Boris Koch
Erzählungen
e Medusenblut 2
06/2016
Erstveröffentlichung als Paperback Medusenblut 14
6/2003
© 2016 bei Boris Koch
Umschlaggestaltung: Marko Djurdjevic
Lektorat: Kathleen Weise
Edition Medusenblut, Leipzig
http://www.medusenblut.de
eISBN 978-3-935901-31-4 (e-book)
ISBN 978-3-935901-05-5 (Paperback)
„Ich hörte Trommeln mit dem Klang von Herzschlägen. Dionysos ist Fruchtbarkeit, Seele, schöpferische Kraft, Raserei, Rausch, Maske, jubelnde Lust und tiefe Melancholie, Verwandlung, Lehrmeister der Menschen zur Mäßigung, ein Erdgott, dem Jenseits verbunden. Dionysos tanzt.“
Neun dunkle, phantastische Erzählungen.
– eine Art Vorwort –
Als Kind lernte ich: Dionysos ist der Gott des Weines und hielt ihn für einen recht geselligen Burschen, und einen kultivierten dazu, denn ich dachte bei Wein natürlich an gediegene Runden Erwachsener im mittleren Alter mit maßvollen Weingläsern und intellektuellen Gesprächen. Dionysos ist auch der Gott des Theaters, lernte ich weiter und dachte an prunkvolle Bauwerke, Männer in Smokings und Damen in teuren Kleidern, und das passte zu den Weintrinkern.
»Ist ja voll der Langweiler«, sagte ich an einem Nachmittag auf dem Bolzplatz zu dem Jungen mit den Pferdeohren aus meiner Klasse. »Poseidon und Ares sind viel cooler.«
Den richtigen Namen des Jungen habe ich vergessen, irgendwie fremdländisch, wir nannten ihn einfach Lauscher. Er blickte immer wie betrunken in die Gegend und ging weder in den katholischen noch evangelischen Religionsunterricht.
»Ares ist nur ein blöder Soldat«, zischte er zurück, schaute sich dann aber um, ob ihn auch niemand gehört hatte.
»Du hast doch keine Ahnung von Dionysos.«
Und weil ich nicht locker ließ und sonst niemand zum Bolzen auftauchte, zerrte er mich in ein kleines Wäldchen, wo er einen Plastikbeutel vergraben hatte. Daraus holte er ein weißliches Pulver hervor und bot es mir an.
»Titanenasche. Die musst du essen, dann verstehst du Dionysos besser.«
»Asche? Essen?«
»Ja. Die Titanen haben den jungen Dionysos getötet, in sieben Stücke zerrissen, gebraten und gegessen, nur sein Herz blieb übrig. Zeus aß daraufhin das Herz und gebar seinen Sohn aus seinem Schenkel wieder. Die Titanen verbrannte er zu Asche.«
»Wow, Zeus ist cool«, sagte ich und Lauscher starrte mich böse an.
»In der Asche findet sich auch der von den Titanen verzehrte Teil des Dionysos wieder. Wenn du sie isst, wird deine Seele von einem göttlichen Funken berührt, und du beginnst, zu verstehen.«
»Das wäre gut, weil jetzt verstehe ich nur Bahnhof«, grinste ich und zeigte ihm dann einen Vogel.
»Aber ich fress doch keine Asche.«
»Feigling!« Und Lauscher schob sich etwa einen Teelöffel voll in den Mund. Jetzt konnte ich auch nicht anders, wenn ich den Vorwurf nicht auf mir sitzen lassen wollte. Die Asche schmeckte seltsam, ein wenig wie verbrannte Kartoffeln aus einem unserer Lagerfeuer, aber zugleich süßlich und bitter. Und sie trocknete meinen Mund aus.
»Hast du was zu trinken da?«
Doch bevor er antworten konnte, begann die Welt sich zu drehen. Ich fiel auf meinen Hintern und sah.
Ein bärtiger Mann mit Binde im Haar und einem Trinkgefäß in der Hand trat zwischen den Bäumen hervor. Dionysos, wusste ich sofort, doch er bot mir nichts zu trinken an. Er zeigte einem komischen kleinen Mann, wie man Weinstöcke anbaut und Ackerbau betreibt. Dann wurde es Sommer und der Wein gedieh.
Satyrn und wilde Tiere tauchten auf und tanzten mit Dionysos um die Bäume. Und es wurde Herbst, und Frauen tobten um mich herum, ohne mich zu bemerken.
Ekstase, Rausch ohne Weingenuss, sie waren voll des Gottes. Sie rissen Tiere und verschlangen sie roh. Dionysos war inzwischen ein Jüngling und nur mit einem Pantherfell bekleidet. Zierlich, fast weiblich im Körperbau, doch seine Satyrn trugen riesige eregierte Phallen vor sich her.
Dionysos starb und erstand im Frühjahr wieder auf. Er tanzte als Stier, als Löwe, als Bärtiger. Ich hörte Trommeln mit dem Klang von Herzschlägen. Dionysos ist Fruchtbarkeit, Seele, schöpferische Kraft, Raserei, Rausch, Maske, jubelnde Lust und tiefe Melancholie, Verwandlung. Lehrmeister der Menschen zur Mäßigung, ein Erdgott, dem Jenseits verbunden. Dionysos tanzt.
Mir schwindelte, alles drehte sich, ich sah Milch und Honig fließen, Wein sprudelte aus dem Waldboden, ich wollte trinken, der Mund war ausgedörrt. Es war mein erster Rausch. Als ich den Kopf Richtung Boden senkte, hatte ich einen Blackout.
Als ich später zu mir kam, schmeckte ich Gräser und kleine Ästchen im Mund und verspürte noch immer einen drängenden Durst. Lauscher kauerte neben mir und hielt mir eine Flasche Saft entgegen. Ich trank den Liter in einem Zug.
»Okay. Dionysos ist cool. Nicht langweilig.«
Er grinste zufrieden. In der nächsten Woche zog er mit seinen Eltern weg. Die Tüte mit der Asche muss er mitgenommen haben, ich habe sie im Wald nicht gefunden, auch wenn ich tagelang suchte.
Bis heute habe ich das Wesen des Dionysos nicht vollständig verstanden, und ich mag gar nicht wissen, welche Art Asche ich damals mit zwölf in Wirklichkeit geschluckt habe, aber seitdem fasziniert mich dieser komplexe und in seiner Gesamtheit schwer verständliche Gott; Ares und Zeus dagegen finde ich schon lange nicht mehr »cool«.
Ich habe Dionysos nie wieder dort draußen gesehen, auch in keinem späteren Rausch, doch manchmal höre ich ihn in meinem Kopf tanzen, und dann rast er von einer Idee zur anderen, springt von Geschichte zu Geschichte und hinterlässt in jeder von ihnen seine Spuren. Spuren, die sich vor allem in den Erzählungen dieses Bandes finden und teilweise auch lesen lassen.
Boris Koch, am 30. April 2003
»… denn der Mensch sei dann wie die Großen Alten geworden: wild und frei jenseits von Gut und Böse; Gesetze und Moral wären dann niedergerissen, und alle Menschen brüllten, töteten und schwelgten in Lust. Dann würden ihnen die Großen Alten neue Wege zu brüllen, zu töten, zu schwelgen und zu genießen zeigen, und die Erde würde in Vernichtung, Ekstase und Freiheit flammen.«
H.P. Lovecraft, Cthulhus Ruf
»Society is burning be up, take a bite then spit it out take their rules, rip ´em up, tear them down twisted mind, withered brain you know I´ll go insane I just tell them to get back When they tell me how to act! I´ve got the world up my ass …«
Circle Jerks, World up my ass
Regen fällt vor dem zersplitterten Fenster der leerstehenden Fabrik zu Boden, dünne frische Tropfen. Zwei, drei Tage werde ich mich hier verstecken können, dann muss ich weiter. Sie finden einen so schnell. Seit zweiundvierzig Stunden habe ich nicht geschlafen, ich hasse die Träume von ihm. Zigaretten und das Notizbuch sollen mich die nächste Zeit wach halten. Doch wie lange? Ich muss nachdenken, mein Leben vor mir rechtfertigen, bevor sie hier sind. Mein Gewissen beruhigen. Darf ich töten, um weiter zu leben, ein paar Tage, Wochen, bis sie mich erneut aufspüren? Wieder töten und laufen? Immerhin war ich dabei, einer von ihnen. Warum? Die alte Frage. Warum?
Mit dem Ostblock verschwand auch aller Idealismus in der westlichen Politik, so seltsam das klingt. Doch Politik ist Pragmatismus geworden, ein Werkzeug der Wirtschaft, alles fließt und wir treiben auf einem Floß durch viel zu heftige Stromschnellen, die Parteien streiten um den Kapitänsposten, der Steuermann sitzt im Schatten und niemand leitet den Fluss um, obwohl genau das getan werden müsste. Wenn wir kentern, bleibt uns ja das Treibholz zum Festklammern, keiner merkt den Unterschied, bis wir sinken. Und das Bild verliert sich und den konkreten Bezug zur Realität.
So wie ich ihn in den Neunzigern zur Politik verloren habe. Ich habe nie direkt zu einer Szene gehört, aber viel diskutiert, war auf Demos. Die Werke großer Anarchisten habe ich nicht gelesen, aber billigen Fraß gekauft und Müll in meiner Wohnung und auf der Straße verteilt. War das Politik? Sicher nicht, aber es gehörte dazu, so wie Sex Pistols, Fugazi, Verbal Assault oder Hüsker Dü. Punk-Zines und jede Menge Bier und Wodka. Trotz pazifistischer Grundhaltung Sympathien für die RAF, auch wenn ihre sogenannte dritte Generation nie richtig existierte, nur als aufgeblähter schwarzer Mann des BND, der damit Angst vor Links schürte. Und irgendwann war die Luft raus, aller Idealismus verbraucht, Resignation alles, was blieb.
Dann hörte ich auf zu trinken, zumindest an den meisten Wochentagen, wollte doch noch studieren und irgendwo arbeiten. Aber das konnte nicht der Sinn im Leben sein. Den Glauben an Gott hatte ich schon vor der Konfirmation verloren, aber irgendwie suchte ich etwas Spirituelles. Neu-Heidentum, Ufos, Prae-Astronautik, ich fraß mich durch die labbrigen Hefte in kleiner Auflage, auf der Suche nach einer Szene, der ich mich als Außenseiter distanziert zugehörig fühlen könnte. Pseudo-Individualismus.
Fuck, ich bin eingeschlafen und habe geträumt. Immer dasselbe in Variationen. Ich bin an Bord eines riesigen, grauen Schaufelraddampfers. Ringsum dunkles Meer. Leichen und abgerissene Körperteile liegen überall an Deck. Ich höre Lachen und Schreien über das mahlende Getöse der Motoren hinweg, reiße Türen auf, suche nach lebenden Menschen. Ein Teddybär zerlegt ein kleines Mädchen mit einer Kettensäge. Ich helfe nicht, das Meer wird sumpfig. Ein Priester und ein Offizier löffeln das Gehirn eines Hundes. Zwei hübsche Kinder spielen Schach mit menschlichen Organen, die blutigen Herzen schlagen noch. Bunte Kutten beten in ihren Kabinen. Irgendwo muss der Ballsaal sein, wo die ewige Orgie gefeiert wird, doch nie kann ich ihn finden. Ich sehe herausgeputzte, gesichtslose Gäste auf anderen Decks aus Türen taumeln und über die Reling stürzen. Hinab in den Sumpf. Farne und Äste greifen nach ihnen und ziehen sie in die matschige Tiefe. Dschungel, überall Dschungel. Das Schiff frisst sich voran. Bunte Kutten und schwarze Uniformen umstellen mich, MPs,
Äxte, Sägen, Heugabeln, Pistolen, Spritzen und seltsame Schläuche auf mich gerichtet. Wir stehen auf dem flachen Dach eines schmutzig-weißen Turms. Sie wollen, dass ich den verkohlten Leichnam einer Frau ficke. Ich laufe weg, nur weg, Stufe um Stufe die dämmrige Wendeltreppe hinab, immer im Kreis, alles dreht sich, endlich aus dem engen Portal hinaus in eine überwucherte megalomane Stadt. Graue Mauern und algenübersäte Wände, gigantische Steinsäulen türmen sich vor mir in die Höhe, übersät mit monströsen Reliefs und fremden Schriftzeichen. Doch bevor ich dahinter Schutz suchen kann, schießen sie mir lachend in den Rücken. Mein Körper zerplatzt, und ich liege von Schweiß und Regen durchnässt in der Fabrikhalle.
Viele Nächte stehe ich nicht mehr durch. Diese verdammte Stadt.
Ich habe keine Szene für mich gefunden, das Leben war leer. Kurze Beziehungen, wechselnde Jobs, ein paar Stunden pro Woche in der Uni, Politikwissenschaft und Geschichte. Zusammen mit kleinen Mädchen, gerade der Schule entkommen, aber noch lange nicht den behütenden Eltern. Die meisten Jungs hatten wenigstens kurz etwas anderes als eine Lehranstalt gesehen, wenn auch die Bundeswehr kaum Charakterbildung oder das Denken fördert.
Neue Stadt, neue Kneipen, neue Clubs, neue Menschen. Fast jeden Freitagabend trieb ich mich im Miskatonic herum. Ein massiver Bau aus dem 19. Jahrhundert, leicht außerhalb gelegen, ohne störende Anwohner. Viele Gothics, ein paar konventionell schwarz Gekleidete, vereinzelte Farbsprengsel dazwischen. Punk war out, die anderen Schuppen spielten schlonzigen hitparadentauglichen Möchtegern-Independent. Dann lieber Bauhaus, Christian Death und Sisters of Mercy.
Das Bier war billig und einige Leute schwer in Ordnung. Ich war ruhiger geworden, statt »No Future« zu grölen, entspannte ich bei lautem Düstersound. Kein Pogen, sondern träumerisches Beobachten der Tanzenden.
Und dann die Abende der Wut in den Nischen abseits der dröhnenden Boxen, schreiende Gespräche, in denen ich die Welt verfluchte, unsere saubere Gesellschaft zerstören wollte, um eine neue, bessere, lebendigere zu schaffen. Völlige verbale Zerstörung als Ausgangspunkt für einen gedanklichen Neubeginn. Ein paar verstanden mich, andere meinten, ich sollte weniger trinken oder bräuchte endlich eine feste Freundin gegen die Verbitterung. Fickt euch doch selbst.
An einem solchen Abend saß Alex an unserem Tisch. Alex kam nur unregelmäßig ins Miskatonic. Wir hatten vor jenem Abend im Nebenraum zwei-, dreimal Billard gespielt, nicht viel gesprochen. Er trug meist eine enge Lederhose, ausgewaschene T-Shirts und eine abgetragene schwarze Jeansjacke. Sein dunkles Haar war kurz geschoren, die Brille mit den kleinen, ovalen Gläsern leicht verbogen. Und dauernd kratzte er sich mit der Linken an der Nase.
Er hörte sich meine Hasstiraden an. Ich wollte alle Banken der Welt in die Luft sprengen, Fernsehserien zu Splatterorgien umschreiben, Gartenzwerge zertreten, geregelte Lebensrhythmen und Bahnhofsuhren zerschlagen, einfach provozieren.
»Spinner«, »Trink nicht so viel«, »Ja, ja, schon gut …«, die üblichen Antworten. Einer spielte ironisch mit, zwei Mädels gingen kopfschüttelnd tanzen. Alex schaute mich prüfend an und fragte:
»Meinst du das ernst?«
Nicht entrüstet, anklagend, einfach neugierig. Ich wollte ihm ein paar meiner Welthasserfloskeln um die Ohren hauen, schluckte sie aber wieder hinunter, ich wusste instinktiv, das war kein Spiel mehr. Ein besonderer Moment, wichtiger als die Prüfungen an der Uni oder mein Job in der Copy-Zentrale. Ein Moment ohne zweite Chance.
Natürlich war ich mir nicht sicher, was meine Äußerungen anbelangte. Keine gründlich durchdachte Theorie, kein festes Weltbild stand hinter meinen Worten, nur Wut und der Augenblick. Aber wie hätte ich irgendetwas zurücknehmen können? Ich hatte immer wieder diese Momente der Wut erlebt, sie herausgeschrien, sie waren mir ernst. Auch wenn sie nicht mein ganzes Sein ausmachten. Aber ich war nicht der »Ja, aber …«-Typ, ich wollte mich bedingungslos festlegen, für den Augenblick, also nickte ich gewichtig.
»Ja, ist mein Ernst.«
»Okay, komm mit.«
Alex holte uns noch zwei Flaschen Bier und schob mich auf die Straße. Wir schimpften auf das beliebte Abstraktum Gesellschaft, und Alex ließ ein paar Andeutungen bezüglich eines seltsamen Kultes fallen, während wir Richtung Stadtrand schlenderten, wollte aber nicht weiter darauf eingehen. Wir verstanden uns prächtig. Als wir das Autohaus Sedlmaier beim Ortsschild erreichten, schmetterte er seine Bierflasche gegen einen blauen Kotflügel und grinste mich an. Ich spielte mit und schleuderte meine nach dem Wagen daneben. Dann warfen wir alles, was wir fanden nach den Karosserien: Steine, Dreck, Äste, das halbe Telefonbuch aus der nahe gelegenen Zelle, sogar ein schlecht angekettetes Fahrrad. Die Autos jaulten auf, schrien durcheinander. Keine zwei Minuten, und wir rannten durch das Gehölz neben der Straße zurück zum Miskatonic. Ich konnte seine keuchenden Worte kaum verstehen.
»Mann, das war das beste Gebet seit langem.«
Ich dachte an herausgeputzte, christliche Sonntagslämmer, an die schleimigen Predigten meiner Kindheit und fiel lachend zu Boden.
»Hey, Alex, du musst mir mehr von dem Kult erzählen. Gebet, Gebet, das ist klasse.«
Und Alex erzählte und ich wurde ein Jünger Cthulhus, angetrunken, vom Rennen erschöpft, eine Stunde vor Sonnenaufgang, aber glücklich wie lange nicht mehr. Ich war frei, hatte die Regeln gebrochen und schien nicht mehr allein. Ich hatte meine Szene, oder was auch immer, gefunden.
In den kommenden Wochen lernte ich die anderen Kultisten der Stadt kennen, etwa dreißig Männer und Frauen, auch zwei Hamburger, die für einen Monat bei uns gastierten. Und mit der Zeit verstand ich den religiösen Aspekt unserer Zerstörungen, oder glaubte, ihn zu verstehen. Aber was dem einen intellektuelles Spiel oder Metapher, ist dem anderen wirklicher Glaube oder Wahrheit, und doch wird alles mit den gleichen Worten ausgedrückt, und schon scheint Verständnis, wo keines ist.
Es gab keine rituellen Zusammenkünfte in irgendeinem Andachtsraum, keinen Gemeinschaftskeller voll Symbolik und Kerzen und schwarzem Samt. Ich erhielt eine grelle, bunte Kutte, die ich aber nur zu Hause nutzte, ein solches Kleidungsstück fällt auf der Straße zu sehr auf. Auch knapp tausend kopierte verworrene Seiten überreichte mir Alex, als ich offiziell aufgenommen wurde, ein seltsames Sammelsurium von Texten in mindestens sieben Sprachen und aus verschiedenen Jahrhunderten. Angeblich. Ich hatte kein Interesse, das zu prüfen. Wir pflegten keine Buchreligion, wir lebten einen wahnsinnigen Kult.
Ich traf mich häufiger mit Alex, unabhängig von unserer Gemeinschaft, manchmal im Miskatonic, manchmal in meiner Wohnung oder in einer Kneipe. Alex hatte damals kein richtiges Zimmer, meist schlief er im Übungsraum einer befreundeten Band. Das waren ganz normale Abende, wir tranken, sprachen über Frauen, Fußball, Musik, Fast Food, Politik, Kino und die verklärte Kindheit. Wir unterschieden uns kaum von den Menschen um uns, dann tranken wir aus und zerstörten ihre Welt. Wir und sie, was für ein billiger Dualismus.
Bei unserem Anschlag auf den Fernsehsender lernte ich Doris kennen. Erst fiel mir ihr Hintern auf, was mehr über meine Fixierung als ihre Figur aussagt, dann ihr böser Humor. Böse, aber nicht verbissen, sondern mit der Ruhe eines Buddhisten. Technisch begabt wie nur wenige, immerhin grüßten alle unsere Mittelfinger für einige Sekunden bundesweit von der Mattscheibe. Ihr schien meiner besonders gefallen zu haben, denn sie nahm mich an dem Abend mit zu sich nach Hause. Wir trieben es miteinander, und in der folgenden Woche noch zweimal, bevor sich das verlief.
An jenem Abend betrat ich zum ersten Mal die Wohnung eines anderen Kultisten, und sie entsprach beinahe den bekannten Satanistenklischees der Medien. Dunkle Tücher an den Wänden, Kerzen, alte Bücher, die einst weißen Wände mit Runen, Symbolen, Reimen und mathematischen Formeln beschmiert. Exotische Pflanzen wuchsen in breiten Wannen entlang der Außenwand der Wohnküche. Wir sprachen nicht viel, laberten nur, dennoch hatte ich das Gefühl, der Kult sei ihr Lebensinhalt, nicht nur eine Möglichkeit, Spaß zu haben und Wut abzubauen. Sie glaubte und zog Kraft aus dem Glauben, und sie wusste viel mehr. Ich Trottel fühlte mich daraufhin minderwertig, oberflächlich.
Ein Gefühl, das wenige Tage später verstärkt wurde, als Alex bei mir vorbeischaute. Wir hatten noch nicht das erste Bier geleert, da begann er schon, mich zu löchern.
»Na, wie weit bist du mit den Schriften?«
Ich stotterte ein paar vage Worte und versuchte abzulenken, aber er beharrte auf dem Thema.
»Hey, mach dir keinen Kopf, wenn du einiges nicht checkst. Keiner von uns versteht alles, aber vielleicht kann ich dir ein wenig helfen. Es ist wichtig, dass du zumindest einiges begreifst.«
Es blieb mir nichts übrig, ich gestand, nur wenige Minuten darin geblättert zu haben, jeder hätte seine eigenen Symbole und Metaphern, ich wäre doch immer gut dabei bei Aktionen, und so weiter, aber er schnitt mir das Wort ab:
»Hey, wir reden nicht von Metaphern. Cthulhu ist unser Gott, und er ist real. Wirklichkeit. Tot und doch träumend wartet er am Grund des Pazifiks auf die Zeit seiner Rückkehr. Das ist ein Fakt.«
Und dann begann das, was ich für eine Auseinandersetzung mit einem Spinner und er für einen religiösen Disput hielt. Wir kamen uns in dem Punkt nicht näher, bis er mir Beweise für seine Auffassung von Realität versprach, wenn ich ihm einen Liter Blut überließe. Ich war erhitzt genug, darauf einzugehen. Als er dann tatsächlich sein Messer aufklappte, schluckte ich, spürte so etwas wie Panik aufkommen, aber versprochen ist versprochen, was sollte ich machen.
Alex verschloss Tür und Fensterläden, dämmte das Licht und verlangte meine Kopien. Ich brachte sie ihm, während er mit einem fetten Textmarker Symbole und Kreise auf dem Boden zog. Hoffnung auf meine Kaution machte ich mir schon lange nicht mehr, also ließ ich ihn gewähren. Grinsend zeigte er mir Narben an seinen Unterarmen, um mich zu beruhigen – »… muss jeder mal durch« –, dann schnitt er mir die Pulsader auf und ließ das Blut in meinen Spaghettitopf laufen. Ich hatte schon fünf Bier, und so dauerte es nicht lange, bis mir vollends schwindelte. Matt sank ich auf die Couch und versuchte, ihn im Auge zu behalten. Er schrieb mit meinem Blut auf den Boden, träufelte davon auf die Kerzen, bis sie erloschen, und entzündete sie erneut. Dann trank er den Rest. Ich dämmerte vor mich hin, zu schwach für eine Reaktion.