Geschichtsphilosophie zur Einführung
Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
© 2004 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Der Turmbau zu Babel,
unbekannter flämischer Maler (17. Jh.)
Pinacoteca Nazionale, Siena
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe März 2016
ISBN 978-3-96060-008-4
Basierend auf Printausgabe:
ISBN 978-3-88506-602-6
3., ergänzte Aufl. 2015
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
In Erinnerung
an meinen Vater Paul Rohbeck,
dessen Bücher ich benutzt habe
Vorwort
Einleitung
Historische Orientierung und Begriff der Geschichte
Erstes Kapitel
Geschichtsphilosophie: Fortschritt ohne Ende?
1. Universalgeschichte und Teleologie (Turgot)
2. Fortschritt als Verfallsgeschichte (Rousseau)
3. Kritik der historischen Vernunft (Kant)
4. Vernunft in der Geschichte (Hegel)
5. Geschichte als wirklicher Lebensprozess (Marx)
Zweites Kapitel
Historismus: Wie ist historische Erkenntnis möglich?
1. Die neue Methode (Vico)
2. Logik der Geschichtswissenschaft (Droysen)
3. Hermeneutik und historisches Verstehen (Dilthey)
4. Ethik und Geschichte (Troeltsch)
5. Geschichte und Erzählung (Ricœur)
6. Literarische Formen der Geschichtsschreibung (White)
Drittes Kapitel
Kritik und Posthistoire: Ende der Geschichte?
1. Kultur und Krise (Burckhardt)
2. Kritische Historie (Nietzsche)
3. Die rettende Kraft der Erinnerung (Benjamin)
4. Kritik der Geschichtsphilosophie (Horkheimer und Adorno)
5. Geschichte anders denken (Foucault)
6. Ende der Geschichtserzählung (Lyotard)
Ausblick
Geschichtsphilosophie – Historismus – Posthistoire: Versuch einer Synthese
Anhang
Literatur
Über den Autor
Dieses Buch ist aus Vorlesungen hervorgegangen, die ich an der Technischen Universität Dresden gehalten habe. Sie waren als Einführung in die Geschichtsphilosophie konzipiert und entsprechen so auch dem Zweck dieses Buches. Die Darstellung geht von alltäglichen Geschichtsbildern aus, konzentriert sich auf die wichtigsten Autoren und Theorien von der europäischen Aufklärung bis zur Gegenwart und berücksichtigt aktuelle Problemlagen.
Doch bietet dieses Buch mehr als eine Einführung. Auswahl und Einteilung erfordern eine Systematisierung, für die sich in der Forschung kein Kanon finden lässt. Besonders auf dem Feld der Geschichtsphilosophie mangelt es an einer grundlegenden Orientierung, die hier mit geleistet werden muss. So verstehe ich diesen Text zugleich als einen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion.
Ich danke Helena Döring für Literaturrecherchen sowie Peggy H. Breitenstein und Balthasar Haussmann für die fachlich kompetente Redaktion des Manuskripts. Andreas Arndt und Gerhard Voigt verdanke ich weitere wertvolle Hinweise.
Dresden, im Juli 2004 |
Johannes Rohbeck |
Heute scheint es eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass Menschen, Völker und Kulturen oder gar die ganze Menschheit eine Geschichte haben. Geschichte ist gleichsam zur zweiten Natur geworden. Bekannt ist das Thema bereits aus der Alltagserfahrung, wenn man sich die eigene Lebensgeschichte vorstellt. Ferner ist das Fach Geschichte aus dem Schulunterricht vertraut, in dem weltgeschichtliche Ereignisse behandelt werden. Wer dieses Fach studiert, macht Geschichte zu einer wissenschaftlichen Disziplin. Unter diesen Voraussetzungen und in diesen Bezugnahmen ist Geschichte auch ein Thema der philosophischen Reflexion, d.h. der Philosophie der Geschichte oder Geschichtsphilosophie.
Zunächst werden einige alltägliche Zugänge zur Geschichte skizziert, die andeuten, über welche Vorstellungen von Geschichte die Menschen schon im praktischen Umgang verfügen. Einige dieser Geschichtsbilder werden in der Philosophie der Geschichte aufgegriffen und verallgemeinert. Sodann werden erste Begriffsbestimmungen eingeführt: Was ist Geschichte? Was ist Geschichtsphilosophie? Schließlich folgt ein Überblick über die in diesem Buch behandelten Typen von Philosophie der Geschichte.
Denkt man über das eigene Leben oder über das Leben anderer Menschen in Familie und Freundeskreis nach, so stellt sich die Geschichte eines Individuums als Kreislauf dar: Geburt, Kindheit, Jugend, Blüte, Alter, Tod. Dieses Bild vom Werden und Vergehen bildet die ›natürliche‹ Einstellung zur Geschichte. Die Verlaufsformen von Natur und Geschichte stimmen hier überein. Das Geschichtsbewusstsein gründet sich auf eine naturale Zeitauffassung, die vom organischen Wachstum geprägt wird.
Die individuelle Lebenserfahrung lässt sich auf die Geschichte der ganzen Menschheit beziehen. Auf Reisen betrachten wir etwa die Ruinen aus früheren historischen Epochen; wir erleben die verfallenen Bauwerke als Zeugnisse vergangener Kulturen und damit als Symbole des Aufstiegs und Untergangs in der Geschichte. In der Tat haben viele Philosophen das Modell des Lebenszyklus auf die Geschichte im Ganzen übertragen: Auch die Geschichte von Staaten, Nationen und Kulturen folgt dem Verlauf von Blüte und Verfall. (Schlobach, 191 ff.; Blumenberg, 180 ff.) Damit stellt sich die bange Frage, an welchem Punkt sich die eigene Kultur gerade befindet. Geht es in Zukunft weiter aufwärts oder sind wir schon in der Phase des Abstiegs?
Ein ebenso ›natürliches‹ Bild von der Geschichte ist die Zeitachse mit fortlaufenden Jahreszahlen, auf der die historischen Ereignisse eingetragen werden. Diese Darstellung der Geschichte nennen wir Chronologie, weil in ihr die kosmische Zeit das einzige Ordnungsschema liefert. Viele populäre Geschichtsbücher tragen den Titel »Chronik«, wie z.B. »Chronik des 20. Jahrhunderts«, »Chronik des Mauerfalls« oder »Chronik der Fußball-Weltmeisterschaft«. Damit soll offenbar das ›naive‹ Geschichtsbewusstsein der Menschen angesprochen werden.
Mit der linearen Zeitachse verbindet sich die Idee des Fortschritts, die in unserer modernen Lebenswelt, vor allem in den Bereichen Wissenschaft und Technik, eine Rolle spielt. Ingenieure sprechen ständig von ›Fortschritten‹, weil sie auf ihren speziellen Gebieten dafür ziemlich eindeutige Parameter vorweisen können. Exemplarisch ist die Erfolgslinie der Mikroelektronik: sprunghaft steigende Speicherkapazität und Rechengeschwindigkeit wie umgekehrt rapide sinkende Preise als Indikatoren für wachsende Produktivität. Derartige Verlaufskurven begründen die Zeiterfahrung eines beschleunigten Wandels, dem das Geschichtsbild eines aufsteigenden Pfeils entspricht. Diese Metapher orientiert sich nicht mehr am zyklischen Wachstum oder an der gleichförmigen kosmischen Zeit, sondern an den von den Menschen erzeugten Kulturgütern.
Kombiniert man die Geschichtsbilder Zyklus und Pfeil, ergibt sich das Modell der Spirale als zyklische Aufwärtsbewegung. Das Umschlagbild des vorliegenden Buches zeigt dieses Symbol des Fortschritts, dargestellt im »Turmbau zu Babel« eines unbekannten flämischen Malers des 17. Jahrhunderts. Der Titel bezieht sich auf die biblische Geschichte, in der Gott die Erbauung einer bis zum Himmel ragenden Stadt mit der Zerstreuung der menschlichen Sprache bestraft. (Genesis 11, 1-9) So wird der Turm zum Sinnbild von Kulturleistung und Überheblichkeit zugleich.
Heute bereitet uns die Fortschrittsidee zunehmende Schwierigkeiten. Die Katastrophen des letzten Jahrhunderts, die sich eher verschärfende soziale Ungleichheit und die alles bedrohenden ökologischen Krisen haben den Glauben an den Fortschritt erschüttert. Die Schere zwischen der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung einerseits und den Auswirkungen für die Menschen andererseits ist unübersehbar geworden. Selbst wenn man die gegenwärtig kursierenden Untergangsvisionen nicht teilt, lässt sich fragen, ob die Idee des Fortschritts noch ihre Berechtigung hat.
Diese Idee ist nicht zuletzt durch die Erfahrung mit anderen Kulturen problematisch geworden. Besucht man so genannte Entwicklungsländer, kann man nicht nur fremde Kulturen beobachten, sondern hat auch den Eindruck, in frühere und längst vergangene Kulturstufen versetzt zu werden. Aus der Perspektive des Fortschritts heißt es dann: Die Zeit scheint hier ›stehen geblieben‹ zu sein. Geht man von einem Stufenschema der technischen Zivilisation aus, befinden sich diese Kulturen auf einem niedrigeren Niveau. Man nennt dieses Phänomen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (Koselleck 1979, 132, 325), was so viel besagen soll: An einem anderen Ort findet sich gegenwärtig eine kulturelle Praxis, die in unseren Breitengraden zeitlich früher üblich war.
Die Erfahrung des ›Ungleichzeitigen‹ hat sich im Zuge der Globalisierung noch verstärkt. Das liegt nicht nur daran, dass die Menschen immer häufiger in ferne Länder reisen. Umgekehrt ist das Ungleichzeitige auch zu uns gekommen, mittels der modernen Kommunikationstechniken wie Fernsehen und Internet sozusagen in die eigene Wohnstube. In großen Städten leben Menschen unterschiedlicher Kulturen und damit auch verschiedener Zeitschichten zusammen. Lebensgewohnheiten, die aus aufeinander folgenden Epochen stammen, werden gleichzeitig praktiziert.
Auch der Raum hat eine geschichtliche Struktur, indem geographische Orte an historische Zeiten erinnern. Paläste zeugen von der politischen Macht früherer Jahrhunderte, Häfen und Bahnhöfe von alten Verkehrswegen, Marktplätze von vergangenen Handelszentren. Mit den Namen von Städten und Ländern verbinden wir bestimmte Ereignisse; in der nächsten Umgebung schreiben Straßennamen Geschichte. Die historische Bedeutung ist besonders einprägsam, wenn die Ortsnamen in kurzer Zeit wechseln: 1953 wurde Chemnitz auf Beschluss der DDR-Regierung in Karl-Marx-Stadt umbenannt und 1990 nach einer Volksabstimmung wieder in Chemnitz. Diese Beispiele verdeutlichen, wie Geschichte im Raum erfahren wird.
In den alltäglichen Geschichtsbildern ist erkennbar geworden, dass die Vorstellungen von Geschichte sehr unterschiedlich sein können. Daraus folgt: Die Geschichte ist kein bloßes Faktum, das man in der Geschichtswissenschaft oder Philosophie nur abzubilden bräuchte. Vielmehr ist dasjenige, was wir Geschichte nennen, eine Frage der Interpretation. Standpunkt und Perspektive bestimmen, wie wir historische Ereignisse beschreiben und beurteilen oder was wir überhaupt unter Geschichte verstehen.
Radikalisiert man diesen Gedanken, entsteht Geschichte erst durch die Art und Weise, in der die Menschen von den vergangenen Ereignissen wissen. Dieses Wissen hängt wiederum davon ab, über welche Zeugnisse der Vergangenheit sie verfügen, wie sie sich an die Überlieferungen erinnern und was sie davon auch wieder vergessen. Ein solches Gedächtnis darf man sich nicht als neutralen Speicher vorstellen, weil die Erinnerung immer auch von Interessen, Emotionen und Wertvorstellungen geprägt wird. Das historische Bewusstsein wählt daher bestimmte Ereignisse aus, es deutet und wertet sie. Selbstverständlich wird die Geschichte nicht frei erfunden, schließlich müssen historische Quellen berücksichtigt werden. Aber was aus Geschehnissen erst Geschichte macht, ist die Konstruktion der rückblickenden Betrachter.
Außerdem hat sich gezeigt, wie das Bild der Geschichte nicht nur von der Erfahrung mit der Vergangenheit, sondern auch von den Erwartungen an die Zukunft abhängt. (Koselleck 1979, 349 ff.) Die Menschen vergewissern sich ihrer gegenwärtigen Situation, indem sie sich auf den vergangenen Geschichtsverlauf besinnen, um daraus den künftigen Verlauf erahnen zu können, wie sie umgekehrt ihre Zukunftserwartungen in die Vergangenheit projizieren. Der wechselseitige und spannungsvolle Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive ist also für das Geschichtsbewusstsein konstitutiv. (Rüsen 1994, 7, 215 f.)
Auf diese Weise kann die Geschichtsbetrachtung dazu beitragen, Identität zu stiften; das gilt für einzelne Individuen wie für soziale Gruppen. Mit Hilfe von Tagebüchern, Lebensläufen und Erzählungen vergewissern wir uns der eigenen und fremden Identität. Wer jemandem mitteilen möchte, wer er ist, erzählt seine Lebensgeschichte. Dieses Verfahren lässt sich auf gesellschaftliche Institutionen, nationale Kulturen und Staaten anwenden. Schulen und Firmen pflegen ihre Geschichtsschreibung, wenn sie etwas auf sich halten; Staaten haben ihre nationalen Gedenktage und Feiern. Denkmäler symbolisieren geschichtliche Ereignisse und nationale Identität. Dadurch dokumentieren die Menschen ihr Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Tradition und Gemeinschaft. (Angehrn, 183) Dabei geht es auch um Macht – um die Deutungsmacht, Geschichte darzustellen und damit über das Geschichtsbewusstsein der Menschen zu verfügen.
Doch erschöpft sich Geschichtsbewusstsein nicht in der Identitätsbildung. Die Vergegenwärtigung des Vergangenen dient auch der Orientierung in der Lebenspraxis. Der praktische Umgang mit den Zeugnissen der Vergangenheit ist unsere Geschichtskultur, die wiederum Bestandteil unserer sozialen und politischen Kultur ist. (Rüsen 1994, 211 ff., 219) Nicht zuletzt ist daher die Aneignung von Geschichte mit politischer Praxis verbunden.
Wie die bisherige Redeweise demonstriert, hat das Wort Geschichte eine doppelte Bedeutung. Es bezeichnet sowohl die Darstellung der Geschichte in der Historiographie als auch den Sachverhalt Geschichte als zeitlich aufeinander folgende Ereignisse. Darin liegt eine Eigenart des modernen Geschichtsbegriffs, auf die schon Hegel aufmerksam gemacht hat (Werke 12, 83).
Einerseits bedeutet Geschichte also Darstellung, so wie man eben eine Geschichte oder Geschichten erzählt. Man erzählt beispielsweise die Geschichte einer Reise, eines Lebens, einer Institution oder einer Nation. In diesem Sinn tragen Bücher Titel wie »Geschichte der Französischen Revolution«, »Geschichte Europas« oder »Geschichte der Technik«. Dem entspricht das alte, aus dem Griechischen und Lateinischen stammende Wort Historie (historia), mit dem das über ein Gebiet versammelte Wissen gemeint ist.
Die erwähnte Chronik, die sich lediglich an der Zeitenfolge orientiert, ist eine elementare Form der Darstellung. Davon hebt sich die eigentliche Erzählung ab, in welcher der historische Inhalt die Komposition der Geschichtsschreibung bestimmt. Das gilt z.B. für die Fortschrittsgeschichte, die sich am Rhythmus der technischen Erfindungen, wissenschaftlichen Entdeckungen und sozialen Errungenschaften orientiert. Eine solche Erzählung hat ihr eigenes moralisches und politisches Ziel, wenn etwa die Geschichte als Prozess der Zivilisation beschrieben wird. Eine Erzählung liegt auch dann vor, wenn die Geschichte weniger optimistisch oder gar als Verfallsprozess gedeutet wird. In jedem Fall verleiht die Erzählung der Geschichte eine gewisse Kontinuität sowie eine geschlossene und sinngebende Form.
Andererseits verweist das Wort Geschichte auf den Sachverhalt, d.h. auf den Zusammenhang von Ereignissen, die in der Vergangenheit tatsächlich geschehen sind. Ein Titel wie »Geschichte Europas« bezieht sich dann auf den Gegenstand Europäische Geschichte. So kann man auch sagen: Menschen und ganze Völker haben ihre je eigene Geschichte. Damit ist der historische Prozess gemeint, der zum Objekt einer Darstellung wird.
Auf dieser sachbezogenen Ebene kann man entweder von einem realen Geschehen sprechen, das wie ein Schicksal oder als Widerfahrnis empfunden wird. Oder aber man versteht die Geschichte als Resultat menschlicher Taten. (Meran, 28 ff.) Vor allem die Vertreter der Aufklärung sind der Überzeugung, dass die Geschichte von den Menschen ›gemacht‹ wird. Auch wenn bald Einschränkungen nötig werden, setzt sich die grundlegende Einsicht durch, dass allein die Menschen für die historischen Wirkungen ihrer Handlungen verantwortlich sind. Sofern der Zusammenhang dieser Handlungen als eine kontinuierliche Entwicklung gedeutet wird, begreift man die Geschichte im Singular; genauer: nicht als eine einzelne Geschichte, sondern als Gesamtheit von Einzelgeschichten. Seit dem 18. Jahrhundert wird aus den pluralen Geschichten der Kollektivsingular Geschichte (Koselleck 1975b); nun lautet das Thema die Geschichte.
Der moderne Geschichtsbegriff umfasst also Darstellung und Gegenstand. Terminologisch kann man hier zwischen Geschichte und Historie unterscheiden. Zum einen bedeutet Geschichte das Geschehen, das die Römer die res gestae (Geschehnisse) nannten; Geschichte ist hier geschehene Geschichte, wie auch der etymologische Befund verdeutlicht. Zum andern bedeutet Historie Bericht oder Erzählung, was im Lateinischen rerum gestarum memoria (Erinnerung an die Geschehnisse) heißt; Geschichte ist erinnerte oder erzählte Geschichte. Wiederum im 18. Jahrhundert werden diese beiden Bedeutungen im modernen Begriff der Geschichte verschmolzen.
Doch die ontologische Differenz zwischen Ereignis und Erzählung ist unverzichtbar für eine kritische Geschichtsbetrachtung. Die Darstellung darf mit dem Gegenstand nicht identifiziert werden, damit sie sich nicht dogmatisch auf Fakten beruft. Umgekehrt besteht die Gefahr, dass die Darstellung vom Gegenstand völlig losgelöst wird und den Bezug zu realen Ereignissen verliert. Dagegen ist einzuwenden, dass bestimmte Fakten der Geschichte unbestreitbar bleiben.
Auch die Philosophie der Geschichte bezieht sich auf diese beiden Seiten, den Gegenstand und die Darstellung. Während Historiker empirische Forschungen betreiben und den ›faktischen‹ Verlauf von Ereignissen beschreiben, stellen sich Philosophen die Aufgabe, die Grundlagen und Voraussetzungen historischer Erkenntnis zu reflektieren. Dabei geht es um materiale und formale Aspekte der Geschichte.
In materialer Hinsicht denkt die Geschichtsphilosophie über den Inhalt, die Verlaufsform und den Sinn der Geschichte nach. Sie stellt Fragen wie: Hat die Geschichte ein Ziel? Gibt es einen Fortschritt in der Geschichte? Oder hat uns die wissenschaftlich-technische Evolution überwiegend Rückschritte und Verluste gebracht? Wer ist eigentlich das Subjekt der Geschichte? Lässt sich ein ›Sinn‹ in der Geschichte erkennen? Oder besteht der Sinn der Geschichte lediglich in deren Sinnlosigkeit? Wie lassen sich historische Ereignisse ethisch beurteilen?
In formaler Hinsicht untersucht die Geschichtsphilosophie die Methoden der Geschichtswissenschaft, also die Forschungs- und Darstellungsverfahren von Historikern. In diesem Sinn wird die Philosophie der Geschichte zur speziellen Methodologie oder Wissenschaftstheorie. Auf diesem Feld stellt sie folgende Fragen: Wie ist historische Erkenntnis möglich? Besteht diese Erkenntnis im ›Erklären‹ oder nicht vielmehr im ›Verstehen‹ von Ereignissen? Welche Struktur haben historische Erzählungen? Lassen sich in der Geschichte gar Gesetzmäßigkeiten erkennen? Oder handelt es sich um ein einziges Chaos, das keinerlei Systematisierung zulässt? Gibt es überhaupt ›die Geschichte‹, oder handelt es sich nur um eine gedankliche Konstruktion?
In der Geschichte historischen Denkens gibt es eine Tendenz, die materialen Aspekte immer mehr zurückzudrängen. Man traut sich nicht mehr zu, die ›großen‹ Fragen nach Ziel und Verlauf der Geschichte im Ganzen zu stellen. Solche Spekulationen gelten als unseriös, weil sie durch die empirischen Forschungen der Geschichtswissenschaft nicht überprüft werden können. Außerdem setzt sich eine derart universale Betrachtung dem Verdacht eines totalitären Standpunktes aus. Aus diesen Gründen hat sich die Geschichtsphilosophie zunehmend auf Methodenprobleme zurückgezogen. Heute interessieren in erster Linie Repräsentationsformen des Geschichtlichen.
Diese Entwicklung hat zu einer Krise der Geschichtsphilosophie geführt, die bis in die Gegenwart andauert und diese Disziplin an den Rand des philosophischen Kanons drängt. Doch lassen sich in jüngster Zeit Anzeichen für ein wieder erwachendes Interesse an geschichtsphilosophischen Themen beobachten, wie einschlägige Veröffentlichungen der letzten Jahre belegen (siehe Literaturliste). Auch ich beabsichtige mit diesem Bändchen, zur Aktualisierung der Geschichtsphilosophie beizutragen. Dabei versuche ich, formale und materiale Aspekte miteinander zu verbinden. Auch wenn eine Gesamtdeutung der Geschichte problematisch geworden ist, bleibt doch die Aufgabe einer philosophischen Orientierung im Bereich des Geschichtlichen bestehen.
Weil zur Beantwortung dieser Fragen bestimmte Normen und Werte vorausgesetzt werden, steht die Geschichtsphilosophie im Kontext der praktischen Philosophie. Ihr Thema ist die Geschichte als sich in der Zeit verändernder Handlungszusammenhang von Individuen unter politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen. Daraus resultiert die Verbindung zur Handlungstheorie, Ethik, politischen Philosophie und Kulturphilosophie. Geschichtsphilosophie versteht sich so als ein interdisziplinäres Projekt.
Dabei sollte man die Geschichtsphilosophie selbst nicht ungeschichtlich betrachten. Denn das Geschichtsverständnis hat sich im Laufe der Zeit fortwährend geändert. Indem die Theorie der Geschichte einem historischen Wandel unterworfen ist, wird sie von ihrem eigenen Gegenstand erfasst. Wir sollten uns daher darüber im Klaren sein, dass der moderne Geschichtsbegriff das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses ist. Dieser Selbstbezug gilt nicht zuletzt für die Geschichtsphilosophie.
Betrachtet man die Geschichte der Geschichtsphilosophie, ist zwischen einer allgemeinen Disziplin, in der heute noch geforscht und gelehrt wird, und einem historischen Denktyp, der von der europäischen Aufklärung bis Hegel dauerte, zu unterscheiden. Auf diese besondere Epoche der Geschichtsphilosophie folgen dann die Typen Historismus und Posthistoire. Will man diese Unterscheidung begrifflich kenntlich machen, so lässt sich von einer Geschichtsphilosophie im engen und einer Philosophie der Geschichte im weiten Sinn sprechen; letztere gilt dann als übergreifende oder auch spätere Reflexion auf das historische Bewusstsein. Paradox formuliert handelt es sich um die Philosophie der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie (Baumgartner).
Während andere philosophische Disziplinen wie Metaphysik, Ethik oder Politik bereits in der Antike entstanden sind, bildete sich die Geschichtsphilosophie erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts heraus. Gewiss haben sich schon frühere Philosophen Gedanken über Geschichte gemacht. Doch weil eine systematische Geschichtstheorie fehlte, wird das historische Denken der Antike, des Mittelalters und der Renaissance in diesem Buch nicht behandelt. Seit der Aufklärung, in welcher auch der moderne Begriff der Geschichte und des Fortschritts geprägt wurde, kann überhaupt von Geschichtsphilosophie gesprochen werden. Sie erlebte ihre Blüte im deutschen Idealismus bei Hegel und endete bereits in den materialistischen Umdeutungen durch Marx.
Später wurden die geschichtsphilosophischen Ideen der Weltgeschichte und des Fortschritts wie überhaupt die moderne Zivilisation einer Kritik unterzogen. Der inhaltlichen Skepsis entsprach ein Rückzug auf die Theorie historischen Wissens und einer spezifischen Methode. Dahinter stand die Institutionalisierung und Professionalisierung der Geschichtswissenschaften, die sich seitdem von der Philosophie der Geschichte ablösten. In methodologischer Anlehnung an Kant untersuchten Droysen und Dilthey vor allem die Bedingungen wahrer historischer Erkenntnis. So ist im 19. Jahrhundert die Geschichtsphilosophie durch den Historismus abgelöst worden.
In der These vom ›Ende der Geschichte‹ oder Posthistoire verbinden sich die inhaltliche und die methodische Kritik am geschichtsphilosophischen Denken. Nietzsche kritisiert den Historismus, dessen historische Bildung keine Orientierung mehr zu geben vermag; für Foucault wird Geschichte zur bloßen Ideologie der Macht. Angesichts von Hiroshima und Auschwitz deuten Horkheimer und Adorno den Fortschritt als Verfallsprozess um und begründen damit eine ›negative‹ Geschichtsteleologie. Im Zuge alltäglicher Erfahrungen mit der modernen Zivilisation konstatieren andere Philosophen wie Lyotard ein »Ende der großen Geschichtserzählung«. Die Geschichte ist angeblich am ›Ende‹, weil der technische Fortschritt für die Menschen keinen ›Sinn‹ mehr zu stiften vermag.
Damit haben sich drei Typen historischen Denkens herauskristallisiert: Geschichtsphilosophie, Historismus und Posthistoire. Diese Typen werden den Leitfaden der folgenden Ausführungen bilden. Da es hier nicht möglich und auch nicht wünschenswert ist, eine vollständige Darstellung der Geschichte der Philosophie der Geschichte zu bieten, werde ich mich auf eine historisch-systematische Typologie der genannten Großorientierungen konzentrieren.
Das hat auch Konsequenzen für den Aufbau des vorliegenden Buches. Im Großen und Ganzen folgen die genannten Typen auch zeitlich aufeinander: Die Geschichtsphilosophie dominiert vom 18. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert, der Historismus ist vor allem ein Phänomen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die radikale Kritik an der Geschichtsphilosophie und das Posthistoire gehören zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aus systematischen Gründen werden zeitliche Überschneidungen integriert. Zur Veranschaulichung dient das Schema auf der folgenden Seite.
Die heuristische Funktion dieses Schemas wird sich hoffentlich erweisen. Die großflächige Einteilung erlaubt einen ersten Überblick über die verschiedenen Grundtypen geschichtsphilosophischen Denkens. Umgekehrt führen die fortlaufenden Spiegelungen zwischen diesen Typen zu überraschenden Differenzierungen, wie vor allem der kritische Rückblick des Posthistoire auf Geschichtsphilosophie und Historismus verdeutlichen wird.
Im Schlusskapitel sollen dann vor allem die Gemeinsamkeiten im Vordergrund stehen. Das Ziel dieser Darstellung besteht im Versuch einer rettenden Kritik der ursprünglichen Geschichtsphilosophie unter Einschluss der anderen Richtungen. Da ich also nach einer Verbindung zwischen den genannten Großorientierungen suche, lautet die abschließende Frage: Wie ist Geschichtsphilosophie heute möglich? So ist die Überschrift des »Ausblicks« zu verstehen: Geschichtsphilosophie, Historismus, Posthistoire – Versuch einer Synthese. Diese Synthese sehe ich in einer kritischen Geschichtsphilosophie.
Der erste Typ philosophischen Nachdenkens über die Geschichte ist die Geschichtsphilosophie im engen Sinn, also die historische Denkrichtung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Trotz der Unterschiede zwischen den einzelnen Positionen halte ich es für sachlich gerechtfertigt und einer Grundorientierung dienlich, einen solchen gemeinsamen Typus mit folgenden Merkmalen vorzustellen.
Die Geschichte wird von der Chronologie abgekoppelt und verweltlicht; aus der mittelalterlichen Heilsgeschichte wird eine von den Menschen ›gemachte‹ Geschichte. Ihr wird eine lineare und aufsteigende Verlaufsform zugeschrieben mit der Tendenz zum ›Fortschritt‹. Damit erhält die Geschichte eine Einheitlichkeit, die sich sprachlich im Kollektivsingular niederschlägt.