Sozialwissenschaften zur Einführung
Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Berlin
Dieter Thomä, St. Gallen
Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de
© 2013 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Junius Verlag
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe März 2016
ISBN 978-3-96060-020-6
Basierend auf Printausgabe:
ISBN 978-3-88506-077-2
1. Aufl. 2013
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.
Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.
Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.
Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.
Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.
Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.
Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.
Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä
Einleitung: Was sind Sozialwissenschaften?
I.Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften: Historische Entwicklungen
1.Die Entstehung der Sozialwissenschaften
2.Sozialwissenschaften in der Selbstfindung: Politisch, neutral, wertfrei, intervenierend?
3.Kultur, Sprache, Geschlecht: Revisionen scheinbarer Gewissheiten
4.Quantifizieren, qualifizieren, theoretisieren? Die Rückkehr der Methodologie
II.Sozialwissenschaftliche Metatheorien: Die Systematik
5.Normative Ansätze
6.Empirische Ansätze
7.Kritische Ansätze
III. Sozialwissenschaftliche Grundbegriffe in der Diskussion
8.Macht und Herrschaft
9.Staat und Gesellschaft
10. Interesse und Konflikt
11. Sozialisation und Geschlecht
12. Religion und Kultur
Anhang
Anmerkungen
Literatur
Über den Autor
Studentinnen und Studenten der Sozialwissenschaften sehen sich im Alltag neben ihrem Studium gelegentlich mit Missverständnissen bezüglich ihrer Studieninhalte konfrontiert. Wird man etwa an familiärer Kaffeetafel gefragt, was man denn studiere, und beantwortet dies mit einem schüchternen »Sozialwissenschaften«, sind mindestens zwei Missverständnisse vorprogrammiert: Das erste identifiziert Sozialwissenschaften mit Soziologie – und reicht über die heimische Kaffeetafel hinaus bis ins Feuilleton mancher Tages- oder Wochenzeitung. Sozialwissenschaften, so die fehlerhafte Annahme, das sei eben Soziologie. Das zweite Missverständnis lässt sich vom Sozialen blenden: Wer Sozialwissenschaften studiert, so der landläufige Glaube, wird damit schon irgendetwas Soziales anstellen, also z.B. den Beruf einer Sozialarbeiterin ergreifen oder in einer karitativen Organisation Spenden für Hilfsbedürftige sammeln. Das erste Missverständnis übersieht den Plural des Wortes Sozialwissenschaften und damit, dass es sich um eine Sammel- und keine Disziplinbezeichnung handelt, das zweite nimmt den hinteren Wortteil gar nicht erst zur Kenntnis und interpretiert das Soziale aus einem rein anwendungsorientierten Blickwinkel.
Dennoch liegt in beiden Missverständnissen auch ein Kern Wahrheit. Denn zu den sozialwissenschaftlichen Fächern gehört – ganz gleich, welche Definition man anlegt – immer auch die Soziologie, d.h., in jede sozialwissenschaftliche Perspektive ist immer auch eine soziologische eingeschrieben, ja mehr noch kann die Soziologie für sich mit einiger Legitimation beanspruchen, einen, wenn nicht sogar den wesentlichen Kern sozialwissenschaftlicher Forschung geprägt zu haben (vgl. Korte 2006; Kruse 2008). Und auch die Annahme, Sozialwissenschaften hätten etwas mit dem Sozialen zu tun, ist nicht falsch – nur dass das Soziale im sozialwissenschaftlichen Kontext (etwa im Unterschied zur Sozialen Arbeit) wissenschaftlich und (selbst-)reflexiv im Mittelpunkt steht und nicht mit Blick auf eine konkrete soziale (Arbeits-)Praxis. Dass ein sozialwissenschaftliches Studium trotzdem im Feld sozialer Berufe einen hilfreichen wissenschaftlichen Background bieten kann, steht außer Frage, nur befähigt es eben nicht unmittelbar zu Tätigkeiten in diesem Bereich – auch weil Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler mit ihrem analytischen Blick zwar das Soziale verstehen, erklären und nicht selten auch verändern wollen, aber dafür eben selbst in keiner Weise sozial (in einem ethischen oder karitativen Sinn) agieren müssen.
Das jeweilige Vorurteil über die Sozialwissenschaften an der Kaffeetafel ist also genauso falsch wie richtig – es enthält einen Kern von Wahrheit, um den herum subjektive Deutungen und Überzeichnungen gesponnen werden. Was aber sind dann, zunächst ganz vorläufig betrachtet, Sozialwissenschaften tatsächlich? Es handelt sich, so viel kann festgehalten werden, um eine Sammelbezeichnung für wissenschaftliche Disziplinen, deren Gegenstand die Erforschung sozialer Sachverhalte ist. Und alle spontanen Definitionsversuche, die über diese zunächst sehr allgemeine Auskunft auf die Frage, was Sozialwissenschaften sind, hinausführen, weisen sofort ins Zentrum sozialwissenschaftlicher Debatten – denn: Muss die Frage danach, was Sozialwissenschaften sind, dadurch beantwortet werden, welche Inhalte, Fragestellungen, Theorien und Methoden im sozialwissenschaftlichen Kontext bearbeitet werden sollen bzw. sollten, oder damit, welche faktisch in der sozialwissenschaftlichen Forschung genutzt, eingesetzt oder angewendet werden? Antwortet man also auf die Frage eher normativ oder eher empirisch – mit dem »Sollen« oder mit dem »Sein«?
Eine normative Beantwortung würde auf einen Idealtypus zielen, also eine allgemeine und abstrakte Definition, die allerdings nicht zwingend auch in dieser »Reinform« in der sozialen Wirklichkeit angetroffen werden können muss. Die empirische Antwort würde den Blick auf die durchaus unterschiedlichen Realtypen der Verständnisse von Sozialwissenschaften richten und damit zu klären versuchen, welche Verständnisse von Sozialwissenschaften – in unterschiedlichem zeitlichen Kontext, aus differenten Fachperspektiven oder mit verschiedenen erkenntnistheoretischen Zugängen – es gegeben hat oder gibt. Faktisch sind die normative und die empirische Perspektive nicht kategorisch voneinander zu trennen, weil in Vorstellungen darüber, was Sozialwissenschaften sein soll(t)en, immer auch Wissen darüber einfließt, was Sozialwissenschaften sind bzw. waren, wie die Darstellung, was Sozialwissenschaften real sind, auch grundsätzlich von Vorannahmen über die Frage, was Sozialwissenschaften sein könnten oder müssten, geprägt wird.
Um das Feld dessen, was Sozialwissenschaften sind, aufzuschlüsseln, soll zunächst ein Blick auf die Sozialwissenschaften in ihrer konkreten, gegenwärtigen Ausprägung in der Bundesrepublik geworfen werden. Wie sie sich zu dem entwickelt haben, was sie heute sind, also welche historischen Prozesse ihrem gegenwärtigen Zustand vorausgegangen sind, wird in den folgenden Kapiteln dieses Buches ebenso erörtert werden wie die Frage nach alternativen Verständnissen dessen, was Sozialwissenschaften überdies sein könnten oder müssten – oder umgekehrt, was sie vielleicht auch nicht sein sollten. Beim zunächst empirischen Blick auf »die« Sozialwissenschaften in Deutschland lässt sich festhalten, dass im grundständigen Studium (Bachelor) an bundesdeutschen Hochschulen ein explizit sozialwissenschaftlicher Studiengang an rund zwanzig Universitäten existiert, wobei das Verständnis darüber, welche Teildisziplinen jeweils zu den Sozialwissenschaften gezählt werden, stark auseinandergeht.
Konsens besteht lediglich darin, dass – an (fast) allen Standorten – die Soziologie und die Politikwissenschaft zu den Sozialwissenschaften gezählt werden, so etwa in Augsburg, Berlin (HU), Gießen, Köln, Magdeburg, Oldenburg, Osnabrück, Siegen und Stuttgart (nur Rostock und Trier nehmen in ihren sozialwissenschaftlichen BA-Studiengängen die Politikwissenschaft aus, auf die Soziologie verzichtet keine Universität in ihrem sozialwissenschaftlichen BA-Studiengang); in Bielefeld, Bochum, Düsseldorf, Koblenz-Landau, Leipzig, Vechta und Wuppertal wird neben der Soziologie und der Politikwissenschaft jeweils ein weiteres Fach mit zu den Sozialwissenschaften im BA-Studiengang gezählt (Kommunikations- und Medienwissenschaften, Philosophie, Sozialpsychologie/-anthropologie oder Wirtschaftswissenschaften). Manche Universitäten (Hannover, Marburg) bieten eine Reihe von Wahlmodulen, die nach individuellen Präferenzen ergänzt werden können und bis in die Philosophie, die Geschichtswissenschaft sowie die Wirtschafts- und die Rechtswissenschaft reichen.
Das breiteste Selbstverständnis von Sozialwissenschaften wird in den BA-Studiengängen an der Bundeswehr-Universität München und in Göttingen formuliert: Während in München zusätzlich zur Soziologie und zur Politikwissenschaft die Geschichtsund Rechtswissenschaft sowie Volkswirtschaftslehre und Ethik (alle jedoch unter einem politikwissenschaftlichen Fokus) als Sozialwissenschaften verstanden werden, integriert Göttingen neben der Soziologie und der Politikwissenschaft in seinen BA-Studiengang Sozialwissenschaften die Fächer Erziehungswissenschaft, Ethnologie, Geschlechterforschung, Interdisziplinäre Indienstudien und Sportwissenschaften.
So lässt sich zunächst konstatieren, dass Soziologie und Politikwissenschaft die Kerndisziplinen der Sozialwissenschaften sind und dass gegenwärtig überdies eine Reihe von, zum Teil höchst unterschiedlichen, Anknüpfungspunkten in anderen Fächern und Fach(teil)gebieten gesucht wird. Dies reicht von der Überlegung, dass es sich bei den genannten Fächern selbst um sozialwissenschaftliche Disziplinen handelt, über die Annahme, dass die Berührungspunkte zwischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern jeweils stärker geistes- oder stärker sozialwissenschaftlich ausgelegt werden können, und insofern der konkrete Forschungsblickwinkel über die Frage entscheidet, ob eher eine geistes- oder eher eine sozialwissenschaftliche Perspektive eingenommen wird, bis hin zu der Auffassung, dass sich die sozialwissenschaftlichen Kerndisziplinen jeweils an Theorien, Methoden oder erkenntnistheoretischen Modellen aus anderen Fächern bedienen, um sie für die Analyse sozialer Sachverhalte nutzbar zu machen. Eine eindeutige Definition dessen, was Sozialwissenschaften empirisch sind, ist insofern nicht möglich, was auch zeigt, dass die Sozialwissenschaften in ihrem Selbstverständnis Konjunkturen und Wandlungsprozessen unterliegen, die auch die Frage, was genau Bestandteil und Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung ist, berühren.
Eine zweite empirische, aber historisch angelegte Annäherung an die Frage, was Sozialwissenschaften bisher gekennzeichnet hat, zielt auf eine (rekonstruierende) Eingrenzung dessen, was als »das Soziale« begriffen wird und in welchem Kontext dieses wissenschaftlich erforscht werden kann (vgl. Best 1988). Da das Soziale selbst fortlaufend einem Wandel unterliegt und damit konkrete Interessen- und Konfliktsituationen an bestimmbaren, d.h. historisch und gesellschaftlich bestimmten Orten in vertikaler und horizontaler Dimension umfasst, muss eine erste historische Annäherung mit einem Begriff operieren, der eben jenen Wandlungsprozess selbst integriert – sozial wäre demnach ein Handeln, das sich selbst mit Blick auf Dritte einen Sinn zuschreibt oder diesen zugeschrieben bekommt, also jede Form menschlicher Interaktion auf verbaler und non-verbaler Ebene, wobei der Bezug auf Dritte gleichermaßen realer und antizipierter Natur sein wie auch das Handeln in Passivität bestehen kann.
Ein Beispiel: Wer ein politisches Flugblatt schreibt, schreibt es für Dritte und antizipiert bei seinem Handeln die (erwünschte oder nicht-erwünschte) Reaktion derer, die sein Flugblatt lesen (sollen). Er agiert damit zwar zunächst auf den ersten Blick isoliert, sein Handeln antizipiert aber den Dritten und zielt auf eine Interaktion, ist also, wenn auch in einem minimalen Sinn, soziales Handeln. Damit zeigt sich auch: Soziales Handeln beginnt nicht erst mit dem Zusammenschluss von mehreren Menschen, sondern soziales Handeln findet auch in einer scheinbar isolierten Handlung statt, da sich diese bewusst oder unbewusst auf soziale Referenzrahmen bezieht, in denen sie sich vollzieht und durch die sie selbst geprägt wird (vgl. Caemmerer u.a. 2010). Ein anderes, zugleich sehr prominentes Beispiel aus der Soziologiegeschichte, das soziales Handeln im Widerspruch zum umgangssprachlichen Verständnis begreifbar gemacht hat: Émile Durkheim hat in seiner Studie Le suicide. Étude de sociologie (1897) gezeigt, dass die Selbsttötung ein sozialer Akt par excellence ist, da sie einerseits, obgleich sie individuell vollzogen wird, auf soziale Entwicklungen, Enttäuschungen und Kränkungen reagiert und andererseits die denkbar radikalste Form der Kritik an der jeweils bestehenden sozialen Ordnung ist, die mit dem Selbstmord in finaler und kompromissloser Weise negiert wird.
Insofern spielen mit Blick auf »das« Soziale unterschiedliche Abstraktionsgrade von Vergesellschaftung eine Rolle, die gleichermaßen die individuelle (mikrosoziale) wie die strukturelle (makrosoziale), aber auch die vermittelnde Dimension zwischen beiden Ebenen umfassen. Denn jede Struktur einer Gesellschaft wird geprägt durch die in ihr agierenden Individuen, wie zugleich die Individuen in ihrem Handeln durch die gesellschaftliche Struktur prädisponiert sind. Das Soziale entwickelt sich gerade in den fortwährenden, stets unabgeschlossenen und zu keiner Zeit unter Laborbedingungen zu untersuchenden Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Struktur, beide wie ihre Interaktionsebenen sind Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung, die von einer Mikroebene der Vergesellschaftung (dem Individuum) über die Mesoebene (der Interaktion und Vermittlung) bis zur Makroebene (der gesellschaftlichen und politischen Struktur) reicht. Die Differenzierung innerhalb der sozialwissenschaftlichen Disziplinen zeigt nun, weshalb eine Integration unterschiedlicher Fächer nicht nur empirisch und historisch festzustellen, sondern auch normativ sinnvoll ist: Denn die sachliche und methodische Kompetenz des Blickwinkels, den einzelne sozialwissenschaftliche Teildisziplinen auf ein und denselben Gegenstand werfen, ist jeweils eine ganz andere – und damit unterscheidet sich auch das jeweilige Erkenntnispotenzial über diesen Gegenstand. Zugleich verweist dieser Umstand auch auf das Potenzial der strukturellen Unabgeschlossenheit der sozialwissenschaftlichen Kanonbildung selbst, denn im Prinzip hat (fast) jedes Fach die Möglichkeit, eine sozialwissenschaftliche Blickrichtung zu integrieren und somit seine eigene Fachkompetenz sozialwissenschaftlich zu schärfen. Sozialwissenschaften sind also, vorläufig aus einer empirisch-historischen Perspektive formuliert, diejenigen Disziplinen, die sich für mit einem gegenüber Dritten zugeschriebenen Sinn versehenes Handeln auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen von Vergesellschaftung interessieren.
Mit dieser Annäherung wird freilich, was nicht unterschlagen werden soll, vom Verfasser selbst auch eine Form der Wertung vorgenommen, die konstruierender Natur ist: Mit der Systematisierung der Sozialwissenschaften, wie sie in dieser Einführung in ihrer historischen Entwicklung, in ihrer systematischen Abgrenzung und in ihrer begrifflichen Kernorientierung entfaltet wird, wird die empirische Wirklichkeit einer Interpretation unterzogen; und zwar einer spezifischen Interpretation, die – trotz aller Widersprüche und Konflikte – in der Genese der sozialwissenschaftlichen Fächer das erkenntnistheoretische und methodologische Moment der Integration betont und insofern für die Einbeziehung der einzelnen Fächer in die Systematik als Sozialwissenschaften plädiert.
Ob und inwiefern diese hier offensiv vertretene Möglichkeit einer Integration und die Notwendigkeit von Verbindungen tatsächlich zutreffend sind, ist selbst Gegenstand der wissenschaftstheoretischen Debatte: Am deutlichsten lässt sich dies vielleicht an der Disziplingeschichte der Psychologie ablesen, deren Selbstverständigung in dem großen Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaften bzw. Medizin auf der einen und geistes- bzw. sozialwissenschaftlicher Orientierung auf der anderen Seite hin- und herpendelt (vgl. Galliker u.a. 2007; Lück 2011; Walach 2009). Je nachdem, welches Selbstverständnis von Psychologie angelegt wird, tendiert das Fach mehr in die eine, mehr in die andere Richtung – und dies jeweils mit der Option, die Zuordnung als exklusiv oder als additiv zu verstehen. Ähnlich verhält es sich etwa in der ethnologischen Diskussion, die sogar begrifflich zur Differenzierung zwischen Völkerkunde, (Kultur-)Anthropologie, Ethnologie und Europäischer Ethnologie geführt hat, in welcher sich das Spannungsfeld der (Nicht-)Zugehörigkeit zu den Sozialwissenschaften – bei einer Alternativorientierung als Geisteswissenschaft – andeutet (vgl. Eriksen 2001; Heidemann 2011; Kohl 2000).
Die hier vertretene Prämisse besteht aber gerade darin, nicht die (trennenden) disziplinären Perspektiven einzunehmen, die nach der Geschichte der Fächer als universitäre und außeruniversitäre Professionen, der Entstehung und Entwicklung von Fachvereinigungen, der Orientierung auf monolithische Studiengangsstrukturierungen oder der Fokussierung auf die – ohne Zweifel in einigen theoretischen oder methodischen Fragen durchaus markanten – Differenzen zwischen den Fächern fragen. Sondern sie besteht im Gegenteil darin, ausgehend von den erkenntnistheoretischen und methodologischen Gemeinsamkeiten sowie der prinzipiellen Orientierung an einem vergleichbaren Erkenntnisinteresse, das in der Auskunft über soziale Sachverhalte besteht, den Blick auf das integrative Moment zu richten. Allen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen kommen spezifische Kompetenzen zu, mit deren Hilfe sich unterschiedliche Abstraktionsdimensionen von Vergesellschaftung reflektieren und analysieren lassen.
Der Fokus dieser Einführung in die Sozialwissenschaften, die gleichermaßen historisch-rekonstruktiv, systematisch wie begriffskritisch angelegt ist, liegt insofern auf den integrativen Perspektiven der Sozialwissenschaften, auf den für die Interaktion und Integration der Disziplinen zentralen (methodologischen bzw. erkenntnistheoretischen) Debatten über das Soziale, auf Kontroversen und Verständigungsversuchen, die auf die Erkenntnis des Sozialen (und nicht einfach nur des Geistes oder der Natur, die beide freilich auch Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung sein können) gerichtet sind, auf (Selbst-)Verständigungen, was das Soziale ist oder sein sollte.
Diese Einführung ist dabei orientiert an politischen und gesellschaftlichen Interessen und Konflikten als dem Zentrum einer sozialwissenschaftlichen Forschung, die das Individuum als Subjekt versteht und damit nicht isoliert betrachtet, sondern – im Unterschied etwa zu vielen naturwissenschaftlichen oder medizinischen Lesarten – als gesellschaftliches Wesen begreift. Sie ist damit eingebettet in ein gleichermaßen generatives wie genealogisches Verständnis von sozialer Entwicklung und Geschichte, aber auch in die Vorstellung einer prinzipiellen Veränderbarkeit von Gesellschaft und Politik infolge von Differenzen und Konflikten, die mit der Annahme korrespondiert, den eigenen Forschungsgegenstand niemals im Sinne eines Versuches unter Laborbedingungen isoliert und zugleich beliebig reproduzierbar betrachten zu können. Und dies verweist – je nach erkenntnistheoretischem Standort – zugleich auf das Problem oder die Herausforderung, dass der sozialwissenschaftlich Forschende selbst Teil seines/ihres Forschungsgegenstandes ist, ganz gleich, wie intensiv die Bemühungen um Objektivität oder Verfremdung auch sein mögen.
Die vorliegende Einführung ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil erfolgt eine historisch-rekonstruktiv angelegte Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Sozialwissenschaften, die ihren Ausgangspunkt im 18. Jahrhundert hat und bei der Darstellung ihrer Genese auch die Vorgeschichte der Sozialwissenschaften berücksichtigt (Kapitel 1). Orientiert an der Überlegung von Thomas S. Kuhn (1962), dass es vor allem »Paradigmenwechsel« sind, die unseren Blick auf die Geschichte von wissenschaftlichen Disziplinen prägen, folgt auf die Vorgeschichte der Sozialwissenschaften und die Darstellung ihrer Entstehung eine Auseinandersetzung mit den großen wissenschaftstheoretischen und methodologischen Debatten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um die Frage nach dem wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Standort der Sozialwissenschaften und ihrem Verhältnis zur Wert- und Objektivitätsfrage geführt wurden (Kapitel 2). Als mit dem Positivismusstreit in den 1960er Jahren erstmals ein weitgehender Konsens darüber hergestellt zu sein schien, was denn die (trennenden) Streit- und Konfliktfelder in der sozialwissenschaftlichen Erkenntnistheorie und Methodologie sind, wurde dieser Konsens im Dissens aus neuen Richtungen infrage gestellt – waren doch sozialwissenschaftliche Reflexionen bis dato weitgehend ohne die Kategorien Kultur, Sprache und Geschlecht und damit ohne die Einbeziehung ganz grundsätzlicher Relativierungen als allgemeingültig unterstellter Postulate erfolgt (Kapitel 3). Waren diese paradigmatischen Wechsel der erkenntnistheoretischen Blickwinkel in den Sozialwissenschaften noch an konzeptionellen Fragen orientiert, so wendete sich die sozialwissenschaftliche Debatte seit den 1990er Jahren stärker formalisierten Aspekte zu, die vor allem methodologischen Charakter hatten und die Frage thematisierten, ob sozialwissenschaftliche Erkenntnis mehr auf eine Quantifizierbarkeit, eine Qualifizierbarkeit oder eine Theoretisierbarkeit von Aussagen über das Soziale aus sein solle – oder mehreres davon zugleich leisten müsse (Kapitel 4).
Der zweite Teil wendet sich den Gemeinsamkeiten und Differenzierungen der Sozialwissenschaften in einer systematischen Perspektive zu. Hier werden die drei großen metatheoretischen Grundierungen sozialwissenschaftlicher Forschung – normativ (Kapitel 5), empirisch (Kapitel 6), kritisch (Kapitel 7) – systematisch-vergleichend dargestellt und im Hinblick auf ihre jeweilige Relevanz und Genese innerhalb der einzelnen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen sowie auf wissenschaftstheoretische Grundorientierungen, die sich aus den Metatheorien ableiten, vorgestellt.
Der dritte Teil wendet sich zentralen Schlüsselkategorien sozialwissenschaftlicher Forschung zu, die – wenngleich mit zum Teil nicht identischer Gewichtung – in allen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen zentrale Erkenntnisdimensionen darstellen und damit Schlüssel- bzw. Leitbegriffe sozialwissenschaftlicher Forschung sind. Jeweils in einem Begriffspaar werden Entwicklungen und Kontroversen sozialwissenschaftlicher Begriffsdiskussion sowohl mit Blick auf Differenzen, die zwischen den Teildisziplinen, wie auch mit Blick auf Differenzen, die zwischen unterschiedlichen metatheoretischen Schulen der Sozialwissenschaften bestehen, vorgestellt. Die Orientierung an den Begriffspaaren Macht und Herrschaft (Kapitel 8), Staat und Gesellschaft (Kapitel 9), Interesse und Konflikt (Kapitel 10), Sozialisation und Geschlecht (Kapitel 11) sowie Religion und Kultur (Kapitel 12) soll dabei in begriffstheoretischer Hinsicht die historischen Entwicklungen der Sozialwissenschaften rekonstruieren und überdies die drei Abstraktionsebenen von Vergesellschaftung (mikro – meso – makro) auf der begrifflichen Ebene reflektieren.
Die Ursprünge der Sozialwissenschaften liegen gleichermaßen im geistes- wie im naturwissenschaftlichen Bereich. Die Transformation von geistes- bzw. naturwissenschaftlichen Fragen zu sozialwissenschaftlichen und damit der wissenschaftliche Blick auf den Menschen in seinem sozialen Kontext sind selbst Ergebnis eines historischen Wandels, der im 19. Jahrhundert kulminierte, aber eine mehrere Jahrhunderte lange Vorgeschichte hatte: »In der Verknüpfung der modernen Begriffe ›Gesellschaft‹ und ›Wissenschaft‹ präsentiert sich der Anspruch, die Gesellschaft bzw. das Soziale über wissenschaftliche Aufklärung erklärbar und verstehbar, verfügbar und veränderbar zu machen. Der Bezug von Wissenschaft auf Gesellschaft sollte zugleich im Sinne der Entwicklung und Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse praktisch wirksam werden.« (Pankoke 1984: 997)
Die zentrale Voraussetzung, die die Denkweisen der Geistesund Naturwissenschaften zu sozialwissenschaftlichen Perspektiven erweitern bzw. verändern konnte, war die Entstehung von Gesellschaften im modernen Sinn. Denn soziales Handeln in einem gesellschaftlichen Kontext ist an eine Reihe von historischen Voraussetzungen geknüpft, die das Soziale zu einem neuzeitlichen Phänomen machen (vgl. Maus 1962: 3 ff.). Anders formuliert: Wurde zwar unbestreitbar in Antike und Mittelalter bereits über zwischenmenschliche Fragen debattiert, so fehlte diesen noch gänzlich die charakteristische Dimension des gesellschaftlich Sozialen – das zugleich zeitlich und räumlich konkrete und damit kontextualisierte (Selbst-)Verständnis als Subjekt in einem kommunikativen Interaktionsverhältnis mit anderen Subjekten (vgl. Salzborn 2012a: 19 ff.). Schließlich war der Mensch in der Vormodere ja genau das nicht: Subjekt in einem sich bewussten, von anderen getrennten und damit potenziell die eigenen Lebensrealitäten selbst gestaltenden Sinn (vgl. Sartori 1992).
Die Vorgeschichte der Entstehung der Sozialwissenschaften lässt sich eingrenzen auf die Makroepoche der Frühen Neuzeit von der Mitte des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, die ihren Ausgangspunkt in etwa im Augsburger Religionsfrieden von 1555 und ihren Endpunkt in der Französischen Revolution von 1789 hatte (vgl. Schwan 1991: 157). Geistesgeschichtlich ist diese Zeit geprägt durch den Humanismus und die Aufklärung, politisch durch ein langsames Bröckeln absolutistischer Ordnungssysteme und einen Wandel von ihrer höfischen zu einer aufgeklärten Organisation, religiös durch die Reformation und damit die Spaltung des Christentums. Es handelte sich um eine Zeit epochaler Umbrüche in Europa, in der die christliche Religion ihre Rolle als geistiger Rahmen für die philosophische Interpretation der Welt einbüßte, ohne damit allerdings den Glauben aus der Welt verschwinden zu lassen. Politisch lässt sich dies auf den Begriff der Säkularisierung bringen, (religions-)philosophisch auf den des Deismus. Das »Monopol auf Heilsvermittlung« (Korte 2006: 18) fiel, die christliche Religion verlor mit der Französischen Revolution, in den Worten von Alexander Schwan (1991: 158), ihre »offizielle, bis dahin noch immer privilegierte Stellung als geistig-politische Legitimations- und Sanktionsmacht für das staatliche Leben; sie wird mit den alten politischen Mächten entthront.«
An ihre Stelle trat, erkenntnistheoretisch, ein auf Erfahrungen, Skeptizismus und Wahrscheinlichkeitsannahmen gegründetes Wissenschaftsverständnis, für das die Namen Nikolaus Kopernikus, Leviathan