Alva Furisto
Der Psi-Effekt
Das Buch:
Erzbischof John Meyer ist es unbegreiflich, dass die Autorin Anna Gärtner selbstlos ein Attentat auf ihn vereitelt, sieht sie doch die Welt mit anderen Augen und kritisiert ihn ununterbrochen. Ihre Begegnungen enden immer im Streit.
Als er aber in den Fokus eines unsichtbaren Feindes gerät, ist Anna seine einzige Hoffnung, unterzutauchen. Jetzt ist er ihrer Beobachtungsgabe und ihrem Zynismus gnadenlos ausgeliefert.
Anna ist seit Jahren die Erste, die sein doppeltes Spiel aufzudecken droht. Angriffslustig und ohne Tabus gräbt sie in seiner Vergangenheit und fordert ihn fortwährend heraus. Wenn es ihm jedoch nicht gelingt, seine wahren Absichten vor ihr zu verbergen, ist seine und Roberts Mission zum Scheitern verurteilt.
Die Autorin:
Alva Furisto wurde 1979 in Mainz geboren. Ihre Kindheit war geprägt von kleinen Abenteuerreisen, die sie mit ihrem Pony unternahm. Dabei erkundete sie im Umkreis ihres Wohnortes jeden Winkel und ließ ihrer Fantasie freien Lauf, welche Geschichten sich an den verborgenen Orten, die sie fand, abgespielt haben mochten. Während sie sichin ihrem Beruf mit der Materie von Gesetzestexten und ihrer Subsumtion beschäftigte, begann sie 2005, wieder ihrer Leidenschaft für Geschichten zu frönen und arbeitete an ihrem ersten Roman. Sie veröffentlichte eine Kurzgeschichte und »Elly Unverbindlich« im Jahr 2015. Derzeit lebt sie mit ihrem Lebensgefährten und ihrem Sohn im Westerwald, und arbeitet im Öffentlichen Dienst.
https://alvafuristo.wordpress.com
Alva Furisto
Roman
Der Psi-Effekt – 6:42 Uhr 1
Alva Furisto
Copyright © 2016 at Bookshouse Ltd.,
Villa Niki, 8722 Pano Akourdaleia, Cyprus
Umschlaggestaltung: © at Bookshouse Ltd.
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Satz: at Bookshouse Ltd.
Druck und Bindung: CPI books
Printed in Germany
ISBNs: 978-9963-53-369-5 (Paperback)
978-9963-53-370-1 (E-Book .pdf)
978-9963-53-371-8 (E-Book .epub)
978-9963-53-372-5 (E-Book Kindle)
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Urheberrechtlich geschütztes Material
Für meine Freundin Friedburg,
ohne die es dieses Buch nicht gäbe.
Prolog - Thomas und John Meyer
1. Der erste Kontakt
2. Ralph und Meggie
3. Der PSI-Effekt
4. Nach der Heldentat
5. Erpressung
6. Dumbarton Oaks
7. Tante May
8. Dinner
9. Dream around the world Publishing
10. Dulles international Airport
11. Alba
12. Und plötzlich braucht jemand deine Hilfe
13. Washington, D.C. – Miami
14. Gott und das Meer
15. Ich kenne Robert Palmer
16. Wahrheit oder Pflicht
17. Albas Heimkehr
18. Entführungen
19. Cape Canaveral
20. Nicht, dass der Tod uns scheidet
21. Miami
22. Das Lamm
23. Von Geistern gegen Kartoffeln
24. Zürich
25. Der Duft von Weihrauch
26. Die letzte Grenze
Prolog
Thomas und John Meyer
Crofton, Frühjahr 1973
Thomas und John gingen an dem kleinen Bach entlang, der an ihrem Elternhaus vorbei in den Little Patuxent River floss. John zog seine Schultasche durch das hohe Gras achtlos hinter sich her.
»Lass das«, forderte Thomas seinen Zwillingsbruder auf.
John schüttelte seinen schwarzen Haarschopf. »Nö.« Bockig stapfte er mit gesenktem Kopf hinter seinem Bruder her, der sich immer wieder nach ihm umdrehte.
»John, ich flehe dich an, lass es. Es gibt nur wieder Ärger. Das weißt du.«
John sah Thomas genervt an, als dieser zu ihm gewandt stehen blieb, und zog sich die Tasche wieder auf den Rücken.
Angestrengt versuchte Thomas, das im braunen Leder der Tasche hängen gebliebene Gras rückstandslos zu entfernen. »Ich kann dir nicht helfen, wenn du so etwas tust«, erklärte er in ernstem Ton und klopfte seinem Bruder den Staub von der braunen Jacke.
John neigte den Kopf. »Tut mir leid. Wirklich. Aber es wird eh wieder Ärger mit Dad geben, wenn er herausfindet, dass wir die Abkürzung genommen haben.« Mit angsterfüllten Augen blickte er Thomas an.
»Komm. Wir sind spät dran. Wir machen uns gleich noch sauber, dann bemerkt Dad nichts«, beteuerte Thomas und nahm seinen Bruder liebevoll bei der Hand, um ihn hinter sich herzuziehen.
In ihm breiteten sich ganz andere Gedanken aus. Er machte sich in Bezug auf seinen Dad und John Sorgen. Thomas beschützte John. Obwohl sie sich als eineiige Zwillinge bis aufs letzte Haar glichen, war er der Starke, der Beschützer, und John war der Tollpatsch, der es immer wieder schaffte, Dads Zorn heraufzubeschwören. Peinlich genau achtete Thomas darauf, dass sie immer gleich gekleidet waren und ihre Frisur exakt dieselbe war, denn Dad konnte sie nicht auseinanderhalten, das gelang nur Mom.
Thomas zog John nach der letzten Biegung des Baches, bevor ihr Elternhaus zu sehen war, hinter einen Baum. »Wir gehen durch das Gebüsch, dann das letzte Stück des normalen Weges und niemand bemerkt etwas.« Er ging voraus, dicht am Bach entlang zwängten sie sich durch das Gestrüpp.
»O nein.«
Er hörte ein schmatzendes Geräusch hinter sich, doch drehte sich nicht um. Nach wenigen Schritten hatten sie den Straßenrand erreicht.
John trat neben ihm aus den Büschen und hielt betroffen seinen linken Fuß hoch. Er war voller Schlamm. »Es tut mir so leid. Ich habe versucht, aufzupassen. Was jetzt?« John war den Tränen nah.
Angespannt betrachtete sich Thomas das Dilemma. Dann zog er entschlossen seine Schultasche von den Schultern und kramte Papier und Stofftaschentuch heraus. Das Taschentuch hielt er John hin. »Putz dir die Nase«, forderte er ihn auf, bückte sich und begann, den verschlammten Schuh seines Bruders zu reinigen. Der Schlamm hatte sich in den Nähten des schwarzen Lederschuhes festgesetzt, und er konnte ihn nicht völlig entfernen. Thomas stöhnte auf. Glücklicherweise hatten sie bei dem warmen Wetter kurze Hosen an, sonst wäre das Unheil noch größer gewesen, aber die dunkle Socke an Johns Bein war ebenfalls voller Schmutz.
John sah betroffen zu ihm hinunter. »Sollen wir versuchen, es im Bach auszuwaschen?«, fragte er leise.
Thomas schüttelte den Kopf. »Nein, das ganze Ufer ist vom Hochwasser matschig. Wir machen es nur noch schlimmer.« Voller Nervosität sah er in Richtung Elternhaus. »Schnell, zieh den Schuh und die Socke aus. Wir tauschen. Wenn wir uns beeilen, ist Dad vielleicht noch nicht zu Hause und Mom kann es richten.«
Sie setzten sich blitzschnell auf den heißen Asphalt der Straße und tauschten die verschmutzten Kleidungsstücke.
»Du musst das nicht tun, Thomas, wirklich«, beteuerte John, während er sich den sauberen Schuh zuband.
Thomas sah ihn ernst an. »Ich will es so.«
Er sprang auf und half John. Sie rannten los und sahen Dads Auto bereits in der Auffahrt stehen.
»Nein«, flüsterte John, ließ die Schultern hängen und sah Thomas angsterfüllt an.
Mit gesenkten Häuptern traten sie vor die Haustür, da wurde sie von innen geöffnet.
Dad stand vor ihnen. Die Lippen aufeinandergepresst und die Stirn in Falten, musterte er sie mit stechenden, dunklen Augen. Kein Hallo zur Begrüßung, kein herzliches Wort – es war wie immer.
Thomas schob den verschmutzten Schuh hinter sein rechtes Bein.
»Warum seid ihr so spät?«, fragte Dad. Seine Stimme bebte.
»Dad, entschuldige, der …«
Thomas zwickte seinen Bruder in die Seite. »Dad, entschuldige, der Bus hatte Verspätung«, setzte er den Satz in selbstbewusstem Ton fort.
Vater kam nahe an Thomas heran. »Ihr seid den Bach entlanggelaufen, und du hast deinen Schuh beschmutzt«, sagte er leise.
»Das war meine Idee«, rief John.
»Das stimmt nicht, es war meine. Ich schwöre bei Gott«, revidierte Thomas die Aussage seines Bruders.
»Du sollst den Namen des Herrn nicht für Ungebührlichkeiten missbrauchen. Natürlich war es deine Idee, denn der Herr hat dich dafür bestraft. Das sehe ich an deinem Schuh, Thomas.«
Thomas biss sich auf die Unterlippe. Zu gern hätte er seinen Vater überführt und ihm gezeigt, dass sich der Herr wohl geirrt hatte. Aber vielleicht konnte Gott sie ja auch nicht auseinanderhalten?
Dad hatte seine Entscheidung getroffen, wer John und wer Thomas war: Thomas war immer der, der etwas angerichtet hatte.
»Reverend Peters hat angerufen.« Bei diesen Worten wurde Dad noch zorniger.
Thomas atmete tief durch, er hatte befürchtet, dass das passieren würde.
»Wer von euch beiden hat die Schultoilette verstopft und auf die Toilettentür geschrieben: Jesus musste auch aufs Klo?«, brüllte Dad.
Mutter tauchte im Eingang zur Küche auf. Entsetzen stand ihr im Gesicht. Niemand sagte etwas.
Vater schaute von einem zum anderen. Dann packte er den, den er für Thomas hielt, am linken Ohr und drehte daran, während er ihn ins Haus zog.
Thomas stolperte hinter ihm her, ohne einen Laut von sich zu geben. Dad zog ihn in sein Arbeitszimmer hinein, währenddessen erblickte Thomas noch einmal Mutters schmerzverzerrtes Gesicht.
»Theo, das war ein dummer Jungenstreich, lass ihn bitte!«
»Es ist immer Thomas! Aber dieses Mal werde ich ihm den Teufel austreiben.«
Dads Stimme hallte in Thomas Ohren.
Im Zimmer angekommen ließ er das Ohr los und schloss die Tür mit einem Knall. Er verriegelte sie und steckte den Schlüssel in seine braune Weste.
Thomas stand völlig erstarrt da.
Als sich die Tür geschlossen hatte, rannte John zu seiner Mom und klammerte sich an sie. Sie führte ihn in die kleine Küche hinein. Mom sank auf einen Stuhl, zog John auf ihren Schoß und drückte ihn an sich.
»Mom, nicht schon wieder«, wimmerte John.
»Ich wünschte, ich könnte etwas tun. Ich wünschte …« Ihr Griff verfestigte sich und ihre heißen Tränen tropften auf seinen Nacken.
Thomas wusste, was kommen würde. Es war immer der gleiche Ablauf, nur die Intensität steigerte sich.
»Zieh dich aus«, brüllte Vater.
Wie ein Roboter zog Thomas seine Sachen aus und faltete sie ordentlich, um sie neben sich auf den antiken Stuhl zu legen.
Vater holte das dreiseitige Holzscheit aus seiner Schreibtischschublade und legte es vor ihm auf den Boden.
An der scharfen Kante des Buchenholzes konnte Thomas sein getrocknetes Blut sehen. Nackt kniete er sich ohne weitere Aufforderung auf das Holzscheit und ertrug lautlos den Schmerz, den es an seinen Knien verursachte.
»Beuge dich nach vorn und falte deine Hände«, befahl Dad ihm.
Thomas konnte aus den Augenwinkeln den Rohrstock in seiner Hand erkennen. Er tat, wie ihm befohlen, und der Schmerz in den Knien wurde noch unerträglicher. Er spürte den ersten Schlag des Rohrstocks auf seinem Gesäß und versuchte, sich abzulenken; mitzuzählen, wie lange es dauern würde, bis er endlich tat, was Dad zufriedenstellen würde.
Heiße Tränen liefen über seine Wangen, als er vier zählte. Beim fünften Schlag musste er aufschreien. Nach dem sechsten Schlag wimmerte er und begann zu beten. Doch Dad machte nicht halt.
Mom und John hörten Thomas im Nebenzimmer wimmern. Als es im Arbeitszimmer endlich verstummte, stieß sie ihn ruckartig von ihrem Schoß, packte ihn beim Arm, dann zerrte sie ihn in den Flur, die Treppe hinauf und brachte ihn in ihr gemeinsames Zimmer.
»Geh schlafen, John, bitte. Nicht, dass noch mehr geschieht heute«, flehte sie ihn an. Angst stand in ihren Augen. Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und ließ ihn im Zimmer stehen.
John zitterte und blickte minutenlang auf die geschlossene Zimmertür, doch Thomas kam einfach nicht herein. Er begann, sich auszuziehen und seine Nachtwäsche anzulegen, danach schlich er über den Flur ins Badezimmer. Bedrückt wusch er sich und putzte seine Zähne. Noch immer keine Spur von Thomas. Kein einziges Geräusch drang die Treppe herauf, so sehr er auch lauschte. Er legte sich besorgt in sein Bett, aber an Schlaf war für ihn nicht zu denken.
Schnaufend lag Thomas auf dem Boden. Das dreikantige Buchenholz drückte schmerzhaft in seinen Bauch. Er vermochte sich kaum zu rühren. Noch immer waren seine Hände gefaltet und er sagte leise ein Vaterunser nach dem anderen auf. Von Vater war nichts zu hören oder zu sehen. Thomas hatte zwanzig Schläge gezählt, mehr als jemals zuvor.
»Geh mir aus den Augen«, brummte Vater endlich die erlösenden Worte.
Thomas erhob sich mit letzter Kraft. Seine Knie schmerzten so stark, dass er kaum stehen konnte, von seinem Rücken und Gesäß ganz zu schweigen. Vater saß auf seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch, geschäftig in Unterlagen lesend, als wäre nichts Unrechtes geschehen. Thomas machte zitternd einen Schritt in Richtung Tür.
»Nimm deine Sachen mit, oder soll ich sie dir etwa hinterhertragen?«, fuhr Dad ihn an.
Von Schmerzen gequält, schleppte er sich in geduckter Haltung zurück bis zum Stuhl. »Nein, Dad, entschuldige. Natürlich nicht.« Das Bündel unter den Arm gepackt, schlich er zur Tür.
»Beim nächsten Mal kommst du mir nicht so leicht davon. Morgen kontrolliere ich, ob dein Schuh wieder sauber ist«, hörte er Vaters strenge Stimme, als er nach dem Knauf griff.
»Ja, Sir«, flüsterte Thomas zitternd und verschwand durch die Tür. Von den Nachwehen seiner Folter gezeichnet stieg er die Stufen der Treppe hinauf bis ins Badezimmer.
»Wage ja nicht, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, zu ihm hinaufzugehen. Er hat sich das selbst eingebrockt und er wird das allein durchstehen«, hörte er die aufgebrachte Stimme seines Vaters. Thomas war froh zu hören, dass Mom ihm nicht widersprach. Das hatte sie ein paar Mal versucht, aber sie wagte es nicht mehr. Thomas konnte es verstehen, bei dem was Dad danach mit Mom gemacht hatte.
Im Spiegel sah er den leeren Blick seiner grauen Augen. Thomas wusch sich das Blut von den Knien und versuchte, seinen Rücken und sein Gesäß ein wenig abzutupfen. Schließlich nahm er den Schuh und machte ihn sauber, packte sein Bündel sorgfältig zusammen und ging auf Zehenspitzen in das Zimmer, in dem John schon im Bett lag.
Thomas legte die Kleidung fein säuberlich auf seinen Stuhl und stellte die Schuhe darunter. Als er sah, dass John seine Sachen sorglos auf seinen Stuhl geworfen hatte, faltete er seine Wäsche auch noch, danach zog er sich seine Nachtwäsche an und kroch unter Schmerzen in sein Bett, das an der gegenüberliegenden Wand von Johns stand.
»Thomas«, flüsterte John.
»Sei still und mach dir keinen Ärger«, hauchte er zurück.
»Bist du okay? Ich hab mir Sorgen gemacht. Es war so lange dieses Mal«, zischte John mit Besorgnis in seiner Stimme.
»Ich habe fünf Schläge durchgehalten, dieses Mal. Nächstes Mal wird es noch länger«, erklärte er, ohne dass Stolz in seiner Stimme lag.
»Warum machst du das nur? Warum nimmst du das immer auf dich?«, flüsterte John mitleidvoll.
»Damit nur einer leiden muss«, sagte er kaum hörbar.
»Danke.«
»Schlaf jetzt.« Er hörte, wie sich John in seinem Bett herumdrehte und in seine Decke kuschelte, wie er es immer tat, bevor er einschlief.
»Warum lässt Gott das zu?«, hörte Thomas John noch flüstern, doch Thomas blieb ihm eine Antwort schuldig.
Er lag auf der Seite und starrte die Wand an. Anders konnte er nicht liegen, die Schmerzen im Rücken und in den Knien waren zu stark. Tränen liefen noch lange über sein Gesicht, und er dachte über Johns Frage nach, bis er vor Erschöpfung die Augen schloss.
Sie hatten fünf gute Wochen. Thomas konnte es kaum fassen. Seine Knie waren nicht mehr offen und nicht mehr blau, und er konnte seit Tagen wieder auf dem Rücken schlafen.
Es ist wie im Paradies, vielleicht hatte Dad recht und es hat genutzt, dachte er hoffnungsvoll, wenn er abends einschlief.
Dann kam John an einem verregneten Nachmittag in den Garten gerannt und weinte. Thomas ließ aufgelöst die Steine fallen, mit denen er auf der Terrasse gespielt hatte, und stellte sich auf. Johns Haar war nass, genau wie seine Kleidung, und seine Augen waren rot, als er schnaufend vor ihn trat.
»Thomas, es tut mir so leid, es war ein Unfall. Bitte glaub mir! Bei Gott, es tut mir so leid«, beteuerte John aufgeregt.
Thomas blieb ruhig stehen. »Was ist passiert?«
John sah verunsichert in Thomas’ graue Augen. »Wir waren am Bach. Josi Brown, Amy Peters und ich und haben Steine ins Wasser geworfen. Ich konnte nichts dafür! Ich habe gerade geworfen, als Amy vor mich lief. Sie hätte es sehen müssen.« John blinzelte angsterfüllt.
Thomas blieb seelenruhig, während John wieder Tränen über das Gesicht liefen. »Was ist dann passiert?«, fragte er.
»Ich habe sie am Kopf getroffen und es blutete. Wahnsinnig blutete es und sie hat geheult und ist nach Hause gerannt«, erklärte John mit zitternder Stimme.
»Reverend Peters wird anrufen, wenn Dad zu Hause ist und ihm erzählen, was mit seiner Nichte geschehen ist. Geh rein und trockne deine Haare, dann zieh dich aus und gib mir deine Sachen. Sofort«, befahl Thomas ihm.
Johanna war in die Verandatür getreten und hörte Thomas’ Worte. Sie hatte es schon ein paar Mal vermutet, dass er sich schützend vor John stellte, aber jetzt hatte sie es zum ersten Mal leibhaftig mitbekommen. Thomas drehte sich um und sah sie erschrocken an, als ihm klar wurde, dass sie alles mit angehört hatte. Johanna machte einen Schritt auf ihn zu und strich ihm sanft über sein dunkles Haar.
»Schnell, geht rein und beeilt euch. Er wird gleich hier sein, und dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Reverend anruft«, forderte sie die Jungen auf. Danach drückte sie Thomas noch einmal fest an sich.
»Du bist Johns Engel. Ich wusste immer, dass du ein guter Junge bist«, flüsterte sie ihm zu.
»Geht hinauf in euer Zimmer und bleibt da«, rief sie ihnen mit schriller Stimme nach.
Johanna verrückte den Hörer des im Flur an der Wand hängenden Telefons, sodass dieser nicht mehr richtig auf der Gabel lag und ein Anrufer ein Besetztzeichen hören würde. Dann ging sie in die Küche und begann stoisch, das Abendessen vorzubereiten.
Gerade, als Thomas und John fertig damit waren, dessen Haare zu trocknen und die Kleidung zu tauschen, hörten sie Vaters Auto in die Auffahrt fahren und kurz darauf die Haustür zuschlagen.
John, der neben Thomas auf dem Bett saß, zuckte zusammen. »Amy wird sagen, dass ich es war«, fiel ihm ein.
»Bleib ruhig. Alles ist gut. Sie kann uns auch nicht auseinanderhalten«, versicherte Thomas.
Sie hörten die Stimme ihres Vaters zornig durch den Flur hallen. »Johanna, wo sind die Jungen? Ich habe Reverend Peters getroffen. Es ist nicht zu fassen, was John mit seiner Nichte angestellt hat!«
John wurde immer kleiner neben Thomas. Sie lauschten Mutters aufgeregter Stimme, aber sie konnten nicht hören, was sie sagte, dann knarrte es auf der Treppe. Aber nur kurz. Niemand kam herauf. Wieder hörten sie ihre Mutter etwas sagen. Dieses Mal lauter und aufgebrachter.
Es gab einen dumpfen Schlag und jemand kam langsam die Treppe hinauf. Ihre Tür öffnete sich. Mom trat herein. Blut lief aus ihrem rechten Mundwinkel hinunter. Sie konnte ihnen nicht in die Augen sehen.
»Ich habe es versucht, Kinder, wirklich versucht.« Leise weinte sie, neigte den Kopf und strich über Johns Kopf. »Du sollst herunterkommen, John.«
John wollte aufstehen, doch Thomas sprang stattdessen auf. »Ich werde gehen.«
Mom sah ihn fragend an.
»Er wird es nicht merken. Das hat er noch nie getan.« Thomas ging langsam zur Tür.
Dieses Mal schaffte Thomas acht Schläge, bevor ihm das Vaterunser über die Lippen ging. Was danach kam, war neu: Er saß drei Tage in einer dunklen, kalten Kammer im Keller, in der seine Mutter Kartoffeln einlagerte. Glücklicherweise, denn niemand brachte ihm etwas zu essen oder zu trinken. Entweder traute sich Mom nicht oder Dad hatte auch ihr etwas angetan. Thomas wollte gar nicht darüber nachdenken und vermied es, nach ihr zu rufen. Also aß er ein paar der rohen Kartoffeln und benutzte einen alten Eimer für seine Notdurft. Dazwischen versuchte er zu beten, dass John keinen Unfug machte, bis er wieder aus seinem Gefängnis herauskam, um auf ihn zu achten.
Drei Jahre nach diesem Vorfall und etlichen, die darauf folgten, strahlte Mutter sie in der Tür stehend an, als sie von der Schule nach Hause kamen. Sie wedelte mit einem Brief.
»Ich habe hier eine Zusage von einem katholischen Internat für Jungen. Euer Vater hat zugestimmt, euch dorthin zu schicken. Nächste Woche geht es los.«
Thomas neigte den Kopf. »Warum, Mom?«
»Weil es dir dort besser geht, Thomas. Und John kann nicht allein hier bleiben. Du weißt, wieso.« Ihre Freude war plötzlich sichtlich gedämpft.
»Ich will dich nicht allein lassen«, beteuerte Thomas.
»Ich auch nicht«, schloss sich John traurig an.
»Es ist besser so«, versprach Mom ihnen.
Eine Woche später reisten sie ab.
Es brach Johanna fast das Herz, das Thomas in all den Jahren nur viermal in den Sommerferien nach Hause kam. Sonst nutzte er immer die Möglichkeit, die Ferien im Internat zu verbringen. Doch sie wusste genau, warum er es tat.
Theo sagte nicht viel dazu. John schaffte es während der Ferien meist, keinen Ärger mit seinem Vater zu bekommen, der sich damit in seiner Auffassung bestätigt sah, dass Thomas immer der Unruhestifter gewesen war. Tatsächlich war es so, dass John mit zunehmendem Alter geschickter wurde, seine Missetaten zu verbergen.
Die Jahre gingen vorüber und Johanna sah ihren Sohn Thomas nur, wenn sie ihn im Internat besuchte. Theo weigerte sich beständig, sie bei ihren Besuchen zu begleiten. Sie bemerkte, wie verschlossen Thomas war, aber sie schaffte es nicht, zu ihm durchzudringen. Sie gab sich damit zufrieden, dass er beteuerte, es ginge ihm gut.
Schließlich fuhr Theo mit ins Internat, es war das einzige Mal. Zur Abschlussfeier der beiden Söhne. Thomas wechselte kein Wort mit seinem Vater. John versicherte, sie kämen einen Tag später nach Hause, doch am nächsten Tag stand er allein vor der Tür, zwei Briefe in der Hand von Thomas, einen für sie und einen für Theo.
Theo ging in sein Arbeitszimmer, während Johanna den Brief ihres Sohnes in der Küche im Beisein von John öffnete. Sie las ihn und Tränen liefen über ihr Gesicht. Dann sah sie John an.
»Hast du gewusst, dass er zur US-Army geht?«, erkundigte sie sich.
Dieser nickte.
Theo trat in die Küchentür.
Johanna starrte ihn vorwurfsvoll an. »Was stand in deinem Brief?«
»Vermutlich dasselbe wie in deinem«, log er. Er hatte den Brief im Papierkorb verbrannt, denn es wäre eine Schande gewesen, wenn jemand jemals diese Zeilen zu Gesicht bekommen hätte.
»Er war immer ein Unruhestifter. Ich verbiete dir jeden Kontakt zu ihm. Euch beiden! Was er tut, spottet dem, wie wir ihn erzogen haben. Er wird aus diesem Haus verbannt, aus unserem Leben. Habt ihr verstanden?«, keifte Theo.
Johannas Augen füllten sich mit Tränen.
»Was ist mit dir, John? Wie geht es mit dir weiter?«, erkundigte sich Theo, als wäre nichts vorgefallen.
John blickte zögernd zwischen ihnen hin und her. »Ich habe einen Platz zum Priesterseminar in Saint Charles Borromeo Seminary in Wynnewood. Sollte eine Überraschung sein.«
»Das ist mein Sohn«, strahlte Theo und klopfte ihm voller Stolz auf die Schulter, doch die letzten Zeilen aus Thomas‘ Brief hallten noch in seinem Kopf:
»Ich weiß, was du uns angetan hast, Dad. Ich lerne nun, wie man sich zu Wehr setzt, und wenn mir zu Ohren kommt, dass du auch nur noch ein einziges Mal Hand an John oder Mom legst, schwöre ich dir bei Gott, dann werde ich dich töten.«
Theo folgte Johannas Blick und sah auf die Küchenuhr.
Es war 6:42 Uhr am Abend.
Kapitel 1
Der erste Kontakt
Jonas kam nach seiner Arbeit bei der Sicherheitsfirma um zwei Uhr nachts in sein Apartment. Anna anzurufen, machte keinen Sinn mehr. Er kochte sich einen Kaffee, klappte den Laptop auf und ging seine E-Mails durch. Danach suchte er auf Youtube nach dem ominösen Video, das er am Vortag dort gesehen hatte.
Von Verschwörungstheorien hielt er nicht viel. Über die in dem Video angedeuteten Verbindungen zwischen Industriellen, der Waffenindustrie und religiösen Fundamentalisten hatte er dennoch den ganzen Tag nachgedacht. Das Video war verschwunden. Zuletzt versuchte er es über den abgespeicherten Link, doch er funktionierte nicht mehr.
Er erinnerte sich an den Namen der Gruppierung, die das Oberhaupt dieser Verbindungen sein sollte, und ließ die Suchmaschine Glowgu den Namen ICARUS nachschlagen. Der Laptop piepste, jemand versuchte, ihn über den Glowgu-Chat zu erreichen. Jonas sah den Namen FTW832 aufleuchten. Nachdem er sich am Vortag das Video angesehen hatte, war er bereits von diesem ihm unbekannten Chatmitglied kontaktiert worden.
FTW832: Guten Morgen.
Opan: Wohl eher gute Nacht.
FTW832: Kommt immer darauf an, wo auf der Welt man sich befindet.
Opan: Wo bist du?
FTW832: Weit weg muss dir genügen.
Jonas beschloss, seinem Gegenüber deutlich zu machen, dass er keine Lust verspürte, mit einem Unbekannten einen sinnlosen Plausch zu führen.
Opan: Was willst du von mir?
FTW832: Ich möchte dir einen guten Rat geben.
Hör auf zu suchen, was immer du suchst.
Opan: Wieso sollte ich aufhören? Willst du mir drohen?
FTW832: Ich möchte dich vor einer Dummheit bewahren.
Opan: Hört sich für mich wie eine Drohung an.
FTW832: Wie kann ich dich überzeugen, nicht weiterzusuchen?
Opan: Indem du aufhörst, mir zu drohen, und mir sagst, um was es geht.
FTW832: Das ist das Problem. Das kann ich nicht tun.
Es könnte dich den Kopf kosten.
Opan: Jetzt will ich es erst recht wissen.
FTW832: Das hatte ich geahnt. Bitte hör auf. Lass die Finger davon, sonst hast du
echt böse Jungs im Nacken.
Opan: Ich hab keine Angst vor bösen Jungs.
FTW832: Das solltest du aber. Ich hab sie auch.
Opan: Dieses Gespräch findet hier sein Ende. Ich lasse mich nicht bedrohen.
FTW832: Jonas Müller, lass die Finger von diesen Recherchen und denk nicht einmal
mehr an das Wort, das du eben in die Such maschine eingegeben hast,
sonst kann ich für nichts mehr garantieren!
Jonas zog die Finger von der Tastatur. Dieser Kerl wusste, wer er war und was er eben am PC gemacht hatte. Er kopierte die Konversation in eine Datei auf den Laptop.
FTW832: Lösch das wieder!
Opan: Wieso kannst du sehen, was ich mache?
FTW832: Lösch das!
Opan: Wer bist du?
Jonas’ Bildschirm flackerte. Als er den Internetstecker herauszog, war der Spuk vorbei. Jonas holte einen USB-Stick in Form einer Audi-Fernbedienung an seinem Schlüsselbund hervor, um die Datei mit der Unterhaltung darauf zu kopieren. Nachdem er seine müden Glieder gereckt hatte, ging er ins Badezimmer und grübelte darüber nach, was er machen sollte.
Zur Polizei zu gehen, hielt er für Blödsinn. Wahrscheinlich war es ein übler Scherz. Er würde mit Roland darüber sprechen, mit niemandem sonst.
Roland interessierte sich genau so sehr für die Dinge, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschahen, und forschte danach. Er vertraute ihm.
Anna konnte er nicht davon erzählen. Sie würde recherchieren, und bevor er nicht wusste, was dahintersteckte, war das zu gefährlich. Der Link zum Video war erloschen, und da Anna nicht auf seine Mail geantwortet hatte, war sie sicher noch nicht dazu gekommen, es sich anzusehen. Das beruhigte ihn.
Er kroch in sein Bett und löschte das Licht. Sein Mobiltelefon vibrierte. In der Hoffnung, dass Anna doch noch wach war, holte er das Telefon vom Schreibtisch. Statt einer Nachricht von Anna sah er eine SMS eines anonymen Absenders.
Wenn du nicht auf mich hören willst, kann ich nichts mehr für dich tun. Bitte überlege es dir noch mal. FTW832.
Jonas starrte auf die Zeilen, legte sich wieder ins Bett und fühlte sich unwohl. Irgendjemand schien ihn zu überwachen. Er hatte keine Ahnung, wer und warum.
Endlich war Anna an ihrem Sitz in der Boeing 747 angelangt. Mit Mühe hatte sie am Flughafen in London das richtige Gate gefunden. Sie lehnte sich zurück, doch kaum hatte sie durchgeatmet, kam die Anspannung zurück. Dream around the world Publishing hatte sie nach Washington eingeladen. Der Verlag hatte Interesse an ihrem Buch bekundet und war bereit, die Gesamtkosten für ihre Reise und ihren Aufenthalt in Washington zu zahlen. Sie war aufgrund dieses großzügigen und ungewöhnlichen Angebotes misstrauisch.
Anna zog das Mobiltelefon hervor. Immer noch keine Nachricht von Jonas.
»Hi«, grüßte da ein großer blonder Mann freundlich und nahm neben ihr Platz.
Anna musterte ihn. Er hatte leuchtend blaue Augen mit kleinen Lachfältchen. Sie konnte nicht einschätzen, wie alt er war. Zwischen vierzig und fünfundfünfzig Jahren schien alles möglich. Unter dem aufgeknöpften weißen Hemdkragen blitzte auf sonnengebräunter Haut ein goldenes Kreuz, das ihr sofort ins Auge fiel. Anna sah hinaus auf das Rollfeld, um ihn nicht weiter anzustarren.
»Das Wetter in London ist beständig furchtbar, wenn ich hier bin. Ich hoffe für die Londoner, dass es nicht immer so ist.«
Anna drehte den Kopf zu ihm und er strahlte sie erwartungsvoll an. »Ja, das Wetter wünscht man seinem ärgsten Feind nicht.«
Dieser vor Charme und Selbstbewusstsein strotzende Typ musterte sie. Früher hatte sie so etwas nervös gemacht, heute grinste sie innerlich darüber. Mit Sicherheit war er sich seiner Wirkung auf Frauen bewusst. Jene, die unter seiner Aufmerksamkeit nicht erröteten, um schüchtern nach unten zu blicken und zu schweigen, versuchten sicherlich, sich ihm zu offerieren und ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Anna hatte an beiden Varianten kein Interesse. Sie sah eine Rolex an seinem Handgelenk, als er die Arme zur Entspannung in die Höhe streckte und danach hinter vorgehaltener Hand gähnte.
Annas Gedanken drifteten wieder ab. Wann würde sich Jonas endlich melden? Sie griff nach der Laptoptasche und wollte nachsehen, ob Jonas ihr eine E-Mail geschickt hatte.
»Den sollten Sie erst nach dem Start herausholen, sonst bekommen Sie Ärger mit der Stewardess.«
Ihr Sitznachbar schien sie immer noch zu beobachten. Anna beschloss, ihn Mr. Sunnyboy zu taufen, solange er sich ihr nicht vorgestellt hatte. »Oh, danke. Ich habe da keine Erfahrung.« Sie löste die Finger von der Tasche.
»Mit Ärger oder dem Fliegen?« Mr. Sunnyboy lächelte sie an.
Es war ansteckend. Anna lehnte sich zurück und kontrollierte aus Verlegenheit ihren Gurt, um eine Beschäftigung zu haben. Wenn sie ehrlich war, machte sein Charme sie nun doch nervös. »Leider nur mit dem Fliegen. Mit Ärger habe ich genug Erfahrung.«
»Sie klingen, als sollte man sich besser von Ihnen fernhalten.« Er grinste sie herausfordernd an.
Anna grinste zurück und verkniff sich die freche Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Sie kannte ihn nicht und wollte vermeiden, ihn zu verärgern. »Vielleicht.«
Nach dem Start holte Anna den Laptop hervor und stellte ihn vor sich auf den Klapptisch. Sie las mit Besorgnis von einem Anschlag auf den unterirdischen Teil des Zürcher Hauptbahnhofs. Es gab viele Tote und Verletzte. Wie gut, dass Jonas niemals mit der Bahn fuhr, dafür liebte er sein Auto viel zu sehr. Wahrscheinlich meldete er sich einfach nicht, weil er wieder einmal rund um die Uhr arbeitete.
»Schlimme Sache in Zürich.«
Mr. Sunnyboy riss sie aus ihren Gedanken, und sie zuckte zusammen. Kaffeeduft stieg ihr in die Nase. Sie stellte fest, dass er ihr gerade eine Tasse des schwarzen Gebräus hinhielt.
»Bitte. Schwarz mit ein bisschen Milch.«
Wie konnte Mr. Sunnyboy ahnen, wie sie den Kaffee bevorzugte, oder war es Zufall? »Danke.« Zögerlich nahm sie die Tasse entgegen.
Sie trank einen Schluck und öffnete ihre E-Mails. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Mr. Sunnyboy, der unverhohlen auf ihren Bildschirm sah. Sie überflog kurz die neuen E-Mails. Nichts von Jonas oder diesem Robert Palmer, der sich ihr als Buchagent für ihr Treffen bei dem Verlag angeboten hatte. Vielleicht hatte er es sich trotz ihrer Zusage anders überlegt. Seine Aufdringlichkeit war ihr ohnehin sonderbar vorgekommen. Sie war eine unbekannte Autorin und er ein Agent von namhaften Schriftstellern. Solche Agenten interessierten sich genauso wenig für unbekannte Autoren wie große Verlage. Anna seufzte leise. Vielleicht bedeuteten diese Dinge auch einfach nur das Ende ihrer Pechsträhne.
Sie öffnete die letzte E-Mail von Jonas, da sie bisher nicht die Zeit gefunden hatte, sich den Anhang anzusehen und ihm zu antworten.
Mr. Sunnyboy hatte zwischenzeitlich auch einen Laptop ausgepackt. Anna schmunzelte bei dem Anblick des klobigen GETAC High-End-Outdoor-Laptop, den sie bei ihrer Suche nach ihrem Gerät im Internet sehnsüchtig bestaunt hatte, um dann beim Sichten des Preises Schnappatmung zu bekommen. Das Gerät hatte die Ausmaße eines Koffers und passte optisch nicht zu dem smarten Auftritt ihres Sitznachbarn.
Sie klickte auf den Anhang von Jonas’ E-Mail und las.
Sieh Dir das an: YouTu…
Der Laptop ging aus. Mit einem Schnaufen ließ sie sich im Sitz zurückfallen. »Verfluchter Mist.«
Sie sah zu Mr. Sunnyboy. Er hatte sein Gerät gerade noch auf dem Schoß gehabt und stellte es nun auf den Tisch vor sich. Auf dem Bildschirm sah sie kurz blaue Schrift auf schwarzem Grund, beinah wie in der alten MS-DOS-Oberfläche, dann tauchte eine herkömmliche Benutzeroberfläche auf. Annas Laptop jedoch ließ sich nicht mehr einschalten.
»Akku leer?« Mr. Sunnyboys Mundwinkel zuckten. Anna hätte schwören können, er amüsierte sich.
»Nein, der war voll. Das Gerät ist alt.« Sie war von seiner Neugier genervt. Das waren Probleme, die er sicherlich nicht kannte. Sie ärgerte sich, dass sie mit ihrem veralteten Mobiltelefon nicht ins Internet gehen konnte. Mr. Sunnyboy öffnete eine Textdatei und begann zu lesen. Nachdem Anna eine Weile auf dem Bordbildschirm herumgetippt hatte, schweifte ihr Blick zu dem Laptop ihres Sitznachbarn. Ihr fielen Wörter ins Auge, die ihr bekannt waren: Fylgja, Iwar und Al Sahi. Es war ihr Buch, das er da las. Sie musterte den Mann.
Mr. Sunnyboy sah zu ihr auf. »Möchten Sie doch gern den Laptop?«
»Nein. Entschuldigen Sie.« Mit dem Gefühl, ertappt worden zu sein, sah sie wieder weg.
»Diese Flüge ziehen sich. Ich kann dabei nicht schlafen. Da nutze ich die Zeit gern zum Lesen.« Er lächelte aufmunternd.
Anna blickte erneut auf seinen Bildschirm. »Ist das Buch gut?«
»Es trägt den Titel Der Orden der Fylgja. Kennen Sie es?«
Sie rutschte auf ihrem Sessel umher. Sollte sie sich als Autorin outen oder sagen, sie hätte es gelesen, und sich mit ihm darüber unterhalten? Dann durfte sie sich nicht verquatschen. »Ich habe es gelesen.« Sicher war eine Unterhaltung mit ihm besser als acht Stunden in Gedanken an Jonas und das Attentat in Zürich.
Er blinzelte zu ihr herüber und schien sich zu freuen. »Was für ein Zufall. Es ist von einer unbekannten Autorin und hat nur eine geringe Auflage. Wussten Sie das?«
»Wenn für einen Newcomer nicht die Werbetrommel gerührt wird, hat man kaum eine Chance. Egal, wie gut die Message ist.«
»Schade, dass die Welt so funktioniert, nicht wahr?« Er ließ sie bei seinen Worten nicht aus den Augen.
»Es ist verdammt schade. Heute muss man der Sensationsgier genügen. Schreiben Sie möglichst detailliert über Absonderlichkeiten. Wenn Sie Glück haben, regt sich jemand darüber auf und plötzlich wollen es alle lesen. Qualität spielt keine Rolle mehr.«
»Ja, so ist es.«
Anna beglückte, dass sie sich einig waren. Sein Auftreten und sein Equipment, allein seine Uhr ließ sie erkennen: Er entstammte einer anderen Welt als sie, aber ihr Buch las er offenbar mit Begeisterung. Es machte ihn sympathisch.
»Wenn ich ein Buch lese, gibt es immer eine Figur, mit der ich mich identifizieren kann, aber hier fällt es mir schwer. Das macht es besonders. Es gibt keinen glatten Helden. Jeder hat seine Kanten und irgendwie gehören sie alle zusammen. Vielleicht wäre man gern ein bisschen von jedem«, sagte er begeistert. »Aber am Ende habe ich mich ein wenig geärgert.« Sein Blick lastete regelrecht auf ihr.
»Worüber denn?«
»Mir fehlt ein richtiges Happy End. Das Gute siegt, das Schlechte ist verschwunden.«
»Sie haben nicht verstanden, was ich ausdrücken wollte«, sagte Anna mit Nachdruck in ihrer Stimme. »Das Böse ist immer da, mal mehr, mal weniger. Am Ende haben sie es im Griff, aber es ist nicht verschwunden. So ist das nun mal in der Welt, im Buch, und in unserer auch.«
»Wer sind Sie, wenn Sie das Buch lesen?«
Anna betrachtete Mr. Sunnyboy einen Augenblick. Sie hatte sich verquatscht, aber er schien es nicht bemerkt zu haben. »Ich wollte es nie sein, aber ich bin Al Sahi.« Die Worte kamen ihr wie ein Geständnis über die Lippen.
»Oh, die schöne Amazone, die die Fäden in der Hand hält, weil sie Hintergrundinformationen hat und den Hütern den Kopf verdreht.« Er grinste wieder.
Anna verzog genervt das Gesicht. »Haben Sie es wirklich gelesen oder nur überflogen?«
»Ich habe es gelesen. Was soll das heißen?« Mr. Sunnyboy wirkte aufgrund ihrer Reaktion ein wenig beleidigt.
»Al Sahi hat einen langen Leidensweg und teilt ihre Seele mit einem Mann, den sie nicht haben kann.«
Er legte die Stirn in Falten. »Sie sehen die Figur aus einem anderen Licht als ich. Wie kommt das?«
Sie schluckte und sah aus dem Fenster hinaus auf die Wolken. Wie friedlich wirkte alles dort draußen. Sie schwieg, während sie über ihre Worte nachdachte.
»Hören Sie, ich wollte Sie nicht verärgern. Ich wollte Konversation betreiben. Wenn ich etwas Falsches gesagt habe, dann entschuldige ich mich.« Friedfertig, fast besorgt, sah Mr. Sunnyboy sie an.
»Nein, nein. Schon gut.« Anna bekam ein schlechtes Gewissen und beschloss, die Katze aus dem Sack zu lassen. Sie stand zu dem, was sie niedergeschrieben hatte. »Ich erkläre Ihnen, warum ich die Figur anders sehe.«
Er sah sie aufmerksam an. »Ich bin gespannt.«
Anna fiel auf, wie symmetrisch seine Gesichtszüge waren. Der Duft seines Rasierwassers umrahmte seinen Auftritt des perfekten Menschen. »Ich bin die Figur. Das ist meine Geschichte.« Ihr blieb bei seinem Anblick und ihrem Geständnis fast die Luft weg.
Mr. Sunnyboy schüttelte den Kopf. »Wie meinen Sie das?«
»So, wie ich es gesagt habe. Ich habe das Buch geschrieben.«
Er lachte. »Sie wollten mich aufs Glatteis führen. Sie lassen mich hier über dieses Buch sinnieren und sind die Autorin? Jetzt hab ich etwas gut bei Ihnen, würde ich meinen.«
Anna war erleichtert über diese Reaktion. Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee und war froh, dass Mr. Sunnyboy nicht sauer war, immerhin war er noch mindestens für acht Stunden ihr Sitznachbar.
Das Essen wurde gebracht und er räumte schnell seinen Laptop weg.
»Ich finde das sehr interessant. Wie kamen Sie darauf, die nordische Mythologie in eine solch fantastische Zukunft zu packen?« Er öffnete die Verpackung des Essens und versenkte seine Gabel in dem Steak.
»Viele unserer Gepflogenheiten sind voll von Mythen und Riten der Nordmänner. Wenn man sich damit befasst, ist man erstaunt, wie viele unserer Gebräuche ihren Ursprung dort haben und nicht im Christentum, was den meisten nicht bewusst ist. Nehmen Sie den Weihnachtsbaum. In nördlichen Gegenden wurden im Winter Tannenzweige ins Haus gehängt, um bösen Geistern das Eindringen und Einnisten zu erschweren. Schon lange Zeit, bevor das Christentum begann, sich zu verbreiten.«
Mr. Sunnyboy musterte sie. Sie erblickte wieder das goldene Kreuz an seinem Hals.
»Es ist eine persönliche Frage. Sie müssen sie nicht beantworten. Würden Sie sich als Christin bezeichnen?«, fragte er, als hätte er erraten, an was sie dachte.
Annas Hals wurde trocken, sie trank einen Schluck. »Haben Sie schon mal ein Neugeborenes im Arm gehalten? Es wirkt völlig rein. Soll ich glauben, dieses Kind ist mit der Erbsünde zur Welt gekommen? Das akzeptiere ich nicht. Dieses neugeborene Wesen ist rein. Die Gesellschaft macht es zu dem Sünder, das es sein wird.«
Mr. Sunnyboy lehnte sich völlig gelassen zurück. »Das ist doch im Grunde dasselbe, nur anders hergeleitet.«
»Dennoch kann ich es nicht glauben.«
»Das macht es nicht leichter, verringert aber auch das ein oder andere Problem.«
Bei seinem Gemurmel hatte sie den Eindruck, seine Worte hätten nichts mit ihrem Gespräch zu tun.
Er drehte den Kopf zu ihr. »Glauben Sie denn an das, was in Ihrem Buch steht?«
»Wir sollten lernen zu helfen, wo es uns möglich ist und keine Gegenleistung erwarten. Das macht die Fylgjen in meinem Buch aus. Sie helfen, wo Unrecht geschieht und fragen nicht nach dem Warum. Das ist ihre wahre Gabe. Ja, daran glaube ich.«
Mr. Sunnyboy nickte. »Das hört sich friedfertig an.«
»Es soll aber nicht bedeuten, dass ich nicht bereit wäre, die Freiheit dieser Ideale mit allen Mitteln zu bewahren.«
Mit einem Mal sah Mr. Sunnyboy zufrieden aus. »Wissen Sie, ich habe etwas gut bei Ihnen, weil Sie sich nicht zu erkennen gegeben haben. Ich denke, ich werde es Ihnen sagen. Es ist nur fair.«
Anna stutzte. Mr. Sunnyboy reckte ihr seine rechte Hand entgegen, sie ergriff sie zaghaft.
»Mrs. Gärtner, ich bin Robert Palmer, Ihr Agent, insofern Sie mich jetzt nicht feuern.«
Er hielt Annas Hand fest, während sie ihn fassungslos anstarrte, nicht in der Lage, etwas zu erwidern. Verwirrt schüttelte sie den Kopf.
»Was …? Wieso haben Sie das gemacht? Erzählen Sie mir nicht, es ist Zufall, dass Sie hier sitzen.«
»Nein, so etwas überlasse ich nicht dem Zufall. Ich wollte Sie sehen und sprechen, bevor Sie wissen, wer ich bin. So lernt man Menschen anders kennen. Besser …« Er grinste.
Anna starrte ihn noch immer an. »Mr. Palmer, ich kann nur staunen über Ihre geschäftlichen Gepflogenheiten. Und seien Sie versichert, an einem anderen Ort würde ich aufstehen und gehen.« Sie sah ihn erbost an, doch es schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken.
»Deshalb, Verehrteste, sitzen wir in diesem Flugzeug.«
Robert Palmer grinste von einem Ohr zum anderen. Anna fehlten die Worte. Dieser Mann entpuppte sich als Seuche. Die nächsten acht Stunden konnte sie ihm nicht entkommen und jetzt lächelte er sie feist an. Sie kam nicht umhin, sich davon anstecken zu lassen, überrollt von seinem Charme und dem sympathischen Strahlen seiner unglaublich blauen Augen. Schon immer konnte sie gut über sich lachen und sie war in seine Falle getappt, also lachte sie mit ihm und ihr Ärger verflog.
»Sie verzeihen mir?«, fragte er freundlich.
»Nur, wenn Sie mir erklären, warum Sie so einen Aufwand betrieben haben. Denken Sie, das Buch ist es wirklich wert?« Ihre Worte hatten einen versöhnlichen Ton.
»Sie sind es wert, Anna Gärtner. Dessen bin ich mir sicher«, antwortete er.
Sie beschloss, nicht zu erforschen, worauf er mit diesem Kompliment abzielte. Stattdessen wollte sie erfahren, warum er ein Kreuz um den Hals trug. »Wie ist das mit Ihnen? Was sagen Sie zu Christentum und Kirche?«
»Kirche bedeutet: Die dem Herrn gehört. So will er die Kirche in ihrer ganzen Herrlichkeit vor sich erscheinen lassen, ohne Flecken, Falten oder andere Fehler. Heilig und makellos soll sie sein.«
Anna blinzelte ihn an, fasziniert darüber, wie präzise er diese Definition wiedergab. Eines war ihr jedoch nicht entgangen. »Sie haben damit meine Frage nicht beantwortet.«
»Ich war auch noch nicht fertig. Ich glaube, ja. Aber ich zweifle an der Herrlichkeit der Kirche.«
Er sah ihr bei seinen Worten tief in die Augen. Sie musste seinem Blick ausweichen.
»Also ist es bei Ihnen auch kompliziert?«, fragte Anna.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
Sie unterhielten sich den ganzen Flug über. Wie geschickt sie es auch anstellte, ihr entging nicht, dass sie über ihn persönlich so gut wie nichts erfuhr. Jedoch war er wirklich überzeugt von ihrem Buch, was ihn zu einem guten Agenten für sie machte. Er sicherte ihr zu, sich in Washington mit dem Verlag in Verbindung zu setzen und ihr für alle Rückfragen in Bezug auf den Vertrag, aber auch hinsichtlich ihres Aufenthaltes, zur Verfügung zu stehen. Robert war höflich, interessierte sich für Literatur und Glaube ebenso wie für teure Accessoires. Mehr hatte Anna nicht über ihn herausgefunden, doch sie hatte ihn genau beobachtet. Hinter seinem charmanten Lächeln verbargen sich viele Facetten. Mit Sicherheit hatte er welche, die Anna nicht gefielen, aber für sie war der Job von Belang, den er für sie machen sollte.
Nachdem sie gelandet waren und ihr Gepäck hatten, fuhren sie mit einem Taxi zu Annas Hotel. Er versicherte ihr, sie am nächsten Morgen vor dem Eingang abzuholen und gemeinsam mit ihr zu dem Termin bei Dream around the world Publishing zu fahren.
Es war Mittag und Anna nach dem langen Flug müde. Sie checkte an der Rezeption ein. Nur mithilfe des Concierge fand sie erschöpft ihr Zimmer. Ihr Blick ging durch den großen Raum, doch sie war zu müde, um sich genauer mit ihrer Umgebung vertraut zu machen. Anna beschloss, sich erst einmal ins Bett zu legen.
Kapitel 2
Ralph und Meggie
Anna trat aus dem Aufzug. Es war acht Uhr abends. Sie war nicht mehr müde nach ihrem Mittagsschlaf und erkundete die fremde Umgebung. Sie war auf der Suche nach dem Bourbon Steak-Restaurant. Anna war unsicher, ob sie den Concierge richtig verstanden hatte. Irritiert durch die großen Flure, ging sie einige Schritte und versuchte, sich zu orientieren. Zu ihrer Linken erkannte sie Toiletten, rechts stand die Tür zu einem kleineren Raum auf, dann folgte der Zugang zu dem großen Treppenhaus. Auf ihrem Weg kamen ihr ein paar in Gespräche vertiefte Leute in Geschäftskleidung entgegen. Sie machte noch ein paar Schritte, bis sie vor einer großen Tür, links von ihr, zum Stehen kam.