Wählerinnen und Wählern ist das sowieso Wurst.
Was das allgemeine Interesse betrifft, kommt die Politik inzwischen noch weit hinter den Ergebnissen der Synchronschwimmer-Kreisklasse. Freihandelsabkommen, Geheimdienstskandale, Waffenlieferungen in Krisengebiete – das geht nicht einmal mehr hier rein und da wieder raus, sondern direkt am Gesäß vorbei. Dementsprechend lag die Wahlbeteiligung bei der letzten Landtagswahl in Bremen gerade noch bei 50 Prozent. Und von denen haben Sex Komma Sex Prozent die FDP gewählt.
Hurra! Hurra! Die FDP ist wieder da! Und warum? Weil sie in Bremen so eine supergeile Spitzenkandidatin hatte. Lencke Steiner. Lencke ist der Vorname, wie Bremse oder Blinke, die ist 29 Jahre alt und Geschäftsführerin in der Kunststoff GmbH von ihrem Papi.
Die machen Flachbeutel und Schrumpfschläuche. Da haben die von der Bremer FDP wahrscheinlich gedacht: „Genau die Richtige für uns.“ Hat aber funktioniert. Die Wiederauferstehung der FDP unter der Führung einer Brumme, die aussieht, als habe sie gestern noch auf dem Schulhof in der Klugscheißer-Ecke ein Selfie von sich und der Regenrinne gemacht.
Aber so ist das heutzutage im politischen Geschäft. Wenn Sie da früher Karriere machen wollten, dann mussten Sie erst einmal auf die Ochsentour. Ortsverein, Bezirksverein, Kreisverein, Landesverein und wenn Sie dann endlich im Bundesverein gelandet sind, dann hatten Sie Hornhaut auf dem Zahnfleisch und einige Jahrzehnte auf dem gebuckelten Buckel. Heute reicht es, wenn Sie 29 sind. Da ist die Tinte auf dem Beitrittsformular noch gar nicht getrocknet, da sind Sie schon stellvertretender wirtschaftspolitischer Sprecher Ihrer Partei. Wenn ich die Jüngelchen und Mägdelein sehe, dann denke ich immer: Aus welcher Krabbelgruppe sind die denn entsprungen? Aber Hauptsache jung, Hauptsache dynamisch, Hauptsache Nachwuchs.
Wo das mit der Verjüngung super geklappt hat, das ist bei den Gewerkschaften. Ich zitiere die Slogans der zehn Themenplakate des DGB zum diesjährigen Ersten Mai:
„Bonjour Bildung!“ – „Ahoi Mitbestimmung!“,
„Bye-bye Burn-out!“ – „Tschö Familienfeindlichkeit!“,
„Adios Lohndumping!“ – „Adieu Diktatur der Bosse!“,
„Fuck off Rassismus!“ – „Buenos Dias Wochenende!“,
„Hallo Feierabend!“ – „Moin Moin Mindestlohn!“.
Ja, das hat Schwung, das klingt jung, das ist dynamisch und vorwärtsgewandt. Was waren das früher für verkniffene Parolen und immer nur dagegen: Gegen-Öffentlichkeit. Gegen-Offensive. Gegen-Entwürfe. Alles immer nur weg! Weg mit! Schluss mit! Nieder mit! Kermit! Kermit – Froschperspektive! So klein, aber so ein Maul.
Da wurde es aber so was von allerhöchste Zeit, dass mal eine moderne Marketingstrategie mit frischem Wind den verstaubten Politmief der Vergangenheit hinwegfegte. „Buenos Dias Wochenende“ – Ja, da ist Musik drin! Da denken die Älteren von uns doch gleich an Udo Jürgens und seinen Megahit „Buenos Dias, Argentina“ für die Fußball-WM 1978.
„Buenos Dias, ihr Gitarren – wenn der Abend niedersinkt, sollt ihr leise mir erzählen, wie das Lied der Pampa klingt.“
Das ist proletarischer Internationalismus auf ganz neuem Niveau. „Bonjour, bye-bye, adieu“ – da werden Grenzen gesprengt, da schunkelt die Arbeiterklasse Europas im Dreivierteltakt und schmettert die neuen Smash-Hits von der modernen Social Partnership.
Nun gut, ob die Spanier jetzt das „Adios Lohndumping“ mit der gleichen Begeisterung intonieren wie ihre deutschen Kollegen, das sei dahingestellt. Da heißt es doch eher: „Buenos Dias, Jugendarbeitslosigkeit“. Oder wie die Italiener sagen würden: „Arrivederci, Rente“.
Und auch das Griechische haben die Strategen des DGB bei den aktuellen Themenplakaten wohlweislich ausgeklammert. Was hätte man da auch texten sollen: „Kali mera Troika“ oder „Kali Nichta Europa“? Und was fürs Griechische gilt, das gilt natürlich auch fürs Türkische: „Hoz Geldiniz Zensur“ ist genauso deprimierend wie „Merhaba Gottesstaat“ oder „Güle güle Völkermord“.
Schließlich geht es bei so einer modernen PR-Kampagne nicht um das Verbreiten von schlechter Laune, sondern um positive Vibrations, um Euphorie, um flächendeckende Begeisterung.
„Hallo Feierabend“ – das ist so ein Slogan, bei dem die Fruchtzwerge fröhlich auf den Tischen tanzen, auch wenn der Feierabend erst nach drei Stunden unbezahlter Überstunden beginnt und die Feier dann stattfindet im Dauerstau auf einer maroden Kölner Autobahnbrücke.
Was mich so gar nicht anspricht, sind die Parolen „Ahoi Mitbestimmung“ und „Moin Moin Mindestlohn“. Und das jetzt nicht nur wegen der zahlreichen Ausnahmen und Schlupflöcher für lohnkostenscheue Platzhirsche im mitbestimmungsfeindlichen Arbeitgeberrudel, nein, mir sind die Slogans zu provinziell. Das ist mir einfach zu unterkühlt. Zu norddeutsch. Zu scholzig! Und wenn schon regionalistisch, dann bitte auch was für die kölsche Seele: „Leckens am Arsch, Zeitvertrag“ oder „Dries mer jett, Altersarmut“ oder „Maat et joot, Langzeitarbeitslose“.