Erzählungen
e Medusenblut 4
06/2016
Erstveröffentlichung als Paperback Medusenblut 22
11/2013
© 2016 bei Jakob Schmidt
Die Geschichte Frühzeitige Förderung erschien erstmals im Mai
2010 in HATE. Magazin für Relevanz und Stil. Für diese
Veröffentlichung wurde sie überarbeitet und erweitert.
Alle übrigen Texte sind Erstveröffentlichungen.
Cover und Innenillustrationen: Vincristine
Umschlaggestaltung: Kathleen Weise
Lektorat: Boris Koch
Korrektorat: Catherine Beck
Edition Medusenblut, Leipzig
http://www.medusenblut.de
ISBN 978-3-935901-33-8 (e-book)
ISBN 978-3-935901-16-1 (Paperback)
Nicht böse – nur hungrig!
Unter den Galgen der Gehenkten, wo die Erde fett und schwarz ist von herabtropfendem Leben, gedeihen Alraunen. Geschöpfe aus Meerestiefen nisten sich in Menschen ein, um durch ihre Poren Sonne zu trinken. Hunde lecken das Blut von der Straße und kommen auf den Geschmack.
Die Dinge unter der Haut der Wirklichkeit sind nicht böse. Sie sind gierig und geistlos, getrieben von tierischem Hunger und menschlicher Sehnsucht.
Zehn Geschichten von seltsamen, grausamen und entsetzlich lustigen Begebenheiten.
ein Vorwort von Boris Koch
Zum ersten Mal lesen sah ich Jakob Schmidt vor einigen Jahren in der Berliner Buchhandlung Otherland. Er gab dort einen Pfarrer auf einer Harry-Potter-Release-Party, und wie er über den Rand seiner Brille ins Publikum blickte, wie er die Pausen setzte, das zeugte von subtilem Humor. Er brauchte keine großen Gesten, um das Publikum zum Schmunzeln zu bringen, sondern er war mit feiner Betonung und knappem Minenspiel erfolgreich.
Etwas später, 2007, las ich dann im Magazin Pandora einen analytischen Aufsatz von ihm über Robert Charles Wilsons Roman Spin, in dem Schmidt auch gesellschaftliche Fragen erörterte. Wieder war ich beeindruckt.
»Schön«, mag man sich nun denken, »das kann ja alles stimmen, aber was haben Harry Potter und ein kanadischer SF-Roman mit den unheimlichen Geschichten zu tun, die uns hier versprochen wurden?«
Auf den ersten Blick natürlich gar nichts. Doch wie vertrauensvoll ist der erste Blick denn überhaupt?
Eben ...
Ganz sicher sind Humor, die Fähigkeit zu subtilen Nuancen und ein analytischer Verstand beim Schreiben hilfreich, egal in welchem Genre.
Ernsthaft zu schreiben, bedeutet auch innerhalb eines Genres nicht, lediglich irgendwelche Versatzstücke zusammenzufügen, sondern sich selbst einzubringen.
Die typischen Motive und Themen von unheimlicher Phantastik und Horror mit eigenen Erfahrungen, Gedanken, Ängsten, Wut und Beobachtungen anzureichern. Sie auf diese Weise zu zerschlagen, neu zu definieren oder durch eigene Varianten zu ersetzen, über sie zu lachen oder sie ganz zu ignorieren und eine dunkle Geschichte zu erzählen, die sich neuer Motive und Symbole bedient.
Als ich Jakob Schmidt das nächste Mal lesen hörte, war das im Rahmen der Lesebühne Schlotzen & Kloben, die er kurz zuvor mit seinen phantastischen Kollegen Simon Weinert und Jasper Nicolaisen aus der Taufe gehoben hatte. Er las unter anderem die schwarz-humorige Erzählung Frühzeitige Förderung, in der ein naivzuvorkommender Pfarrer die zentrale Rolle spielt.
Schon wieder ein Pfarrer, dachte ich, aber das stellte sich als Zufall heraus; Schmidts Themen sind eigentlich andere. Und der Junge in der Geschichte hatte rein gar nichts mit dem netten Harry Potter gemein. Die ganze Geschichte war viel stärker vom klassischen Horror inspiriert, und damit sind wir nun bei der vorliegenden Sammlung angekommen.
Der Ort, an dem die Lesung stattfand, war die kollektiv organisierte Neuköllner Kneipe Tristeza, die sich »als Teil linker, außerparlamentarischer Infrastruktur« begreift. Diese alternative Szene bildet regelmäßig den Hintergrund für Schmidts Geschichten, und das macht sie zum einen authentisch, weil Schmidt sich hier offensichtlich bewegt und auskennt. Auch wenn sein Blick dabei oft humorig oder von leichter Distanz geprägt ist, wie etwa in der Erzählung Du bist raus. Vielleicht ein wenig nostalgisch, doch nie hämisch oder gar gehässig.
Zum anderen hilft dieser Hintergrund auch, einen ganz eigenen Blick auf bekannte Horrorwesen und Situationen zu werfen, weil die handelnden Figuren anders reagieren als üblich oder anderes bedrohlich finden. In erster Linie sind es nicht die Bedrohungen und Monster, die andere sind (nun gut, manche sind es, wie etwa die Polizei in Du bist raus), sondern die Ängste und Figuren, die auf das Grauen stoßen.
Wenn Phantastik der berühmte »Riss in der Wirklichkeit« ist, dann besteht die Wirklichkeit hier aus WGs, Rucksacktouristen und Demonstranten, nicht aus Mittelstandfamilien mit zwei Kindern.
Natürlich geht es hier nicht nur um die Wirklichkeit, sondern im Zentrum der Erzählungen steht der erwähnte Riss, und was durch diesen dringt ist – das verrät bereits der Buchtitel – nichts Böses. Aber ganz bestimmt auch nichts Nettes.
Von der humorigen Ausnahme der Frühzeitigen Förderung abgesehen, vermeidet Schmidt das metaphysische und abstrakte Böse. Ebenso – da ist er konsequent – das Gute. Es gibt menschliche und monströse Figuren, friedfertige und hungrige, aktive und passive, und sie prallen immer wieder ungeschützt aufeinander.
Es mag Taten geben, die man böse nennen kann, doch das Motiv, so zu handeln, ist nie das Böse an sich. Durch das Fehlen des absolut Bösen, stecken die Fragen nach Moral und Ethik, die in der Phantastik oft mitschwingen, in den Details.
Diese Details, kleine Taten oder tatenlose Passivität, summieren sich schließlich zu etwas auf, das, wenn auch nicht explizit böse, ganz bestimmt unangenehm ist.
Zumindest für die eine oder andere bedauernswerte Figur. Für uns Leser ist die Lektüre dagegen eine äußerst angenehme Erfahrung. Wie könnte es auch anders sein, das alles hier ist schließlich nichts Böses …
Boris Koch, im September 2013
Mein Traum geht so: Ich sitze in einem Loch. Es gibt kein Licht. Keinen Funken. Es ist so dunkel, dass man sich nicht sicher ist, ob es einen überhaupt gibt, solange man sich nicht bewegt. Wenn man sich aber bewegt, dann spürt man glatten Stein. Und dann tut es weh, und man ist wieder ich, und ich erinnere mich, dass die Knochen in meinem Bein zersplittert sind und dass all die Splitter mit dem Fleisch verrührt sind. Ich höre mich hecheln und jaulen wie einen Hund. Das Echo ist seltsam dumpf, fast wie unter Wasser. Sonst höre ich niemanden.
Was halten Sie von diesem Traum?, will meine Psychotherapeutin wissen. Glauben Sie, dass das etwas heißt?
Tja, sage ich lakonisch, um meine – wie lautet noch mal der wissenschaftliche Begriff dafür? – Affiziertheit zu überspielen, ich sitze in einem Loch. Expliziter geht’s ja wohl kaum, oder?
Gut, sagt sie, und möchten Sie aus dem Loch heraus?
Natürlich, antworte ich.
Wie wollen Sie das anstellen?, fragt meine Therapeutin.
Vi sitzt mit mir vorm Café, über uns raschelt das Laub, neben uns brummen die Autos, in uns gluckert der Milchkaffee. Vi heißt eigentlich Verena, aber ich nenne sie Vi, spricht sich wie die Spielkonsole. Alle ihre Freunde nennen sie Vi. Auch ihre gute Freundin Franzi, und um die geht es gerade, denn deren Mutter ist gestorben. Das ist nicht schön. Man muss plötzlich an die eigenen Eltern denken, auch die werden ja einmal sterben, so erwachsen wollte man doch eigentlich nie sein, dass man sich mit solchen Gedanken herumschlagen muss …
Auch nicht schön ist, dass Franzi und Vi zusammen in den Wanderurlaub fahren wollten, in ein weit entferntes, wildes Land. So ein Land, wo man sofort Filmaufnahmen aus der Hubschrauberperspektive vor seinem geistigen Auge sieht, von riesigen Nadelwäldern auf schroffen Bergflanken, und dazwischen kreist ein Adler. Wo es Bären und Elche und Opossums gibt. Ein unglaubliches Abenteuerland, und mittendrin die kleine Vi.
Auf dem Bild, das ich dazu vor Augen habe, sehe ich sie immer schräg von vorne, die schwarzen Dreadlocks mit einem Tuch zurückgebunden, den Blick halb auf den Bergpfad gesenkt, sodass man beinahe fürchtet, dass ihr die Brille von der spitzen Nase rutscht, und mit einem konzentrierten, glücklichen Lächeln auf den Lippen. Mit einer Hand hält sie sich an der Felswand fest, und über ihrem Kopf schwankt der hochaufgetürmte Wanderrucksack.
Als sie mir von ihren Reiseplänen erzählt hat, war ich zuerst einmal neidisch. Ganz anders ist mir geworden bei der Vorstellung, wie Vi zurückkommt und mit ihrer typischen, unverfälschten und uneitlen Begeisterungsfähigkeit von hubschrauberansichtsmäßigen Naturpanoramen und Bären, die ihren Proviant gefressen haben, erzählt. Vi kann staunen, das ist ihre ureigenste Fähigkeit, und Staunen ist das beste Mittel gegen Angst.
Mir wäre dann mal wieder nichts übrig geblieben, als meinen Marokkourlaub von vor fünf Jahren hervorzukramen, wo ich mir auf einem Dromedar den Arsch wundgeschaukelt habe, und zu schauen, ob der noch eine Anekdote abwirft. Ich bin nämlich ein Langweiler. Das ist fast schon ein Beruf bei mir. Wenn ich mal was Aufregendes mache – zum Beispiel verreisen oder Flirtversuche unternehmen –, dann nur, weil es der einzige Weg ist, ans langweilige Ziel meiner Langweilerträume zu gelangen. Eine Freundin. Eine gemeinsame Wohnung. Vielleicht sogar ein Kind, das wäre ideal, dann kann man gar nicht mehr auf so Abenteuerreisen gehen, dann kann man ihm in Ruhe Brei in den Mund schaufeln und Windeln wechseln.
Aber Moment, so weit sind wir noch nicht. Mit etwas Glück kommen wir aber noch dahin. Vis Reise steht nämlich infrage, weil Franzis Mutter gestorben ist. Und Franzi, die schon ihre Flugtickets gekauft hat, kann nun gar nicht mit. Und Vi weiß nicht recht, ob sie alleine will. Ich schlucke meinen Neid herunter und mache ihr Mut, wie sich das gehört, sage: Also wenn du das willst, dann kriegst du das hin, Vi, da würde ich mir gar keine Sorgen machen bei dir.
Ja, stimmt schon, meint sie und krümelt an ihrem Kaffeekeks rum. Aber deshalb habe ich dich ja angerufen, weil ich allein keine Lust habe. Und du sagst doch seit Monaten, dass du auch mal raus musst. Und das Ticket kann man noch umbuchen. Da könntest du doch mit, statt Franzi.
Puh. Ich grinse. Mein Herz macht einen Satz vor Freude darüber, dass sie ausgerechnet mich gefragt hat. Und mein Magen macht einen Satz vor Angst: Da muss ich mich doch vorher sicher gegen irgendwas impfen lassen, denke ich, und dieses Bärenspray hilft doch sicher kein bisschen, wenn einem die Dinger erst mal Auge in Auge gegenüberstehen, die werden dann bloß richtig sauer, und wenn man sich in diesen Bergen verläuft, verhungert man, so riesig ist das Land …
Ja, das wäre doch schon. Ich muss bloß mal sehen, ob das mit der Arbeit passt, sage ich starr vor Angst.
In dem Traum finde ich schließlich die Maglite-Taschenlampe in der Seitentasche meines Rucksacks. Als ich sie anknipse, sehe ich, dass neben mir ein zerschmetterter Mensch liegt, ein dunkler Brocken, aus dem ein dünner blasser Arm ragt. Das Licht ist grau, und das Blut im grauen Licht schwarz.
Ich schaue zu meinen Beinen.
Sie sehen gar nicht schlimm aus, nur ein handgroßer Blutfleck ist auf einem Hosenbein zu sehen. Ich leuchte nach vorne. Da ist ein langer, gerader Gang. Die Wände bestehen aus glattem, bräunlichem Stein, der glänzt, obwohl er trocken ist. Ich sitze an einem Ende des Gangs, in der Sackgasse.
Ich leuchte nach oben. Über mir ist ein kreisrundes Loch, in dem die gleiche Finsternis sitzt, die vorher überall um mich herum war. Als ich das sehe, ist mir nach Brüllen zumute, nicht nach einem Hilfeschrei, einfach nur nach Gebrüll. Aber es will nicht raus, es ist wie wenn man heulen muss und fast daran erstickt, weil man so zugepfropft ist.
Ich kann doch nicht einfach so unartikuliert losschreien, denke ich mir, so bin ich doch nicht, ich bin doch kein Tier.
Es braucht schon ein Wort.
Also brülle ich, gerade so laut, wie ich unbedingt muss: Gooottt! Goootttt!
Und bin froh dabei, dass mich niemand hört.
In der Sackgasse, haben Sie gesagt, bemerkt meine Therapeutin. Wieso Sackgasse?
Ich überlege. Wahrscheinlich weil ich Angst habe, dass das Beste an meinem Leben vorbei ist. Dass da nichts Interessantes mehr kommt. Das ich jetzt einfach festsitze, bis ich irgendwann sterbe.
Und der Ort, an dem Sie festsitzen, ist nicht der, an dem Sie sein wollen, sagt meine Therapeutin.
Ich verziehe statt einer Antwort bloß das Gesicht. Das versteht sich ja von selbst, wenn man Worte wie Sackgasse und festsitzen verwendet.
Na schön, sagt sie. Bleiben wir doch mal in dem Bild von ihrem Traum. Da ist ja nicht nur eine Sackgasse, da ist auch ein Gang. Sie wissen doch noch gar nicht, wo der hinführt. Ein Weg ist immer nur von einem Ende eine Sackgasse. Drehen Sie doch einmal um und gehen sie bis zur letzten Abzweigung zurück, dann sehen wir weiter.
Ich zucke mit den Schultern. Sie meinen also, ich soll mir den Gang ansehen?
Wollen Sie sich den Gang denn ansehen? Meinen Sie, es könnte ein Weg nach draußen sein?
Ja, antworte ich, das kann schon sein. Aber was ist mit der Leiche?
Lassen Sie uns die Leiche zur Seite packen, bis wir mehr wissen, in Ordnung?
Das Irre ist, dass man aus dem Flugzeugfenster wirklich die Bergflanken mit den Nadelwäldern sehen kann. Wir fliegen zwar nicht drüber weg, und ein paar Wolkenfetzen hängen im Weg, aber man kann erkennen, dass es diese Berge wirklich gibt und wie ungeheuer riesig sie sind. Die Stadt mit dem Flughafen daneben sieht aus wie ein vereinzelter Fetzen Verpackungspapier in einem verwilderten Park, schmutzig und glitzernd und knittrig. Als wir uns nähern, faltet sie sich auf, und bald sieht man nichts mehr außer ihr, und aus den Knitterfalten werden Straßen und Hochhäuser.
Vom Flughafen nehmen wir einen Bus direkt in ein Dorf, wo alles aus Holz ist und wo man direkt von der Straße in eine hundert Meter tiefe Schlucht fallen kann, wenn man nicht aufpasst. Das Hostel hier wird von älteren, prallgesunden Leuten betrieben, die selbst für uns kochen. Wir machen eine Ausnahme und sind für diesen Urlaub mal keine Vegetarier. Es ist überhaupt nicht schlimm, mal etwas anders zu machen, stelle ich fast euphorisch fest. Die Sonne kann einen hier in den Bergen verbrennen, wenn man sich nicht gut eincremt, aber das blättert ab, und der Bär wird vielleicht einfach seiner Wege gehen. Die Welt ist gefährlich, aber sie will einem nichts Böses, und wenn man sich nicht dumm anstellt, dann tut sie einem auch nichts Böses.
Vi und ich lächeln einander über Wildbratenscheiben hinweg an, und ich freue mich riesig, dass ich mit ihr mitgekommen bin.
In dem Traum stelle ich fest, dass die Knochen in meinem linken Bein doch nicht zersplittert sind, und selbst das rechte mit dem Blut am Hosenbein ist vielleicht noch zu retten. Ich nehme den Walking-Stock aus Alu als Krücke und trete die Wanderung durch den Gang an. Jedes Mal, wenn mein Bein auf dem glatten Untergrund wegrutscht, fühlt es sich an, als stäche mir jemand ein Messer in den Unterschenkel, und ein paar Mal bleibe ich einfach stehen und heule leise. Wenn ich stehe, kann ich besser sehen, das Licht wackelt nicht. Irgendwann fällt mir dabei auf, dass der Gang weiter vorne an einer Fläche endet, die das Licht zurückwirft. Noch ein paar Meter weiter halte ich erneut zum Spähen inne. Es kommt mir vor, als würde ich in einen Brunnen hinabstarren, und dort am Gangende steht das glatte, dunkle Wasser. Der Eindruck ist so übermächtig, dass mir die Krücke wegknickt und ich lang hinschlage, weil ich das Gefühl habe, vorne sei in Wirklichkeit unten. Zappelnd liege ich auf dem Boden und bilde mir dabei ein, ins Erdinnere zu stürzen.
Schließlich reiße ich mich zusammen und rappele mich wieder auf. Vielleicht ist das eine optische Täuschung, Wasser, das sich an den Gangwänden spiegelt. Und wenn dort Wasser ist, dann muss es auch einen Weg nach draußen geben, es gibt sicher irgendeine Regel unter Höhlenkundlern, die das besagt. Ich kann raustauchen. Im Schwimmbad bin ich ein guter Taucher, ich schaffe mindestens fünfzig, sechzig Meter, wenn’s sein muss. Bei der Vorstellung, in der völligen Schwärze unter Wasser die Orientierung zu verlieren, droht mein gesundes Bein einmal mehr nachzugeben. Ich atme tief durch. Der Schweiß auf der Haut lässt mich zittern wie ein Vorgeschmack auf die Eiseskälte unterirdischer Gewässer.
Selbst wenn ich nicht in die Freiheit tauchen kann, bedeutet Wasser, dass ich nicht verdursten muss, wenn die Flasche aus meinem Rucksack leer ist. Wie man es dreht und wendet, Wasser ist Leben. Wasser ist Hoffnung. Wasser, das einem glatt und schwarz vom Ende des Gangs entgegenstarrt.
Wasser, sagt meine Psychotherapeutin. Was verbinden Sie noch alles mit Wasser?
Warten Sie, sage ich. Es geht noch weiter.
Nach fünf Tagen fange ich langsam an zu glauben, dass wir weder von Bären gefressen noch in eine Schlucht stürzen werden. Und mit je mehr kleinen Unannehmlichkeiten wir uns rumschlagen, je mehr Mückenstiche, je mehr Schwierigkeiten beim Zeltaufbauen, desto sicherer fühle ich mich.
Schau mal, sage ich mir, das sind doch alles Kleinigkeiten, das kann man alles wegstecken oder sogar lösen. Vi lässt sich schneller nerven von so was, aber dafür ist sie dann auch wieder ganz hin und weg von den majestätischen Aussichten, von den tollen Bäumen, von Steinböcken, die an den Felswänden entlanghüpfen wie Super Mario durchs höchste Level. Ich selbst empfinde das nicht so sehr. Sicher, es ist schön, aber die Hingabe, die in Vis Gesicht steht, als wollte sie sich am liebsten die Adern öffnen und ihr Blut mit dem Sonnenschein mischen, kann ich nicht so recht nachfühlen. Nur einmal, als wir am Morgen auf einen See hinabschauen und vom gespiegelten Sonnenlicht geblendet werden, lege ich ihr den Arm um die Schultern, mehr so kameradschaftlich, und sie kommt einen Atemzug weit näher. So was macht die Natur mit den Menschen.
Als ich in meinem Traum das dritte Mal zum Spähen anhalte, sehe ich, dass es kein Wasser ist. Es handelt sich um etwas Festes, das den Gang ausfüllt wie ein Stopfen, und es ist leicht konkav gewölbt. Genau in der Mitte befindet sich ein autoreifengroßer, schwarzer Punkt, der das Licht schluckt. Von dem Punkt gehen moosgrüne Linien wie Strahlen aus und bilden eine Korona, die an den ausgefransten Rändern in eine grauweiße Masse übergeht.
Ich starre auf das Ding, das mir den Weg versperrt. Es sieht kein bisschen wie ein Auge aus. Die Krümmung ist falsch. Die Iris ist falsch, sie ist nicht klar genug vom Weißen drumherum abgegrenzt. Und das grauweiße Zeug am Rand hat eine Art Lamellenstruktur, wie Walbarten.
Ich rege mich nicht vom Fleck. Man sagt: wie ein Kaninchen auf die Schlange starren, aber das trifft es nicht. Meine Starre hat nichts mit Angst zu tun, oder mit Gefahr. Ich komme mir eher vor wie ein abgestürzter Computer. Ratter, knirsch – can not compute. Ja, so in etwa.
Während ich starre, erzittern die Lamellen und schieben sich ein winziges Stück an den Gangwänden entlang vor. Ein leises, nasses Geräusch ertönt, als sich das Ding ein paar Zentimeter auf mich zuschiebt. Essiggeruch schlägt mir entgegen.
Ich lasse alles fallen. Jetzt bin ich ganz Kaninchen und hoppele los. Mein Bein fühlt sich wieder an wie ein Matsch aus Fleisch und Knochensplittern, ich vermute, dass ich es auf der Flucht endgültig zu Pudding zerstampfe. Das ist egal, es kommt jetzt nur noch darauf an, dem Entsetzen nachzugeben, sich ihm ganz und gar zu unterwerfen, damit es sich als seinen treuen Untertan erkennt und Gnade walten lässt. Irgendwann kann ich mein Bein nicht mehr vom Rest meines Körpers unterscheiden. Ich stelle erst dann fest, dass ich wieder in der Sackgasse bin, als ich mit Gesicht und Armen gegen den glatten Stein pralle. Ich versuche, die Wand hochzulaufen, und falle stattdessen auf die Leiche, stehe wieder auf und versuche es wieder und falle wieder auf die Leiche, aber ich bleibe nicht stehen.
Das ist also Ihr Traum, stellt sie fest.
Nein, antworte ich. Ist er nicht.
Am Mittag nach dem Morgen mit dem See kommen wir auf eine Hütte. Nicht so ein Ding wie in den Alpen, wo man mit Skiwasser und Schmalzstullen bewirtet wird, sondern eine kleine Holzhütte, die aus einem einzigen Raum besteht, mit Feuerholz und Kamin, mit Trinkwasserkanistern und eingeschweißtem Dauerfleisch in einem verriegelten, rostigen Stahlschrank, wo die Tiere nicht rankommen. Wir haben gerade unsere Sachen abgeladen und überlegen, ob wir noch mal losgehen oder einen Lesenachmittag draußen im Gras machen, da klopft es. Vi und ich schreien beide vor Überraschung, dann laufe ich, ganz der Held und Gentleman, zur Tür und mache auf. Im Türrahmen steht ein orangebärtiger Mann im Holzfällerhemd, der freundlich grinst. Er hat eine breite Brust und krumme gelbe Zähne, ein Hinterwäldler, wie er im Buche steht, und man sieht förmlich, wie Vi ihn auf den ersten Blick ins Herz schließt.
Sorry, didn‘t wanna scare you. I’m Bob. Er tippt sich an die Schirmmütze.
Genau, denke ich und verziehe ein kleines bisschen das Gesicht, wie ein Bob siehst du auch aus.
No, we were just surprised that anyone‘s up here, sagt Vi. I’m Verena. That’s Christoph.
You’re hiking, stellt er zufrieden fest. Bob kommt herein, setzt sich auf die Bank unterm Fenster und streckt die Beine breit und lang von sich.
Welcome, sagt er herzlich, nachdem er sich solcherart selbst eingeladen hat. Dann fängt er übergangslos an, uns alles Mögliche zu erzählen. Anscheinend betreut Bob mehrere dieser Schutzhütten und stockt regelmäßig die Vorräte auf.
Easy to get lost up here, erklärt er fröhlich. You get hungry. And cold. Better to find a place to stay, eh?
Wir erzählen unsererseits, dass wir aus Deutschland kommen und wo in seinem wunderschönen Land wir schon überall waren. Es ist unverkennbar, dass Vi sich sofort in ihn verliebt hat, auf die Art, auf die sie auch die Berge und die Steinböcke und die Aussicht liebt. Wahrscheinlich könnte sie sich hinsetzen und ihn anschauen, und wenn ich ihr dann den Arm um die Schultern legen würde, würde sie einen Atemzug weit näher kommen. Eben deshalb bin ich auch kein bisschen eifersüchtig. Na ja, vielleicht ein bisschen, und zwar je mehr, desto weniger ich zu dem Gespräch beizutragen habe.
Irgendwann bietet Bob an, uns noch zu einem Aussichtspunkt zu bringen, von dem aus man an einem Tag wie heute bis zum Meer sehen könne. Normalerweise würde ich sagen: Lieber nicht, es ist schon Nachmittag, nicht dass wir nachts in den Bergen festsitzen.
Aber wenn ich meiner Lieber-nicht-Haltung nachgegeben hätte, säße ich jetzt immer noch zu Hause in meinem Loch und würde die Abende rumbringen, indem ich Friends schaue. Außerdem will Vi, und ich will nicht der Kerl sein, der immer nein sagt, oder schlimmer: der allein zurückbleibt.
Also packen wir unsere Vorräte um, schultern die kleinen Rucksäcke und steigen in einer schmalen Felsschneise hoch. Bob macht sich über unsere Nordic-Walking-Stöcke lustig, aber dann sagt er uns im Ernst, dass wir die Dinger ruhig benutzen sollen, hier sei eine Menge Geröll. Es ist ein anstrengender Weg, und bald reden wir nicht mehr. Je weiter wir kommen, desto zugewucherter ist der Weg. Langsam frage ich mich, ob Bob uns vielleicht sonst wo in die Pampa führt, und als er meine missmutige Miene sieht, stupst er mich an und zeigt auf einen verwitterten Stein – und tatsächlich, da ist eine Wegmarkierung eingemeißelt. Zwei konzentrische Kreise.
See, sagt Bob. We‘re still on the hiking route.