MEDUSENBLUT
Kathleen Weise
Phantastische
Erzählungen
e Medusenblut 1
Kathleen Weise
Von Frauen und Insekten
Sechs phantastische Erzählungen
Erstauflage
Lektorat: Annette Wolf, Mirjam Becker
Die Polizistin: überarbeitete Fassung,
Erstveröffentlichung 2003 in Liber Vampirorum III
Krähenschreie: überarbeitete Fassung,
Erstveröffentlichung 2004 in Psychoghost
Die Spinnenfrau: überarbeitete Fassung,
Erstveröffentlichung 2005 in Amazonen
© Kathleen Weise
Alle Rechte vorbehalten.
http://www.kathleenweise.de
http://www.medusenblut.de
eISBN 978-3-935901-30-7
KLAPPENTEXT:
Phantastik aus weiblicher Sicht – sexy, melancholisch, humorvoll und märchenhaft.
Sechs phantastische Kurzgeschichten.
Auf der Suche nach einem Kind muss sich die Polizistin ihrer Vergangenheit und einer besonderen Kreatur stellen ...
Die Herrin der Krähen macht Marie ein Angebot ...
Anna begegnet einem alten Mythos ...
Eine Nachtschicht an der Tankstelle wird für Ines zur Bewährungsprobe ...
Eine Tänzerin wird auf das Land geschickt ...
Das Mädchen erfährt, was hinter dem Winter liegt ...
» ›Statistiken zeigen, dass es in der Welt mehr Frauen gibt als irgendetwas anderes – außer Insekten. ‹ Johnny wusste, was er meinte, als er diesen Satz zu Gilda sagte – ich seh das genauso. Frauen sind was Furchteinflößendes, besonders wenn sie in Gruppen auftreten, oder um im Bild zu bleiben: wie ein Schwarm Insekten über einen Ort herfallen. «
Es wundert mich, dass sich das Foto unter meinem starren Blick nicht wellt. Das Gesicht darauf bleibt gleichgültig gegenüber meiner Obsession. In seinen Augen liegt dieses Misstrauen, das ich zu gut kenne, es ist ein Kindergesicht mit Greisenblick.
Erst eine Stimme beendet die Lähmung meines Körpers.
»Du solltest nach Hause gehen.«
Ich blicke auf und lege die Hände flach auf den Schreibtisch, an den Stellen, an denen ich den Kopf gestützt habe, kribbelt die Haut.
Tom sieht auf mich herab, nach einer weiteren Sekunde Schweigens greift er nach dem Foto vor mir und blickt mit gerunzelter Stirn darauf. »Er ist hübsch«, sagt er, worauf ich mich zurücklehne und die Arme verschränke.
»Tja.«
Worüber rege ich mich auf?
»Sie nennen ihn Angel«, füge ich noch hinzu und kann mir das Kopfschütteln nicht verkneifen.
»Wie in diesem Song?«
»Nein, wie bei einem 16-jährigen Ausreißer, der in drei verschiedenen Krankenhäusern Akten hat, damit niemand Fragen stellt, wenn er zu oft auftaucht.«
Mein Ton ist barsch, aber Tom stört sich nicht daran. Mit einem wissenden Schnaufen setzt er sich auf die Tischkante und legt das Foto zurück.
»Wie lange ist er schon verschwunden?«
»Drei Wochen, vielleicht dreieinhalb.« Ich zucke mit der Schulter. »So genau kann das keiner sagen. Er verschwindet immer mal ein paar Tage.«
Er nickt, denn wir kennen die Mechanismen beide zu gut, um noch darüber zu reden, und der Fall liegt auch schon zu lange auf meinem Tisch, um noch als dringend eingestuft zu werden. Die Hundestaffel kann schließlich nicht die ganze Stadt durchkämmen, statt Wald gibt es hier nur Keller, und in manche davon würde ich für keinen Menschen der Welt hinabsteigen.
Angel sieht mich an – der vergrößerte Ausschnitt einer Familienfeierlichkeit – er nimmt es mir nicht übel, er rechnet sowieso nicht damit, dass ich ihm helfe. Und ich hoffe entgegen aller Vernunft, dass sich irgendwer genug in sein hübsches Gesicht verliebt hat, um ihn am Leben zu lassen.
»Komm, ich geb ums Eck einen aus.« Mit einladender Geste steht Tom auf und knüpft sich die Jacke zu, dass er das Angebot nach einem Fünfzehn-Stunden-Tag noch macht, anstatt einfach ins Bett zu fallen, zeigt, wie sehr er mich mag. Tatsächlich überlege ich, ob ich in dieser Nacht nicht nachgeben sollte, immerhin versucht er es ausdauernd schon seit einem halben Jahr. Ich glaube sogar, dass ich ihn ebenfalls gut leiden kann.
Zumindest stört es mich nicht, wenn er mir auf den Hintern starrt.
Doch meine Hand greift nach dem Foto vor mir, fährt über die blonden Locken, die für einen Jungen mit seinem Gesicht viel zu lang und viel zu gefährlich sind.
»Nein, danke, besser nicht.«
Tom sieht enttäuscht aus, sicher ist es ihm nicht leicht gefallen, die Einladung so locker klingen zu lassen. »Warum nicht?«, fragt er tapfer nach.
»Ich hab mit den Entspannungsdrinks aufgehört.«
»Wieso das denn?«
Ich stehe ebenfalls auf und greife nach meiner Jacke. Das Foto stopfe ich in meinen Rucksack. »Weil ich Herzstolpern habe und von dem Zeug abhängig bin.«
Die Nacht ist mild, und eine Weile laufe ich durch die Straßen, in weiten Bögen um mein eigentliches Ziel herum. Ich fühle mich sicher, obwohl ich weiß, dass es ein trügerisches Gefühl ist, aber auf der Nahrungskette stehe ich irgendwo zwischen einem Vergewaltiger und einem Auftragsmörder. Den einen könnte ich aufschlitzen, wenn er mir zu nahe kommt, dem anderen würde ich nicht entgehen, weil er das Töten beherrscht. Im Gegensatz zu mir. Ich kann nur meine Haut retten.
Das Klappmesser in meiner Jackentasche fühlt sich vertraut an, von Plätzen, an denen Pistolen zum Einsatz kommen, halte ich mich fern, wenn es geht. Auch am Tag. Vor diesen jungen Hunden mit ihren Männlichkeitsritualen habe ich den meisten Respekt. Die mangelnde Erfahrung nährt ihren Größenwahn und macht sie aggressiv.
Kurz vor elf stehe ich dann doch endlich vor dem blickdichten Tor, eingerahmt von einer mannshohen Betonmauer, und drücke mit zitternden Fingern auf die Klingel.
Dabei ist es ja nicht so, dass ich das Gebäude zum ersten Mal betrete.
Die Kamera über mir bewegt sich geräuschlos, und ich winke, ohne zu lächeln. Mein Rucksack ist leicht; bis auf Taschentücher, Geldbörse und Foto ist er leer. Ich denke mir immer, wenn es hart auf hart kommt, muss ich schnell weglaufen können, und mir kann ja keiner garantieren, dass ich nicht irgendwann auch Beute werde. Ob ich auch noch herkommen würde, wenn ich nicht nach jemandem suche, weiß ich nicht.
Normalerweise bin ich vernünftig genug, um die Risiken in meinem Leben so gering wie möglich zu halten, nur dieses Gebäude und seine Bewohner lassen mich meine Vorsicht manchmal vergessen.
Nach fünf Minuten geht das Tor endlich auf, und ich bin erstaunt zu sehen, dass sie sogar persönlich gekommen ist, um mir das Tor zu öffnen. Wie immer bin ich beeindruckt, keines ihrer Kleider sehe ich zweimal, noch nicht mal ihren Schmuck. In dieser Nacht trägt sie eine weiße Toga, hoch gegürtet, mit freien Schultern, die in der Dunkelheit schimmern, die braunen Locken gescheitelt und hochgesteckt, und ich gebe ihr stumm Applaus, als sie sich umdreht und wieder auf das Gebäude zugeht. Sie wäre die Römerin, für die Kaiser Reiche anzünden.
Ich gehe ihr nach, hole sie mit meinem Schritt leicht ein und drossle dann die Geschwindigkeit, als wir auf selber Höhe sind.
»Du warst lange nicht mehr hier«, sagt sie.
»Was soll ich dir erzählen, mir war nicht nach Theater.«
Sie runzelt die Stirn, ich habe sie verärgert, natürlich, der Aufwand, den sie betreibt, soll auch bewundert werden.
»Was willst du dann heute hier?«
»Würdest du mir glauben, wenn ich sage, ich wollte dich sehen?«
»Nein.«
Mein Schulterzucken wird ihrerseits mit einem musternden Seitenblick quittiert. »Ist aber wahr«, erwidere ich. »Ich wollte sehen, was du machst, wie es dir geht.«
»Und mich nebenbei kontrollieren.«
Auf diese Feststellung muss ich nichts sagen, das ist nicht nötig, denn unsere Rollen sind schon seit ewigen Zeiten festgelegt. Zumindest kommt es mir so vor, wahrscheinlich sind es aber nur ein paar Jahre. Als wir uns dem beleuchteten Eingang der alten Fabrik nähern, fällt Licht auf ihr Gesicht, und ich betrachte das faltenlose Antlitz. Noch zehn Jahre und ich werde neben ihr alt aussehen.
Sie bemerkt, dass ich sie anstarre, und bleibt stehen.
»Was ist?«, fragt sie ungeduldig.
»Man sieht so deutlich, was du bist, dass es mich wundert, dass es nicht mehr Menschen merken.«
Mit einem bösen Grinsen zuckt sie die Schultern. »Du kennst doch den alten Spruch, die Leute glauben, was sie glauben wollen. Aber lass uns drinnen weiter diskutieren, da kannst du mir auch gestehen, was du wirklich willst. Ich bin allerdings sicher, dass du es hier nicht finden wirst.«
»Nicht es. Ihn.«
Ich hole das Foto aus dem Rucksack, die Ecken sind umgeknickt, und die Dunkelheit legt Schatten über Angels Gesicht. Aber ihre Augen funktionieren gut, genau wie bei allen Tieren, die nachts jagen.
Einen Moment lang sieht sie schweigend auf das Foto in meiner Hand, dann blickt sie mir fest in die Augen. »Er ist nicht hier.«
»Bist du sicher?«
»Ich bin die verdammte Königin in diesem Haus. Hier passiert nichts, ohne dass ich davon weiß.« In ihrer Wut erkenne ich sie endlich wieder, wenn ich sie allzu lange nicht gesehen habe, vergesse ich manchmal, wie sehr sie sich verändert hat. Ihr Zorn war schon früher furchtbar, aber jetzt ist er physischer, drückt sich aus in den gebrochenen Handgelenken ihrer Spielzeuge und in den vernarbten Rücken ihrer Untertanen.
»Nicht jeder verschwundene Mensch geht auf unser Konto, weißt du. Wir sind keine Allesfresser.«
Für ihren Humor habe ich nicht viel übrig. »Lass mich einen Blick hineinwerfen, vielleicht glaube ich dir dann.«
Mit einer fahrigen Bewegung weist sie auf die Tür, und ich darf eintreten in den Supermarkt der Schlächter, in die heilige Halle der lebendigen Mythen.
Die ehemalige Fabrik gleicht einem Bienenstock, aneinander gereihte Waben, in denen sich die Maden an Süßem gütlich tun. Es sind künstlich gezogene Wände, die zwei Dutzend Räume geschaffen haben. Keine Tür besitzt ein Schloss, nur Klinken, es geht nicht darum, etwas zu verheimlichen, denn wer es bis hier herein geschafft hat, kennt ohnehin das größte aller Geheimnisse.
Sie geht langsam neben mir her, wartet geduldig, bis ich die Türen rechts und links im Gang geöffnet habe, in die Zimmer sehe und mich dann wieder abwende. Wir spielen dieses Spiel nicht zum ersten Mal. Dass ich mich hier umsehen darf, liegt nur daran, dass sie von höchster Stelle protegiert wird. Solange sie mein Ende nicht will, bin ich ein Tabu für den Hunger der anderen. Es stimmt, was sie sagt, sie ist die Königin dieses Reiches und ihr König will sie bei Laune halten.
Mit jeder Tür werde ich zögerlicher, jeder Anblick dahinter raubt mir mehr Kraft, und das weiß sie auch. Nach dem achten Zimmer schlagen meine Finger nur noch leicht auf die Klinkenspitze, bevor ich die Tür mit der Fußspitze aufstoße. Dieser Raum gleicht mehr einem OP-Saal als einem Wohnzimmer, in der Mitte steht ein Stahltisch, auf dem eine junge Frau liegt, ihre Bluse ist aufgeknüpft, weil jemand Elektroden auf der Brust befestigt hat. Ihr Herzschlag ist regelmäßig, ein unangenehmes Piepen durchdringt den Raum. Monitore, Beistelltisch, Spritzen, Defibrillator, alles, was dazu gehört.
Neben dem Tisch steht das Monster, lässt sich durch die Unterbrechung nicht stören, saugt weiter an einem Handgelenk und sieht mich dabei auch noch an. Ich kann sehen, wie er abschätzt, ob ich Beute bin, aber weil ihre Hand auf meiner Schulter liegt, hält er sich zurück. Allein dafür, dass seine Augen meine Halsschlagader suchen, schließt sich meine Hand fester um das Messer in der Jackentasche.
»Was bedeutet das?«, frage ich sie, gebe mir keine Mühe, leise zu sprechen.