Carmen Gerstenberger
So nah bei dir
Das Buch:
Das Leben der 21-jährigen Kristin ist völlig unspektakulär. Sie zieht es vor, zu lesen, anstatt auszugehen und wohnt noch zu Hause, da sie studiert. Anders als ihre gleichaltrigen Freundinnen hat sie kein Interesse an der neusten Mode oder gar an Männern. Seit ihre Eltern geschieden sind, genießt sie die ruhige Zweisamkeit mit ihrer Mutter.
Alles ändert sich jedoch, als sie zufällig Chris begegnet, der ihr beschauliches Leben gehörig durcheinanderbringt. Vom ersten Augenblick an verliebt sie sich rettungslos in ihn. Chris scheint ihre Gefühle zu erwidern, doch bevor es zu einem weiteren Treffen kommen kann, werden Kristins Hoffnungen jäh zunichtegemacht. Das Schicksal hat offenbar einen anderen Plan für sie vorgesehen. So leicht gibt Kristin allerdings nicht auf. Mithilfe ihrer zwei besten Freundinnen entwickelt sie einen Masterplan, von dem sie sich erhofft, Chris wachzurütteln. Gelingt ihr das Unmögliche?
Die Autorin:
1977 hat nicht nur der erste Star Wars-Film das Licht der Welt erblickt, sondern auch Carmen Gerstenberger. Sowohl die Leidenschaft für die Sternenkrieger als auch die Liebe zu Scifi- und Fantasygeschichten haben sie ein Leben lang mit Begeisterung erfüllt. Ob als Leser oder Autor – sich fallen zu lassen und in fremde Welten abzutauchen, ist einfach unbeschreiblich. In Esslingen am Neckar geboren, lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern noch immer in einem kleinen Ort in der Nähe im schönen Schwabenländle.
www.carmen-gerstenberger.de
Carmen Gerstenberger
Roman
So nah bei dir
Carmen Gerstenberger
Copyright © 2016 at Bookshouse Ltd.,
Villa Niki, 8722 Pano Akourdaleia, Cyprus
Umschlaggestaltung: © at Bookshouse Ltd.
Coverfotos: www.shutterstock.com
Satz: at Bookshouse Ltd.
ISBNs: 978-9963-53-393-0 (E-Book .pdf)
978-9963-53-394-7 (E-Book .epub)
978-9963-53-395-4 (E-Book Kindle)
www.bookshouse.de
Urheberrechtlich geschütztes Material
Für Iris und Fee
Beste kleine Schwester und beste Nichte auf der Welt
Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Epilog
Danksagung
Prolog
Wenn das Schicksal sich gegen dich wendet und alles aussichtslos erscheint, würdest du weitermachen?
Wenn es keine Chance gäbe, dein Herz aus diesem tiefen Tal der Hoffnungslosigkeit zu befreien, würdest du sie suchen, auch wenn es vergeblich scheint?
Wenn dir gestohlen wird, was vorbestimmt war, würdest du darum kämpfen?
Ich habe es getan. Und ich bereue nichts.
Mein Name ist Kristin, doch alle nennen mich nur Kris. Ich bin einundzwanzig Jahre alt und möchte euch erzählen, wie ich die Liebe meines Lebens fand und warum ich sie gehen lassen musste.
Eins
Ich zog den dicken Wollschal enger um meinen Hals und folgte meinen Freundinnen in das völlig überfüllte Café, das sie in diesem Augenblick ansteuerten.
»Kris, jetzt beeil dich doch endlich, bevor alle Plätze belegt sind«, warf mir Sina hektisch über die Schulter zu. Ich schnaubte, als ob da drin noch was frei wäre.
Es war Anfang Oktober, die Kälte, die den milden Herbst abgelöst hatte, trieb die Leute von den Straßen regelrecht ins warme Innere, doch meine Mädels zwängten sich, ohne mit der Wimper zu zucken, durch die Scharen wartender Gäste hindurch. Ich folgte ihnen widerwillig. Im Gegensatz zu ihnen liebte ich diese Jahreszeit und könnte Stunden damit verbringen, die bunten Blätter im Park zu beobachten, wie sie lautlos von den Bäumen auf den mit Frost überzogenen Boden glitten. Für mich war die Stille jenseits jeglicher Hektik ein Paradies. Meine Freunde nannten mich jedoch recht uncharmant einen verträumten Spinner.
Während ich meinen Gedanken nachhing, hatten es Sina und Felicitas tatsächlich geschafft, sich einen winzigen Tisch in der hintersten Nische des Cafés zu schnappen. Kopfschüttelnd quetschte ich mich zwischen den vielen Menschen zu ihnen durch. Es war mir schleierhaft, wie sie das wieder geschafft hatten, aber es wunderte mich nicht. Meine zwei besten Freundinnen, die ich schon seit dem Kindergarten kannte, waren beide von Natur aus hellblond und hatten strahlend blaue Augen. Sie waren groß, schlank und immer und überall der Hingucker. Auch wenn es so aussah, sie waren keine Schwestern, obwohl man bei ihnen nicht umhin kam, sie für Zwillinge zu halten. Wahrscheinlich hatten sie ihren geballten Charme auf die männliche Gattung losgelassen und sich so den heiß begehrten Platz gekrallt.
Eilig gesellte ich mich zu ihnen, und während ich mich aus meinem orangefarbenen Schal wand und die Winterjacke auszog, blickte ich mich um. Es war Samstag Nachmittag und an den Tischen fanden sich überwiegend Jugendliche, die eine Shoppingpause einlegten. Mir entging nicht, wie die Jungs ihre Köpfe zusammensteckten und meine Freundinnen angrinsten, die sogleich kichernd auf die Flirtversuche eingingen. Lächelnd zwängte ich mich neben die beiden auf den kläglichen Rest Sitzbank, der übrig geblieben war, und schnappte mir die Karte von dem Tisch. Mir war jetzt wirklich nach einer großen Tasse Kaffee.
Das fröhliche Lachen meiner Freundinnen, die mit den fremden Jungs beschäftigt waren, wärmte mein Herz, und während ich auf meine Bestellung wartete, schweiften meine Gedanken erneut ab. Es machte mir nichts aus, dass ich nicht so ein Blickfang war wie Fee und Sina. Mit meinen braunen Haaren und Augen sah ich nicht auffällig aus und meine Figur war ebenfalls nicht atemberaubend. Ich zog es vor, bequeme Klamotten zu tragen, während die beiden immer den neuesten, hautengen Schrei trugen. Wir waren ziemlich verschieden, aber genau das liebte ich. Mit den beiden wurde es nie langweilig, und da ich eher der ruhige, verschlossene Typ war, empfand ich es als angenehm, mich nicht ständig mit irgendwelchen Kerlen unterhalten zu müssen. Meistens hatte ich ein Buch in der Tasche dabei, wofür sie mich stets aufzogen, aber ich liebte es, in einzigartige Geschichten abzutauchen und zog das jedem Geplänkel mit spät pubertierenden Jungen vor.
Jetzt wollte jedoch nicht die richtige Stimmung aufkommen, um zu lesen, denn das Gespräch mit meiner Mom heute Morgen hing mir noch nach. Meine Eltern waren bereits seit einigen Jahren geschieden und Mom hatte seit etwa einem Jahr einen neuen Freund. Carl war total okay und er tat ihr wirklich gut. Ich freute mich für sie und wünschte ihr alles Glück der Welt. Während des Frühstücks hatte sie dann ganz beiläufig erwähnt, dass er am nächsten Tag zum Mittagessen käme, da sie mir etwas mitzuteilen hatte. Wie ich solche halb garen Ansagen hasste. Entweder man sagte, was man loswerden wollte, oder man ließ es bleiben. Aber nun grübelte ich schon den gesamten Tag darüber nach, was es sein könnte. Ich hatte den leisen Verdacht, dass sie möglicherweise wieder heiraten wollte und obwohl ich Carl wirklich gern hatte, war dieser Gedanke irgendwie seltsam. Würde ich ihn dann Paps nennen müssen?
Seufzend versuchte ich, diesen Impuls abzuschütteln, Spekulationen brachten mich auch nicht weiter. Während ich abwesend eine Haarsträhne um meinen Zeigefinger wickelte, sah ich von der Karte auf, in der Hoffnung, dass mein Kaffee endlich käme. Und dann sah ich ihn.
Er saß zwei Tische weiter vorn und starrte mich ungeniert an. Mein Blick verfing sich in seinem und plötzlich schoss mein Puls in die Höhe. Mein Herz begann, wie wild zu pochen und mein Innerstes fühlte sich an, als wäre ich von einem Blitzschlag getroffen worden. Die Fingerspitzen kribbelten und eine Überdosis Adrenalin strömte durch jede Faser meines Körpers. Meine Atmung ging flach und ich war nicht mehr fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann lächelte er und die Andeutung der Grübchen in seinen Wangen sandte regelrechte Hitzewellen durch mich hindurch. Was zum Teufel war das? Was geschah mit mir?
Es war mir unmöglich, meinen Blick von ihm zu lösen. Erst jetzt bemerkte ich, dass seine Augen hell und klar waren, entweder blau oder grün, auf die Entfernung konnte ich das nicht genau sagen. Sein dunkles Haar wirkte verstrubbelt – auf eine wahnsinnig süße und sexy Art verstrubbelt.
Ich erstarrte. Waren das gerade meine Gedanken? Unmöglich. Ich gehörte nicht zu den Frauen, die Männern hinterherschmachteten. O Gott, sein Lächeln wurde breiter, und der Kloß in meinem Hals immer dicker. Ich bekam kaum noch Luft und versuchte, mir welche mit der Karte zuzufächeln, jedoch vergeblich. Er sah so verboten gut aus, dass mein Körper kurz vor einem Blackout stand.
Weil ich mit dieser Situation völlig überfordert war, wusste ich mir nicht anders zu helfen, als panisch aufzustehen und auf die Toilette zu flüchten. Ich kam mir furchtbar dumm vor, doch ich rannte nahezu vor ihm davon. In dem beengten, stillen Raum waren die Gespräche der Gäste nur noch gedämpft zu vernehmen. Ich ließ mich gegen die weiß gekachelte Wand gleiten und atmete tief durch. Mit geschlossenen Augen wartete ich darauf, dass sich mein Körper wieder beruhigte und suchte in den Tiefen meines Gehirns nach Antworten. Was zum Teufel war da gerade mit mir geschehen?
Langsam ging ich zum Waschbecken und sah entsetzt auf mein Spiegelbild. Da ich mit Fee und Sina shoppen gewesen war, hatte ich meine Haare einfach achtlos zu einem Zopf gebunden, aus dem sich vereinzelt Strähnen gelöst hatten und mich aussehen ließen wie eine Vogelscheuche. Natürlich hatte ich mich weder geschminkt noch in schicke Klamotten geworfen. Vor mir stand ein langweiliges und unscheinbares Mädchen, das sich in diesem Augenblick dafür hasste, sich nicht herausgeputzt zu haben. Dort draußen saß ein wahrgewordener Traum und ich stand hier drin, das graue Mäuschen in seinem alten Rollkragenpullover. Sexy war anders. Ich versuchte, die hartnäckigen Strähnen wieder an ihren Platz zu streichen, doch sie ignorierten mich.
Nach einer Weile, in der ich mich wieder etwas beruhigt hatte, beschloss ich, zurückzugehen. Er war mit Sicherheit längst gegangen, wenn meine Freundinnen ihn sich nicht geschnappt hatten. Plötzlich kam mir in den Sinn, dass er wahrscheinlich nicht mich, sondern sie angesehen hatte. O Gott war das peinlich. Gerade als ich meinen Kopf am liebsten gegen die Wand geschlagen hätte, sah ich seinen Blick im Geiste wieder vor mir. Ich schluckte. Nein, ich hatte mich unmöglich geirrt, diesen Moment würde ich niemals vergessen können. Er hatte mich angestarrt und dabei nicht weniger überrascht ausgesehen als ich. Noch einmal atmete ich tief durch und zwang mich zur Ruhe. Ich sollte zu den beiden zurückkehren, bevor sie mich suchten. Er war sicher längst weg, womit sich mein Dilemma auch erledigt hätte.
Noch immer etwas nervös öffnete ich die Tür zu dem schmalen Durchgang, der in den Hauptraum führte. Als ich aufsah, erstarrte ich. Da stand er. Lässig in der Mitte der Passage gegen die Wand gelehnt, lächelte mich an und raubte mir erneut den Atem. Meine Beine verweigerten sich mir, blieben wie mit dem Boden verwachsen einfach stehen und fingen verdächtig an, zu zittern. Langsam stieß er sich von der Wand ab und kam zu mir, bis er unmittelbar vor mir stehen blieb. Grün. Seine Augen waren grün.
»Hi«, sagte er schlicht und der Klang seiner Stimme löste einen emotionalen Wirbelsturm in mir aus.
»Hi.« Mir fiel nichts Besseres ein, meine Gedanken rasten nur so durch meinen Kopf. Ich war einsfünfundsiebzig groß, doch er war sicherlich zehn Zentimeter größer. Ich sah zu ihm auf, während ich versuchte, nicht umzukippen und das Rauschen in den Ohren zu ignorieren.
»Ist alles in Ordnung? Du bist so schnell davongerannt, da wollte ich nachsehen, ob es dir gut geht?«
Ich nickte einfach und hoffte, dass er den völligen Ausfall meines Gehirns nicht bemerkte.
»Ich werte das einfach als Ja?«
Wieder nickte ich nur, offensichtlich dauerte mein Verlust der Muttersprache weiterhin an. Meine Sprachlosigkeit erheiterte ihn wohl, denn er fing an, zu lachen. Und das war der Moment, in dem ich unwiderruflich verloren war. Während mein Puls raste und ich meinen Blick nicht von seinen Lippen lösen konnte, erwärmte sich dieser verräterische Muskel in meiner Brust für den mir völlig unbekannten Kerl vor mir.
»Ich heiße Chris«, sagte er leise und kam einen weiteren Schritt auf mich zu. Ich spürte seine Nähe nur allzu deutlich, doch ich wich nicht zurück, sondern genoss seine Wirkung auf mich regelrecht. Ich fühlte mich, als hätte ich die vergangenen Jahre in einem Dornröschenschlaf verbracht und würde erst in diesem Augenblick wieder zu mir kommen und anfangen, zu leben.
»Und wie ist dein Name, du wunderschöne Unbekannte?« Er flüsterte fast und plötzlich spürte ich eine Hand, die sanft meine Wange umfing.
»Kris, mit K«, räusperte ich mich, während ich versuchte, das flüssige Feuer in mir zu ignorieren, das seine Berührung verursacht hatte und welches sich in Rekordzeit auszubreiten schien.
»Echt jetzt?« Er hielt inne, dann lächelte er. »Wenn das keine Fügung des Schicksals ist, Kris mit K.«
Ich schluckte schwer und ließ seine Worte auf mich wirken. Meinte er mit Fügung, dass wir denselben Spitznamen hatten, auch wenn er anders geschrieben wurde, oder dass wir uns hier getroffen hatten? Es fiel mir immer schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich fing unter seiner Berührung beinahe zu zittern an. Er sah mir tief in die Augen und ich war gefangen in seinem Bann. Plötzlich beugte er sich zu mir herunter, mein Herz schlug so schnell, dass ich befürchtete, einen Infarkt zu erleiden. Seltsamerweise sorgte ich mich weniger vor dem Sterben, als davor, zu sterben, noch ehe ich das erleben durfte, was unmittelbar folgte.
Als seine Lippen ganz sanft auf meine trafen, bemerkte ich nur beiläufig, dass das Erdbeben nicht um mich, sondern in mir geschah. Meine Welt, wie ich sie kannte, erbebte in ihren Grundfesten und ich wusste, dass nach diesem Kuss nichts mehr so sein würde, wie es einmal war. Vorsichtig presste er seine weichen, vollen Lippen auf meine. Ich erwiderte den Druck, küsste ihn zurück – diesen fremden Kerl, von dem ich nichts wusste und der in diesem Augenblick alles für mich bedeutete.
Ganz langsam löste er seine Hand von meinem Gesicht, schlang beide Arme um meine Taille und zog mich behutsam zu sich. Es schien mir fast, als hätte er Angst, einen Fehler zu machen. Nichts lag mir ferner, als ihn von dem abzuhalten, was er tat, und so legte ich zaghaft meine Arme um seinen Nacken und ließ mich fallen.
Eine kleine Ewigkeit später löste er sich zu meinem Bedauern von mir und ich lächelte, als ich bemerkte, dass er ebenso außer Atem war wie ich. Er sah mich immer wieder an und schüttelte den Kopf.
»Du haust mich um, Kris mit K.« Dann strich er mit dem Handrücken noch einmal über meine Wange und seufzte auf. »Ich bedauere zutiefst, dass ich gehen muss, aber ich habe meinem alten Herrn versprochen, ihm zu helfen.« Er machte eine lange Pause, in der er mir tief in die Augen blickte und in der ich vergeblich versuchte, den dicken Kloß in meinem Hals loszuwerden. Er musste gehen. Diese Tatsache ließ mich panisch, wenn nicht gar hysterisch werden. Ich würde ihn nie wieder sehen. O Gott Kris, tu doch was.
Dann beugte er sich noch einmal zu mir, bis seine Stirn meine berührte. »Komm heute Abend ins Resurrection, bitte. Ich werde da sein und an nichts anderes mehr denken können, als an unser Wiedersehen.«
Er schenkte mir noch einmal das Lächeln, das meine Beine ihren Daseinsgrund vergessen ließ, dann drehte er sich um und ging. Er hatte nicht einmal meine Antwort abgewartet. Ich sah ihm noch lange nach, unfähig, zu meinen Freundinnen zurückzugehen. Ins Resurrection also. Normalerweise ging ich nicht in Discos, ich verbrachte meine Wochenenden meistens mit meiner Nase in Büchern zu Hause, gemütlich auf dem Sofa. Doch heute nicht. Heute Abend würde ich dorthin gehen, denn seine Abwesenheit schmerzte bereits jetzt, obwohl nur Minuten seit seinem Abschied vergangen waren. Und welche glücklichere Fügung des Schicksals könnte es auch geben, als in eine Disco zu gehen, deren Name meinen momentanen Zustand beschrieb. Ich war von einem tiefen, lieblosen Schlaf auferstanden.
Während ich zu Fee und Sina zurückging, war es mir nicht möglich, mein glückliches Grinsen zu verbergen.
Zwei
Aufgeregt lief ich durch das Wohnzimmer und war ein nervliches Wrack. Jeden Moment mussten Fee und Sina aufschlagen, um mich abzuholen. Zu meinem Date. War es denn überhaupt ein Date? Nervös nagte ich an der Unterlippe, während ich verloren im Raum stand, nicht fähig, still zu sitzen.
Als ich am Mittag im Café zu meinen Freundinnen an den Tisch zurückgekehrt war, hatten sie an meinem dümmlichen Grinsen sofort bemerkt, dass etwas vorgefallen sein musste. Zwei Mal hatte ich es ihnen erzählen müssen und danach waren sie noch immer der Ansicht, dass ich sie auf den Arm nahm. Ich konnte es ihnen nicht verübeln, denn ich war nicht der Typ, dem so etwas passierte, geschweige denn, der sich bisher viel aus Jungs gemacht hatte. Also hatte ich ihnen bei meinem Leben geschworen, dass es Chris tatsächlich gab und dass ich mich am Abend mit ihm treffen sollte. Natürlich wollten es sich die Mädels unter keinen Umständen entgehen lassen, mich zu begleiten und sich persönlich davon zu überzeugen. Für einen winzigen Augenblick flackerte Angst in mir auf. Ich verdrängte den Gedanken daran, dass er meine Freundinnen attraktiver finden könnte, jedoch sogleich wieder und versuchte, mir einzureden, dass er dann im Café nicht mich geküsst hätte.
Der Kuss. Himmel, allein wenn ich an diesen Moment zurückdachte, flatterte mein Herz erneut verdächtig außerhalb seines Taktes. Ich lächelte versonnen und berührte meine Lippen, als Mom plötzlich vor mir stand. Nicht gut. Ich hatte es den ganzen Abend vermieden, auf den morgigen Tag zu sprechen zu kommen. Ertappt ließ ich die Hand sinken und sah sie fragend an.
»Du weißt, dass Carl morgen zum Mittagessen kommt und wir etwas mit dir zu bereden haben?«
Genervt verdrehte ich die Augen. »Ja Mom, ich heiße nicht Dorie.«
»Wer ist Dorie?« Irritiert sah sie mich an.
»Nicht wichtig. Kannst du mir nicht jetzt gleich verraten, um was es geht?«
»Nein Schatz, ich möchte, dass Carl dabei ist.« Sie kam auf mich zu und strich mir liebevoll eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich wollte dich nur daran erinnern, weil du heute ausgehst. Bleib nicht so lang fort und trink nicht so viel.«
Ich fragte mich, ob alle Mütter es drauf hatten, gleichzeitig so sanft und doch bestimmt mit ihren Kindern zu reden. Ich und Alkohol – in Verbindung mit durchzechten Nächten? Von welchem Kind sprach sie? Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Keine Sorge Mom. Dein partysüchtiges Kind wird versuchen, bis morgen Mittag wieder nüchtern zu sein.« Als sie mich entsetzt ansah, prustete ich los.
»Du nimmst mich auf den Arm. Sehr witzig.« Sie gab mir einen kleinen Klaps auf den Hintern und ging lächelnd in die Küche, um das restliche Geschirr vom Abendessen zu spülen. Nachdenklich sah ich ihr hinterher. Ich hatte viel von ihr geerbt, obwohl sie um einiges kleiner war, hatte ich ihr dunkles Haar und die dunklen Augen bekommen. Dad war ein heller Typ, Marke Sunnyboy, was vielleicht auch die Erklärung war, weshalb er Mom mit dem gesamten weiblichen Geschlecht in seinem Umfeld betrogen hatte. Seufzend gestand ich mir ein, dass ich sie nie so glücklich erlebt hatte, wie seit dem Tag, an dem sie mit Carl zusammengekommen war. Was immer sie mir morgen also zu sagen hatten, ich würde es brav akzeptieren und mich weiterhin über eine glückliche Mutter freuen. In diesem Augenblick unterbrach die Türklingel meine Gedanken und ich raste nahezu zum Eingang.
»Komm nicht zu spät«, trällerte sie mir fröhlich hinterher, doch ich war so schnell zur Tür raus, dass ich nicht sagen konnte, ob sie mein »Ja, ja« noch vernommen hatte.
Während wir zur Disco fuhren, stellte ich betrübt fest, dass ich mir mit meinem Outfit zwar wirklich Mühe gegeben hatte, meine Freundinnen in ihren schicken und ziemlich knappen Sachen jedoch um Welten sexyer aussahen. Das fing ja gut an. Plötzlich drehte Felicitas das Radio lauter und wir kreischten zu dritt um die Wette, ehe wir aus voller Kehle zu Alice Coopers Poison mitgrölten. Es musste sich anhören, als würden wir um unser Leben schreien, doch das war uns völlig gleich. Dieser Song begleitete uns seit der Schulzeit und hatte eine besondere Bedeutung für uns.
Die restliche Fahrt ins Resurrection verlief fröhlich und ich war meinen Mädels dankbar, dass sie mich davon abhielten, vor Aufregung zu zergehen. Nun saßen wir schon eine geraume Zeit in einer bequemen Sitznische und versuchten, gegen die laute Musik anzuquatschen. Während Fee und Sina an ihren Cocktails schlürften, nippte ich an meiner Cola. Die Heimfahrt würde wohl ich übernehmen. Seit wir hier waren, schweifte mein Blick immer wieder durch die Menge, in der Hoffnung, Chris zu sehen, bisher jedoch vergeblich. Wieder nagte die Angst leise an mir. Womöglich hatte er es sich anders überlegt? Ich rief mir erneut den Kuss ins Gedächtnis, wobei ich sofort von einem wohligen Schauder erfasst wurde und schüttelte den Kopf. Nein. Niemand küsste einen anderen Menschen auf diese Art und Weise und hält dann sein Versprechen nicht ein. Zumindest hielt ich mich an diesem kleinen Hoffnungsschimmer fest.
Die laute Technomusik wummerte durch den großen Raum, der überfüllt war mit Menschen, die sich zuckend zu dem schnellen Beat bewegten. Am Rand der Tanzfläche drängten sich die Massen vorbei, um in die Nebenräume oder zur Bar zu gelangen. Grell blitzten bunte Lichter zum Takt der Musik auf und schmerzten in den Augen. Nein. Ich war wirklich kein Partymensch. Hier war es einfach viel zu laut und zu hektisch, sodass ich mich regelrecht nach meinem Bett und meinem Lieblingsbuch sehnte. Und nach der himmlischen Ruhe in meinem Zimmer. Die Musik, die hier gespielt wurde, hörte ich sonst nicht, daher sagte ich mir, dass ich mich wohl erst damit anfreunden musste.
Die Minuten vergingen und ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder nervös auf meine Armbanduhr sah. Wir waren bereits eine Stunde hier, doch von Chris war nichts zu sehen. Der Kloß in meinem Hals wuchs an, während ich langsam das niederschmetternde Gefühl der Enttäuschung wahrnahm. Er hatte keine Uhrzeit genannt, aber es war bereits nach neun, normalerweise hätte er doch längst da sein müssen. Oder setzte ich das nur voraus, weil ich keine Ahnung hatte, wann der richtige Zeitpunkt war, um fortzugehen? So brechend voll, wie das Resurrection jedoch war, schien ich nicht sehr falsch zu liegen. Ich brachte es einfach nicht fertig, auch nur daran zu denken, dass ich ihn nie wiedersehen könnte. Er war mir völlig fremd, ich wusste nichts über ihn, und doch hatte er mir den besten Moment meines bisherigen Lebens geschenkt.
»Lass uns tanzen, Kris«, unterbrach Sina mich plötzlich.
Tanzen? Ich? Weder in diesem noch in einem anderen Leben.
»Du grübelst die ganze Zeit vor dich hin, das ist ja nicht zum Aushalten. Komm schon, beweg deinen sexy Hintern und hab ein wenig Spaß.«
Entgeistert sah ich von ihr zu Fee. Die hatten sie doch nicht alle.
»Sina hat recht. Es tut mir so schrecklich leid, dass dieser Chris nicht aufgetaucht ist, niemand hat so einen tollen Kerl mehr verdient als du. Aber Trübsal blasen ist nicht. Komm.«
Nun fiel mir auch noch Fee in den Rücken? Beide waren aufgestanden und hielten mir ihre Hand hin. Das war doch nicht ihr Ernst? Als ich mich standhaft weigerte, zogen sie mich grinsend von der gepolsterten Sitzbank hoch und hakten sich bei mir unter.
»Nirgends kann man so die Seele baumeln lassen wie beim Tanzen«, schwärmte Sina, während sie mich zur Tanzfläche schleiften.
»Ihr habt noch nie ein Buch gelesen, was?« Frustriert ging ich mit ihnen mit, blieb jedoch am Rand stehen und sah ihnen zu, wie sie sich freudestrahlend unter die Leute mischten und dieselben merkwürdigen Bewegungen machten, die heute wohl als Tanzen durchgingen. Sie sahen glücklich und losgelöst aus, da wurde mir klar, dass dies für die beiden genau das war, was für mich Lesen war. Verrückt.
Lächelnd beobachtete ich sie weiterhin, sah mich jedoch verstohlen um. Hier waren so viele Leute, die Wahrscheinlichkeit, dass ich Chris einfach übersehen hatte, war nicht so gering.
Das höchste der Gefühle, das bei mir dem Tanzen gleichkam, war das Wippen meines Fußes, das außerdem nicht mal im Takt war. Die laute Musik, das Tempo und die grellen Lichtblitze setzten mir zu, sodass ich beschloss, mich in den Nebenräumen umzusehen, in denen laut Fee ruhigere Musik gespielt wurde. Erleichtert atmete ich aus, als ich mich endlich durch all die schwitzenden Körper hindurchgezwängt hatte und der Hauch frischer Luft, der mich in diesem Durchgang empfing, machte mich unglaublich glücklich.
Mehrere Räume gingen aus dem langen, dunklen Gang ab und neugierig schlenderte ich an jedem vorbei. Sie waren wesentlich kleiner als der Hauptraum und tatsächlich wurde hier andere Musik gespielt. In einem lief Hip-Hop, im nächsten House und im letzten Raum kam Partymusik der achtziger und neunziger Jahre. Auch wenn es hier nicht ganz so laut war, zog es mich weiter. Am Ende des Ganges gelangte man in den Raucherbereich, der nach draußen führte. Ich hatte zwar meine Winterjacke im Auto gelassen und rauchte auch nicht, doch hier war es wegen der Kälte nicht überfüllt und vor allem ruhiger. Daher ging ich einfach weiter. Sofort fröstelte es mich in meinem dünnen Oberteil und automatisch legte ich beide Arme um mich. Ich sah niedergeschlagen auf den Boden und überlegte krampfhaft, wie ich Fee und Sina dazu bringen konnte, heimzugehen. Das hier war nicht meine Welt und der einzige Grund, hier zu sein, war nicht erschienen. Seufzend gestand ich mir ein, dass das Leben tatsächlich wundervolle Überraschungen zu bieten, es jedoch auch einen schrägen Sinn für Humor hatte.
»Ich wusste gar nicht, dass du rauchst, Kris mit K?«, raunte es plötzlich an meinem Ohr und im nächsten Moment schlangen sich zwei Arme von hinten um mich. Ich zuckte erschrocken zusammen und sein Lachen, das daraufhin folgte, sandte umgehend warme Schauder durch meinen Körper, sodass ich die beißende Kälte nicht mehr spürte. Er war gekommen. Er war wirklich gekommen. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht vor Freude zu hüpfen. Langsam drehte ich mich in seiner Umarmung um, damit ich ihn ansehen konnte. Sofort verlor ich mich in den Tiefen seiner Augen, deren Farbe außergewöhnlich und wunderschön war.
»Du bist da«, flüsterte ich, vor Aufregung bekam ich kaum einen Ton heraus.
»Natürlich bin ich da. Das habe ich doch gesagt.« Er schenkte mir ein Lächeln, das mir den Atem raubte, oder war es seine Hand, die mir behutsam über die Wange strich?
»Ich schnappe nur frische Luft«, erwiderte ich schnell auf seine erste Frage.
»Du holst dir eine Erkältung«, sagte er, nahm meine Hand in seine und zog mich ohne einen weiteren Kommentar mit sich. Enttäuscht ging ich mit, der Gedanke, wieder in die laute, wabernde Menge dort drin einzutauchen, behagte mir überhaupt nicht. Eine Unterhaltung war bei der Lautstärke unmöglich. Die Berührung seiner Hand um meine lenkte mich aber ab. Ich spürte jede Reibung, jede Bewegung mit solch einer Intensität, dass ich nach Luft schnappte. Weil ich mich völlig darauf konzentriert hatte, bemerkte ich zu spät, dass wir nicht in die Disco zurückgegangen waren, sondern die Treppen zum Obergeschoss genommen hatten, die mir zuvor nicht aufgefallen waren. Dann sah ich, dass es hier ein kleines Café gab, für all die Nachtschwärmer, die es nach der ganzen Action gemütlich ausklingen lassen wollten. Im Moment war mir völlig egal, aus welchem Grund die Leute hier drin saßen, für mich zählte nur eines: Ich bekam die Möglichkeit, mich in Ruhe mit Chris zu unterhalten. Die Freude darüber ließ sich nicht verbergen, wie ich an seinem Grinsen feststellte.
Nachdem wir uns einen ruhigen Platz gesucht und unsere Bestellung aufgegeben hatten, wurde mir plötzlich bewusst, dass wir nun allein miteinander waren. Er saß mir gegenüber und sah noch hinreißender aus als am Mittag. O Gott, ich war eine völlige Null in Datingsachen und sein sanfter Blick verwirrte meine chaotischen Gedanken noch mehr. Ich wollte etwas sagen, wusste jedoch nicht, was.
»Du magst also Techno?«, war das Erstbeste, das mir einfiel. Ja, für Wortgewandtheit hätte ich wirklich eine Medaille verdient.
»Nein, eigentlich gar nicht.«
»Oh, okay?« Erstaunt sah ich ihn an. Weshalb wollte er sich dann ausgerechnet hier treffen?
»Das ist nur der einzige Laden, den ich in dieser Gegend kenne«, fuhr er fort, als hätte er meine Gedanken gelesen. Langsam schob er seine Hände über den Tisch zu meinen, ohne den Blick von mir zu nehmen. Ich hatte keine Ahnung, wie er es machte, doch in seiner Gegenwart fühlte ich mich sicher und besonders, doch vor allem fühlte ich mich zu Hause. Daher lächelte ich ihn einfach an und gab ihm mein stilles Einverständnis. Sogleich verschränkten sich seine Finger mit meinen und tiefe Zufriedenheit durchströmte mich.
»Es tut mir leid, dass ich erst so spät kommen konnte, ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeug sich im Lauf der Jahre ansammeln kann.«
Das Prickeln, das von seinen Fingern ausgelöst wurde, wuchs immer mehr an, je näher es mein Herz berührte. Was? Wovon sprach er?
»Mein Dad. Ich hab ihm doch geholfen.« Wieder schien es, als hätte er meine Gedanken erraten.
»Mmh.« Es hieß immer, wir Frauen wären gut darin, mehrere Dinge gleichzeitig zu machen, doch ich scheiterte kläglich daran, mich auf etwas anderes, als auf dieses innige Gefühl zu konzentrieren, das mir völlig neu war.
Der Kellner, der unseren Kaffee brachte, riss mich aus meiner Verzückung und peinlich berührt konzentrierte ich mich auf mein Lieblingsgetränk.
»Du bist nicht sehr gesprächig, was? Oder liegt es an mir?« Ich musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass er grinste.
»Das ist irgendwie … verrückt«, antwortete ich verlegen.
»Du meinst, ein Café zu besuchen, wildfremde, wunderschöne Frauen vor dem Klo abzupassen, sie einfach zu küssen und ein Date für abends auszumachen? Hm, lass mich kurz nachdenken.«
Ich hielt die Luft an, um nicht loszulachen, während er so tat, als ob er sich Gedanken machte und angestrengt auf seiner Unterlippe nagte.
»Nein. Nein, das ist nicht verrückt. Ich würde sagen, ein wenig seltsam. Mutig und anbetungswürdig, tapfer und preisverdächtig. Aber verrückt? Niemals. Verrückt wäre es vermutlich, wenn ich diese wunderschöne Frau am selben Abend einfach so erneut ohne Vorwarnung küssen würde«, sagte er leise, stand auf, setzte sich neben mich und sah mich mit einem Blick an, der meinen Magen verrückt spielen ließ.
»Verrückt wäre es wohl, wenn ich von einem Mädchen, das ich überhaupt nicht kenne, nicht genug kriegen könnte und den ganzen Tag an nichts anderes hätte denken können, als an diese Lippen.«
Ganz langsam kam er näher und die Verbindung seines himmlischen Dufts mit seinen wundervollen Worten sprengte jegliche Vernunft in mir. Ich sehnte mich nach ihm, wie ich mich noch nie zuvor nach etwas gesehnt hatte.
»Vermutlich wäre es noch verrückter, wenn dieses Mädchen ganz ähnliche Gedanken hegen würde?«, flüsterte ich und schloss die Augen, als sein Gesicht sich unmittelbar vor meinem befand.
»Das wäre eine grandiose Steigerung«, sagte er kaum noch hörbar und im nächsten Augenblick legte sich der sanfte Druck seiner Lippen über meine.
Die Perfektion dieses Moments ließ mich beinahe aufstöhnen. Fast verzweifelt erwiderte ich den Kuss, schmeckte die süße Versuchung und genoss die Achterbahn der Emotionen, die in meinem Inneren wütete. Die Intensität, mit der ich mich nach ihm sehnte, ängstigte mich, doch zugleich war dieses völlig neue Gefühl so berauschend, dass ich mich darin vergaß. Erst, als er mich sanft von sich schob, taumelte ich in die Wirklichkeit zurück. Ich bemerkte, dass seine Atmung ebenso schnell ging wie meine, und angesichts meiner neu entdeckten Leidenschaft sah ich verschämt zu Boden. War ich zu stürmisch?
»Es tut mir leid«, keuchte er zwischen mehreren Versuchen, wieder zu Atem zu kommen. »Ich wollte nicht unhöflich sein, doch ich fürchte, dass ich mich in deiner Gegenwart nicht unter Kontrolle habe, Kris mit K.« Sanft fuhr er mit einem Finger die Konturen meines Gesichts nach und verharrte an meinem Hals. »Du bringst mich völlig um den Verstand.«
Ich mochte es, wie er meinen Namen formulierte und seine Worte trafen einen Teil in mir, der genau dasselbe empfand. Es war beängstigend, was er mit mir anstellte und gleichzeitig hätte ich jubeln können. Mein Herz hatte ihn längst Willkommen geheißen und die Erkenntnis darüber überraschte mich. War es denn möglich? Gab es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick tatsächlich und war ich allen Ernstes gerade dabei, mich zu …
»Wenn ich mich nicht wieder auf meinen Platz setze, kann ich für nichts mehr garantieren«, sagte er, und unterbrach meine Gedanken. Er streifte für einen flüchtigen Moment noch einmal meine Lippen, dann seufzte er auf und ging zurück. Die plötzliche Leere neben mir fühlte sich falsch an. Gefangen in meinen Überlegungen bemerkte ich nicht sofort, dass er meine rechte Hand wieder in seine genommen hatte, während sein Daumen sanft über meine Haut strich und mir eine Gänsehaut verpasste.
»Vielleicht möchte das wunderschöne, unbekannte Mädchen etwas von sich erzählen, damit meine aufgewühlten Gedanken sich etwas beruhigen können?«
Aufgewühlt. Ja, das traf es. Ich räusperte mich und dachte fieberhaft darüber nach, wie ich das Gespräch in eine unverfängliche Richtung lenken könnte. »Schildkröten«, sagte ich schließlich grinsend.
»Wie?«
Sein erstaunter Gesichtsausdruck brachte mich zum Lachen und löste die Anspannung. »Ich liebe Schildkröten. Ich mag Spaghetti, die Farbe Schwarz und backe gern. Oh und ich liebe Bücher. Ich verkrieche mich abends stundenlang in den Geschichten, weshalb ich am nächsten Morgen ziemlich oft verschlafe. Ah ja, ich bin ein Morgenmuffel und kaffeesüchtig.«
Er hörte sich meinen Wortschwall kommentarlos an und sah regelrecht entzückt aus über die Dinge, die ich gesagt hatte. Unsicher hielt ich inne. Amüsierte er sich über mich?
»Bitte mach weiter, ich könnte dir stundenlang zuhören, selbst wenn du nur aus dem Telefonbuch vorlesen würdest.« Er hatte seinen Kopf auf der freien Hand abgestützt und sah mich verträumt an. Wahnsinn. Ich war rettungslos verloren.
»Mehr«, verlangte er, als er meine Pause bemerkte.
»Hm, ich bin einundzwanzig Jahre alt und wohne bei meiner Mom, da ich noch studiere. Meine Eltern haben sich vor ein paar Jahren scheiden lassen, weil mein Dad die Bedeutung des Wortes monogam nicht kennt.«
»Autsch.« Chris verzog angewidert das Gesicht, was ihn noch liebenswerter machte. Wenn das überhaupt noch ging. Aber zu wissen, dass Treue scheinbar für ihn wichtig war, erfüllte mich mit tiefer Zufriedenheit. Auch wenn ich mich heimlich fragte, warum ich diese Gedanken hegte. Nun ja, oder auch nicht.
»Ja, das war keine schöne Zeit. Aber Mom hat endlich einen tollen Mann gefunden, mit dem sie ihr Glück nachholen darf.«
»Das ist schön«, sagte er lächelnd und es war einfach umwerfend.
»Hast du Geschwister?«, wollte ich wissen.
»Nein, du?«
»Nein, auch nicht.« Verrückt. »Erzähl mir mehr von dir«, forderte ich ihn auf und ertappte mich dabei, dass ich mich genüsslich in den Sitz zurücklehnte.
»Puh, ich schätze, mein Leben ist völlig unspektakulär. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, also viel weiser und erwachsener als du, schöne Unbekannte.« Sein freches Grinsen fuhr direkt in mein Herz. »Ich wohne auch noch zu Hause, da ich irgendwie versuche, mein Studium fertigzubringen. Ich mag die kalte Jahreszeit und das Knistern von Schnee unter meinen Füßen, wenn ich mit unserem Hund spazieren gehe. Man kann seine Seele baumeln lassen, sich von Grübeleien und Sorgen befreien.« Seine Augen strahlten vor Freude, während er das erzählte, und ich wurde sofort von seiner tiefen Sehnsucht angesteckt.
»Wow, das ist wunderschön.« Ich konnte nicht aufhören, ihn anzuschauen. Warum auch? Wenn das Leben einem die Perfektion in Gestalt eines wahnsinnig gut aussehenden und interessanten jungen Mannes schickt, dann muss man sie festhalten.
»Ihr habt einen Hund?« Ich liebte Tiere über alles. Mom hatte sich jedoch immer geweigert, ein Haustier zu holen, da sie der Meinung war, dass die Pflege und Versorgung am Ende an ihr hängen bliebe. Seufzend gestand ich mir ein, dass sie wohl nicht unrecht damit hatte.
»Ja, einen Golden Retriever. Er ist jetzt zwei.«
Ich jauchzte freudig auf. Ein Retriever, wie niedlich. »Wie heißt er denn?«
»Diablo.«
»Diablo?« Verwundert sah ich ihn an. Das wäre jetzt nicht unbedingt der erste Name, der mir für diese Rasse einfallen würde? Auch nicht der Zweite oder Zehnte.
»Ja, ich weiß. Dad hatte eine komische Phase.« Belustigt grinste er mich an und das sanfte Streicheln seines Daumens lenkte meine Gedanken sogleich wieder in eine andere Richtung. Ich konzentrierte mich auf das Prickeln, das seine Berührung auslöste, auf das Pochen meiner Haut, die zu brennen schien. Wieder war ich nicht fähig, etwas zu sagen und ihm schien es ähnlich zu gehen, denn wir sahen uns einfach nur wortlos in die Augen. Das war der Augenblick, in dem ich mich endgültig in meinen Gefühlen für ihn verlor. Ob es Liebe auf den ersten Blick gab? Und ob es sie gab. Woher ich das so sicher wusste? Weil mir genau das widerfahren war.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch irgendwann hatten Fee und Sina uns zu meinem großen Bedauern ausfindig gemacht und diesen wundervollen und ganz besonderen Augenblick unterbrochen. An ihren erstaunten Gesichtern konnte ich deutlich sehen, dass sie nicht geglaubt hatten, dass es Chris tatsächlich gab. Mehr noch, sie fanden ihn augenscheinlich genau so toll wie ich. Sie hatten sich natürlich zu uns gesellt und ihn neugierig gemustert. Er hatte die gesamte Zeit über, in der sie ihn löcherten, nicht aufgehört, meine Hand zu halten. Deshalb hatte mir das Kreuzverhör nichts ausgemacht, denn das war alles, was ich benötigte, um glücklich zu sein.
Als wir schließlich nach Hause gingen, war bereits der nächste Morgen angebrochen. Mom würde das nicht gefallen, doch zumindest hatte ich keinen Alkohol getrunken. Und müde war ich ohnehin so gut wie bei jedem Mittagessen. Die Mädels waren bereits zum Auto vorgegangen, um mir und Chris noch ein wenig Zeit zu zweit zu gönnen. Wir standen uns abseits der beiden gegenüber und hielten uns an den Händen. Ich wünschte mir, ihn nie wieder loslassen zu müssen und hoffte so sehr, dass er ähnlich empfand.
»Dann muss ich dich jetzt wohl gehen lassen?« Er klang ebenso niedergeschlagen, wie ich mich fühlte.
»Ich fürchte ja. Andernfalls laufe ich Gefahr, von meiner Mutter enterbt zu werden. Morgen, beziehungsweise heute, kommt ihr Freund zum Mittagessen und sie hat darauf bestanden, dass ich anwesend und ansprechbar bin. Sie wollen irgendwas Wichtiges mit mir besprechen.« Ich zuckte mit den Schultern und lächelte ihn zaghaft an.
»Dann musst du natürlich schnell in dein Bett, bevor sie nur noch die dunklen Ringe unter deinen Augen sieht und die Familiensitzung völlig vergisst.«
Ich stimmte in sein Lachen ein und wusste, er hatte recht, doch gleichzeitig schmerzte der Gedanke, ihn jetzt zu verlassen, sehr.
»Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, Kris mit K. Denn ich wäre ein Narr, wenn ich solch ein unglaubliches Mädchen wie dich einfach gehen lassen würde.«
Sofort beschleunigte sich mein Herzschlag bei seinen Worten und ich hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, die sich bei seinen wundervollen Worten ihren Weg bahnen wollten. Er ließ mir keine Zeit, zu antworten, sondern beugte sich zu mir herunter und wieder verschmolzen unsere Lippen zu einem Kuss, der so intensiv war, dass mir schwindlig wurde. Als er sich wieder keuchend von mir trennte, schüttelte er erneut den Kopf.
»Ich weiß nicht, wie du das machst. Aber ich bin verloren in deiner Nähe.« Liebevoll legte er seine Stirn an meine und holte tief Luft. Es schien, als müsste er sich regelrecht zwingen, sich von mir zu trennen.
»Ich habe keine Ahnung, wie viele endlose Minuten und Stunden ich auf unser Wiedersehen warten muss, aber das wird mein einziger Gedanke sein.« Dann gab er mir noch einmal einen flüchtigen Kuss und zog sich widerstrebend zurück. Während er über den Parkplatz zu seinem Auto ging, sah er immer wieder lächelnd zurück, und erst, als ich ihn nicht mehr sehen konnte, starrte ich auf den Gegenstand in meiner Hand, von dem ich nicht einmal mitbekommen hatte, wie er ihn mir zugesteckt hatte. Eine Karte mit seiner Telefonnummer. Mein Herz schlug Purzelbäume und die Endorphine hatten endgültig meinen Körper übernommen. Ich hatte einen Weg geschenkt bekommen, ihn wiederzusehen. In diesem Augenblick war ich der glücklichste Mensch in diesem und jedem anderen Universum.
Drei
Am nächsten Mittag versuchte ich, so gut es ging, dem vorwurfsvollen Blick meiner Mutter zu entgehen. Sie war beleidigt, nur weil ich vielleicht ein klein wenig müde und ihr beim Kochen keine große Hilfe war. Zugegeben, meine geistige Abwesenheit lag nicht am Schlafmangel, sondern an diesem engelsgleichen Gesicht mit den hellgrünen Augen, das mich in jeder einzelnen Sekunde heimsuchte, seit ich aufgewacht war. Nein, eigentlich hatte er mich auch im Schlaf beherrscht.