Am Tag, als ich, der Autor dieses Buches, zum ersten Mal Houdini traf, regnete es in Strömen. Deshalb zog ich meine Laufschuhe wieder aus und beschloss, im Internet zu surfen und mein Wissen über die Geschichte der Zauberkunst zu erweitern. Irgendwann stieß ich dabei auf Harry Houdini, von dem ich bis dahin nur wusste, dass er ein berühmter Entfesselungskünstler war, und dass der Illusionist David Copperfield ihn einmal als sein großes Vorbild bezeichnet hatte.
Es war für mich sehr spannend, im Internet Harry Houdinis Spuren zu suchen. Ich fand zahlreiche Texte über ihn, aber auch Fotos und Filme, die ihn privat, und auch während seiner waghalsigen Illusionen zeigten. Und nachdem ich dann auch noch einige englischsprachige Bücher über ihn gelesen hatte, war ich von diesem Zauberkünstler, Illusionisten, und Abenteurer so begeistert, dass auch ich unbedingt ein Buch über ihn schreiben wollte.
Schade, dass ich ihn nicht persönlich treffen konnte. Ich wäre gern dabei gewesen, als ihn der Direktor des Washingtoner Staatsgefängnisses in die Todeszelle sperren ließ und sicher ein ziemlich dummes Gesicht gemacht hat, als Houdini sich daraus nach wenigen Minuten befreien konnte.
Manchmal beneide ich die Menschen, die zugeschaut haben, wie er an einer Hochhausfassade hängend, sich einer Zwangsjacke entledigt hat oder, an Händen und Füßen gefesselt, von Brücken in die Flüsse sprang. Gern hätte ich seine Befreiungen aus mit Wasser gefüllten Milchkannen und Folterzellen gesehen, die er in den größten Theatern und den bekanntesten Zirkussen in Amerika, Europa und Australien vorgeführt hat. Es war mir nicht vergönnt, denn als ich geboren wurde, war er schon 21 Jahre tot.
Harry Houdini war der überragende Sensationsartist des 20. Jahrhunderts und machte eine einzigartige Karriere. Er hieß mit bürgerlichem Namen Ehrich Weiss und wurde am 24.3.1874 in Budapest als Sohn des jüdischen Religionslehrers Samuel Weiss und der Cecilia Steiner Weiss geboren. Familie Weiss verließ im Jahre 1876 Ungarn und wanderte in die USA aus. Die Familie lebte zunächst in Appleton im Bundesstaat Wisconsin, dann in New York und schlug sich mehr schlecht als recht durch. Ehrich versuchte als Jugendlicher mit Gelegenheitsarbeiten und mit Auftritten als Akrobat in verschiedenen Wanderzirkussen zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen.
1892 begann seine Karriere als Zauberer „Harry Houdini“. Nach anfänglichen Schwierigkeiten und schlecht bezahlten Auftritten in drittklassigen Schaubuden, schafft er es nach einigen Jahren mit Handschellen-Entfesselungen in Amerika populär zu werden.
Gemeinsam mit seiner Frau Bess, die auch seine Bühnenpartnerin war, ging er im Mai 1900 auf Europa-Tournee. Sie begann in London mit einer sensationellen Aktion, die ihm nicht nur in England, sondern auch in anderen europäischen Ländern volle Theatersäle bescherte: Er ließ sich von Melville, dem Polizeichef des Polizeireviers Scotland Yard mit Handschellen und Fußfesseln an eine Marmorsäule binden und konnte sich in nicht einmal einer Minute daraus befreien.
1905 kehrten Harry Houdini und seine Ehefrau nach New York zurück. Harry war ein Weltstar geworden, und nun rissen sich auch die großen amerikanischen Theater um ihn. Er erhielt nicht nur Angebote aus New York, sondern auch aus den anderen amerikanischen Großstädten. Harry beeindruckte die Öffentlichkeit mit spektakulären Auftritten, deren Schwierigkeitsgrad er immer mehr steigerte. Er entwich aus mit Wasser gefüllten Behältern, sprang gefesselt von Brücken in große Flüsse, ließ sich in Zwangsjacken stecken und an Hochhausfassaden hängen, ließ sich in Kisten sperren und in Hafenbecken versenken und sprengte doch alle Ketten und Fesseln und tauchte immer wieder auf. Er ging durch Mauern und ließ als erster Illusionist auf der Bühne einen Elefanten verschwinden. Mit 38 Jahren war Harry Houdini der bekannteste Magier und Entfesselungskünstler Amerikas.
Durch den Tod der von ihm heiß geliebten Mutter im Jahre 1913 fiel er in eine tiefe seelische Krise. Er vermisste sie so sehr, dass er mit ihr im Jenseits Kontakt aufnehmen wollte. Harry glaubte fest daran, dass es irgendwo ein Medium gab, das die Fähigkeit besaß, diesen Kontakt herzustellen. Er wollte es finden, besuchte deshalb zahlreiche Séancen, doch er konnte all die verwendeten Tricks durchschauen und die Betrüger entlarven.
Harry bemerkte, dass sein Karriere-Ende drohte, wenn er es nicht schaffte, dem Publikum immer neue spektakuläre Großillusionen vorzustellen. Sänger und Komödianten waren mittlerweile die Stars in den großen Theatern. Das große Zeitalter der Magie schien zu Ende zu gehen. Er war der letzte der großen Zauberer, die ein Jahrhundert lang als Superstars die Theaterbühnen beherrscht hatten.
Aber Harry mochte nicht mehr mit lebensgefährlichen Großillusionen mit den neuen Aufsteigern des Show-Geschäfts konkurrieren. Er wusste, dass der letzte Abschnitt seiner Karriere gekommen war und wollte die Zeit nutzen, um die Menschen vor spiritistischen Betrügern zu warnen. Spiritistische Tricks führte er deshalb auch in seinen Bühnen-Shows vor.
Harry Houdini starb am 31. Oktober 1926 an den Folgen einer verschleppten Blinddarmentzündung. Der König der Zauberer war tot, aber er lebt als Legende weiter.
Am Tag, als ich auf Harry Houdini im Internet traf, habe ich überlegt, was wohl Zeitgenossen, die ihn ein Stück seines Lebens begleitet haben, über ihre Begegnungen mit ihm geschrieben hätten. Vielleicht haben sie es sogar getan, aber bis auf einige Texte seiner Ehefrau Bess sind mir keine weiteren bekannt.
Deshalb habe ich die Texte seiner Zeitzeugen, die ihm irgendwann begegneten, stellvertretend für sie, aufgeschrieben.
Es gibt Tage, an die erinnert man sich gern. Einer dieser Tage ist mir heute noch gegenwärtig. Obwohl er schon mehr als 40 Jahre zurückliegt. Es war der Tag, an dem ich Houdini traf. Dieser Tag sollte mein Leben verändern. Aber bevor ich ihn traf, erlebte ich einige qualvolle Stunden, die ich später am liebsten ungeschehen gemacht hätte.
Damals lebte ich gemeinsam mit meiner Mutter und meiner Schwester Sarah in einer schäbigen kleinen Wohnung im New Yorker Stadtteil Manhattan. Ich war 14, meine Schwester 16. Nach Vaters tödlichem Unfall auf der Baustelle reichte Mutters Verdienst als Schneiderin kaum aus, um die Wohnungsmiete zu bezahlen. Sarah und ich arbeiteten als Zeitungsausträger und Boten. So konnten wir zum Lebensunterhalt der Familie ein wenig beisteuern. Trotzdem war das Geld immer knapp.
Das alles musst du wissen, um verstehen zu können, warum meine Schwester und ich uns an dem besagten Tag von Bobby Mills überreden ließen, einen kleinen Bummel über den Straßenmarkt auf der Hesterstraße zu machen. Bobby, ein Junge aus unserer Nachbarschaft, hielt sich für den größten Taschendieb Manhattans. Und er hatte sich in den Kopf gesetzt, Sarah und mich mit seinen Künsten vertraut zu machen.