Harald Hartl
Quälende Ungewissheit
Crime
Mondschein Corona – Verlag
Bei uns fühlen sich alle Genres zu Hause.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
1. Auflage
Erstausgabe Juli 2016
© 2016 für die Ausgabe Mondschein Corona Verlag, Plochingen
Alle Rechte vorbehalten
Autor: Harald Hartl
Lektorat/Korrektorat: Anita Herzog
Grafikdesigner: Finisia Moschiano
Buchgestaltung: Finisia Moschiano
© Die Rechte des Textes liegen beim Autor und Verlag
ISBN: 978-3-96068-027-7
Mondschein Corona Verlag
Finisia Moschiano und Michael Kruschina GbR
Teckstraße 26
73207 Plochingen
www.mondschein-corona.de
Quälende Ungewissheit
Leises Donnergrollen aus weiter Ferne. Die ersten Blitze zuckten noch weit hinten am Horizont. Vereinzelt schlugen zunächst nur kleine, später dicke, schwere Regentropfen auf den spröden, teilweise gesprungenen und bemoosten Dachziegeln ein. Zusammengekauert lag Mara auf der unappetitlichen, verdreckten alten Matratze. Im Grunde hatte sie mit ihrem noch so jungen Leben bereits abgeschlossen. Das Bettgestell aus altem, dunkelbraunem Stahlrohr, an dem scharfer Rost anhaftete, war noch ein Relikt aus längst vergangenen Tagen. Es stammte aus einer Wehrmachtsunterkunft zu Zeiten des schrecklichen und sinnlosen Krieges. Wie oft hatte Mara sich ihre weiche, samtige Haut der kleinen Kinderhände daran wundgescheuert. Wundgescheuert bei unzähligen vergeblichen Versuchen, die dicken, festgezurrten Seile, die um ihre zarten und zerbrechlichen Handgelenke geschlungen waren, abzustreifen. Längst schon war ihr klar geworden, dass es daraus kein Entrinnen gab. Sie wusste, dass all ihr leises Wimmern, ihr flehentliches Bitten, aber auch das hysterische, markerschütternde Schreien nichts an ihrem Zustand ändern konnte. Wie lange der kleine muffige Raum ohne Tageslicht nun schon ihre Behausung war, konnte sie nur erahnen. Ob es viele Monate oder gar schon Jahre waren, in denen sie ihre vertraute Umgebung so unendlich vermisste, wusste sie nicht. Der einst klare Kinderverstand war trübe geworden. Mara hatte längst aufgehört, sich darüber Gedanken zu machen. Sie war unendlich müde und ihres Lebens voller Pein überdrüssig geworden.
Kein Sonnenstrahl konnte das einzige, mit Brettern verschlagene, kleine Fenster durchdringen. Kein Schrei war jemals nach außen gelangt. Und wenn, dann konnte niemand ihn hören, der Maras Qualen hätte beenden können. Qualen, die ihre unschuldige Kinderseele so unsäglich geschunden hatten. Die Hoffnung auf ein Ende des Martyriums war längst schon wie eine einstige Wasserquelle in der endlos weiten, glühenden Wüste versiegt.
Den grell zuckenden Blitz, der sich Feuer speiend den Weg nach unten bahnte und in das von ihm auserwählte Objekt einschlug, konnte Mara nicht sehen. Wohl aber hörte sie den ohrenbetäubenden Donnerknall, der die Urgewalt begleitete. Ein Knistern mischte sich in das laute Prasseln des mittlerweile heftigen Wolkenbruchs. Brandgeruch!
„Es ist gut so“, flüsterte Mara ins dunkle Nichts. Oftmals hatte sie sich in Gedanken ausgemalt, auf welche Weise ihr Leben einmal enden würde. Dass es in diesem grauenvollen Gefängnis, in dem sie so viel Leid hatte ertragen müssen, geschehen werde, daran hatte sie niemals gezweifelt. Jetzt war es Gewissheit. Mit den Handgelenken ans Bettgestell gefesselt, wusste sie, dass dem beißenden Brandgeruch schon bald lodernde Flammen folgen würden. Bei lebendigem Leib verbrennen. So sieht er also aus, der von mir so oft herbeigesehnte Tod. Die Erlösung, dachte sie. Unfähig, auch nur eine Träne zu vergießen. Sie dachte an ihre Eltern und an Tomi, ehe sie die Augen schloss. Tomi war ihr Bruder. Er war um ein Jahr jünger als Mara. Den Blick himmelwärts gerichtet und mit gefalteten Händen flehte sie den lieben Gott, der sie so schändlich im Stich gelassen hatte, um eine baldige Ohnmacht an, damit sie die grauenvollen Schmerzen nicht erdulden müsse, wenn die beißenden Flammen ihren mageren Mädchenkörper umschlingen und ihn bis zur Unkenntlichkeit verkohlen sollten.
Die ersten Flammen schlugen oberhalb des Türrahmens durch die Zimmerdecke. Obwohl Mara wusste, dass niemand sie hören konnte, begann sie plötzlich markerschütternd zu schreien. Sie schrie sich all die Ungerechtigkeit, die ihr in den letzten sieben Jahren widerfahren war, von ihrer gequälten Seele. Mara Kahn wusste, dass ihr noch so junges Leben hier und jetzt ein Ende finden würde.
Sieben Jahre zuvor
„Können wir uns auf euch verlassen?“, fragte Franziska Kahn ihre beiden Kinder, sechs und sieben Jahre alt, zum wiederholten Mal.
„Ja, Mutter“, antwortete Mara genervt und rollte mit den graublauen Kinderaugen.
„Und du? Was ist mit dir, Tomi? Hast du gehört, was ich gesagt habe?“
„Jetzt übertreib nicht gleich so!“, mischte sich Raimund ins Gespräch. Der Vater der beiden war überzeugt, dass seine Frau ein wenig übertrieb, obwohl die Vorfälle der letzten Zeit zur gemäßigten Vorsicht mahnten.
Tatsächlich nahmen einige besorgte Mütter der kleinen Dorfgemeinde an der österreichisch-deutschen Grenze die angeblichen Wahrnehmungen ihrer Sprösslinge sehr ernst. Auch die Polizei war bereits eingeschaltet worden. In regelmäßigen Abständen patrouillierten zwei Beamte im Nahebereich der Schule und des Kindergartens im ansonsten idyllischen Dörfchen. Groß war die Aufregung bei Familie Schuster, als Klein Anna während des Mittagessens ihrer Oma erzählte, dass ein fremder Mann sie angesprochen und gefragt habe, ob sie zu ihm ins Auto steigen wolle. Während der Schlossermeister Franz Schuster der Behauptung seiner Tochter keine allzu große Bedeutung beimaß und sie mit der Bemerkung, sie habe eine „blühende Fantasie“, mehr oder weniger Lügen strafte, verfiel ihre Mutter Eva beinahe in Hysterie und Panik. Sie arbeitete als Halbtags-Reinigungskraft in einer Arztpraxis, in der nahen Stadt. Dennoch informierte Schuster, auf energisches Drängen seiner Frau, die Polizei von dem angeblichen Vorfall.
Nur zu gut war den Beamten ein ähnlicher Fall, welcher sich in der keine zwanzig Kilometer weit entfernten Bezirksstadt vor fünf Jahren zugetragen hatte, in Erinnerung geblieben. Die geschockte Bevölkerung hatte lange den Atem angehalten. Mütter und Großmütter ließen ihre Kleinen, vor allem die Mädchen, keinen Augenblick mehr aus den Augen. Die Schlagzeilen der Zeitungen trugen das Ihre dazu bei, Panik zu verbreiten. Damals war ebenfalls vor einer Volksschule ein fremdes, rotes Auto beobachtet worden, wie es mehrmals langsam den Straßenzug auf und ab gefahren war. Die betagte Frau, die diesen Vorfall beobachtet hatte, zog es aber vor, sich erst dann bei der Polizei zu melden, als sämtliche Medien von dem verschwundenen achtjährigen Mädchen, Nicole, berichteten. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Sofort eingeleitete Suchaktionen über viele Tage hindurch, unterstützt durch Suchhunde und Polizeihelikopter, blieben erfolglos.
Knapp zwei Wochen später war es traurige Gewissheit. Nicole war höchstwahrscheinlich Opfer einer Kindesentführung geworden. Wie sonst wäre sie vom kurzen Nachhauseweg von der Schule zu einem gut zehn Kilometer weit entfernten Wald gelangt. Spuren eines abscheulichen Verbrechens hatten zweifelsfrei ergeben, dass das bedauernswerte Mädchen hinter ein Gebüsch gezerrt und brutal geschändet worden war. Im Anschluss daran hatte der Täter das noch lebende Opfer in den nahen Fluss geworfen. Wenige Tage später bargen Feuerwehrtaucher, die den Fluss mit einem Boot abgefahren waren, die Leiche an einer Flusskrümmung. Sie hatte sich zwischen dichtem Geäst verfangen. Der Täter konnte niemals ausgeforscht werden.
Franziska und Raimund Kahn hatten von diesem schrecklichen Ereignis mehr oder weniger beiläufig erfahren. Sie waren mit ihren Kindern erst vor einem Jahr, als Mara in die Schule kam, der lauten Großstadt entflohen, und in das kleine Dorf gezogen. Dort wollten sie ihnen ein beschauliches und ruhigeres Leben auf dem Lande bieten.
Ein Artikel im Bezirksblatt, der zur Vorsicht mahnte und in dem stand, dass es sich nach Angaben der fünfjährigen Anna um ein rotes Auto und einen Mann mit schwarzen, glatten Haaren handeln solle, der sie aufgefordert habe, in sein Auto zu steigen, machte die bislang vorherrschende Idylle im kleinen Dorf endgültig zunichte. Als dann auch noch ein siebenjähriger Junge behauptete, ein Mann habe ihn auf dem Nachhauseweg von seiner Oma eine Zeit lang verfolgt und die Presse auch davon Wind bekam und es in dicken Lettern abdruckte, konnte man die große Besorgnis in der knapp 3000-Seelen-Gemeinde deutlich spüren. Dass sich der Junge aus etwas schwierigen Familienverhältnissen bei der Befragung einer einfühlsamen Polizistin im Beisein seiner Mutter mehrmals in Widersprüche verstrickte und seinen Verfolger einmal als schlank, blond und groß und dann wieder als dunkelhaarig und eher untersetzt beschrieb, machte die Sache nicht einfacher.
Einige Wochen nach diesen Vorfällen war man mehr oder weniger wieder zur Tagesordnung übergegangen. Nicht nur die Kinder der Dorfschule freuten sich auf die bevorstehenden Sommerferien, auch die Lehrerin konnte es kaum mehr erwarten, zwei Monate Unterrichtspause in vollen Zügen zu genießen. Es war nicht immer einfach, die elf Mädchen und acht Jungen gleichsam zu fördern und eine harmonische Einheit zu formen. Drei Buben mit Migrationshintergrund waren der deutschen Sprache kaum mächtig. Einer davon störte permanent den Unterricht und war seinen Mitschülern gegenüber äußerst aggressiv. Mehrmals schon hatte sich der Schulpsychologe seiner angenommen. Seine Mutter war mit ihm vor zwei Jahren aus Bosnien geflüchtet. Man erzählte sich, dass ihr Mann ein verurteilter Mörder war, der sich auf der Flucht befand. Djula Jukan hatte panische Angst, er könnte irgendwann hier auftauchen und ihr und Besim etwas antun. Djula wollte gar nicht Deutsch lernen oder sich in ihrer neuen Heimat integrieren. Nicht selten war es vorgekommen, dass Besim sich schreiend und mit den Beinen um sich tretend auf den Fußboden im Klassenzimmer warf und lauthals unverständliches Zeugs in seiner Muttersprache schrie. Nach den Sommerferien war der Lehrerin bereits in Aussicht gestellt worden, dass zwei weitere Kinder von Flüchtlingsfamilien dazukommen sollten.
Das Abschlussfest der Volksschule war bestens durchorganisiert worden. Luftballons in verschiedenen Farben dekorierten, im sanften, lauen Sommerwind an Schnüren baumelnd, den Schulhof. Der Schulwart, der im Jahre 1953 erbauten Volksschule, war „Mädchen für alles“. Er hatte sich, wie schon die Jahre zuvor, bereiterklärt, für den Lehrkörper und die Schüler, wie auch für deren Eltern, als Grillmeister zu fungieren. Würstchen und Fleisch, aber auch Gemüse für Vegetarier, wollte er auf dem Holzkohlegrill zu Köstlichkeiten braten. Einige Eltern hatten zugesichert, Salate sowie Kuchen und Kaffee zu organisieren. Ungetrübtes Sommerwetter wurde vorhergesagt. „Heftige lokale Gewitter nicht ausgeschlossen“, hatte der Wetterfrosch am Vorabend verkündet. Einem schönen Abschlussfest nach der Zeugnisverteilung sollte nichts mehr im Wege stehen.