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Maximilian Maurer

Leichen kann man nicht ermorden

Ein Fall für Chief Inspector Hippolyt Gibbs

Kriminalroman

hockebooks

8. Kapitel:
Tödliche Neuigkeiten

Einem Fehler beim ersten Mord
folgt meist ein zweiter Mord.

Der Autor

Gibbs saß an einem der großen Fenster im Frühstücksraum eines Mittelklassehotels mitten in Newquay. Vor ihm stand seine dritte Tasse Kaffee. Den leergegessenen Teller mit den Resten seines reichhaltigen Frühstücks hatte man bereits abgeräumt. Er blätterte eine am Sonntag erscheinende Boulevardzeitung der übelsten Sorte durch und war froh, nichts über den Mord zu entdecken. Einige dünne Sonnenstrahlen fielen zwischen wässrigen Wolkenschleiern hindurch auf das Tischtuch und ein paar Krümel warfen lange Schatten. Als er sich gerade über das Kreuzworträtsel hermachen wollte, erschien eine etwas verschlafen wirkende Melanie und setzte sich zu ihm an den Tisch.

»Guten Morgen, DS. Na, haben wir gut geschlafen?«, begrüßte Gibbs grinsend seine Assistentin. Er machte sich gern über Melanies Schwierigkeiten lustig, morgens in die Gänge zu kommen.

Melanie nickte und hauchte ein kaum vernehmbares »Guten Morgen, Sir«. Mit zwei klammen Händen, als säße sie im Wartehäuschen eines verspäteten Vorortzuges und nicht im gemütlich warmen Frühstücksraum eines Hotels, hielt sie sich an der heißen Tasse Kaffee fest, die ihr eine gütige Dame vom Service kredenzt hatte.

»Und Sie, Sir, haben Sie gestern noch etwas herausgefunden in Bezug auf die Briefe?«, wollte Melanie wissen.

Gibbs hatte den Eindruck, die Frage war mehr eine Geste der Höflichkeit, als der aufrichtige Versuch in die berufliche Realität zurückzufinden.

»Und ob!«, strahlte Gibbs. »Als Sie noch in tiefem Schlummer lagen, war ich bereits unterwegs zur hiesigen Metropolitan Police. Habe dort einen sehr liebenswürdigen Superintendent getroffen, der froh ist, dass wir ihm die Arbeit auf Kingman Island abnehmen. Er versprach mir, ein paar Untersuchungen für uns durchzuführen.«

»Heute, am Ostersonntag?«

»Oh, ich habe ihm klargemacht, dass er vom Erfolg dieser Ermittlungen ebenfalls profitieren wird, und ich habe ihm eine gehörige Portion Ruhm und Ansehen für die Aufklärung des Falles in Aussicht gestellt. Natürlich nur, falls ich recht behalte mit meinem Verdacht.«

»Und womit könnten Sie recht behalten?«

Melanies Augen waren auf einmal hellwach.

»Darüber möchte ich zum jetzigen Zeitpunkt lieber noch nicht sprechen. Könnte ja sein, dass ich falsch liege und mich dann bis auf die Knochen blamiere.«

»Ach, Sie alter Geheimniskrämer.«

»Das ›alter‹ nehmen Sie aber bitte zurück.«

Ein Angestellter des Hauses trat an ihren Tisch und teilte Gibbs mit, dass ein uniformierter Polizist im Foyer warte, der den Chief Inspector dringend sprechen wollte. Gibbs legte seine Serviette beiseite und folgte dem Hotelangestellten nach draußen. Im Foyer stand ein sichtlich nervöser junger Constable, der noch nervöser wurde, als er den berühmten Chief Inspector erblickte. Doch der ging freundlich auf ihn zu und fragte, was denn los sei. Der junge Mann nahm Haltung an und berichtete Gibbs, dass ein gewisser Paul Watford von Kingman Island im Revier angerufen habe und einen neuerlichen Mord gemeldet habe. Man habe ihm zugesagt, dass man die Nachricht sofort weiterleite. Gibbs bedankte sich bei dem jungen Mann und fragte ihn, ob er mit dem Wagen da sei. Doch der arme Kerl benutzte ein Fahrrad.

»Okay, Constable. Ich habe da einen sehr verantwortungsvollen Auftrag für Sie. Fahren Sie unverzüglich in Ihre Dienststelle und alarmieren Sie in meinem Auftrag das Team der Spurensicherung. Wenn es nicht anders geht, lassen Sie das den diensthabenden Beamten tun. Die Leute sollen so schnell wie möglich auf die Insel kommen. Hat dieser Mr Watford gesagt, um wen es sich bei dem Opfer handelt?«

Der junge Polizist schüttelte den Kopf.

»Ich war selbst nicht am Telefon, Sir, aber ich konnte einen Blick auf die Notizen meines Kollegen werfen. Es scheint sich um einen gewissen Blumenfeld zu handeln. Mehr weiß ich allerdings auch nicht.«

Gibbs pfiff leise durch die Zähne.

»Constable, an die Arbeit. Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Ich begebe mich schon mal zum Hafen und werde dort auf das Team der Spurensicherung warten.«

Der Constable, stolz, dass ihm ein so berühmter Kollege einen wichtigen Auftrag gegeben hatte, legte zackig die Hand an den Uniformhelm und verließ das Hotel im Laufschritt. Gibbs sah ihm nach und lächelte. So hatte er vor vielen Jahren auch angefangen.

Als er zu Melanie zurückkam, sah er, dass sie schnell ihr Frühstück beendet hatte und schon abmarschbereit war. Sie schaute Gibbs fragend an und hoffte, dass er ihre dunkle Vorahnung entkräften würde. Doch Gibbs tat ihr den Gefallen nicht.

»Wer ist es diesmal?«

»Ein gewisser Blumenfeld. Wir werden unsere Pläne etwas ändern müssen.«

Er gab ihr die Karte des Pathologen.

»Das übernehmen Sie. Nehmen Sie sich ein Taxi. Am besten bringen Sie ihn gleich mit zum Hafen. Ich habe die Spurensicherung ebenfalls dorthin beordert. Wir treffen uns dann bei der Anlegestelle der Hafenpolizei. Und bringen Sie Ihr Gepäck mit. Wir checken hier aus. Die nächsten Tage werden wir uns auf der Insel einnisten.«

*

Der Tross Polizisten, bestehend aus den Spezialisten der Spurensicherung, von denen einige bereits am Vortag mit von der Partie waren, dem Polizeiarzt, DS Poulsen und Chief Inspector Gibbs, traf am späten Vormittag auf Droughty Hall ein. Fast zur selben Stunde wie tags zuvor. Nur regnete es diesmal nicht. Schon auf der Überfahrt hatte sich Gibbs mit dem Pathologen unterhalten, der ihm das Ergebnis der Obduktion an Mark Kingman mitteilte. Er war, wie sie bereits wussten, schon tot, als man ihm den Dolch in die Brust rammte, doch der Tod war nicht auf natürlichem Weg eingetreten. Mark Kingman war an einer Überdosis seines Herzmittels gestorben, was Gibbs zu der Bemerkung veranlasste: »Dann haben wir es also mit einem echten und einem versuchten Mord zu tun. Dachte ich mir schon. Und jetzt kommt vielleicht noch ein zweiter Mord hinzu.«

Aber nicht nur das Wetter, auch die Stimmung unter den Gästen war diesmal anders. Während sich gestern niemand blicken ließ, als Scotland Yard einmarschierte, waren heute fast alle in der Eingangshalle versammelt oder warteten auf der Veranda in der Nähe des Portals. Angst und Panik waren mit Händen greifbar und den Polizisten schlug eine fast feindselige Stimmung entgegen. So, als wären sie daran schuld, dass es einen zweiten Todesfall im Hause Kingman gegeben hatte. Lediglich Watford war wie immer die Ruhe selbst und kam schnurstracks auf Gibbs und seine Assistentin zu und fragte, ob er sie gleich zum Tatort bringen sollte. Gibbs nickte, schnappte sich den Doktor und schickte sich an, Watford zu folgen.

Eine gut aussehende Blondine, die offensichtlich gerade dabei war, ihre besten Jahre hinter sich zu bringen, stellte sich ihm in den Weg. An ihrer Seite eine leise vor sich hin weinende junge Dame, um die sie schützend ihren Arm gelegt hatte.

»Inspector, Sie müssen unbedingt als Allererstes mit meiner Stieftochter Judy sprechen, sie hat den Toten gefunden.«

Gibbs war stehen geblieben. Wenn Gibbs etwas nicht leiden konnte, dann waren es Menschen, die ihm vorschreiben wollten, wie er seine Ermittlungen zu führen hatte. Und wenn diese Menschen auch noch weiblichen Geschlechts waren, dann sah Gibbs schon fast rot. Denn Gibbs war, auch wenn er es mit Sicherheit abgestritten hätte, durch und durch Macho.

»So, muss ich das? Zu allererst, Madam, werde ich mir ein Bild vom Tatort machen, wenn Sie gestatten.«

Die Blondine richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf. Sie überragte Gibbs um einiges. Mit hochgerecktem Kinn und böse funkelnden Augen herrschte sie ihn an: »Ich bestehe darauf, dass Sie sich zuerst die Aussage von Judy anhören. Das arme Kind wartet seit Stunden.«

»Darf ich fragen, wer Sie sind, dass Sie mir vorschreiben wollen, wie ich meine Arbeit zu tun habe?«

»Ich bin Genevieve Foucault-Kingman. Ich bin die Frau von Simon Kingman und das ist seine Tochter.«

»Gut, Miss Kingman.« Gibbs schaute dabei freundlich die sichtlich verstörte junge Dame an, ohne der Mutter auch nur einen Blick zu gönnen. »Ich verspreche Ihnen, ich bin in wenigen Minuten zurück. Dann höre ich mir an, was Sie zu sagen haben. Einverstanden?«

Judy Kingman nickte nur und zog, etwas peinlich berührt vom Auftritt ihrer Stiefmutter, Genevieve mit sich fort. Gibbs folgte den anderen, die langsam in den ersten Stock vorausgegangen waren. Sie mussten das hintere Treppenhaus benutzen, denn das Zimmer von Richard Blumenfeld lag zwar im selben Stockwerk wie die Räume von Mark Kingman und Irene Winters, doch gab es im ersten Stock keine Verbindung zum Ostflügel. Das heißt, es gab wohl eine solche Tür, wie Watford im Hinaufgehen erklärte, doch die war verschlossen und befand sich ausgerechnet in dem von Blumenfeld benutzten Zimmer.

Vor der Tür zum Zimmer von Richard Blumenfeld blieben Watford und der Doktor stehen. Als dem Leiter der Ermittlungen stand Gibbs das Recht zu, als Erster den Tatort zu inspizieren. Blumenfelds Zimmer war nicht sonderlich groß. Es hatte einen nahezu quadratischen Grundriss mit einem nach Norden gehenden, jetzt geschlossenen Fenster ohne Vorhänge. Die Einrichtung war spartanisch und ohne jede persönliche Note. Ein typisches Gästezimmer mit allem, was jemand benötigt, der nicht ständig in einem Haus wohnt: ein Bett, ein Tisch mit Stuhl, eine kleine Kommode und ein Kleiderschrank. Auf der Tapete über dem Bett war deutlich die Stelle zu erkennen, wo bis vor Kurzem noch der Kris, der malaiische Dolch hing, den man in Mark Kingmans Brust gefunden hatte. In der Wand gegenüber der Eingangstür gab es zwei Türen. Die eine führte in ein fensterloses Badezimmer, die andere war, wie sich Gibbs von Watford bestätigen ließ, jene ominöse Tür, die in den Westflügel führte. Sie war erst vor Kurzem gestrichen worden und im Zimmer hing noch immer der leichte Geruch von frischer Farbe. Zwischen Badezimmer- und Verbindungstür stand eine Kommode. Darüber hing ein sehr schönes Aquarell, das Droughty Hall zeigte, mitten im Sommer unter einem azurblauen Himmel. Gibbs konnte die Signatur erkennen. Es war ein Bild von Irene Winters.

Blumenfeld lag angekleidet auf seinem Bett. Das Jackett hing auf einem Bügel an einem Haken hinter der Tür. Der rechte Hemdsärmel war hochgekrempelt und das Hemd an der Brust halb aufgerissen, als habe er im Todeskampf um Atem gerungen. Er war unverkennbar tot, auch wenn man keine äußerlichen Verletzungen an ihm feststellen konnte. Auf dem Nachttisch lagen ein altmodischer Zimmerschlüssel und daneben eine moderne automatische Insulinspritze neben einer ganz normalen Spritze, wie sie Ärzte benötigen, um Medikamente intravenös zu verabreichen. Eine leere Glasampulle entdeckte Gibbs auf dem Tisch unter dem Fenster. Gibbs, der bei der Tatortbesichtigung immer saubere Einmalhandschuhe trug, hob die Ampulle hoch und roch an ihrem abgebrochenen Ende. Der markante Geruch von Insulin stieg ihm in die Nase. Auf dem Tisch fand sich auch ein mit Schreibmaschine beschriebener Bogen Papier mit der Unterschrift Blumenfelds. Offensichtlich ein Abschiedsbrief mit einem Geständnis. Gibbs überflog kurz den Inhalt und schüttelte nachdenklich den Kopf. Er sah sich im Zimmer um. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er der erst kürzlich gestrichenen Tür zum Westflügel. Der Anstreicher, der sich wohl bewusst gewesen war, dass die Tür nicht geöffnet werden sollte, hatte sich beim Streichen nicht die Mühe gemacht, Tür und Türstock getrennt zu bearbeiten, sondern einfach beides in einem Zug behandelt. So war an manchen Stellen Farbe in die Fuge zwischen Tür und Türrahmen gelaufen. Doch Gibbs stellte fest, dass jemand nach dem Trocknen der Farbe die Tür geöffnet haben musste. Dort, wo die Farbe kleine Brücken zwischen Tür und Türrahmen gebildet hatte, waren beim Öffnen größere Farbteile entweder an der Tür oder am Rahmen hängen geblieben, sodass eine deutlich sichtbare gezackte Bruchlinie zu erkennen war. Auf dem Boden konnte Gibbs kleine Farbpartikel entdecken, die beim gewaltsamen Öffnen der Tür heruntergefallen sein mussten. Das konnte nur bedeuten, dass zwischen dem Öffnen der Tür und dem heutigen Tag das Zimmer nicht gereinigt worden war. Ein Schlüssel steckte nicht im Schloss. Aber sie war verschlossen.

Gibbs holte den Schlüssel, der ihm beim Betreten des Zimmers auf dem Nachttischchen aufgefallen war. Er nahm ihn vorsichtig auf und steckte ihn in die Tür, durch die sie das Zimmer betreten hatten. Er passte nicht. Auch zur Badezimmertür konnte er nicht gehören, denn diese besaß nur eine Verriegelung. Also probierte Gibbs den Schlüssel an der Verbindungstür zum Westflügel und siehe da, der Schlüssel drehte sich im Schloss und die Tür ließ sich öffnen. Gibbs trat in den Raum hinter Blumenfelds Zimmer und befand sich in einer Art Putzkammer. Da es kein Fenster gab, suchte Gibbs nach dem Lichtschalter. Eine einzige schwache Birne erhellte mühsam den Raum. An einer Seitenwand befanden sich Regale mit Putzmitteln aller Art. Auf dem Boden standen Eimer und Schrubber und es gab sogar einen Staubsauger. Gibbs schloss die Tür hinter sich und besah sie sich genauer. Auch auf dieser Seite war die Tür frisch lackiert worden. Und auch hier war Farbe in die Fuge zwischen Tür und Türstock gelaufen. Allerdings hatte auf dieser Seite jemand die Fuge mit einem Messer fein säuberlich aufgeschnitten, bevor er die Tür geöffnet hatte. Deshalb gab es auf dieser Seite nicht die typischen Bruchkanten, wie auf der anderen. Zum Schluss probierte Gibbs noch die zweite Tür in der Kammer. Sie war unverschlossen und ließ sich leicht öffnen. Er warf einen Blick hinaus. Zu seiner Rechten sah er das Treppenhaus des Westflügels und vor sich die Schlafzimmertür von Mark Kingman. Befriedigt ging Gibbs zurück in Blumenfelds Zimmer, verschloss die Verbindungstür und legte den Schlüssel zurück auf das Nachttischchen. Er bat Melanie, darauf zu achten, dass der Schlüssel auf einem der Polizeifotos zu sehen sein sollte. Aber da war noch etwas, das Gibbs auffiel. Es war nirgends eine Schreibmaschine zu entdecken. Gibbs zuckte die Schultern und verließ das Zimmer.

»Ich bitte die Mitarbeiter der Spurensicherung einen kleinen Moment um ihre Aufmerksamkeit, da nicht alle im heutigen Team auch gestern hier waren. Bitte achten Sie ganz besonders auf das Insulinbesteck und auf den Abschiedsbrief. Den Brief hätte ich gerne, wenn Sie damit fertig sind. Ach und den Schlüssel, der auf dem Nachttisch liegt, bitte nicht vergessen. Bin gespannt, wessen Abdrücke wir dort entdecken. Dann bitte ich Sie, auch in der Putzkammer hinter diesem Zimmer nach Fingerabdrücken zu suchen. Sie finden die Tür verschlossen, der Schlüssel liegt auf dem Nachttisch. Wenn Sie hier fertig sind, sollten Sie sich bitte auch noch das Zimmer von Mr Simon Kingman im zweiten Obergeschoss vornehmen. Der DS hat den Schlüssel. Es wurde dort gestern das Kleidungsstück entdeckt, zu dem der Knopf passt, den wir bei Mark Kingman im Zimmer gefunden haben, und auch Halbschuhe wurden dort gefunden, die mit schwarzer Gartenerde behaftet sind. Ich gehe stark davon aus, dass sie zu den Abdrücken unter Mark Kingmans Fenster passen. Meine Assistentin, DS Poulsen wird Ihnen gerne den Knopf und die Schuhe zeigen, sie liegen als Beweismittel in unserem Büro.«

Damit gab Gibbs den Weg frei und der Doktor und die Leute der Spurensicherung nahmen das Zimmer in Beschlag. Gibbs nahm Watford am Arm und führte ihn den Weg zurück, den sie gekommen waren.

»Mr Watford, ich nehme an, dass es Judy Kingman war, die den jungen Mann gefunden hat.«

»Genau so ist es, Mr Gibbs. Sie kam heute Morgen völlig aufgelöst in den Frühstücksraum und rief: ›Er ist tot. Richard Blumenfeld ist tot.‹ Ich war zufällig dabei. Als ihre Stiefmutter wissen wollte, woher sie das wisse, sagte sie laut, sodass jeder im Raum es hören konnte, sie hätte sich mit ihm zum Frühstück verabredet, weil er ihr angeboten hatte, ihren morgendlichen Blutzuckerspiegel zu messen. Und als er nicht kam und die Kleine langsam hungrig wurde, hat sie nach ihm geschaut und ihn gefunden. Ich habe Sie dann umgehend informiert.«

»Danke, Mr Watford, es war sehr gut, dass Sie so schnell reagiert haben. Bitte versuchen Sie sich genau an den Wortlaut zu erinnern. Sagte Judy ›Richard Blumenfeld ist tot‹ oder sagte sie ›Richard Blumenfeld hat sich umgebracht‹?«

»Oh nein, Mr Gibbs. Sie rief deutlich ›Richard Blumenfeld ist tot‹. Das weiß ich genau, denn ich dachte sofort: Jetzt hat der Mörder ein zweites Mal zugeschlagen. Das hätte ich nicht gedacht, wenn sie gesagt hätte ›Richard Blumenfeld hat sich umgebracht‹.«

Gibbs nickte.

»Wer wusste eigentlich in der Familie, dass Blumenfeld Diabetiker war?«

»Ach, das wussten alle. Darum bekam er ja immer das Zimmer im ersten Stock, weil es ein eigenes Bad hat. Sehr zum Leidwesen von Dr. Wafer, der das Zimmer sonst bewohnt, wenn er auf der Insel ist. Nur an Weihnachten und am Geburtstag Mr Kingmans muss er umziehen. Das passt ihm gar nicht. Verletzte Eitelkeit, Sie wissen schon.«

Watford lächelte und Gibbs stieß nur ein verständnisvolles »Aha« aus.

»Ich habe da noch eine Frage an Sie, Mr Watford. Wissen Sie, wo sich der Schlüssel zu dieser Verbindungstür in Blumenfelds Zimmer befindet?«

»Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht, aber wir können Jonathan fragen«, antwortete Watford.

»Da ist noch etwas, was mir seltsam vorkommt. Warum gibt es im zweiten Stock und im Erdgeschosseinen Korridor, der Ost- und Westflügel miteinander verbindet, aber nicht im ersten Stock?«

Watford erklärte es ihm.

»Früher gab es in jedem Stockwerk einen solchen Korridor. Doch der damals noch lebenden Mrs Kingman war es ein Gräuel, dass die privaten Räume der Familie praktisch für jedermann im Hause zugänglich waren. Die Besucher der beiden Gästezimmer im ersten Stock brauchten nur über den Flur zu gehen und schon standen sie vor dem Schlafzimmer der Kingmans. Um das zu ändern, löste man den Flur im ersten Stock auf und gestaltete ihn mit einigen dort liegenden Kammern zu einem weiteren vollwertigen Zimmer um. Dieses Zimmer sollte dem Freund des Hauses, Dr. Wafer, zur Verfügung stehen, der häufiger noch als heute auf Droughty Hall weilte. Die Verbindungstür war nur für die Angestellten gedacht, die beim Saubermachen so leichter von dem einen in den anderen Teil des Hauses gelangen konnten, ohne den Umweg über die Treppenhäuser nehmen zu müssen. Sie wird heute so gut wie gar nicht mehr benutzt, weil die Zimmer in der ersten Etage des Ostflügels kaum noch benutzt werden.«

Gibbs nickte. Melanie, die inzwischen wieder bei ihrem Chef eingetroffen war, ließ ihn flüsternd wissen, dass sie dringend mit ihm sprechen müsse. Doch Gibbs winkte ab und bedankte sich bei Watford. Er sagte, dass er selbst mit Jonathan wegen des Schlüssels reden wolle. Watford verstand offenbar den Wink, dass er nun nicht mehr gebraucht wurde und zog sich zurück. Als er außer Hörweite war, sprudelte Melanie los.

»Die Schreibmaschine steht in einem Schrank in der Bibliothek. Soweit ich sehen konnte, wurde sie erst vor Kurzem benutzt. Ich habe der Spurensicherung gesagt, dass sie sich darum kümmern sollen.«

Gibbs erzählte Melanie von den Spuren, die er an der Verbindungstür gefunden hatte, und erklärte ihr, dass der Mörder von Richard Blumenfeld vermutlich durch diese Tür gekommen sein musste.

»Seltsam ist nur, dass der Schlüssel für diese Tür auf dem Nachttisch liegt«, sinnierte Gibbs und erntete dafür von Melanie einen unverständlichen Blick.

»DS Poulsen, wir müssen jetzt mit dem Mädchen reden. Ich möchte, dass Sie mit dabei sind. Und später habe ich noch einige Spezialaufträge für Sie. Wichtig ist, dass wir die Mutter loswerden. Ich habe den Verdacht, sie möchte gern wissen, was uns ihr Stieftöchterchen zu sagen hat.«

In der Eingangshalle saßen Mutter und Tochter Kingman einträchtig nebeneinander und warteten auf Gibbs’ Rückkehr. Als er endlich erschien, sprang Genevieve Kingman auf und sagte zu ihrer Tochter: »Komm Judy, der Inspector hat jetzt Zeit für uns.«

Gibbs hob abwehrend die Hand.

»Ich glaube, gnädige Frau, da liegt ein Missverständnis vor. Es geht um die Befragung von Miss Judy Kingman. Sie können dabei keinesfalls anwesend sein.«

Doch die streitbare Genevieve Kingman ließ sich nicht so einfach abwimmeln.

»Natürlich werde ich dabei sein, wenn Sie meine Tochter verhören. Sie ist noch jung und unerfahren und braucht meinen Schutz.«

Melanie Poulsen mischte sich ein.

»Mrs Kingman, dies ist eine offizielle Morduntersuchung. Ihre Stieftochter wird nicht verhört, sondern nur als wichtige Zeugin befragt. Sie haben kein Recht, bei dieser Befragung anwesend zu sein, es sei denn, Ihre Tochter wäre noch minderjährig oder Sie würden aus einem anderen Grund das Sorgerecht für Ihre Tochter ausüben. Beides dürfte hier nicht zutreffen. Also bitte, machen Sie keine Schwierigkeiten und lassen Sie uns unsere Arbeit tun.«

Melanie hatte in ruhigem, aber sehr dienstlichem Ton gesprochen, der seine Wirkung nicht verfehlte. Zwar sah man Genevieve ihren Ärger mehr als deutlich an, aber außer der Bemerkung »In welchem Staat leben wir eigentlich«, auf die niemand einging, blieb sie ruhig und gab sich geschlagen. Sie schärfte Judy nochmals ein, sich ja nichts gefallen zu lassen und verschwand hocherhobenen Hauptes im Speisesaal. Judy machte einen erleichterten Eindruck und folgte den beiden Polizeibeamten in deren Büro.

Gibbs bat die junge Dame nicht, an seinem, respektive Watfords, Schreibtisch Platz zu nehmen, sondern führte sie in den hinteren Teil des Raumes, wo es eine gemütliche Ledergarnitur gab. Er bat Judy, in dem Sessel Platz zu nehmen, der gegenüber dem Fenster lag, sodass das Tageslicht voll auf ihr Gesicht fiel. Er selbst nahm auf der Couch gegenüber Platz. Den zweiten Sessel belegte Melanie, die gespannt ihren Notizblock bereithielt. Gibbs sah das junge Mädchen erwartungsvoll an. Judy saß vor ihm wie ein Häuflein Elend und man konnte deutlich erkennen, dass sie sich nicht wohlfühlte. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, vermutlich aber eher, weil das ihrem Modegeschmack entsprach, als deswegen, weil sie um die beiden ermordeten Familienmitglieder trauerte. Sie trug einen schwarzen Minirock, schwarze Leggins und schwarze glänzende Ballerinas. Den einzigen Farbklecks bildete ein dünnes Goldkettchen, das um den linken Fußknöchel baumelte. Dazu hatte sie ein schwarzes Oberteil mit unzähligen Falten, Rüschen und Spitzen gewählt. Ihre langen, seidig glänzenden Haare hatte sie im Nacken zusammengebunden. Melanie fielen die dünnen, transparenten BH-Träger auf, die an den Schultern sichtbar wurden und dachte neidvoll bei sich, warum Judy überhaupt einen BH trug, wo sie doch so gut wie nichts hatte, was es da zu halten gegeben hätte. Judy hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Kinn in die Hände gelegt. Gibbs merkte, dass sie nicht recht wusste, wie sie beginnen sollte. Er half ihr.

»Also Miss Kingman, Sie haben Richard Blumenfeld heute Morgen tot aufgefunden. Bitte schildern Sie uns, wie es dazu kam.«

Judy Kingman rutschte scheinbar nervös in ihrem Sessel hin und her.

»Ach Chief Inspector, nennen Sie mich doch bitte Judy. Alle tun das hier und es gefällt mir viel besser als Miss Kingman.«

Gibbs erinnerte sich daran, in Watfords Liste gelesen zu haben, dass sie Schauspielerin war und es schien ihm, als hätte sie sich schon die ganze Zeit überlegt, welche Rolle sie ihnen vorspielen würde. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt, als sie mit erhobener Stimme und weit ausholender Geste zu erzählen begann.

»Es war schrecklich, Mr Gibbs. Schrecklich! Wie er da so lag. Und ich konnte nichts mehr für ihn tun.«

Bei diesen Worten drückte sie den Handrücken gegen ihre Stirn und schloss für einen Moment die Augen. Gibbs seufzte und wollte schon etwas sagen, aber Judy hielt ihm die ausgestreckte Handfläche entgegen, als wollte sie ihm gebieten zu schweigen.

»Ich habe Richard heute Morgen gegen acht Uhr gefunden. Ich habe ihn gesucht, weil wir im Speisesaal verabredet waren und er nicht kam.«

Bevor sie weitersprach, legte sie eine Pause ein und machte es sich ausgiebig in ihrem Sessel bequem. Wie eine junge Katze, die sich genüsslich den besten Platz für ihr Schläfchen aussucht, probierte sie verschiedene Stellungen aus, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Gelassen schaute Gibbs zu. Zuletzt hatte sie das eine Bein untergeschlagen und lehnte mit dem Oberkörper lasziv auf der Armlehne. Dass dabei ihr ohnehin kurzes Röckchen deutlich zu weit hochrutschte, schien sie nicht zu stören.

»Wissen Sie, Inspector, in letzter Zeit ist mir morgens nach dem Aufstehen immer ein wenig schwindlig. Richard, ich meine Mr Blumenfeld, meinte, ich solle doch mal meinen Zucker kontrollieren lassen, weil ich vielleicht Unterzucker hätte, jedenfalls am Morgen. Wir haben gestern Abend noch ein wenig zusammen geplaudert und er bot mir an, heute Morgen beim Frühstück meinen Zucker zu messen. Er wollte mich gegen halb acht Uhr im Frühstücksraum treffen und ich sollte vorher nichts essen. Als es dann immer später wurde und er nicht auftauchte, da habe ich mir Sorgen gemacht und wollte ihn holen. Das heißt, eigentlich habe ich mir gar keine Sorgen gemacht, eigentlich war ich nur ein wenig ärgerlich, weil ich schon sehr hungrig war und er seine Verabredung nicht eingehalten hatte. Ja, und da bin ich in sein Zimmer gegangen und habe ihn gefunden.«

»Wie war das genau, Miss Judy?«, hakte Gibbs nach: »Sie sind also zu seinem Zimmer gegangen und haben geklopft …«

»Ja, natürlich habe ich geklopft«, erwiderte Judy entrüstet. »Ich würde doch nicht einfach so in ein fremdes Zimmer gehen. Ich habe gewartet, bis jemand ›Herein‹ sagen würde, aber als ich nichts hörte, öffnete ich die Tür einen Spalt und rief hinein: ›Mr Blumenfeld. Hallo, sind Sie wach‹ oder so etwas. Als ich dann immer noch nichts hörte, öffnete ich die Tür vollends und trat ein. Und da sah ich ihn dann.«

Sie sagte das so theatralisch, dass Gibbs befürchtete, sie würde gleich noch hinzufügen: »… in seinem Blute liegen.« Aber das tat sie gottlob nicht.

»Haben Sie irgendetwas angefasst?«, wollte Gibbs wissen.

»Nein, dazu war ich viel zu erschrocken. Außerdem war ich nur ein paar Sekunden in dem Zimmer. Als ich gesehen habe, dass er tot war, lief ich zurück in den Frühstücksraum und rief, glaube ich, ›Er ist tot‹ oder so was.«

»Ich habe nur noch eine Frage an Sie, Miss Judy. Wie gut kannten Sie eigentlich Mr Blumenfeld?«

Mit dieser Frage hatte Judy offenbar nicht gerechnet. Jedenfalls vergaß sie darüber völlig ihr Jungmädchengehabe. Sie runzelte die Stirn und sah Gibbs fragend an.

»Wie meinen Sie das denn?«

»Ganz einfach, Miss Judy, wie ich es gesagt habe. Waren Sie befreundet? Haben Sie sich öfters außerhalb von Kingman Island getroffen? Immerhin wohnen Sie doch beide in London.«

Judy schien nachzudenken.

»Also, wenn Sie mich so fragen, wir trafen uns immer nur hier. An Weihnachten und an Marks Geburtstag. Was sollte ich sonst mit Mr Blumenfeld anfangen? Immerhin ist er ja ziemlich viel älter als ich. Also nee, ich würde sagen, ich kannte ihn so gut wie gar nicht. War es das, Mr Gibbs?«

»Ja, Miss Judy. Das war alles. Und herzlichen Dank für Ihre Hilfe. Auf Wiedersehen. Halt, noch eine Kleinigkeit. Wissen Sie, wie alt Mr Blumenfeld war?«

Die Antwort kam prompt.

»Im Oktober wurde er achtundzwanzig.« Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Glaube ich jedenfalls.«

Judy schien es plötzlich wahnsinnig eilig zu haben, das Gespräch zu beenden. Sie sprang auf und rannte mehr zur Tür als dass sie ging. Gibbs lehnte sich grinsend in seinem Sofa zurück und schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. Er sah Melanie an.

»Und?«

Melanie blickte verständnislos zu ihm hinüber.

»Was und?«

»Na, haben Sie nicht gemerkt, wie uns die Kleine nach Strich und Faden angelogen hat?«

Melanie sah ihren Chef verdutzt an.

»Aber wie kommen Sie denn darauf? Das klang doch alles ganz plausibel.«

»Für Sie vielleicht, liebe Melanie, aber nicht für mich.«

»Also, das müssen Sie mir schon genauer erklären, was soll denn gelogen gewesen sein an ihrer Aussage?«

»Später Melanie, später. Jetzt gibt es Arbeit. Aber ein kleines Beispiel will ich Ihnen geben. Als ich Judy fragte, wie alt Blumenfeld sei, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen, er sei 28. Und sie wusste sogar den Monat, in dem er geboren war. Von wie vielen Menschen, Sarge, die Sie angeblich nicht besonders gut kennen, wissen Sie das genaue Alter? Würde sie ihn wirklich kaum kennen, hätte sie gesagt: ›Woher soll ich das wissen, ich schätze ihn so auf etwa 30‹, oder etwas in der Art. Aber das ist gar nicht das Entscheidende. Denken Sie an den Zimmerschlüssel. Vielleicht fällt Ihnen da etwas auf. Und nun kommen Sie. Wir wollen die Sache noch an diesem Wochenende zu Ende bringen.«

9. Kapitel:
Wichtige Zeugen

Die meisten Zeugen lügen,
wenn nicht mit Absicht,
dann, weil sie nicht richtig hingeschaut haben.

Chief Inspector Hippolyt Gibbs

Mittlerweile hatten die Leute von der Spurensicherung ihre Arbeit beendet und schickten sich an, auf das Festland zurückzukehren. Der tote Richard Blumenfeld begleitete sie in einem blauen Leichensack. Zuvor hatte sich Gibbs bei den Ermittlern nach Neuigkeiten erkundigt, aber es gab wenig Interessantes zu berichten. Man hatte die Schreibmaschine untersucht, die Melanie in einem der Schränke in der Bibliothek gefunden hatte. Der Abschiedsbrief war auf ihr getippt worden. Offensichtlich war sie erst kürzlich benutzt worden. Es fanden sich jedoch keinerlei Fingerabdrücke darauf, was Gibbs zu der ironischen Bemerkung veranlasste: »Warum sollte ein Selbstmörder seine Fingerabdrücke abwischen, wenn er einen Abschiedsbrief geschrieben hat?«

Auch der Polizeiarzt konnte Gibbs nicht mehr sagen, als er schon wusste: Der Tod sei nach Mitternacht eingetreten, aber nicht später als drei Uhr morgens. Allerdings gab er zu bedenken, dass er einen Selbstmord medizinisch gesehen nicht ausschließen könne. Einen Zuckerkranken mit einer Überdosis Insulin zu töten, wäre nach Ansicht des Pathologen schwer möglich. Denn zum einen müsste er sich ja freiwillig spritzen lassen, und zum anderen, sobald die Wirkung der Unterzuckerung eintrete, könnte der so »Vergiftete« durch die Einnahme von Traubenzucker sofort gegensteuern. Aber natürlich wollte er sich nicht festlegen und vertröstete Gibbs auf die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung.

Simon Kingman war froh, dass er sein Zimmer wiederhatte und Gibbs teilte ihm großzügig mit, dass man in dem Raum nichts weiter von Bedeutung entdeckt hätte, dass er aber seine Schuhe und den Knopf inklusive Hemd zunächst nicht würde wiederbekommen.

Watford hatte Gibbs darüber informiert, dass er nach dem Lunch die Testamentseröffnung durchführen werde, und zwar in zwei Gruppen. Zuerst wollte er die Angestellten informieren und anschließend die Familie sowie die Freunde des Verstorbenen Mark Kingman. Er lud Gibbs ein, an dieser Sitzung teilzunehmen, was Gibbs dankbar annahm. Seine Assistentin hatte in der Zwischenzeit mit Jonathan gesprochen und ihn gebeten, für sie und ihren Chef eine Übernachtungsmöglichkeit herrichten zu lassen.

Gibbs wollte die Zeit bis zum Lunch nutzen und bat Melanie, sich mit Martha Stapleton zu unterhalten. Sie sollte nach Möglichkeit etwas über das Verhältnis zwischen Watford und Irene Winters herausfinden. Er selbst wollte mit Judys Stiefmutter sprechen. Gibbs fand sie in dem an den Speisesaal angrenzenden Salon, wo sie einer Party Billard zwischen ihrem Mann Simon und seinem Onkel Charles zusah. Er bat sie in sein Büro zu kommen und Genevieve Foucault-Kingman folgte gern dieser Aufforderung.

Auf dem Weg dorthin begegnete ihnen Jonathan und Gibbs fragte ihn beiläufig, wo sich der Schlüssel zu der frisch gestrichenen Verbindungstür befände. Jonathan wurde etwas verlegen und berichtete, dass der Schlüssel leider unauffindbar sei. Als Gibbs wissen wollte, wie lange er den Schlüssel schon vermisse, meinte Jonathan: »Genau gesagt, seit dem Tag, als Mills die Tür streichen sollte. Eigentlich steckt er immer, damit Rose beim Saubermachen in den Ostflügel wechseln kann, aber dann war er plötzlich weg. Mills hat die Tür trotzdem gestrichen. Leider, jetzt ist sie vermutlich so verklebt, dass man sie nicht mehr öffnen kann.«

Gibbs war mit dieser Auskunft hoch zufrieden und bedankte sich bei Jonathan mit der geheimnisvollen Ankündigung: »Es könnte sein, dass Sie Ihren Schlüssel schon bald wieder zurückbekommen.«

Er lachte, als er das erstaunte Gesicht Jonathans sah.

In Watfords Büro hatte es sich Gibbs an seinem Schreibtisch gemütlich gemacht und bat Mrs Foucault-Kingman auf dem Besucherstuhl Platz zu nehmen. Entgegen aller Erwartungen lächelte sie ihn geradezu hingebungsvoll an, als sie sagte: »Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Mr Gibbs. Wissen Sie, ich war heute Morgen einfach etwas überreizt wegen Judy. Sie ist zwar nur meine Stieftochter, aber ich mag sie sehr. Und als sie so aufgelöst in den Frühstücksraum kam, da tat sie mir so leid. Sie ist ja so ein zartes Geschöpf.«

Verglichen mit der üppigen und einen Kopf größeren Mrs Genevieve Foucault-Kingman konnte man Judy tatsächlich als zart bezeichnen.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Mrs Kingman. Ich weiß, das alles hier zehrt sehr an den Nerven, aber ich kann Ihnen versichern, wir arbeiten mit Hochdruck an der Sache und wir machen Fortschritte.«

»Das freut mich zu hören, Chief Inspector«, flötete Mrs Kingman. »Und was kann ich dabei tun?«

»Sie könnten mir aus Ihrer Sicht die Ereignisse von heute Morgen schildern.«

Genevieve Foucault-Kingman ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie schilderte in allen Einzelheiten, wie sie morgens aufgestanden war und wie ihr Judy erzählt hatte, dass sie sich beeilen müssten, um zum Frühstück zu kommen, weil sie, Judy, sich von Blumenfeld den Blutzuckerspiegel messen lassen wollte. Dann berichtete sie, wie Judy beim Frühstück immer ungeduldiger wurde, weil Blumenfeld nicht erschien und wie sie dann schließlich ging, um ihn zu suchen, wobei sie, Genevieve, sie eigentlich davon abhalten wollte, weil man so etwas ja nicht tut, und wie sie dann völlig aufgelöst wieder im Speisesaal erschien und vom Tod des armen Blumenfelds berichtete und dass er sich selbst gerichtet habe.

»Das ist allerdings seltsam, Mrs Kingman. Andere Zeugen sagen aus, Judy hätte beim Betreten des Speisesaals gesagt, Blumenfeld sei tot, sie soll nicht gesagt haben, dass er Selbstmord verübt habe. Nun behaupten Sie, sie hätte gesagt, er habe sich selbst gerichtet.«

»Stimmt, Chief Inspector, sie kam herein und sagte nur ›Blumenfeld ist tot‹. Aber später hat sie mir dann gesagt, dass da ein Abschiedsbrief lag. Ehrlich gesagt«, fügte sie hinzu, »bin ich ganz froh, dass sich damit der Mord an Mr Kingman so schnell aufgeklärt hat, auch wenn es doch ein tragisches Schicksal für den jungen Mann ist.«

Gibbs war erstaunt über die Schlussfolgerung, die Genevieve Kingman gezogen hatte.

»Wie kommen Sie darauf, dass der Selbstmord von Richard Blumenfeld mit dem Mord an Mark Kingman in Verbindung steht?«

Genevieve sah Gibbs fragend an.

»Liegt das nicht auf der Hand? Erst tötet er Mark, dann bekommt er Gewissensbisse und setzt seinem Leben ein Ende, bevor ihn Scotland Yard festnehmen kann. Außerdem hatte Judy ja den Abschiedsbrief mit dem Geständnis gelesen. Hätte sie das nicht tun dürfen?«

»Doch doch, Mrs Kingman, es ist alles in Ordnung. So könnte es gewesen sein. Trotzdem müssen wir noch einige Erkundigungen einziehen, um uns ein Bild von der Lage zu machen. Reine Routine natürlich, muss aber sein.«

Gibbs lachte etwas gequält auf.

»Bitte verraten Sie mir, wo Sie gestern Nacht zwischen ein Uhr und acht Uhr morgens waren und auch die Nacht davor.«

Genevieve dachte kurz nach und sagte dann: »Also, am Freitag war ich noch bis drei Uhr mit Simon und Dr. Wafer im Billardzimmer. Wir haben uns sehr angeregt unterhalten. Dann bin ich in mein Zimmer gegangen. Judy war bereits in ihrem Bett und schlief schon. Sie müssen wissen, ich teile mir ein Zimmer mit Judy, weil mein Mann Simon so fürchterlich schnarcht. Ja, und gestern, da bin ich schon früh in mein Zimmer gegangen und habe noch gelesen. Judy kam dann so um elf Uhr oder halb zwölf und wir haben sehr bald das Licht ausgemacht.«

»Als Sie sich mit Ihrem Mann und Dr. Wafer im Billardzimmer unterhalten haben, waren Sie da immer zusammen?«

Genevieve dachte nach.

»Also, im Prinzip schon. Außer dass vielleicht jemand kurz mal zur Toilette ging. Ach ja. Und dann ging uns der Wein aus. James, also Dr. Wafer, sagte, er wüsste, wo im Weinkeller noch was zu finden sei und erbot sich, noch ein paar Flaschen zu holen. Hat aber ziemlich lange gedauert. Ich dachte schon, er hätte sich zurückgezogen.«

»Wie lange ungefähr?«

»Ich schätze so zehn bis fünfzehn Minuten. Er meinte, er hätte den Lichtschalter nicht gefunden und musste erst in der Küche eine Taschenlampe holen.«

»So, so. Eine letzte Frage hätte ich noch, Madam.«

Gibbs hatte sich auf seinem Stuhl nach vorne gelehnt und schaute Genevieve direkt in die Augen.

»Heute Nachmittag soll ja das Testament eröffnet werden. Gehen Sie davon aus, dass Sie im Testament des Mark Kingman berücksichtigt wurden?«

Für einen Moment huschte deutlich sichtbare Zornesröte über Genevieves Gesicht. Aber sie hatte sich sofort wieder in der Gewalt. Sie wollte den guten Eindruck, mit dem sie beim Chief Inspector ihren Auftritt von heute Vormittag wieder wettmachen wollte, nicht gefährden. Deshalb blieb sie sehr freundlich, als sie sagte: »Ich verstehe nicht, was das mit dem Mord an Mark Kingman zu tun hat. Aber ich werde Ihre Frage trotzdem beantworten. Natürlich werde ich im Testament berücksichtigt sein. Und ich kann Ihnen auch sagen, warum. Besser Sie erfahren es von mir als von dieser Dame, die sich in dieser Familie über jeden den Mund zerreißt. Ich war mal die Geliebte von Mark Kingman. Ich bin nämlich ausgebildete Krankenschwester. Und bevor ich Simon geheiratet habe, verdiente ich mein Geld damit, die Kranken und Todgeweihten der Reichen dieser Welt zu pflegen. So kam ich zu Ann Kingman, der Frau von Mark. Ich habe sie bis zu ihrem Tod betreut. Mark konnte damals seine Finger nicht von mir lassen und so ist es passiert. Als Ann gestorben war, wollte er mich heiraten, aber er war mir offen gesagt zu alt. Und dann lernte ich Simon kennen, der war mir nicht zu alt. Aber er ist genauso ein Filou, wie Mark einer war. Aber das ist eine andere Geschichte. Wenn Sie jetzt fragen, ob ich damit ein Motiv hätte, Mark Kingman zu töten, ja, ich hätte eins. Denn ich brauche das Geld dringend, um mich von meinem Mann scheiden zu lassen. Und bei dem ist nichts zu holen. Der hat nur Schulden. Und ohne das Erbe müsste ich wieder arbeiten. Dazu habe ich aber keine Lust. Nur, ich habe mit dem Mord nichts zu tun und das gleiche Motiv wie ich haben hier fast alle. Geld, Mr Gibbs. Mark war reich. Wir, die anderen in seiner Familie, sind mehr oder weniger arm wie die Kirchenmäuse. Sonst noch was?«

»Nein, Mrs Kingman, aber ich bedanke mich für Ihre Offenheit.«

Als Genevieve gegangen war, führte Gibbs ein sehr langes Gespräch mit Superintendent Hutchinson von der Polizei in Newquay, das ihn über alle Maßen befriedigte.

*

Detective Sergeant Melanie Poulsen fand Martha Stapleton in der Bibliothek. Sie saß in einem bequemen Lehnstuhl vor dem Kamin und strickte. Auf einem Beistelltisch neben dem Sessel standen ein Tablett mit Tee und ein Teller mit Ingwerplätzchen. Melanie bemerkte, dass sie hungrig war.

»Schön, Sie hier anzutreffen, Mrs Stapleton. Chief Inspector Gibbs bat mich, ein paar Routinefragen mit Ihnen zu klären, bevor er sich selbst noch mit Ihnen unterhalten möchte.«

Melanie konnte ihre Augen kaum von dem Strickzeug wenden. In Gedanken bemitleidete sie die arme Person, die in den Genuss dieser Handarbeit kommen würde. Die Wolle war in geradezu abstoßender Weise in einem scheußlichen Pink eingefärbt, aber was noch schlimmer war, der Faden sah aus wie eine kleine dicke Raupe, der Tausende von Haaren abstanden. Offenbar missdeutete Martha Stapleton den Blick Melanies, denn sie fragte: »Stricken Sie auch, Miss …?«

»Poulsen, Madam, Detective Sergeant Melanie Poulsen von Scotland Yard. Nein, ich habe dafür nicht die nötige Geduld.«

»Schade, in Ihrem Beruf wäre ein wenig Geduld sicherlich angebracht«, bemerkte Martha bissig. »Was möchten Sie denn wissen?«