Richard Rorty zur Einführung
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Covergestaltung: Florian Zietz
Titelfoto: Gunter Glücklich
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe März 2016
ISBN 978-3-96060-018-3
Basierend auf Printausgabe:
ISBN 978-3-88506-623-1
2. Aufl. 2013
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
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1. Einleitung
2. Die linguistische Wende
3. Kritik der Philosophie
3.1 Der Spiegel der Natur
3.2 Die Erfindung des Geistes: Die so genannte Bewusstseinsphilosophie
3.3 Gegen die Idee einer Erkenntnistheorie
3.4 Privilegierte Vorstellungen
3.5 Das Gegenkonzept: Hermeneutik als Philosophie ohne Spiegel
4. Philosophie als Schreibweise: Jacques Derrida
5. Rorty über die Postmoderne
6. Die dreifache Kontingenzerfahrung als Grundlage von Rortys politischer Philosophie: Sprache, Selbst, Gemeinschaft
7. Private Ironie und öffentliche Solidarität
8. Nabokov und Orwell über Grausamkeit und Solidarität
9. Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie
10. Richard Rorty und die Philosophie in Amerika heute
Anhang
Anmerkungen
Siglen
Literatur
Zeittafel
Über den Autor
»Stellen Sie sich vor, daß Sie in ein paar Jahren Ihr Exemplar der New York Times aufschlagen und lesen, die Philosophen hätten auf ihrer diesjährigen Hauptversammlung einstimmig beschlossen, Werte seien objektiv, die Wahrheit eine Sache der Übereinstimmung mit der Realität und so weiter. Neuere Durchbrüche in der Semantik und Metaethik, so fährt der Bericht fort, hätten die letzten übriggebliebenen Nichtkognitivisten in der Ethik zum feierlichen Widerruf veranlaßt. […] Um die intellektuelle Konfusion, die die philosophische Profession in den letzten Jahren verursacht hatte, richtigzustellen, haben die Philosophen eine kurze, klare Liste von Standards der Rationalität und Aktualität angenommen. Nächstes Jahr soll der Versammlung ein Bericht des Komitees vorgelegt werden, das mit der Formulierung eines Standards für den ästhetischen Geschmack beauftragt ist.
Gewiß würde die öffentliche Reaktion hierauf nicht ein ›Gerettet!‹ sein, sondern vielmehr: Für wen zum Teufel halten die Philosophen sich? Daß genau dies unsere Reaktion sein würde, ist eines der besten Dinge, die man über das intellektuelle Leben sagen kann, das wir westlichen Liberalen führen.«
Richard Rorty
Richard Rortys elegante und witzige Schreibweise kann leicht darüber hinwegtäuschen, dass er alles andere als ein Philosoph für Anfänger ist. Er ist ein Denker der Dekonstruktion und vor allem ein Ironiker, der gern provoziert und mit den Missverständnissen spielt, es geradezu auf sie anlegt, und der denjenigen in Rage versetzen kann, der vergeblich einen Zugang zu finden versucht. Um seine Texte wirklich ausschöpfen zu können, ist es zweifellos nützlich, mit dem, was er dekonstruiert – der klassischen Erkenntnistheorie seit Descartes sowie der Tradition der analytischen Philosophie seit Russell und Carnap – ein wenig vertraut zu sein. Rorty entwickelt keine eigenen systematischen Rationalitätskonzepte wie etwa Jürgen Habermas, sondern versteht seinen Diskurs als »parasitär« gegenüber dem Sprechen seiner Vorgänger. Er gehört zu jenen Autoren, deren tiefer gehende Gedanken man bei der ersten Lektüre leicht überliest, weil der Text ebenso klar wie einfach widerlegbar erscheint. Scheinbar leichthin werden in einer bilderreichen Sprache Denkergebnisse präsentiert, hinter denen sich außerordentlich komplexe Reflexionsprozesse und einige der grundlegendsten Probleme der Philosophiegeschichte verbergen. Eine immer wieder belustigende Erfahrung mit Rorty ist, dass manche eher metaphysikgläubige Studenten der ersten Semester (auch solche gibt es gelegentlich) meinen, ihn mühelos in seine Schranken weisen zu können, während sie meist noch nicht einmal seine Fragestellungen erfasst haben. Nietzsche, der ähnlich leicht formulieren konnte, hat das durch sein Pathos der Distanz, durch seinen prophetischen Gestus und seine theatralische Selbstinszenierung kompensiert. Bei Rorty fehlt all das, man muss sich an die Gedanken und an seine literarischen Verweise selbst halten. Die allerdings haben es, wie man spätestens bei der zweiten Lektüre merkt, in sich. Einen Leser mit ausgeprägtem und wachem ästhetischen Wahrnehmungsvermögen setzen vor allem seine Arbeiten seit 1982 voraus, seit er sich nämlich von der fachphilosophischen Schreibweise verabschiedet hat.
Die Faszination, die von diesem Denken ausgeht, ist die eines neohermeneutischen Philosophierens, das befreit ist von der konservativen Tendenz und der Traditionslastigkeit der deutschen Hermeneutik. Man würde Rorty unterschätzen, würde man ihn nur als den »amerikanischen Gadamer« ansehen. Wie Jürgen Habermas gehört er in die Welt des nachmetaphysischen Denkens. Anders als jener ist er aber nicht den Weg von der Soziologie zur Philosophie gegangen, sondern hat 1982 seinen Philosophie-Lehrstuhl in Princeton aufgegeben, um Professor of Humanities an der Universität von Virginia in Charlottesville zu werden. Seit 1998 ist er dort emeritiert und daneben Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eliteuniversität Stanford geworden.1 Der Wechsel von der Philosophie in die Literaturwissenschaft war ein ungewöhnlicher Schritt, über den viel geredet wurde. Rorty zog damit die Konsequenz aus seiner Grundsatzkritik der Philosophie der letzten drei Jahrhunderte, die er in seinem Hauptwerk Der Spiegel der Natur (1979) vorgelegt hatte, und aus seiner Kritik an der amerikanischen Universitätsphilosophie, den Consequences of Pragmatism (1982).
Die philosophiekritische Tonlage, die Rortys Schriften bestimmt, hat natürlich auch auf diesen Einführungsband abgefärbt. Dafür bitte ich um Nachsicht. Rorty (wie auch der Autor des vorliegenden Buches) betrachtet die sprachanalytische Philosophie als eine wesentliche Errungenschaft der Theorieentwicklung. Wo sie kritisiert oder über sie gespottet wird, richtet sich das immer gegen gewisse scholastische Auswüchse und Dogmatisierungen, nicht aber gegen die Grundgedanken selbst. Rorty warnt in seinen Interviews immer wieder vor dem Missverständnis, sein Spiegel der Natur sei eine Abrechnung mit der analytischen Philosophie. Das wäre eine Fehleinschätzung. Denn tatsächlich greift er ja auf deren höchstentwickeltes Vokabular zurück, wenn er seine Grundsatzkritik der Erkenntnistheorie artikuliert.
Rortys frühere Arbeiten, die ihm immerhin den Glanz einer Princeton-Professur eingebracht hatten, beschäftigten sich noch in eher konventioneller Weise mit den damals aktuellen Themen der angelsächsischen Diskussion: dem Geist/Körper-Problem, mit transzendentalen Argumenten oder den Fragen von Realismus und Materialismus. Nach dem entscheidenden Wendepunkt von Der Spiegel der Natur hat sich sein Schreiben immer mehr in die Richtung der literarischen Kultur entwickelt und sich stärker Themen der Sozialphilosophie und der politischen Philosophie geöffnet. Er sucht einen Weg, der weniger universalistisch ist als der von Habermas, aber »solidarischer« und »sozialdemokratischer« (eine der liebsten Selbstcharakterisierungen Richard Rortys und seiner Freunde in der amerikanischen Linken) als der von Foucault. Anders als für Jacques Derrida, der z.B. in Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits (1980) selbst eine literarische Sprache erprobt, ist für Rorty die literaturkritische Konversation über Texte z.B. von George Orwell, Vladimir Nabokov und anderen charakteristisch.
Seine Sprache enthält stark überredende, persuasive Elemente. Weil er an Letztbegründungen nicht glaubt, versucht er uns durch rhetorische Mittel seine Ansichten nahe zu bringen. Um seine Leser zu frappieren, setzt er gern das Mittel des Stilbruchs und des Wechsels der Stilebenen ein. So beschuldigt er die herkömmliche Philosophiegeschichtsschreibung, die Leibniz, Frege und Carnap in eine Reihe mit Nietzsche, Gadamer, Dewey und Derrida stellt, der »Wahlschieberei« (gerrymandering). Er genießt offenbar die Rolle eines frechen streetkid des akademischen Diskurses, wenn er z.B. über Heidegger bemerkt, »daß das Wort ›Sein‹ mehr Trouble macht, als es wert ist. Ich wäre glücklich, wenn Heidegger es niemals verwendet hätte.«2 Eine solche Passage ist gewiss nicht als Heidegger-Kritik zu lesen, sondern als Selbstironisierung von Rortys No-problem-Rhetorik, die die Kunstfragen des Faches auf ihr pragmatisches Maß reduziert. Man kann sich meist sicher sein, dass auf derartige Bemerkungen dann recht ausgefeilte Argumentationen folgen. Übersetzer neigen leider oft dazu, solche Eigentümlichkeiten stilistisch zu glätten, Schärfen abzumildern und die kleinen aus der Alltagssprache stammenden Sprachfrechheiten Rortys zum Verschwinden zu bringen. Sie übersehen, dass ein Konzept dahinter steht: die Nähe zum literarischen Sprechen und die Ferne zu den blutig ernsten Kämpfen der deutschen Theoretiker.
Im Jahre 1967 hat Rorty den Band The Linguistic Turn herausgegeben, durch den seitdem amerikanische Philosophiestudenten mit Autoren wie Carnap, Ryle, Passmore, Strawson und anderen bekannt gemacht werden. Rorty gilt gar als derjenige, der den Begriff »linguistische Wende« aufgebracht hat. Das ist aber nicht richtig. Er selbst weist ihn als eine ältere Prägung von Gustav Bergmann aus.3
Rortys fulminante Einleitung zu diesem Sammelband machte ihn unter Insidern schnell zu einer Berühmtheit. Schon diese Einleitung ließ einen deutlichen kritischen Abstand und eine bemerkenswerte Abgeklärtheit erkennen. Die Geschichte der Philosophie besteht nach dieser Darstellung aus Revolten gegen die Praktiken früherer Philosophen, die ihr Heil meist darin suchten, eine neue Methode zu entwickeln. Jede dieser Revolten ist bisher gescheitert – und alle aus dem gleichen Grund: Alle hatten, auch wenn sie versuchten, »voraussetzungslos« neu anzufangen, doch immer die Wahrheit einiger substantieller, aber kontroverser philosophischer Thesen voraussetzen müssen (LT 1). Fast könnte man Philosophie als die Disziplin definieren, in der Wissen gesucht wird, aber nur Meinung erreicht werden kann (LT 2). Das wäre allerdings ungerecht, weil Philosophie als eine Art von Entwicklungsprozess zu verstehen ist, in dem sich all das immer wieder erst neu herausstellt. Die Aufdeckung der versteckten Voraussetzungen bei denjenigen, die von sich glauben, sie hätten keine, ist eines der Hauptmittel, durch die die Philosophen neue Gegenstände für ihre Debatte finden. Diese Suche muss sich selbstverständlich auch gegen die sprachanalytische Philosophie richten. Rorty definiert sie als die Ansicht, philosophische Probleme könnten gelöst (oder aufgelöst) werden, indem man entweder die Sprache reformiert oder indem man sich um ein besseres Verständnis der Sprache bemüht, die wir gegenwärtig besitzen. Diese Ansicht wird von vielen ihrer Anhänger als die wichtigste philosophische Entdeckung unserer Zeit angesehen.
Aus diesem doppelten Ansatz sind zwei sprachanalytische Schulen entstanden: der Versuch, eine Idealsprache zu konstruieren, und die »ordinary language philosophy«, die vor allem in Oxford beheimatete Philosophie der Alltagssprache. Der Grundgedanke der zweiten Richtung geht zurück auf die Parole des späten Wittgenstein: »Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.«4 Damit war die Überzeugung verbunden, die Philosophen würden ihre seltsamen Probleme mit dem »Sein«, dem »Wissen«, dem »Wesen« usw. gar nicht mehr haben, wenn sie die Wörter so benutzen, wie der normale Mensch es tut (LT 12). Oder, als Paradoxie formuliert: »Der einzige Unterschied zwischen der Philosophie der idealen Sprache und der Philosophie der Alltagssprache ist eine Meinungsverschiedenheit darüber, welche Sprache ideal ist.« (LT 12) Beide Richtungen wenden unterschiedliche Mittel an, um zu sehr verwandten Resultaten zu kommen.
Die Versuche der Sprachphilosophen, die Philosophie in eine »strenge Wissenschaft« zu verwandeln, sind durchweg gescheitert. Es gibt keine überzeugende Rechtfertigung dafür, entweder die Alltagssprache oder irgendeine Idealsprache zum verbindlichen Maßstab zu deklarieren. Deshalb kann man auch den philosophischen Gebrauch bestimmter Wörter nicht als »Missbrauch« attackieren, es sei denn in einem trivialen und irreführenden Sinn von »Missbrauch«, der nichts anderes bedeuten würde als »philosophischer Gebrauch« (LT 24). Wenn also der Weg zur strengen Wissenschaft nicht offen ist, bleibt der Philosophie bloß die kritische Funktion. Welche Zukunft kann sie dann noch haben? Ist eine »post-philosophische Kultur« wirklich vorstellbar (LT 34)? Schon in diesem frühen Text taucht die »postistische« Frage nach dem möglichen Ende der Philosophie auf, die Rorty auch in späteren Arbeiten immer wieder aufwirft. 1967 legt er sich noch nicht fest, sondern skizziert sechs verschiedene Möglichkeiten für die Zukunft des philosophischen Denkens (LT 34-39):
1. Eine grundlegende philosophische These, die die verschiedenen Zweige der Sprachphilosophie vereint, ist der methodologische Nominalismus. Sie besagt, dass alle Fragen über Begriffe, Universalien oder das »Wesen« von irgendetwas, die nicht empirisch beantwortet werden können, die aber überhaupt beantwortbar sind, ausschließlich durch die Beantwortung von Fragen über den Sprachgebrauch behandelt werden können. Möglicherweise ist man dadurch in eine Sackgasse geraten. Würde man den Nominalismus zurückweisen, könnten sich neue Horizonte öffnen wie zum Beispiel in der Phänomenologie Edmund Husserls.
2. Würde man beides, den methodologischen Nominalismus und die Forderung nach verbindlichen und klar bestimmten Kriterien fallen lassen, dann würde Philosophie aufhören, eine argumentative Disziplin zu sein, und näher an die Dichtung heranrücken. Heideggers spätere Aufsätze können als ein Versuch in dieser Richtung angesehen werden.
3. Eine dritte Möglichkeit wäre, zwar den methodologischen Nominalismus beizubehalten, aber das Verlangen nach klaren Kriterien aufzugeben. Die Philosophen könnten dann versuchen, beliebige Idealsprachen und neue, interessante und fruchtbare Wege des Nachdenkens über Dinge im Allgemeinen zu erfinden. Sie würden »Weltanschauungen« hervorbringen darüber, »wie Dinge im weitestmöglichen Sinn dieses Begriffs miteinander im weitestmöglichen Sinn zusammenhängen«5. Dieses Sellars-Theorem gehört zu den Lieblingszitaten Rortys.
4. Auf die Frage, ob die Philosophie an ein Ende gekommen ist, könnten wir tatsächlich mit »Ja« antworten. Sie wäre nichts als eine Kulturkrankheit gewesen, die geheilt werden konnte – ganz, wie Wittgenstein sich das vorgestellt hat. Unser Bedürfnis nach Weltanschauung könnte dann von den Künstlern, den Naturwissenschaftlern oder beiden befriedigt werden.
5. Vielleicht liegt die Zukunft auch in einer empirischen Linguistik, die unsere gegenwärtigen Sprachpraktiken beschreibt und dadurch zumindest einige der Erwartungen erfüllt, die ursprünglich zur Erfindung der Philosophie geführt haben.
6. Es könnte auch sein, dass die Sprachphilosophie notwendige Bedingungen für die Möglichkeit der Sprache selbst entdeckt – etwa so, wie Kant die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung aufgedeckt hat. Sie würde dann, wie Strawson sich das vorstellt, eine Art »deskriptive Metaphysik« werden.
Welchem dieser Ansätze die Zukunft gehört, hat Rorty damals weise offen gelassen. Am Schluss seiner Einleitung deutete er freilich schon an, dass womöglich nicht die »linguistische Wende« das wichtigste Ereignis in der Philosophie der vorangegangenen dreißig Jahre gewesen sei, sondern die kritische Wiedererwägung einiger Grundschwierigkeiten der Erkenntnistheorie seit Platon und Aristoteles, insbesondere der traditionellen Zuschauervorstellung des Wissens. Die Resultate dieser Wiedererwägung stellt Rorty in seinem Hauptwerk Der Spiegel der Natur dar.
»Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten
wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns
nur unerbittlich zu wiederholen.« (Ludwig Wittgenstein)6
Der Spiegel der Natur (Philosophy and the Mirror of Nature) ist Richard Rortys umfangreichstes und bedeutendstes Werk. Er hat zehn Jahre, von 1969 bis 1979, daran geschrieben (so lange wie Kant an der Kritik der reinen Vernunft). Dieses Buch versteht sich als Generalabrechnung mit der neuzeitlichen Philosophie. Im Unterschied zu Kant allerdings will Rorty kein eigenes, neues Konzept anbieten, sondern er erstellt Diagnosen, aus denen sich ergeben kann, dass bestimmte philosophische Probleme – etwa das klassische »Leib-Seele-Problem« – gar keine sind.
Rortys Kernthese lautet: Die Verknüpfung des Mentalen mit dem Fundamentalen ist der Hauptfehler der gegenwärtigen Philosophie. Dieser Fehler begann an der Wende zur Neuzeit mit René Descartes (1596-1650), der das Mentale als eigene, vom Materiellen abgetrennte Dimension verstanden hatte, in der allein, weil sie dem Ich ja von innen her zugänglich ist, Gewissheit zu erlangen sei. John Locke (1632-1704) hatte dann die »Theorie der Erkenntnis« begründet, die auf der Analyse unseres Wahrnehmungsapparates, unserer »mentalen Prozesse« beruhte. Nachdem diese Ideen sich allgemein durchgesetzt hatten, konnte Immanuel Kant die Philosophie zum Tribunal der reinen Vernunft, »das über alle anderen kulturellen Ansprüche zu Gericht sitzt« (SN 14), erheben. Im neunzehnten Jahrhundert haben dann die Neukantianer die so genannte »Erkenntnistheorie« zur Fundamentalwissenschaft gemacht, die alle anderen Erkenntnisansprüche zu begründen in der Lage sein sollte. So wurde Philosophie »für die Intellektuellen zum Ersatz für die Religion. Sie war die kulturelle Dimension, in der man auf den Grund vorstieß und das Vokabular und die Überzeugungen fand, mittels derer man seine Tätigkeit als Intellektueller zu erklären und zu rechtfertigen vermochte, in der man demnach den Sinn des eigenen Lebens ausfindig machen konnte.« (SN 4) Intellektuelle können offenbar nicht ohne Pathos leben. Deshalb suchen sie nach Fundamentalstrukturen, nach den Wirklichkeiten hinter der bloßen Erscheinungswelt, nach einer Realität, die den leeren Platz religiöser Gewissheit einehmen soll. Rorty dagegen plädiert für eine vermenschlichte, eine endlich human gewordene Kultur, in der man nicht mehr nach der objektiven Realität fragt, sondern nach der bestmöglichen Beschreibung der Situation, in der man sich gerade befindet. Allenfalls kann man sich dann auf die Suche nach einer passenderen Beschreibung begeben, nicht aber auf die Suche nach der Wahrheit.
Der Anspruch, Philosophie müsse als strenge Wissenschaft betrieben werden, wurde zu Beginn unseres Jahrhunderts durch Denker wie Edmund Husserl (1859-1938) und Bertrand Russell (1872-1970) erneuert. Ihre »Wissenschaftlichkeit« hat die gesamte angloamerikanische und einen nicht unerheblichen Teil der deutschen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts nachhaltig geprägt.
Aber, und hier beginnt Rortys Gegengeschichte, sie konnten nicht mehr so ungetrübt zur intellektuellen Avantgarde gerechnet werden wie noch Descartes, Locke und Kant. Schon im neunzehnten Jahrhundert hatte sich eine neue Form von Kultur entwickelt, »die Kultur des Gebildeten, der Gedichte, Romane und politische Traktate verfaßte, wie auch Kritiken der Gedichte, Romane und Traktate anderer. […] Dichter und Romanciers hatten nun anstelle der Prediger und Philosophen die Aufgabe der moralischen Erziehung der Jugend übernommen.« (SN 14f.)
Die drei in Rortys Augen bedeutendsten Philosophen unseres Jahrhunderts, Ludwig Wittgenstein (1889-1951), Martin Heidegger (1889-1976) und John Dewey (1859-1952), stehen für einen vollkommen anderen Stil und ein völlig anderes Selbstverständnis des Philosophierens als etwa Husserl oder Russell. Alle drei hatten in ihrer Frühzeit versucht, »eine neue Möglichkeit zu finden, ›Fundamentalphilosophie‹ zu treiben« (SN 15), und gelangten zu der Einsicht, dass dies zum Scheitern verurteilt sei.
»Alle drei Philosophen erkannten in der Folgezeit in ihren früheren Versuchen eine Selbsttäuschung: das Bemühen, an einem bestimmten Philosophiebegriff festzuhalten, obgleich man selbst zur Verabschiedung der Begrifflichkeit beigetragen hatte (der vom siebzehnten Jahrhundert überkommenen Begriffe des Erkennens und des Mentalen), ohne deren Hilfe seine Durchführung nicht möglich war. In ihrem Spätwerk brachen sie jeder mit der Kantischen Konzeption von der Philosophie als Fundamentalwissenschaft und verwandten ihre Zeit darauf, uns vor einer Versuchung zu warnen, der sie selbst einmal erlegen waren. Ihr Spätwerk gerät demnach nicht konstruktiv, sondern therapeutisch, nicht systematisch, sondern bildend; statt ihm ein neues philosophisches Programm vorzulegen, möchte es den Leser veranlassen, seinen eigenen Motivationshintergrund für das Philosophieren in Frage zu stellen.« (SN 15f.)
Rortys Buch trägt im Deutschen den treffenden Untertitel »Eine Kritik der Philosophie«. Damit ist sehr deutlich seine Neigung zu einer Rhetorik bezeichnet, die das Ende zumindest einer ganzen Epoche philosophischen Denkens verkündet. Aus dem Vergleich mit ähnlichen Deklarationen, Hegels These vom »Ende der Kunst«, Carnaps »Ende der Metaphysik«, Roland Barthes’ »Tod des Autors«, Foucaults von Claude Lévi-Strauss übernommener These vom »Tod des Subjekts« oder Fukuyamas These vom »Ende der Geschichte«, vom »Ende der Moderne« gar nicht zu reden, kann man sehr schnell lernen, dass derartige Diagnosen zwar einen gewissen dramatisierenden und aufmerksamkeitsweckenden Effekt haben, aber immer nur in einem außerordentlich eng gefassten Sinne ernst zu nehmen sind. Je genauer man Rorty liest, je weniger man seine Rhetorik gelten lässt und je mehr man seine wirklichen (meist ungewöhnlich scharfsinnigen und treffenden) Argumente akzeptiert, desto klarer wird, dass nach dem »Ende« all dieser fundamentalistischen Verirrungen wirkliche Philosophie erst anfängt, nämlich als erneuter Anlauf ihres Nachdenkens über ihre eigenen Grundlagen, Möglichkeiten und Chancen, zum Gespräch der Menschheit über sich selbst beizutragen. Rortys Rhetorik neigt dazu, vor solchen Überlegungen ein Blendwerk des scheinbar Leichtverständlichen aufzubauen, das den Blick auf seine gewichtigeren Argumentationen verbaut. Er hatte das Glück, dass sein schwierigstes Buch, eben der Spiegel der Natur, als erstes ins Deutsche übersetzt wurde (schon 1981). Worin die Schwierigkeit dieses Buches besteht, soll wenigstens angedeutet werden.
Es gibt in Deutschland, vielleicht mit Ausnahme von Karl-Otto Apel, der uns gelehrt hat, Wittgenstein, Heidegger und Peirce zusammenzudenken,7 wohl keinen Philosophen, der das gemeinsame und verbindende Element von sprachanalytischer Philosophie, Hermeneutik und Pragmatismus zu sehen und zu vermitteln in der Lage wäre. Durch diese Art der Zusammenschau verstößt Rorty gegen gewohnte Schulkonventionen. Je mehr man seinen Überlegungen folgt, desto klarer wird aber auch, dass er die Namen seiner drei philosophischen Helden (SN 413) zwar immer wieder anführt und ins Spiel bringt, ihnen aber eigentlich nur die Zielperspektive verdankt. Seine Argumentationsweise dagegen, seine philosophische Sprache bezieht er aus dem zeitgenössischen Diskurs, aus dem, was man im weitesten Sinne »analytische Philosophie« nennt. Rortys Gewährsleute sind hier vor allem Wilfrid Sellars, Donald Davidson, Willard Van Orman Quine, Gilbert Ryle und Hilary Putnam. Diese Autoren interpretiert er als die jüngsten Endpunkte immanenter Traditionslinien der analytischen Philosophie.
Wer in dieser Tradition steht, wird Dewey normalerweise für oberflächlich und Heidegger für völlig ungenießbar halten. Das Neuartige, Überraschende und Faszinierende an Rortys Denkansatz ist, dass er die ebenso anspruchsvolle wie umständliche, scholastische Argumentationstechnik der sprachanalytischen Tradition mit einer radikalen Traditionskritik verbindet, die aber letzten Endes nicht zu einem aktivistischen Abschaffungsgestus führt, sondern zu einem hermeneutischen Verständnis dafür, wie man außerhalb und vor der analytischen Philosophie eigentlich auf diese seltsamen Fragen und bizarren Antworten gekommen ist und wie man sich durch Einsicht davon freimachen könnte.
Wenn Wittgenstein, Heidegger und Dewey von Rorty auf einund dieselbe Liste von Kronzeugen gesetzt werden, irritiert das nur so lange, als nicht bedacht wird, was er durch diese Zeugen beglaubigen lassen will. Aus diesem Grund wäre es im Übrigen auch einseitig und irreführend, in Rortys Denken ausschließlich nach heideggerianischen Elementen und Grundstrukturen suchen zu wollen. Die erste Rorty-Lektüre in Deutschland hat leider zu solchen Gewaltsamkeiten geneigt. Ein mit Dewey zusammengebrachter Heidegger hat jedenfalls mit dem prominenten Naziphilosophen nicht mehr viel zu tun, und Wittgenstein wird in dieser Zusammenstellung vollends zum spielerischen Ironiker und genialen Amateur statt zum Schulhaupt der sprachanalytischen Wende, zu dem ihn viele nachträglich ernannt haben.
Es sind insbesondere drei Elemente, die Wittgenstein, Dewey und Heidegger gemeinsam sind:
1. Sie erklären die Rede von den »Fundamenten der Erkenntnis« und den Gedanken, die zentrale Aufgabe der Philosophie sei das cartesische Unternehmen zur Widerlegung des Skeptikers, für nichtig.
2. Sie verzichten auf die Descartes, Locke und Kant gemeinsame Idee des »Bewusstseins«.
3. Der grundlegende Gestus ihrer Philosophie ist nicht der der »Widerlegung«, sondern der der »Verabschiedung« (SN 16).
Verabschieden, das ist auch Rortys eigene Methode. Nicht durch direkte Widerlegung, sondern durch Etablierung völlig neuer Fragerichtungen und Problemstellungen haben die Philosophen der Aufklärung die mittelalterliche Scholastik als inhaltsleer und bedeutungslos erscheinen lassen, so dass man sich schließlich wunderte, warum bestimmte absurde Fragen einstmals überhaupt hatten gestellt werden können. Der Spiegel der Natur stellt einen übergreifenden Kritikzusammenhang her, der hinter Kant, Locke und Descartes zur griechischen Philosophie (insbesondere zu Platon) zurückreicht. John Dewey hat darauf aufmerksam gemacht, wie sehr die Metapher vom »inneren Auge« dieses Denken bestimmt hat:
»Die Erkenntnistheorie wird jenen Vorgängen nachgebildet, die im Akt des Sehens stattfinden sollen. Der Gegenstand reflektiert Licht und wird gesehen; dieser Vorgang macht für das Auge und für die Person, die über den optischen Apparat verfügt, einen Unterschied, nicht jedoch für das gesehene Ding. Der wirkliche Gegenstand ist das Objekt, das so sehr in einer königlichen Abgeschlossenheit besteht, daß es für jeden anschauenden Geist, der es erblicken mag, ein König ist. Eine am Sehen orientierte Erkenntnistheorie ist das unvermeidliche Resultat.«8