Clara Sudermann
Am Glück vorbei
Impressum
ISBN/EAN: 9783958705913
Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.
Cover: Gemälde "Bildnis Maria Jakowlewna Lwowa" von Walentin Alexandrowitsch Serow (1865-1911)
Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2017
www.nexx-verlag.de
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Der Oberförster Hagedorn war von einer mehrtägigen Inspektionsfahrt durch Wälder, die er außeramtlich verwaltete, heimgekommen und hatte es sich in seinem Zimmer, dem eigentlichen Wohnzimmer der Familie, bequem gemacht.
Über dem großen Rundtisch mit seiner grauen Marmorplatte brannte die Hängelampe, der altmodische Messing-Teekessel summte, und der Kaffee, den Fräulein Perl, des Hauses getreue Hüterin, zu brühen begonnen hatte, duftete. Die Windstöße, die gegen die Holzläden dröhnten, der Regen, der klatschend auf die Fensterbleche fiel und das Brausen der Waldbäume jenseits des Weges machten es drinnen noch behaglicher. Der Oberförster, seine Tochter Maggie und Fräulein Perl tranken ihren Kaffee in vollem Verständnis dieser Wohlgeborgenheit und störten nur hier und da durch ein Wort die gemütliche Stille.
Der Oberförster lag müde und breit in seinem Großvaterstuhl. Sein verwittertes Gesicht mit den kleinen grauen Luchsaugen war eitel Behagen, und der Dackel »Max«, der sich auf seinem Schoß zusammengerollt hatte, machte sich die gute Laune seines Herrn zunutze. Er wurde freundschaftlich geknufft und gestreichelt.
Sein Zwillingsbruder »Moritz« hatte es nicht so gut. Maggie, in einem niedrigen Schaukelstuhl lehnend, hob ihn an den Füßen auf, zauste ihn an den Ohren, küsste ihn auf die Schnauze, kniff ihn in den Schwanz, wie es ihr in dem faulenzenden Schweigen gerade einfiel.
»Komm mal her, Gretel!« rief dann der Vater hinüber. »Heut' spendier' ich mir eine von den Festzigarren und dir eine Zigarette, na?«
Maggie sprang auf. Sie war mittelgroß, voll und geschmeidig, hatte ein warmgetöntes, klares Gesicht mit großen, grauen Augen und eine Fülle dunkel aschblonden Haares.
Der Vater sah sie wohlgefällig an und nickte mehrmals in Gedanken.
Maggie lachte hell.
»Wen hast du denn wieder für mich aufgestöbert, Papa?« fragte sie übermütig. »Wie ist er denn? Klug – dumm, hübsch – hässlich? Natürlich reich – aber wo?«
Der Oberförster machte ein verdrießliches Gesicht und sah zu Fräulein Perl, die schon ihr Strickzeug herausgenommen hatte.
»Aber Maggie! Wie kannst du nur ...« sagte diese wie aufs Stichwort.
Maggie hantierte mit kurzen und energischen Bewegungen am Pfeifentisch herum, brachte die Zigarre, steckte sie an, nahm sich eine Zigarette und rückte mit ihrem Schemel zu dem Vater.
»Du weißt ja schon lange, dass ich dir über den Kopf gewachsen bin, Papachen!« sagte sie. »Also keine Feindschaft, und erzähle ... Warum machen wir uns heute einen Feiertag mit Rauchorgien und unserem liebenswürdigsten Gesicht, warum mustern wir unsere hässliche Zweite, als ob sie die schöne Älteste wäre – warum?«
»Na, mein Töchterchen, das war man so ... Aber etwas Nettes ist mir tatsächlich passiert. Also, in Graventhin treffe ich wen? Ausgerechnet den Seckersdorf.«
»Ach ...« – die beiden Frauen riefen es erstaunt. Dann fragten sie gespannt durcheinander: »Wirklich Seckersdorf? Wollte er hierbleiben, wollte er Tromitten selbst übernehmen? Wie sah er in Zivil aus? War er noch ebenso still und ungeschickt? Merkte man ihm seinen künftigen Reichtum an? Hat er Gertrud erwähnt?«
»Still! Still! Still! ...« rief der Oberförster in das Gefrage. »Er ist ein netter anständiger Kerl, scheint etwas gelernt zu haben. Ob er hierbleibt, ist noch unbestimmt. Jedenfalls will er aufforsten lassen und hat mich gebeten, das Ganze zu machen. Das wirft was ab. Und brauchen können wir ja so einen Extrazuschuss immer!«
Maggie sah nachdenklich in die Lampe. Wenn sie so still saß, nahm ihr Gesicht einen Ausdruck kluger, kalter Härte an, der zu den weichen, rosigen, an das Flämische erinnernden Formen einen auffälligen Gegensatz bildete.
»Er kommt also wohl her?« fragte sie. »Das hätte einer ahnen sollen, damals, als ihr so empört auf ihn und die arme Gertrud ward. Was für ein grässliches Pech haben doch die Leutchen gehabt! Wenn man denkt, dass er ein halbes Jahr nach Gertruds Hochzeit der Erbe eines steinreichen Mannes wurde.«
»Werden sollte, Maggie!« verbesserte Fräulein Perl. »Mit der Trude ging's doch nicht. Er hatte ja nicht einmal die Zusage. Und ...«
»… ich nicht die Mitgift!« fiel der Oberförster kurz ein. »Und der Laukischker wollt' das Kind unbedingt haben. Das war denn doch eine andere Partie, als so 'n Infanterie-Leutnant, wenn schließlich auch der Onkel vielleicht das Notwendigste hergegeben hätte.«
»So?« fragte Maggie aufhorchend. »Ich denke, es hieß damals, der Onkel wäre auf nichts eingegangen, als du ihm die Vorschläge machtest.«
»Ach!« Der Oberförster zuckte mit den schiefen, grauen Brauen, ein Zeichen, dass ihm nicht behaglich war. »Was weißt du! Du warst ja noch ein halbes Kind! Die Gertrud hat's verständig aufgefasst und braucht's nicht zu bereuen. Der Kurowski ist nicht gerade mein Freund, aber das Kind hat's bei ihm doch wie eine Fürstin.«
Die beiden Frauen sahen sich schweigend an.
»Oder findet ihr etwa nicht?« rief der Oberförster heftig.
»Ruhig, Papachen!« sagte Maggie und legte ihre weiche Hand auf seine knochige. »Wenn nicht, wir können's nicht ändern. Aber alles in allem, der Seckersdorf wär' mir schon lieber als Schwager, besonders jetzt, wo er so reich ist.«
Der Oberförster lachte.
»Wenn du nur ein bisschen Grips hast, Mädel, und nicht bloß immer die große Klappe ... mach du dich doch dran. Zeit ist's. Vierundzwanzig ist eine ganz schöne Zahl für ein Mädchen.«
»Recht hast du,« stimmte ihm Maggie nachdenklich zu. »Wollen uns die Sache mal überlegen. Wenn er kommt, spiel' ich ihm die zweite Auflage von Gertrud vor. Was mir an Schönheit fehlt, geb' ich an Sanftmut dazu, und das Ganze wird schon klappen.«
Der Oberförster sah sie misstrauisch und unzufrieden an.
»Du bleibst ja doch sitzen, mit all deiner Klugheit,« sagte er. »Mit der Gertrud war es anders. Da kam dieser und jener. Übrigens ist der Seckersdorf in Waldlack mit Kurowskis zusammen gewesen. Er erzählte das so nebenbei, sagte, die Trude sehe elend aus. Wenn ich mich bloß besser mit dem Kerl, dem Kurowski verstehen könnte! Man ist ja wie abgeschnitten von dem Kind. Jeder Fremde weiß mehr.«
Er streichelte sorgenvoll das dicke Wellenhaar seiner Zweiten.
»Das wird schon alles besser werden, Papa,« tröstete das Mädchen. »Wollen uns darüber jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Erzähle lieber, wie war's sonst in Graventhin? Wieder großartiges Diner? Und schlecht serviert?«
Der Oberförster erzählte von den Erlebnissen der drei Tage. Er bestellte Grüße, meldete Nachbarbesuche an und berichtete ein bisschen Klatsch. In Waldlack war wieder gespielt worden, zwanzig Mark der Point. Der Althöfer hielt sich immer noch, hatte neulich wieder ein großes Sektfrühstück gegeben. Wie war's nur möglich, dass die Leute da noch fröhlich mitzechten? Maggie warf ein, das wäre das Klügste, was sie tun könnten, sie wünschte nur, es käme noch zu einem einzigen Ball da, vor dem Zusammenbruch, denn so nett wäre es nirgends.
Und so ging das Gespräch weiter. Der Regen strömte heftiger, der Wind heulte. Fräulein Perl strickte, Hagedorn und seine Tochter rauchten und spielten mit den Hunden.
Da knirschte draußen auf dem Kiesweg ein Wagen. Die beiden Dackel hoben die Köpfe. Der Oberförster sprang auf.
»Kinder ... Besuch! Bei diesem Wetter! Und ich in Pantoffeln. Empfangt ihr ihn!«
Aber noch ehe er das Zimmer verlassen konnte, zugleich mit dem Mädchen, das die Tür öffnete, drängten sich zwei blondköpfige Jungen herein, stürmten auf ihn los und hängten sich an ihn.
»Großpapa! Großpapa! Da sind wir. Tante Maggie ... Perlchen!«
Der Oberförster hob einen nach dem andern verdutzt in die Höhe.
»Wo kommt ihr denn her, Jungens, seid ihr allein?«
Sie konnten die Antwort schuldig bleiben und die winselnden Dackel begrüßen, denn ihre Mutter, Gertrud von Kurowski, kam langsam herein.
»Gertrud ... Du? Das ist ja himmlisch! Trude ... bei diesem Wetter!«
Die beiden Schwestern lagen einander in den Armen. Die ältere presste ihren Kopf fest gegen den Hals der jüngeren. Dann küsste sie den Vater und Fräulein Perl.
Alle drei standen um sie und sahen sie erwartungsvoll an. Sie kam selten nach Hause, seit ihr Vater und ihr Mann einen großen Streit gehabt hatten und einander nicht mehr besuchten. Monatelang war sie nicht da gewesen. Jetzt stand sie still und mit gesenktem Kopf da.
Sie war sehr schlank, einen halben Kopf größer als die Schwester. Aus einem sehr regelmäßigen schönen Gesicht sahen graue, sanfte Augen schüchtern und traurig um sich. Der Kopf trug einen dicken Knoten schimmernden, weißblonden Haares. Ein Hauch der scheuen Vornehmheit, die sich in die Formen äußerster Einfachheit zu hüllen liebt, ging von ihr aus. Ihr dunkelblaues Tuchkleid schloss knapp an den schlanken, schönen Körper und knisterte, wenn sie sich bewegte.
»Wie blass du bist, Gertrud! Ist etwas geschehen?«
Sie nickte. »Bringt die Kinder fort, ja? Ich habe euch viel zu sagen.«
Fräulein Perl führte die Jungen in das Esszimmer.
Der Oberförster war rot geworden. Seine Blicke suchten unruhig die Tochter.
»Hoffentlich kommst du mir nicht ...«
Gertrud machte eine kleine Bewegung mit der Hand, und er war still, musterte sie aber mit misstrauisch finsteren Augen. Maggie nahm ihre herabhängende Hand und küsste sie.
»Ja, Papa!« sagte Gertrud. »Du musst mich mit den Kindern schon bei dir behalten. Kurt hat mich fortgejagt. Er hat das schon oft getan, aber diesmal hab' ich ihn beim Wort genommen. Ich kann nicht mehr bei ihm bleiben.«
»So ... du kannst nicht mehr bei ihm bleiben? Und weshalb denn nicht? Hat wohl eine von deinen horrenden Schneider-Rechnungen nicht gleich bezahlen wollen? Oder kein Fuhrwerk gegeben, oder so eine ähnliche Untat begangen? Nein, mein Kind, ich bin dem Kurowski weiß Gott nicht grün. Aber dass meine Tochter ihm so einfach von Haus und Hof läuft und sagt: Ich kann nicht bei ihm bleiben ... das gibt's bei mir nicht!«
Er lief hin und her. »Was war denn los?« polterte er endlich und blieb vor ihr stehen.
Sie weinte.
»Heul' nicht ... erzähl'!« sagte er ungeduldig.
Da nahm Maggie sie in die Arme.
»Wenn unsere Trude so ankommt wie jetzt, dann muss was Schlimmes passiert sein. Quäle sie nicht, Papa. Meine arme, arme Trude!« Sie streichelte das zarte Gesicht und setzte die Schwester in den Lehnstuhl.
»Sieh sie doch an. Ist das denn menschenmöglich? Bist du krank? Was hat er dir getan, Liebling? Nein, sag' nichts, das bekommen wir schon allmählich heraus, lehne dich an und weine – weine, das wird dir gut tun.«
Die junge Frau legte gehorsam den Kopf an die Lehne und machte die langbewimperten Augen zu. Ein leises schauerndes Zucken hob ihre Schultern.
»Lasst mich hierbleiben ... lasst mich hierbleiben. Papa, ich bin doch deine Älteste ... du hast mich doch lieb ... lass mich hierbleiben!«
Der Oberförster schlürfte herum. Dann waren alle still. Der Wind heulte wie vorhin, die Lampe summte, und im Nebenzimmer jauchzten die Knaben und kläfften die Hunde.
»Was hat er dir getan?« fragte der Vater und legte seine große Hand auf das kleine weißblonde Köpfchen der Tochter. Die richtete sich auf und schmiegte sich in seinen Arm.
»Von Tag zu Tag ist es schlimmer geworden. Ich habe geduldig stillgehalten. Zuletzt dachte ich auch, ich wäre so schlecht, so hässlich und tauge nichts, wie er immer sagt, und da könnte man nichts mehr ändern. Ich habe fast kein Wort mehr sprechen können, aber fortgelaufen wäre ich doch nicht. Ich weiß ja ... die Kinder ... und der Skandal! Aber gestern Abend hat er mir vorgeworfen, dass ich ihn schamlos betrogen habe und ihn von neuem betrügen wollte. Da hab' ich mir's über Nacht überlegt, habe die Kinder genommen und bin zur Station, nach Winge gegangen.«
»Drei Stunden! Bei diesem Wetter!« fluchte der Oberförster.
»Die Jungen sind abgehärtet und gut zu Fuß. Dann, in Friesstein, fand ich Fuhrwerk hierher.«
Maggie sah finster und tiefatmend auf die Schwester. Der Oberförster schüttelte sich. Er konnte nicht lange unbehagliche Dinge tragen. Er schob sie einfach von sich.
»Wir sprechen morgen mehr darüber!« sagte er. »Die Sache werd' ich wieder einrenken. Dir soll dein gutes Recht werden, darauf verlass dich. Vorläufig nehm' ich an, dass du deinen alten Vater für ein paar Tage ...«
Gertrud richtete sich angstvoll auf. Maggie setzte sich zu ihr auf die Seitenlehne des Sessels und legte den Arm um ihre Schultern.
»... ein paar Tage, sag' ich,« fuhr der Alte fort, »besuchst, wie sich's gehört. Und dann werden wir weiter sehen. Weiß er, dass du hier bist?«
»Ich habe einen Brief dagelassen.«
»Na, da haben wir also zu erwarten, dass er mit Trara hier anrückt und dich und die Jungens zurückholt.«
»Glaub' das nicht,« sagte Gertrud. »Er wird froh sein, dass er allein bleibt ... Vorläufig ... bis ...«
»Donnerwetter!« murrte der Oberförster.
Maggie sprühte vor Empörung über den Widerstand des Vaters.
»Na,« sagte der dann einlenkend, »wir werden sehen. Reg' dich jetzt nicht auf. Und nun ... Jungens, herein!«
Die Knaben, an die Fräulein Perl großmütterliche Ansprüche machte, lagen in den ehemaligen Kinderbettchen von Mutter und Tante und konnten vor Trubel und Aufregung nicht einschlafen.
Gertrud und Maggie, die nach gequältem, unpersönlichem Gespräch sich nun endlich zur Ruhe begeben wollten, kamen noch einmal zu ihnen. Die Mutter küsste sie leidenschaftlich und fing bitterlich an zu weinen. Maggie zog sie fort.
»Nicht doch, Trude! Auf Kindergesichter sollen keine Tränen fallen. Komm, wir sind ja jetzt für uns, da kannst du dich hübsch ausweinen.«
Sie traten in die geräumige Balkonstube, die sie schon vor Jahren gemeinsam bewohnt hatten. Gertruds altes Bett war in derselben Ecke, in der es früher gestanden hatte, für sie hergerichtet.
Etwas erstaunt sah die junge Frau sich um und hörte auf zu weinen.
»Du, was hast du mit unserer hübschen Stube gemacht?« fragte sie.
»Den Plunder hinausgeworfen,« sagte Maggie vergnügt. »Die Kattungardinen und Mullvorhänge, die Makartsträuße, na alles. Nur die Puffs hier, dein glänzender Einfall, die höchst eigenhändig gepolsterten Bierfässchen, die sind noch da, folgen aber auch, sobald ich was Besseres habe. Dafür ist dieser famose alte Schrank dazugekommen, da der Stuhl, echt Empire, und an deinem Bett der Gobelin. Hübsch, was?«
»Nein,« sagte Gertrud energisch. »Früher war's ein hübsches, luftiges Nestchen mit all dem unschuldigen Mädchenputz; jetzt kommt es mir wie eine leere Trödelbude vor. Wo ist der Toilettentisch?«
»Alles weg. Als ich – wann war's noch? – Februar oder März zuletzt bei euch war und deine neue, wundervolle Schlafzimmer-Einrichtung sah – sie ist einfach herrlich, wie überhaupt alles in Laukischken, ich weiß gar nicht, wie du es hier aushalten wirst – ja, also, wie ich da nach Hause kam und hier den Firlefanz vorfand, hab' ich vor Wut geweint, und alles Billige und Unechte weggerissen.«
Gertrud sah sie aus großen Augen an.
»Neidisch, Maggie?« fragte sie. »Lieber Gott!«
»Neidisch auf dich, Trude? Nein. Aber, dass man so was haben kann, und dass ich es nicht habe, das ärgert mich. Und bis ich so weit bin, will ich lieber kahl und einfach hausen.«
Gertrud schüttelte den Kopf.
»Du,« sagte Maggie lebhaft, »unterschätze das nicht, was du so leicht aufgeben willst. Es hängt mehr daran, als man glaubt. Sieh mal, ich wette, du vermissest schon deine Jungfer, kannst dir die Taille nicht aufmachen, die Stiefel nicht ausziehen und weiß Gott, was noch alles.«
»Ich werde das alles ganz leicht wieder lernen,« sagte Gertrud bittend. »Und heute hilfst du mir ja doch ein bisschen, nicht wahr?«
Maggie umarmte sie stürmisch und stand ihr mit zitternden Händen bei. Als sie das prachtvolle Haar löste, das weißschimmernd über die Stuhllehne fiel, legte sie das Gesicht hinein und fing an zu weinen.
Und Gertrud drehte sich um und weinte krampfhaft mit. Und dann setzten sie sich auf eines der schmalen Mädchenbetten und hielten sich umschlungen, nannten sich mit den alten Kinderstuben-Kosenamen und sagten, nun wäre es wie früher.
Dann fuhr Maggie auf. »Der Schuft, der Schuft! Was hat er aus dir gemacht? Wo ist deine goldige, himmlische Schönheit hin? Du hast ja Falten ... da ... und da ... und grau und mager bist du geworden ... und doch erst achtundzwanzig Jahre!«
Gertrud lächelte traurig. »Das ist ja auch ständig sein Ärger, dass ich so hässlich werde,« sagte sie. »Mir ist's gleichgültig; das heißt, nein …« Sie weinte wieder bitterlich.
»Ach, du bist ja doch noch immer die Schönste von allen,« tröstete Maggie. »Und dir fehlt ja nichts als ein bisschen Glück, meine arme, arme Trude. Was machen wir nur? Sprich dich aus, wenn du magst, mein liebes Herz.«
Doch Gertrud konnte nicht gut von sich reden. Wenn sie ihren Mann verklagt hatte, schwächte sie die Anklage gleich ab. Sie erschrak, wenn sie ein hartes Wort aussprach, und suchte nach einem milderen Ausdruck, wenn sie etwas gar zu schroff genannt hatte.
Aber in diesen rührend abgebrochenen Sätzen lag ihre ganze Geschichte.
Maggie sah dabei förmlich den Schwager mit seinem spöttischen Lebemann-Gesicht, hörte seine grausamen Worte, gegen die das arme, zarte Weib da wehrlos war. Sie zitterte mit der hilflosen Schwester unter den seidenen Decken, wenn sie ihn sich im Geist vorstellte, wie er heiß und angetrunken in das Schlafzimmer trat, und sie schrie auf, als Gertrud etwas von Gewalt murmelte.
»Geschlagen? ... Dich?«
»Nein. Aber wenn ich nicht immer still gewesen wäre ...«
»Trude, weshalb bist du nicht längst fortgelaufen?«
Sie schwieg. Sie zog frierend die Spitzen ihres Pudermantels fester um die Schultern und sah mit ihren großen, traurigen Augen so hilflos um sich, dass Maggies Herz vor Trauer und Empörung schwoll.
»Komm zu Bett,« sagte sie. »Dir ist kalt. Ich bleibe bei dir sitzen und nehme deine Hand, mein armes Kind. Weißt du, wie du früher tatst, wenn ich Spukgeschichten vorgelesen hatte und nicht einschlafen konnte. Komm ... komm.«
Und sie zog die Schwester aus und brachte sie mit mütterlicher Sorgfalt zu Bett.
Gertrud ließ sich alles gefallen und sagte, das täte gut. Wenn sie nur bleiben dürfte! Bei Maggie fühle sie sich wohl, da hätte sie keine Angst.
Maggie dehnte den prachtvollen, üppig schlanken Leib. »Es sollte auch mal einer wagen, dir zu nahe zu kommen. Für dich setze ich alles ein, was ich übrig behalte, wenn ich für mich gesorgt habe.«
Gertrud richtete sich auf und sah sie fragend an.
»Warum sagst du so was?«
»Weil es wahr ist, Trude. Ich kann nun mal nicht anders. Ich muss immer zuerst an mich denken, und was für mich am bequemsten und besten wäre. Aber dann kommst du, Liebling. Du bist das einzige, was ich ganz liebhabe. Von Kindheit an. Vielleicht, weil du so anders bist. So zerbrechlich und so schön und gut.«
»Ach, Maggie, ich bin nichts, als zu viel auf der Welt,« weinte die junge Frau.
Maggie löschte die Lampe und setzte sich zu ihr.
»Nun wollen wir mal vernünftig reden, Kind!« sagte sie. »Erzähle mir nur, wie das denn nun so mit einem Mal passiert ist.«
Aus dem Schluchzen und den unverständlichen Worten klang ein Name voll heraus: »Seckersdorf«.
Maggie fuhr zusammen. »Hast du ihn noch immer lieb?« fragte sie leise.
»Gott bewahre! Nein, nein, nein!« sagte Gertrud heftig. »Aber wir trafen neulich in Waldlack zusammen. Ich hatte keine Ahnung, dass er hier ist. Und wir saßen bei Tisch zusammen.«
»Und da hat er dir den Hof gemacht?«
»Ach, nein. Wir haben uns nur angesehen. Aber, Maggie, das Herz wurde mir ganz schwer. Die lieben, stillen, blauen Augen. So vorwurfsvoll und traurig.«
»Und was sagte er?«
»Wir haben nur wenig gesprochen, aber Kurt behauptete nachher, ich hätte mich lächerlich gemacht, und jeder Mensch hätte sehen können, dass ich mich betragen habe, wie eine ... eine ... Ich habe ihn ja vielleicht auch liebevoll angesehen. Aber wahrhaftig nicht absichtlich. Ich möchte lieber tot sein, als das tun.«
»Und Kurt machte dir zu Hause eine Szene?«
»Oh, er war maßlos. Ich kann all die Beschimpfungen gar nicht wiederholen. Und er jagte mich fort. Ach, Maggie, du hast ja keine Ahnung, wie furchtbar es ist, verheiratet zu sein.«
»Doch, doch!« sagte Maggie. »Ich kann dir sagen, wenn man nicht alt würde, oder sehr reich wäre und leben könnte, wie man wollte, ich wäre die Letzte, die ans Heiraten dächte. Übrigens mit deinem liebenswürdigen Mann würde ich doch besser fertig werden als du, mein armes Kind. Hast du dir das denn auch stillschweigend gefallen lassen?«
»Nein!« sagte Gertrud. »Es war zuviel. Ich hatte auch etwas mehr Mut. Weißt du, es ist ja Unsinn und auch unrecht; aber ich hatte nicht so grässliche Angst, weil ich weiß, dass 'er' wieder da ist. Und wie die Quälereien weitergingen, da ...«
Ein langes Schweigen entstand. Maggie ergänzte, was die Schwester stockend verschwieg. Sie dachte an die Zeit zurück, in der Gertrud hier Nacht für Nacht geweint und ihr auf ihre kecken Fragen zugegeben hatte, dass sie sich vor ihrem Bräutigam fürchte, dass sie am liebsten vor der Hochzeit sterben möchte.