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Ein neuer Blick auf einen alten Berg

Seltsam, dass sich keiner mit seinem eigenen Leben beschäftigt.

Das Einzige, was die Leute verstehen in dieser Welt, ist das, was sie »nützlich« nennen. Und wohin hat uns das gebracht? Nirgendwohin.

Sawaki Kodo

Das Leben hat mich auf einen besonderen Weg geschickt. Obwohl ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, kam ich früh schon mit der Kultur des Zen in Berührung. Heute leite ich das tief in den japanischen Bergen gelegene Zen-Kloster Antaiji. Vielleicht können meine Erfahrungen, die ich bei der buddhistischen Übung gesammelt habe, auch für die Menschen im Westen hilfreich sein. Vielleicht können auch sie von der Weisheit des Zen etwas lernen für den eigenen, ebenso besonderen Lebensweg, den am Ende jeder für sich allein gehen muss.

Als Zen-Meister wird mir immer wieder die Frage gestellt: Wie soll man sein Leben führen? Das Wort »Lebensführung« ist im Deutschen sehr populär. Aber kann man das Leben wirklich führen, so wie einen Hund an der Leine? Im Leben können wir nicht immer die Zügel in der Hand behalten. Spätestens wenn es ans Sterben geht, liegt nichts mehr in unserer Macht. Aber auch davor gibt es immer wieder Situationen, in denen wir zwar die Hauptrolle spielen, doch nach einem Drehbuch agieren, das wir nicht kennen, und auch die Regie müssen wir jemand anderem überlassen. Dann führen nicht wir das Leben, sondern das Leben führt uns. Es schickt uns auf einen Weg, von dem wir nicht sagen können, wohin er verlaufen wird. Wir sollten lernen, uns dem Leben ganz zu überlassen. Dazu gehört auch, dass wir den Fragen, die es uns aufgibt, nicht ausweichen.

Jeder lebt das Leben auf seine eigene Weise, und ich glaube auch, dass niemand das Recht hat, die Lebensweise eines anderen als verfehlt zu bezeichnen. Es geht nicht ums Vergleichen, um richtig oder falsch. Es geht darum, sich eine einzige Frage zu stellen: Bin ich wirklich einverstanden mit dem Leben, wie ich es heute lebe? Manch einer, der die Gegenwart mit den Träumen seiner Jugend vergleicht, wird vielleicht enttäuscht sein, weil er sich alles ganz anders ausgemalt hat. Bunter. Aufregender. Wird er morgen seinen Träumen näher kommen? Wohl kaum. Es sei denn, er beginnt bereits heute damit, sich ganz auf sein Leben und auch auf sein Sterben einzulassen. Dann wird er aufbrechen zu einem Leben, das genauso jenseits aller Vergleiche liegt wie der Tod.

Niemand wird uns am Ende fragen, ob wir sterben wollen. Daher müssen wir uns schon im Leben auf den Tod vorbereiten. Nur wer seinen Frieden mit dem Leben geschlossen hat, wird ihn auch im Sterben finden. Angst vor dem Tod hat vielleicht ohnehin nur der, der das Leben noch nicht ganz in seine Arme geschlossen hat.

Seit 2002 stehe ich dem Kloster Antaiji als Abt vor. Wenn man mich hier besuchen will, nimmt man zunächst den Zug und fährt aus einer der Großstädte bis ans japanische Meer. An der Küste gibt es einen kleinen Bahnhof, von dort geht es weiter mit dem Bus, zwanzig Kilometer ins Landesinnere, bis man schließlich an einer einsamen Haltestelle abgesetzt wird. Doch erst nach einer weiteren Stunde Fußmarsch ist man am Ziel, und auch das nur, wenn man zwischendurch nicht in die falsche Richtung abbiegt oder auf einen der im Wald hausenden Kragenbären trifft.

Zwar besteht die Möglichkeit, die ganze Strecke mit dem Auto zurückzulegen, allerdings empfiehlt es sich, auch dabei aufzupassen. Immer wieder kommt es vor, dass ein Besucher, der sich im Kloster angekündigt hat, nach Anbruch der Dunkelheit noch nicht angekommen ist, weil er sich auf die Stimme seines Navigationsgeräts verlassen hat, die ihn freundlich, aber bestimmt in ein Tal weiter im Süden gelotst hat. Ein Ort, fern jeder Behausung. Aus der Asphaltstraße wird nach und nach ein Forstweg, und der endet schließlich an einem stillen Bach. Erfolgt dann der Griff zum Handy, ist es bereits zu spät. So tief wie das Tal ist auch das Funkloch, in das sich der Gast verirrt hat. Von alldem werden die Software-Spezialisten in Tokio vermutlich nie etwas erfahren. Keiner von ihnen wird jemals einen Fuß in diese Berge setzen, um sich vor Ort ein Bild fürs nötige Update des Navigationssystems zu machen.

Auch für das Leben gibt es meist keinen zuverlässigen Lotsen. Wer sich deshalb auf seine ganz eigene Reise machen will, braucht einen guten Orientierungssinn. Er muss wissen, in welche Richtung er gehen möchte. Doch selbst wenn er geglaubt hat, beim Aufbruch das Ziel ganz klar vor sich zu sehen, kann es passieren, dass er sich eines Tages mitten im Dschungel wiederfindet, ohne zu wissen, woher er gekommen ist und welcher Weg wieder aus der Irre führt. Womöglich war es sogar der innere Kompass, dem er bis dahin blind gefolgt ist, der ihn genarrt hat. Dann kann es sich lohnen, einmal einen Blick auf eine neue, andere Landkarte zu werfen.

Dieses Buch möchte so eine Karte des Lebens und des Sterbens sein. Doch was auf alle Karten zutrifft, gilt natürlich auch für diese: Sie zeigt nur ein Abbild, nicht die Landschaft des Lebens selbst, und oft sind die Orte auf ihr auch noch verzerrt dargestellt. Man muss den Maßstab der Karte kennen, man muss wissen, wo Norden ist und wo Süden, und man muss sich im Klaren darüber sein, dass eine Karte schnell veraltet. Dort, wo einmal eine Straße war, befindet sich heute vielleicht nichts als unwegsames Land. Wo es einmal eine Brücke gab, kann jetzt nur noch ein reißender Fluss sein. Keine Karte ist besser oder genauer als das Orientierungsvermögen dessen, der sie in die Hand nimmt. Und auch der beste Kartograph ist nur ein irrender Mensch.

Wie jeder vermag auch ich nur eine Karte meines eigenen Lebens zu zeichnen. Sie, der Leser, gehen durch eine ganz andere Landschaft. Nicht nur befinden wir uns in unterschiedlichen Abschnitten des Lebens, wir können uns nicht einmal sicher sein, ob es derselbe Berg ist, den wir besteigen wollen. Und selbst wenn – sieht der Berg nicht ganz fremd aus, wenn man ihn aus einer anderen Perspektive betrachtet?

Manchmal kann es eine gute Idee sein, eine Karte mit einer zweiten zu vergleichen. Was der eine Kartograph vergessen hat, findet sich vielleicht bei einem anderen. Aber wenn wir nicht achtgeben, werden wir das ganze Leben mit dem Studium von Karten zubringen. Wer seine Zeit dafür einsetzt, spirituelle Ratgeber zu lesen, ohne sich jemals einen Schritt aus dem Haus des eigenen Lebens zu trauen, wird sich immer nur vergeblich danach sehnen, bis zur Spitze des fernen Berges zu gelangen, von der er doch schon so lange träumt.

Deshalb möchte ich Sie warnen: Trauen Sie mir nicht zu sehr! Sawaki Kodo, der von 1880 bis 1965 gelebt hat und einige Zeit so wie ich heute Abt im Kloster Antaiji gewesen ist, sagte einmal: »Zen ist die größte Lüge aller Zeiten!« Aus dem Mund eines Zen-Meisters klingt der Satz lustig, doch er war nicht als Scherz gemeint. Wenn man die Weisheit des Zen, wenn man die Wahrheit, das Leben und die Liebe in Worte zu fassen versucht, dann verschwindet die Wirklichkeit, und es bleiben nichts als Worte zurück. Bloße Abbilder des Wirklichen.

So ist es auch mit diesem Buch. Bestenfalls kann es eine Landkarte des Lebens sein, wie ich es heute vor mir sehe. Was Sie daraus machen, liegt an Ihnen. Und das gilt für jeden Ratgeber. Niemand außer dem Leben selbst kann Sie an die Hand nehmen, wenn es um Ihren eigenen Weg geht.

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Die Hälfte des Lebens

Geburt, Krankheit, Alter, Tod –

vertrödel sie nicht, deine kurze Zeit hier!

Sawaki Kodo

Jeder Mensch stirbt. Selbst ein Kind weiß das schon, doch so mancher scheint es auch im hohen Alter noch nicht akzeptieren zu können.

Wir machen uns Sorgen um das, was nach dem Tod kommen könnte, und vergessen dabei, das Leben zu leben, solange wir es haben. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wer kann das wissen? Aber wenn es so weit ist, werden wir es schon herausfinden. Früher oder später werden wir alle in den Besitz der Antwort kommen. Wir können also gespannt sein!

Die beste Nachricht für das Hier und Jetzt aber lautet: Es gibt ein Leben vor dem Tod.

Selbst wenn es, wie viele Buddhisten glauben, ein Leben nach dem Tod geben sollte, dann wäre ja auch das nur ein weiteres Leben vor dem Tod. Und wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, dann muss es auch einen Tod nach dem nächsten Leben geben.

Wenn wir daher die Tage dieses Lebens damit verbringen, über ein Leben nach dem Tod zu phantasieren, von dem wir noch nicht einmal sicher sein können, ob wir es erleben werden, werden wir dann nicht auch das nächste Leben (falls es das tatsächlich geben sollte) vergeuden mit Tagträumereien über das übernächste Leben? Es ist so wie mit einem, der nie etwas zustande bringt, weil er sich ständig sagt: »Noch ist nicht aller Tage Abend. Wenn ich auch heute nicht mehr alles schaffe – morgen ist auch noch ein Tag. Und wenn es in diesem Leben nicht mehr passieren sollte, dann warte ich eben auf das nächste.«

Wir kennen es alle aus eigener Erfahrung: Wenn aus morgen heute wird, verschiebt man das ungelebte Leben einfach um einen weiteren Tag in die Zukunft. Und immer so weiter.

Doch der einzige Tag, den ich wirklich leben kann, ist der heutige. Da hilft mir auch kein nächstes oder übernächstes Leben. Das Leben, das ich heute nicht lebe, wird ewig ungelebt bleiben. Das Leben, das ich in diesem Augenblick lebe, ist das einzige Leben. Es gibt allein das Jetzt. Nur wenn ich diesen Tag so lebe, als wäre er mein letzter, werde ich auch den nächsten zu leben wissen.

Und doch, der Tod ist immer da. Ich sterbe, Sie sterben, jeder stirbt. Und das nicht irgendwann, sondern bereits jetzt, in diesem Moment.

Ob wir es wollen oder nicht, das Sterben hat bereits begonnen, und es existiert kein einziger Augenblick, der uns nicht mit dem Tod konfrontieren würde.

Wie wir über den Tod nachdenken, spiegelt oft die Einstellung wider, die wir gegenüber dem Leben einnehmen. Wie schön könnte doch alles sein, sagen manche, gäbe es nur das Altern nicht, die Krankheit, den Tod. Die Medien machen es uns leicht, ans ewige Leben zu glauben. Jeder Tag verspricht eine neue Erfahrung, jedes Erlebnis wird zum aufregenden Event, und wer sich richtig ernährt, wer joggt und natürlich nicht raucht oder trinkt, wird für immer jung bleiben.

Doch je mehr ein Mensch das Leben bejaht, desto mehr wird er sich vor dem Tod fürchten. Unsere Tage sind gezählt, auch wenn viele versuchen, das Unabwendbare so lange zu ignorieren wie nur möglich. »Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich möchte nur nicht dabei sein, wenn’s passiert.« Wahrscheinlich wird es nicht einmal Woody Allen gelingen, damit durchzukommen.

Im Alltag ist der Tod oft unsichtbar. Wir verbannen ihn auf die Intensivstationen der Krankenhäuser oder in die Zimmer der Pflegeheime, die wir an den Rand der Städte bauen. In den Nachrichten erreicht uns das Sterben im Sekundentakt: Hundert Tote in China, zwanzig in der Türkei, drei oder vier auf der Autobahn. Unfälle, Attentate, Naturkatastrophen. Die Toten füllen die täglichen Schlagzeilen, aber das betrifft uns nicht. Die anderen sterben, nicht wir. Damit können wir leben.

Anders verhält es sich, wenn ein uns naher Mensch stirbt. Sein Tod geht unter die Haut. Wir fühlen uns, als klaffte ein Loch in unserer Brust. Mit der geliebten Person stirbt auch ein Stück von uns. Wir werden nie mehr dieselben sein wie vorher. Wir beginnen, über unser eigenes Leben zu reflektieren, und auf einmal kommt es uns vor, als hätten wir das größte Stück des Weges bereits zurückgelegt. Der eigene Tod rückt in den Blick und wir werden uns unserer Sterblichkeit bewusst. Was immer so weit weg schien, ist auf einmal ganz nah gerückt.

»Bis sie vierzig sind, halten viele das Sterben für eine schlechte Angewohnheit alter Leute, die sie selbst nichts angeht«, schrieb der Psychiater Oswald Bumke zu Weihnachten 1943 in einem Brief an seinen Sohn, der im Krieg kämpfte. Während ich diese Sätze schreibe, bin ich siebenundvierzig Jahre alt. Die Hälfte des Lebens? Letztlich bleiben die Jahre unbegreiflich in ihrem Vergehen. Als ich am Abend vor meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag zurückblickte auf die vergangenen zwölf Monate, konnte ich kaum glauben, wie sehr sich die Welt verändert hatte. Im Herbst war die Berliner Mauer gefallen, die Wiedervereinigung stand vor der Tür. Und auch ich befand mich an einem Wendepunkt in meinem Leben, denn im Frühjahr würde ich zum Studium nach Kyoto fahren. Überall gab es so viel zu erleben, so viel zu lernen. Auf jede Enttäuschung folgte eine neue Liebe. Ganze Horizonte öffneten sich. Jedes Jahr war ein zusätzliches, ein geschenktes Jahr. Ein Jahr mehr. Nichts schien unmöglich. Was konnte man nicht in einem Jahr alles an Erfahrungen sammeln! Warum nicht einfach auf einem Schiff anheuern und um die Welt fahren?

Irgendwann ändert sich diese Perspektive. Spätestens dann, wenn man zum ersten Mal ans eigene Ende denkt. Dann ist ein Jahr nicht länger ein Jahr mehr, sondern ein Jahr weniger. Dann nimmt man das Schwinden der Möglichkeiten wahr. Was ich vor zehn Jahren noch konnte, kann ich nun nicht mehr. »Noch nie war ich so alt wie heute«, denkt man. Die Gedanken gehen zurück in die Vergangenheit, in die Jugend, die verloren scheint, oder eilen voraus in die Zukunft, in der man noch älter sein wird.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass mir beim Lesen plötzlich die Buchstaben seltsam verschwommen erschienen. Stimmte da etwas mit dem Buchdruck nicht, oder war es zu dunkel im Zimmer? Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass ich mir von nun an beim Lesen besser eine Brille aufsetzen sollte – etwas, was ich bis dahin tatsächlich nur für eine schlechte Angewohnheit alter Leute gehalten hatte.

Das war nur der Anfang. Hexenschuss, steife Schultern, Gelenkschmerzen und all die anderen Wehwehchen, über die ich Onkel und Tanten bei Familientreffen so oft hatte klagen hören, durfte ich nun am eigenen Leib erfahren. Als ich vor einigen Monaten mit Nierensteinen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, glaubte ich für ein paar Stunden sogar, mein Ende sei gekommen. Zum Leidwesen meiner Frau war ich am nächsten Tag wieder ganz der Alte.

Doch es hört nicht auf. An die Telefonnummern alter Studienfreunde kann ich mich zwar problemlos erinnern, aber neue Namen behalte ich nur noch schwer. Wenn mich jemand auf der Straße grüßt, mit dem ich vor zwei Monaten ein angeregtes Gespräch geführt habe, weiß ich manchmal nicht, wer vor mir steht.

Natürlich bringt auch ab vierzig noch jeder Tag neue Erfahrungen. Aber zumindest ein wenig gleicht das Gehirn dann einer Computer-Festplatte, die die Grenze ihrer Speicherfähigkeit erreicht hat. Für jede neue Information muss eine alte gelöscht werden, die Software läuft nicht mehr so schnell wie früher, und jeder Versuch eines Updates kann zum Absturz des Systems führen.

Dann fühlt man sich bisweilen, als sei man in der zweiten Halbzeit eines Fußballspiels angelangt. Das Spiel ist längst entschieden, es gibt nichts mehr zu gewinnen. Die erste und bessere Hälfte des Lebens ist vorüber. Jeder weitere Tag bringt einen dem Schlusspfiff näher. Eine beängstigende Vorstellung. Noch beunruhigender wird sie, wenn man auf einmal feststellt, dass ein Jahr nicht mehr so lang zu sein scheint wie früher. Natürlich hat es immer noch seine 365 Tage. Aber seltsamerweise fühlt es sich sehr viel kürzer an.

Jeder kennt das Phänomen, dass sich der Weg ans Ziel einer Reise länger anfühlt als der Weg zurück. Nach einem Ausflug zum Berggipfel erinnern wir uns deutlicher an den Aufstieg als an die Rückkehr ins Tal. Ich glaube, das liegt daran, weil wir auf dem Hinweg mehr und anders wahrnehmen. Alles ist neu, und daher sind unsere Sinne geschärft. Wir wollen uns keine Einzelheit entgehen lassen.

Auf dem Weg zurück hinterlassen die Dinge einen schwächeren Eindruck, denn wir kennen sie bereits. Statt einer Premiere haben wir es nur noch mit einer Wiederholung zu tun, die nicht mehr unsere volle Aufmerksamkeit genießt.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Älterwerden. Allmählich lernt man, seine Erfahrungen in Schubladen einzuordnen. Hübsch beschriftete Fächer, in denen jeder Eindruck seinen Platz findet. Wir bekommen Routine im Umgang mit der Welt, was uns im Alltag zwar entlastet, doch dem Leben auch seinen Zauber nimmt. Wenn sich die verschiedenen Schubladen langsam gefüllt haben, dann dauert es nicht mehr lange, bis wir ganze Tage abhaken, als seien sie nie passiert: »Heute nichts Besonderes«. Aufstehen, Zähne putzen, zur Arbeit gehen, und abends das Gleiche im Fernsehen wie immer … Das sind die Tage »auf dem Rückweg« des Lebens. Man erlebt sie nicht mehr. Man verlebt sie bloß. Kein Wunder, wenn ein Jahr dann zu etwas Flüchtigem zusammenschrumpft, das kaum Erinnerungen hinterlässt.

Das Dahinschwinden der Zeit gibt uns das Gefühl, alt zu sein. Aber müssten wir nicht viel eher sagen: »Ich werde nie wieder so jung sein wie heute«? Und versuchen, noch einmal neugierig wie ein Kind zu sein?

Als Kind denkt man noch nicht an den Rückweg. Jeder einzelne Tag bringt etwas Neues. Die Welt ist immer anders, immer aufregend, und alles Bekannte noch unbekannt. Als Kind konnte ich stundenlang Ameisen bei ihrer Arbeit beobachten. Mein Staunen über das Ziehen der Wolken kannte kein Ende. Die Zeit lief langsam, manchmal unerträglich langsam. Wie weit schien Weihnachten noch entfernt, wenn erst ein paar Türchen des Adventskalenders geöffnet waren! Es half gar nichts, wenn mich die Mutter Mitte des Monats zu trösten versuchte: »Jetzt musst du nur noch zehn Mal schlafen, dann kommt der Weihnachtsmann!« Zehn Tage und zehn Nächte, das war eine Ewigkeit.

Und was hat sich nur die Tante beim Familientreffen gedacht? »Du bist so schnell gewachsen, das kann ich ja gar nicht glauben. Als ich dich zuletzt gesehen habe, warst du doch noch so klein!« Schnell? Es war doch ein ganzes, unendlich langes Jahr seit der letzten Begegnung vergangen!

Kinder wollen nicht warten. Eine Vertröstung auf den nächsten Tag ergibt für sie keinen Sinn. Sie kennen kein »Morgen«, nur ein »Heute«. Nur die Gegenwart zählt. Wie recht sie damit haben!

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Ein Tag in den Sommerferien

Alles, was du denkst:

Schon ist’s vorbei.

Sawaki Kodo

Ich wurde am 1. März 1968 in Berlin geboren. Damals sagte man noch West-Berlin.

1968. Prager Frühling, Emanzipation, Rock ’n’ Roll. Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und gegen den Muff von tausend Jahren. Träume von einer besseren Welt. Inmitten der Studentenunruhen schloss mein Vater die Universität ab, meine Mutter arbeitete bereits als Ärztin in einem Berliner Krankenhaus.

Noch im Herbst 1968 zogen wir zu meinen Großeltern nach Braunschweig. Meine Mutter kam aus einer Pastorenfamilie, und so wuchs ich bis zur Pensionierung meines Großvaters im Pfarrhaus auf, gleich hinter der alten, im Zweiten Weltkrieg zum Großteil zerstörten Kirche. Später sah ich Fotos, die meinen Großvater zeigten, wie er in den Ruinen der Kirche Gottesdienste unter freiem Himmel abhielt.

Er war kein gewöhnlicher Pastor. Er war nicht fromm, ehrfürchtig und konservativ. Im Gegenteil. Mein Großvater hatte sich im Lauf der Jahre bei den Kirchenoberen den Ruf eines unbequemen und, das kam noch erschwerend dazu, »roten« Geistlichen erworben. Nach dem Krieg, als fast jeder mit der Vergangenheit abschließen wollte, lud er ehemalige KZ-Häftlinge zu Vorträgen ein, und auch gegen den schnellen Wiederaufbau seiner Kirche wehrte er sich. Er wollte, dass das, was geschehen war, nicht vergessen wurde. Die Spuren der Zerstörung sollten sichtbar bleiben. Daher ist die erst 1964 in wesentlich veränderter Form wiederaufgebaute Kirche bis heute nicht nur Zweckbau, sondern auch Mahnmal. Einem der Türme fehlt die Zwiebel, die Fensterluken an der Südwand sind zugemauert, und die Nordseite wurde in Beton ausgeführt und mit Langfenstern versehen, auf denen in moderner Buntverglasung der Zug der Israeliten durch das Rote Meer zu erkennen ist.

Die Vertreter des Kirchenbauamtes zeigten sich alles andere als erfreut über diese Lösung. Aber wichtiger als die Konservierung historischer Bausubstanz war meinem Großvater, die Erinnerung an den Schrecken des Krieges wachzuhalten. Als Sozialdemokrat zog er in den Braunschweiger Stadtrat ein und engagierte sich Zeit seines Lebens in der Friedensbewegung. Besonderen Ärger bei seinen Vorgesetzten erregte jedoch der Jugendklub, der sich regelmäßig im Kirchturm traf. Dort wurde nicht nur Tischtennis gespielt, sondern auch Musik gehört und getanzt. Freitagabends war auch mein Großvater mit von der Partie, dann wurde aus dem »Herrn Pastor« der von allen nur »Boss« gerufene fröhlich Mitfeiernde. Die Partys im Jugendklub sollen so manches Paar zusammengeführt haben, das sich dann später in der Kirche das Ja-Wort gab. Oder wie mein Großvater zu sagen pflegte: »Die Einzigen, die dort kein Mädchen gefunden haben, waren meine Söhne. Meine Schuld war das aber nicht!«

Die frohe Botschaft, so wie er sie verkündete, zeigte auf die Welt, nicht auf den Himmel. Sie stammte von einem Lebenden und richtete sich auch an die Lebenden. Das Wort »Gott« hörte man aus dem Mund dieses Pastors so gut wie nie. Dafür war es ihm viel zu abstrakt. Nächstenliebe, Solidarität, Toleranz, darum kreiste sein Christentum. Nichts war ihm fremder als das Erhabene, Erbauliche oder gar Abgehobene, das so viele mit Religion verbinden. Das zeigte sich in seinem Umgang mit dem Tod erst recht. Ehrfurcht war ihm von Natur aus fremd.

Eines Tages, ich war vier oder fünf Jahre alt, bot sich mir auf dem Rückweg vom Kindergarten ein seltsames Bild. Bei Straßenarbeiten hinter der Kirche hatte man einen alten, lange schon vergessenen Friedhof entdeckt. Das Erdreich war umgepflügt und Gräber gehoben worden, nun lagen überall auf dem Bürgersteig verstreut Knochenreste. Meine Mutter nutzte ihre medizinischen Kenntnisse, um mir die Herkunft der einzelnen Relikte zu erklären. Sie zeigte mir, welcher Knochen von welchem Körperteil stammte. Ich war so begeistert, dass ich sogar einige der besser erhaltenen Überreste mit nach Hause nahm. Mein Großvater teilte meinen Enthusiasmus zwar nicht vollständig, doch er ließ mich gewähren. Gegen kindliche Neugier hatte er nie etwas einzuwenden. Der Tod, das waren ein paar alte Knochen. Schrecklich banal.

Als mein Großvater in den Ruhestand ging, legte er sich einen kleinen Garten an, den er mit alten Grabplatten, sogenannten Epitaphen, pflasterte. Einige hatte er vor der Zerstörung bewahrt, wenn Grabstellen nach Ablauf der Ruhefrist auf dem Friedhof aufgelöst worden waren, andere stammten noch aus den Ruinen, die der Krieg hinterlassen hatte. Bis in die Neuzeit hinein fanden Mitglieder des gemeinen Volkes ihre letzte Ruhe ausschließlich im anonymen Gemeinschaftsgrab. Grabplatten blieben den Reichen vorbehalten. Sie dienten denn auch weniger dem Lob des Schöpfers als vielmehr der Glorifizierung des großzügigen Stifters. Jetzt bekamen sie für uns einen ganz neuen, eher praktischen Nutzen. Meine Großmutter, ebenfalls studierte Theologin, legte beim Umgang mit allem Jenseitigen zwar größere Hemmungen an den Tag, aber auch sie betrat schließlich die ungewöhnlichen Gartensteine und dachte sich bald schon nichts mehr dabei. Wir Enkelkinder taten es ihr nach. Der Tod, das waren kaum noch entzifferbare Inschriften auf verwitterten Steinen. Nichts, wovor man Angst haben musste.

Alles änderte sich mit der Erkrankung meiner Mutter. Sie war erst sechsunddreißig, als der Krebs entdeckt wurde. Doch als man ihr die Brust operativ entfernte, war es bereits zu spät. In ihrem ganzen Körper hatten sich schon Metastasen gebildet. Sie musste ihren Beruf aufgeben. Mein Vater fand einen neuen Job in Tübingen, und die ganze Familie zog nach Süddeutschland. Dort wurde ich eingeschult.

Ich weiß noch, wie ich meine Mutter als Erstklässler mit meinen beiden jüngeren Schwestern am Krankenbett besuchte. Vor unseren Augen hob sie ihr Hemd, um uns die Schnitte zu zeigen.

Auch wenn ich mir heute sicher bin, damals keine Klagen in ihren Augen gesehen zu haben, bezweifele ich doch, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits Frieden mit dem Schicksal geschlossen hatte. Ihre Karriere als Ärztin befand sich doch gerade erst am Anfang. Sie hatte diesen Beruf gewählt, um anderen in ihrem Leiden zu helfen, und nun war sie es, die mit dem Krebs kämpfte. Hatte sie sich zu viel zugemutet? War ihr Berufsalltag zu aufreibend gewesen?

Die Mutter, an die ich mich erinnern kann, kam immer erst am späten Abend von der Arbeit zurück, erschöpft und viel zu müde, um sich noch um die Kinder kümmern zu können, die sich nach ihrer Aufmerksamkeit sehnten. Irgendwann würde sie sich selbstständig machen, dann wäre mehr Zeit für die Familie da. Irgendwann.

Meine Schwestern und ich waren noch viel zu jung, um wirklich von ihr Abschied nehmen zu können, ganz zu schweigen davon, die Endgültigkeit ihres Todes zu begreifen. Das geschah erst nach und nach. Zu viele Träume, die für immer unverwirklicht blieben. Und viel zu wenige Erinnerungen, um die Lücke, die sich aufgetan hatte, füllen zu können.

Es war ein Tag in den Sommerferien, die ich im Harz verbrachte. Auf der Wiese vor dem Ferienhaus unserer Familie rannte ich einem Ball hinterher, als mich meine Tante zu sich rief. Mutter war gestorben. Noch immer verbinde ich diesen Moment mit dem sich plötzlich so seltsam schwer anfühlenden Ball in meinen Händen. Ich wusste nichts zu denken, nichts zu sagen. Es stellten sich keine Worte ein. Sie blieben mir buchstäblich im Hals stecken.