Ich war fünf, als ich begriff, dass mit mir etwas nicht stimmte. In Gegenwart anderer litt ich Höllenqualen. Es war, als wäre mein Herz zu klein, als würde mein Innerstes jeden Moment explodieren, weil so viel auf mich einstürmte.
»Du bist ein Seelenauge, Lia«, gestand mir meine Mutter später, »genau wie ich. Du nimmst Gefühle auf, Wünsche, Träume, Ängste, andauernd, ohne dein Zutun. Und es wird Zeit, dass du lernst, dich abzuschirmen, denn dein Körper verrät dich.«
Emotionen spiegeln sich in dunklen Ranken auf Lias Haut und verraten ihre Gabe. Um dies zu verhindern, versperrt sie ihr Herz gegenüber sämtlichen Gefühlen und versucht nichts durch ihren Schutzschild dringen zu lassen. Doch nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter beschließt sie zu fliehen - vor ihrer Gabe, vor ihrem alten Leben und vor allem vor der Mafia. Ihr Weg führt sie zurück in ihre Heimat, nach Berlin, wo sie in der Modeszene Fuß fassen will. Der Traum, Designerin zu werden, unabhängig zu sein und ein normales Leben zu führen, scheint greifbar nahe. Doch viel zu schnell holen sie die Dämonen ihrer Vergangenheit wieder ein und Lia erkennt: vor seiner Bestimmung kann man nicht fliehen …
ein König, der hatte eine Frau mit goldenem Haar, und sie war so schön, dass sich ihresgleichen nicht mehr auf Erden fand.
Doch das war nicht der Grund, warum er sie geheiratet hatte.
Es war einmal
eine Königin, deren Aufgabe es war, ihrem Ehemann zu dienen.
Doch das machte sie krank.
Und es war einmal
eine Königstochter, die sich ihrem Vater widersetzte.
Doch ihre Geschichte ist kein Märchen.
Ich heirate in Weiß. Das Kleid ist ein absoluter Traum, ich habe es selbst geschneidert. Die Seide schmiegt sich um meine Taille, kühle Spitze streicht über meine Schultern. Der Schleier ist drei Meter lang. Ich sehe aus wie eine Prinzessin.
Mit gerafftem Rock steige ich in Begleitung der vier Bodyguards die Treppe zur Kirche hinauf. Drinnen warten an die hundert Gäste darauf, dass die Zeremonie beginnt, aber Enzo verspätet sich wieder einmal.
Der Padrone kann sich das erlauben. Als kreativer Spross eines ermordeten Drogenbosses kehrte er Neapel und der Camorra den Rücken und gründete in Mailand das Modelabel Musetti, mit dem er bei den ganz Großen der Branche mitmischt. An seinen Mafiamethoden änderte das freilich nichts, mittlerweile kontrolliert er die halbe Lombardei.
Hier in seinem Wohnort Vanzago, etwa eine halbe Autostunde westlich von Mailand gelegen, gehört ihm jedes Geschäft, jedes Haus, jede Familie. Alle müssen sich seinem Willen beugen. Wen interessiert da schon, ob die Hochzeit seiner Stieftochter pünktlich beginnt oder nicht?
Lia Musetti. Ich probiere den Klang meines neuen Namens aus, lautlos, nur für mich. Die letzte Silbe will mir kaum über die Lippen kommen.
Ich bin keine Musetti. Ich werde es niemals sein.
Dabei ist Enzos Neffe Daniele, mein zukünftiger Ehemann, ein guter Fang. Er sieht umwerfend aus, ist gebildet, als Jungdesigner erfolgreich. Er wird einmal die Firma führen und das Musetti-Vermögen erben, das sich jetzt schon auf mehrere Hundert Millionen Euro beläuft, sprich: Er ist stinkreich. Sämtliche Mädchen der Stadt würden sich alle zehn Finger nach ihm lecken. Ich nicht. Ich hasse ihn.
Vor dem geöffneten Tor bleibe ich stehen. Die Junisonne blinzelt durch das Blätterdach der alten Kastanien. Es ist schwül, die Luft ist schwer wie eine Decke und es ist ungewöhnlich still im Viertel. Wer nicht in der Kirche sitzt, weil er es Enzo schuldig ist, hat die Rollläden heruntergelassen. Furcht ist stärker als Neugierde.
Die Gelassenheit meiner Bodyguards ist nur Show. Ich weiß, dass sie mich ständig im Blick haben. Sie sind nicht zu meinem Schutz da, sie sind meine Wachen. Und sie sind mindestens so nervös wie ich.
Mir ist heiß, in meinem Mund sammelt sich zäher Speichel. Ich muss mich dazu zwingen, geradeaus zu schauen, nicht über die Schulter zu blicken und in den Hauseingängen nach der versteckten Gestalt zu suchen. Auf Toma ist Verlass, rufe ich mir in Erinnerung. Alles wird laufen wie geplant.
Es ist zum Haareraufen. Ich kann mir noch so oft Mut zusprechen, mein Körper wendet sich trotzdem gegen mich. An meinen Handgelenken kribbelt es verdächtig.
Ich muss die Angst bezwingen, also beginne ich zu zählen. Meine Mutter hat mir die Methode beigebracht: eins, zwei, eins, zwei – zählen, atmen. Massiv und undurchdringlich muss er sein, mein Schutzwall, dann kann mir nichts etwas anhaben. Zählen, atmen …
Das jahrelange Training macht sich bezahlt, meine Gefühle lassen sich zurückdrängen. Die Nervosität aber bleibt. Ich bin ja auch die Braut, ich habe jedes Recht der Welt, nervös zu sein!
Unruhig starre ich wieder ins Halbdunkel der Kirche. Von drinnen ist Gemurmel zu vernehmen. Wo bleiben Enzo und Daniele denn nur? Diese Warterei macht mich wahnsinnig.
»Mir ist schlecht«, erkläre ich einem der Bodyguards. Er ist neu, ich kenne noch nicht mal seinen Namen. »Kann ich ein Glas Wasser bekommen?«
Er rührt sich nicht vom Fleck. »Es dauert nicht mehr lang, Signorina.«
Ich schnaube. »Das höre ich seit einer Stunde. Wenn Sie nicht wollen, dass die Braut zusammenbricht, sollten Sie den Boss benachrichtigen. Oder mir Wasser bringen. Am besten beides.«
Er tippt an sein Headset und fällt in einen Wortwechsel mit Enzo, der so schnell ist, dass ich Mühe habe zu folgen, obwohl ich fließend Italienisch spreche.
Meine Mutter stammte aus Deutschland. Als ich drei Jahre alt war, kehrte sie ihrer Heimatstadt Berlin den Rücken und folgte Enzo nach Italien. Mittlerweile bezweifle ich, dass sie diese Entscheidung aus Liebe traf.
»Noch zehn Minuten«, sagt der Bodyguard.
»Und das Wasser?«
Er wirft einen Blick auf den schwarzen Ford Edge, der in der Allee im Schatten steht. Ich weiß, dass es darin eine Kühlbox mit Getränken gibt, weil Enzos Männer oft stundenlang für ihn unterwegs sind. Die Frage ist nur, ob der Bodyguard sich traut, von meiner Seite zu weichen.
»Es geht gleich los.«
Feigling.
Reifen quietschen, als ein Auto rasant in die Straße einbiegt. Enzo? Nein, ein roter Sportflitzer. Ich will mich schon abwenden, da hält der Wagen direkt vor der Kirche. Unruhe befällt die Bodyguards. Dieser Parkplatz ist für den Padrone vorgesehen. Einer der Männer läuft hinunter, um dem Kerl, der sich gerade vom Fahrersitz schwingt, die Leviten zu lesen. Dann hält er in der Bewegung inne.
»Signore Filippo!«, ruft er. »Was …?«
Was willst du denn hier?, vollende ich in Gedanken. Onkel Filippo ist Danieles Vater und das schwarze Schaf der Familie. Er arbeitet nicht in der Modebranche, ich glaube, er hat überhaupt noch nie einen Finger für seinen Lebensunterhalt gerührt. Stattdessen schwirrt er in der Weltgeschichte herum, klappert ein Casino nach dem anderen ab und schafft es regelmäßig wegen irgendwelcher dubioser Geschichten in die Schlagzeilen. Dass er ausgerechnet heute auftaucht, anstatt an einem Spieltisch zu pokern, kann nur ein böser Wink des Schicksals sein.
Niemand darf uns in die Quere kommen.
Erstmals riskiere ich einen Blick die Straße hinunter. Das abgestellte Motorrad wirkt unauffällig. Toma ist nirgends zu sehen. Es wird klappen. Es muss klappen, eine Alternative gibt es nicht.
»Hier können Sie nicht parken, Signore«, stellt der Bodyguard fest.
»Ach nein?« Filippo wackelt unbeeindruckt mit dem Kopf. »Weil mein ehrenwerter Herr Bruder vorfahren möchte? Was juckt mich das?« Er sieht mich vor dem Kirchentor stehen und eilt die Treppe herauf. »Lia, mein Herz!«
Steif lasse ich mich in seine Umarmung ziehen. »Mein Make-up«, bringe ich hervor, als er mir einen Kuss auf die Wange drücken will. Folgsam hält er Abstand und deutet die Begrüßung nur an – Luftkuss rechts, Luftkuss links.
»Make-up, pff. Das hast du doch nicht nötig! Du bist eine Naturschönheit, Lia.«
Onkel Filippo ist ein Charmeur, die Frauen liegen ihm ohne Einschränkung zu Füßen. Für ihn aber zählt nur die Eroberung, kaum hat er eine rumgekriegt, gelüstet es ihm nach der nächsten.
Genauso lief es mit Danieles Mutter ab. Drei Tage, mehr brauchte es nicht, um ihr ein Kind anzuhängen. Mit dem feinen Unterschied, dass er in ihr auf eine Ebenbürtige traf. Sie legte den Kleinen gleich nach der Geburt auf der Schwelle des Musetti-Landsitzes ab und machte sich aus dem Staub. Ein Glück für Daniele, dass Enzo ihn sofort unter seine Fittiche nahm. Filippo wäre ihm nie ein guter Vater gewesen, überhaupt kein Vater, um genau zu sein.
Ich lächle gezwungen. »Danke.«
»Und was für ein Kleid! Zauberhaft.«
Ein angemessener Look, um sich ins Verderben zu stürzen. Ich sage nichts.
»Sieh dich nur an, Lia! Das Haar so golden wie die Sonne. Und wie es duftet.« Er schnuppert genießerisch an den einzelnen Locken, die aus meiner Hochsteckfrisur herabfallen. »Deine Augen, so strahlend wie Sternenlicht. Und deine Haut …«
Meine Haut. Das Problemthema.
»Onkel Filippo!«, stoppe ich seine poetischen Ausführungen. Ich mag ihn, das habe ich immer schon getan. Es imponiert mir, dass er sich den Regeln der Familie widersetzt und Enzo auf der Nase herumtanzt. Filippo ist ein Überlebenskünstler. Sollte er jemals pleite sein, wird er trotzdem ein Leben in Saus und Braus führen. Manchmal wäre ich gern so wie er, ein bisschen zumindest.
»Lia, mein Herz, bist du sicher, dass du meinen missratenen Sohn heiraten willst?«
Von Wollen kann keine Rede sein. Grimmig erwidere ich seinen Blick.
Keine zwei Monate ist es nun her, dass meine Mutter an Nierenversagen gestorben ist. Sie war ihr Leben lang nicht krank, jedenfalls nicht körperlich. Was sich in ihrer Seele abgespielt haben muss, ist eine andere Geschichte, deren Ausmaß ich erst jetzt zu erahnen beginne.
Noch während ich taumelnd vor Trauer nach ihrem Tod versuchte, wieder Land zu gewinnen, zog Enzo bereits die Fäden. Klammheimlich ließ er das Konto meiner Mutter sperren und zog unsere gemeinsamen Sparbücher ein, sodass ich weder Zugriff auf mein Erbe noch auf mein Studiengeld hatte. Außerdem kündigte er meinen Studienplatz am Istituto Europeo di Design, wo ich Modedesign studierte. Alles zu meinem Besten natürlich. Auch die Hochzeit mit Daniele hatte er längst organisiert. Unnötig zu erwähnen, dass er einen Enkel erwartet. Sogar den Namen hat er bereits ausgesucht: Vincenzo – der Sieger.
In dieser Angelegenheit wird es nur einen Sieger geben.
»Sie werden dich mit Haut und Haaren verschlingen«, sagt Filippo.
Genau das will ich verhindern. Und dabei steht er mir im Weg. Ich senke die Stimme und sehe ihn beschwörend an. »Tu mir den Gefallen und geh in die Kirche. Bitte!«
Filippo zögert.
»Signore«, mischt sich der Bodyguard ein. »Fahren Sie bitte Ihr Auto weg.«
»Kann ich etwas für dich tun?«, raunt Filippo mir zu. »Du brauchst es mir nur zu sagen …«
»Ich weiß. Aber lieber nicht, danke. Geh einfach.«
Selbst wenn ich auf sein Angebot einginge, kann ich mir seiner Loyalität nicht sicher sein. Filippo wird immer zuerst seine eigene Haut retten.
»Geh!«, wiederhole ich. »Bitte!«
Der Bodyguard blickt nervös über seine Schulter. »Signore!«
Filippo wirft ihm die Autoschlüssel zu. »Sie haben die Signorina gehört. Sie will mich in der Kirche sehen.« Achselzuckend dreht er sich um. »Ich erhebe Einspruch, okay?«, ruft er mir noch zu, ehe er durch das Tor tritt.
Nicht nötig, danke. Ich begreife nicht, was er hier will, aber es kann mir auch egal sein. Ich bin ihn losgeworden, das ist alles, was im Moment zählt.
Kaum hat der Bodyguard den Sportflitzer umgestellt, nähert sich der schwarze Porsche Cayenne mit Enzo am Steuer. Er fährt prinzipiell selbst, das lässt er sich nicht nehmen. Natürlich sind die Scheiben aus Panzerglas. Nicht ohne Grund, es gibt genügend Leute, die noch eine Rechnung mit Enzo offen haben.
Der Wagen kommt zum Stehen und ich spanne die Muskeln an. Ein letzter Blick die Straße hinunter – it’s showtime!
Ich glaube, ich war fünf, als ich begriff, dass mit mir etwas nicht stimmte. In Gegenwart anderer litt ich Höllenqualen. Es war, als wäre mein Herz zu klein, als würde mein Innerstes jeden Moment explodieren, weil so viel auf mich einstürmte. Je mehr Leute um mich herum waren, umso schlimmer.
Ich war als schwieriges Kind verschrien. War weinerlich, flüchtete mich in Schreianfälle oder igelte mich komplett ein, sodass nichts und niemand zu mir durchdringen konnte. Manchmal bildeten sich auf meiner Haut dunkelrote Flecken, für die keiner eine Erklärung hatte.
Im Kindergarten bat man meine Mutter, mit mir zum Hautarzt zu gehen, in der Grundschule rätselte man, ob ich autistische Züge aufwies, und empfahl ihr einen Psychologen. Natürlich suchten wir weder den einen noch den anderen auf. Als ich in die Pubertät kam, begann sich der Effekt auf meiner Haut zu verändern und schließlich ließ sich nichts mehr vertuschen.
Meine Mutter gestand mir die Wahrheit. Sie hatte mir nicht bloß ihr blondes Haar und ihre zierliche Figur vererbt, sondern auch ihre Empathie. »Du bist ein Seelenauge, Lia«, sagte sie, »genau wie ich. Du liest in den Seelen der Menschen. Du nimmst ihre Gefühle auf, ihre Wünsche, Träume, Ängste, andauernd, ohne dein Zutun. Und es wird Zeit, dass du lernst, dich abzuschirmen, denn dein Körper verrät dich.«
Bis zu diesem Tag hatte sie das für mich erledigt. Wann immer wir zusammen waren, übermittelte sie mir positive Energie und blockierte alles, was mich belastete. Auf diese Weise erschuf sie einen Glückskokon, in den ich flüchten konnte, wenn mir das Gefühlschaos zu viel wurde.
Meine Mutter war meine Zuflucht, mein Sicherheitsnetz, mein Anker. Die Einzige, die mich verstand. Mit ihrem Tod brach meine Welt zusammen.
Jetzt bin ich auf mich gestellt. Noch kämpfe ich darum, meinen Schutzschild aufzubauen, zu verstärken, seine Lücken zu stopfen. Aber irgendwann wird er hoffentlich stabil genug sein, um mich vor den Gefühlen zu schützen, die mich beeinflussen.
Manchmal schaffe ich es sogar, meine eigenen Gefühle zu löschen. Dann bin ich so leer wie ein Blatt Papier. Niemand kann auch nur eine Zeile in mein Herz schreiben. Ich lasse es nicht zu.
Es ist besser, wenn alles in mir tot ist. Nur so kann ich überleben. Nur so kann ich gegen die Musettis bestehen.
Die Scheiben des Porsche sind verdunkelt, die Gesichter von Enzo und Daniele zwei Schemen. Als sie aussteigen, werfe ich mich mit einem geflöteten »Daniele, endlich!« herum und laufe die Treppe hinunter.
Die Bodyguards reagieren zu spät, sie kriegen mich nicht zu fassen und ich falle Daniele in die Arme. Er sieht blendend aus in seinem hellgrauen Anzug und mit dem dunklen, leicht gewellten Haar. Wüsste ich nicht, was für ein Ekelpaket er ist, könnte ich mich glatt in ihn verlieben.
Überrascht erwidert er meine stürmische Umarmung und gibt den Bodyguards mit einem Wink zu verstehen zurückzubleiben.
Enzo schickt sich an, die Treppe hinaufzusteigen. »Komm, Lia«, sagt er leise, aber bestimmend. »Lass die Gäste nicht warten.«
Das ist ein schlechter Scherz, schließlich warten sie bereits eine geschlagene Stunde. Ich schmiege mich an Daniele. »Nur einen Kuss.«
Enzo dreht sich nach mir um. »Lia!«
»Lass sie doch«, kommt mir Daniele wie erhofft zu Hilfe. »Eine Minute.«
Enzo winkt ab und nimmt die Treppe im Laufschritt. Ich weiß, dass er einen Blick in die Kirche werfen will. Er ist ein Kontrollfreak.
Als mich Daniele küsst, schwappen seine Gefühle auf mich über: Hitze, Leidenschaft, Verlangen – alles zugleich. Damit erwischt er mich eiskalt. Mein Schutzschild bricht zusammen wie ein Kartenhaus.
Das Kribbeln rast meine Handgelenke hinauf, aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie die ersten Ranken auf meiner Haut erblühen.
Es ist mir egal. Ich vergesse mich. Mich und meinen schönen Plan, vergesse, was ich eigentlich tun muss, nämlich rennen, rennen, rennen. Und erwidere den Kuss. Er schmeckt verführerisch, süß und leicht. Er schmeckt nach Liebe.
Das ist bloß Lust, keine Liebe, denke ich, aber mein Körper reagiert nicht. Der Rausch von Danieles Gefühlen hält mich bereits gefangen. Ich lasse mich fallen.
Was wäre so schlimm daran, ihn zu heiraten? Ein Baby zu bekommen, Mutter zu sein und ein Leben in Luxus und Sicherheit zu führen? Mein Studium könnte ich später wieder aufnehmen. Bestimmt ließe sich Enzo überreden, irgendwann.
Danieles Kuss wandert über meinen Hals, mit der Rechten knetet er meinen Po. Seine Gefühle sind nun so intensiv, dass sie die altbekannten Bilder produzieren. Sie flackern vor meinen Augen auf, ich kann mich nicht dagegen wehren: Daniele und ich auf dem Bett. Wie er mich auszieht. Wie er mich liebt. Wie er mich schlägt.
Sofort bin ich wieder bei Sinnen. Los jetzt, Lia, kämpfe!
Eins, zwei – zählen, atmen … Ich gieße Schwärze über mein Bewusstsein. Ich darf nichts fühlen, darf nichts fühlen, darf nicht …
Es funktioniert, die tiefroten Verästelungen auf meiner Haut verblassen.
Ich bin stark, bin unantastbar. Bin Lia, das Mädchen, das sein Herz versperrt.
Ich fühle nichts.
Doch der Moment der Schwäche rächt sich. Als ich mich von Daniele losreißen will, hält er mich fest. »Wohin so eilig?«, zischt er und schubst mich scheinheilig grinsend in Richtung Treppe. »Da geht’s lang.«
Ich stolpere zurück und verheddere mich im Schleier. Jetzt heißt es alles oder nichts. Hastig zerre ich mir das Ding vom Kopf, ein Outing, das die Dinge ins Rollen bringt.
Die Braut hat vor zu fliehen, ganz genau!
Von der Treppe her stürmen die Bodyguards herbei, während Enzo im Hinunterlaufen Kommandos brüllt. Seine genagelten Schuhe spielen ein Stakkato dazu, Stufe um Stufe. Daniele will sich auf mich stürzen, aber ich tauche unter seinen Händen weg. Ich raffe den Rock und renne los, wütendes Geschrei im Ohr.
Ein paar Meter habe ich freie Bahn, dann holt mich einer der Männer ein und wirbelt mich herum. Ich ramme ihm meinen Absatz in den Fuß und danke Gott dafür, dass ich mich heute Morgen doch für die hochhackigen Schuhe entschieden habe. Mit einem Aufheulen lässt er von mir ab.
Diesmal komme ich keine zwei Schritte weit.
»Genug!« Es ist Enzo, der mich von hinten packt. Er kann seine Wut kaum zähmen. Sie durchfährt mich wie ein Blitz und reißt eine Kluft in meinen Schild. »Hast du gedacht, du kommst so einfach davon?«
Doch. Ja. Eigentlich schon.
Gefühle branden erneut in mir hoch. Seine Wut und meine Angst vermischen sich zu einem wilden Strudel. Wenn ich es jetzt nicht schaffe, ist alles aus.
Wo bleibst du, Toma?
Enzos Griff ist unerbittlich, seine Finger graben sich in meine Oberarme. Bilder stürmen auf mich ein. Am liebsten würde er mich an Ort und Stelle verprügeln, das sehe ich in aller Deutlichkeit vor mir. In der Familie kommt man schnell zur Sache.
Er holt aus, ich reiße den Kopf herum und der Hieb trifft mich am Ohr. Etwas klingelt, alles dreht sich. Ich wimmere, die Beine knicken mir weg.
Enzo schleift mich zurück zur Treppe, wo Daniele mir den Schleier überstülpt. Er fühlt sich an wie ein Sack.
Plötzlich liegt alles im Dunkel, ich, meine Zukunft, mein Leben. Ich habe versagt.
Resigniert senke ich den Kopf und gebe den Widerstand auf. Auf meiner Haut spielt sich das reinste Chaos ab, zackige Dornenranken überziehen sogar meine Schultern. Und mein Haar ist zerzaust, mein Ohr glüht, mein Kleid klebt mir feucht am Rücken. Die Braut in Bestform.
»Darüber reden wir noch«, verkündet Enzo. Ja, das kann ich mir lebhaft vorstellen. »Und jetzt rauf da, sofort, bevor ich mich vergesse!«
Daniele läuft uns voraus in die Kirche, wir warten vor dem Tor, flankiert von den Bodyguards. Brautjungfern einmal anders.
Ein Schweißtropfen rinnt über meine Wange. Kann auch sein, dass es eine Träne ist.
Nein, ich fühle nichts.
Ich bin leer und werde es für die nächsten zwanzig Jahre sein. Bis auch mich irgendeine Krankheit aus heiterem Himmel dahinrafft. Willkommen in deinem Leben, Lia.
Enzo zupft an mir herum, ganz der Designer, der ein letztes Mal Hand an sein Model legt. Ich lasse es zu, dass er den Schleier zurechtrückt und mein Kleid glättet. Auch dass er mein Dekolleté begutachtet, das jetzt wieder makellos ist. Ich lasse alles zu. Ich bin sein Objekt, er darf das.
Sicher werde ich noch Zeit brauchen, bis ich so weit bin wie meine Mutter und für ihn arbeiten kann, das weiß Enzo so gut wie ich. Ich kann Gefühle lesen, mehr nicht. Damit lässt sich nicht viel anfangen.
»Schön«, sagt er und ergreift meine Hand. »Du weißt hoffentlich, wo dein Platz ist, Lia.«
Es ist keine Frage. Ich weiß es.
Orgelmusik setzt ein. Es ist düster in der kleinen Kirche, ich erkenne Danieles Silhouette vor dem Altar, wo er mich mit Pater Luigi und dem Standesbeamten erwartet. Beiderseits des Gangs sitzen die Gäste. Sie sollten lächeln, eine Hochzeit ist etwas Schönes. Aber sie starren nur.
Enzo strafft die Schultern, bereit, mich durch das Tor zu führen. »Gleich bist du eine von …«
Knattern zerteilt seine Worte. Wir fahren herum, verwirrt, suchend. Nur ich weiß, was es zu bedeuten hat.
Das Motorrad! Toma! Noch ist nicht alles verloren.
Enzos Griff lockert sich vor Überraschung. Ich entwische ihm, renne die Treppe hinunter, er hinterher, Befehle brüllend. Die Bodyguards schwärmen aus. Zwei springen mit gezückter Waffe auf die Straße, die anderen schirmen uns ab. Es gibt kein Durchkommen für mich, schon ist Enzo wieder an meiner Seite.
»Weg hier, Lia!«, schreit er und als ich nach vorn schaue, wird mir klar, wie recht er hat.
Das Motorrad rast auf uns zu, direkt auf dem Bürgersteig. Der Fahrer trägt einen Helm mit getöntem Visier. Und zielt mit einer Waffe auf uns.
Toma? Was zum Teufel hast du vor?
Toma ist unser Gärtner. Er ist um die sechzig, hat immer ein freundliches Wort auf den Lippen und war in all den Jahren der einzige Vertraute meiner Mutter. Dass er mir bei meiner Flucht helfen wollte, war Trost und Geschenk gleichermaßen. Er hätte mich vor der Kirche aufgabeln und zum Bahnhof in Mailand bringen sollen. Von einer Waffe war nie die Rede.
Als der Kerl sich nähert, sehe ich, dass er ganz in Leder gekleidet ist. Er fährt zwar Tomas Ducati, aber es ist nicht Toma, sondern jemand, der es auf Enzo abgesehen zu haben scheint.
Ein Schuss peitscht auf und trifft den Bodyguard vor uns. Wir hechten zur Seite, ich pralle schmerzhaft gegen die Fahrertür des Porsche, Enzos Ellenbogen bohrt sich in meine Rippen, mir bleibt die Luft weg. Wieder knallt ein Schuss, der nächste Bodyguard bricht getroffen zusammen, das Motorrad rast vorbei. Enzo schimpft und gestikuliert und endlich erwidern seine Männer das Feuer.
Ich muss den Tumult nutzen, das ist meine einzige Chance.
Also rutsche ich an der Tür nach unten, falle auf die Knie und krieche unter das Auto. Das Motorrad hat offenbar gewendet und kommt erneut auf die Kirche zugefahren. Ich lausche dem Schusswechsel, während ich zum Heck des Wagens robbe. Der Motor röhrt, ein Krachen ertönt und das Gefährt schlittert mit metallischem Kreischen über die Bordsteinkante, wo es vor meiner Nase liegen bleibt. Fahrerlos.
Der Kerl ist wohl abgesprungen. Schnelle Schritte, Schreie, Schüsse signalisieren mir, dass der Kampf weitergeht und sich an die Front des Cayenne verlagert hat.
Ich möchte zu gern wissen, was die Hochzeitsgäste jetzt denken. Filippo. Und Daniele. Na ja, warum sollte es Blumen regnen, wenn es auch ein Kugelhagel tut? Mafiaatmosphäre eben, Enzo lässt sich nicht lumpen.
Zu meiner Linken tropft Blut über die Bordsteinkante. Daneben liegt eine Waffe und ehe ich darüber nachdenken kann, schließen sich meine Finger um den Griff. Er ist noch warm und klebrig feucht.
Meine Bewegungen sind wie ferngesteuert. Für einen verschwommenen Augenblick schaue ich mir dabei zu, wie ich Waffe und Hände an meinem Kleid abwische. Sämtliche Geräusche klingen gedämpft, nur mein wirbelnder Herzschlag dröhnt in meinen Ohren und verkündet, dass ich nicht so cool bin, wie es den Anschein hat.
Mit einem Blinzeln rutsche ich zurück in die Realität. Ich bin mit Blut beschmiert, viel zu rot auf der weißen Chantillyspitze. Die Waffe, eine Beretta, liegt schwer in meiner Hand, ich habe sie längst gesichert.
Mein Blick fällt auf den verletzten Bodyguard vor mir, der in einer Blutlache liegt und stöhnt. Eine Welle von Schmerz schlägt mir entgegen, aber ich lasse sie über mich hinwegströmen. Das kann ich, das habe ich trainiert. Eins, zwei … Es geht ganz leicht.
Kurz zögere ich noch, lausche den Schüssen, versuche die Lage einzuschätzen, dann krieche ich unter dem Auto hervor, die Beretta in der Rechten. Wie jeder in der Familie kenne ich mich mit Waffen aus, zumindest insofern, als ich sie entsichern kann. Und abfeuern.
Vorsichtig linse ich um die Ecke. Enzo kniet am Vorderrad, jetzt selbst bewaffnet. Zwei seiner Männer stehen noch, beide in Deckung, und der Schütze hält sich anscheinend hinter einem anderen Wagen verschanzt.
Niemand beachtet mich. Ich bin allein. Allein mit einem Motorrad.
Ich klemme mir die Waffe unter den Arm. Ein Holster wäre gut oder zumindest ein Gürtel. Das nächste Brautkleid, nehme ich mir vor, bekommt ein paar nützliche Gimmicks. Für den Notfall. Damit frau gerüstet ist.
Unter Anstrengungen wuchte ich das Motorrad hoch. Der Zündschlüssel steckt. Aufsteigen, Kupplung ziehen, ersten Gang einlegen, starten. Mit einem vertrauten Brummen erwacht der Motor zum Leben.
Hastig drehe ich am Gas und lasse die Kupplung kommen.
Ups.
Das Motorrad bäumt sich unter mir auf und für eine Schrecksekunde sehe ich mich schon einen Salto schlagen. Zum Glück bekomme ich es schnell unter Kontrolle. Meine Hände zittern. Wieder verfalle ich dem Gedanken, alles hinzuwerfen. Es wäre so einfach.
Ich könnte zurück unter das Auto kriechen und das Ende der Schießerei abwarten …
Nein. Stopp.
Das Leben ist gespickt mit Hindernissen. Das gehört dazu, davon darf man sich nicht unterkriegen lassen. Niemand hat je behauptet, dass es einfach ist, seinen Weg zu gehen.
Für die Stieftochter eines Mafioso ist es möglicherweise einen Deut schwieriger, aber wer will schon auf Kleinigkeiten herumreiten?
Na schön. Noch einmal. Sachte Gas geben, Lia, ganz sanft.
»Lia!«, höre ich Enzo rufen. Bis auf das Knattern des Motorrads ist es still in der Straße. Jetzt bin ich die Hauptattraktion und eine verdammt gute Zielscheibe. Ich ziehe die Waffe und richte sie auf Enzo. Seine Augen weiten sich.
Er wirft prüfende Blicke über seine Schulter, während er sich mir geduckt nähert, die Hände halb erhoben. »Bist du irre?«
Momentan? Höchstwahrscheinlich.
Natürlich werde ich nicht abdrücken, ich will ihn nicht erschießen, ich will hier nur weg. Entschlossen entsichere ich die Waffe. »Keinen Schritt weiter!«
»Lia!«
Ich schüttle abwehrend den Kopf, in Gedanken wieder beim Kuppeln und Gasgeben, da fällt ein einzelner Schuss und ich lasse die Beretta erschrocken fallen, wodurch sich ein weiterer Schuss löst.
Enzo verdreht die Augen und bricht wie in Zeitlupe zusammen.
Oh Gott. Habe ich … habe ich etwa abgedrückt? Bestimmt nicht. Oder doch? Der Rückstoß könnte mir die Waffe aus der Hand geschleudert haben. Jetzt hat der Porsche einen Platten, aber der erste, der erste Schuss – war das wirklich ich?
Gefühle wallen in mir auf: Bestürzung, Sorge, Schuld. Ich bin nicht leer, ich bin ein nervliches Wrack. Die aufblühenden Zackenornamente auf meiner Haut beweisen es. Ich möchte schreien oder mich in eine Ecke verkriechen, das Gesicht in den Händen verborgen. Verstecken.
Ich darf nicht. Ich bin kein Kind mehr.
Panisch schließe ich die Hände um den Lenker und ringe mir Konzentration ab. Kupplung, Gas – diesmal klappt das Anfahren reibungslos und ich lenke die Ducati auf die Straße. Ein paar Meter eiern wir dahin, ich kann die Spur kaum halten. Schüsse knallen, ich ziehe den Kopf ein. Mehr Gas, denke ich und das Motorrad schießt voran.
Das Brautkleid flattert um meine Beine. Jetzt rächen sich die hohen Absätze. Ich hätte Schnürstiefel anziehen sollen, mit denen würde es sich besser fahren. Außerdem hätte das richtig Stil gehabt.
Die Absurdität meiner Situation brennt mir ein Lächeln auf die Lippen. Was für ein Abgang! Filmreif.
Ich nehme die Kurve und lasse den Schauplatz des Verbrechens hinter mir, jetzt nur noch einen Gedanken im Kopf:
Ich bin eine Mörderin.
Die Stazione di Milano Centrale gehört angeblich zu den schönsten Bahnhöfen Europas. Ich habe keinen Blick für die Schönheit. Ich muss mein Brautkleid loswerden und das möglichst schnell, denn ich falle auf. Kaum jemand, der mich nicht anstarrt. Meine Augen sind vom Fahrtwind gerötet und tränen, andauernd muss ich blinzeln. Wenigstens passt das perfekt ins Bild der Braut, die vor der Hochzeit durchgebrannt ist.
Die Fahrt nach Mailand war der reinste Horror. Mit stark überhöhter Geschwindigkeit und ohne Helm und Schutzkleidung wie eine Verrückte über die Bundesstraße zu rasen, hätte böse enden können. Es grenzt an ein Wunder, dass ich heil angekommen bin. Dass mich keine Polizeistreife angehalten hat oder ich nicht Danieles und Enzos Männern in die Hände gefallen bin.
Jetzt steht die Ducati in einer Seitengasse und wartet auf ihren Besitzer, der hoffentlich noch in der Lage sein wird, sie zu holen, sobald sich die Wogen geglättet haben. Toma anrufen – der letzte Punkt auf meiner To-do-Liste. Hoffentlich geht es ihm gut.
Hoffentlich …
Ein hoffentlich gibt das andere. Mein Innerstes ist nach wie vor in Aufruhr. Die Angst, dass am Ende doch alles schiefgeht, jetzt noch, da ich schon so weit gekommen bin, hat mich fest im Griff.
Der Bahnhof ist riesig und voller Menschen. Offenbar ist ganz Mailand auf den Beinen. Mühsam erkämpfe ich mir meinen Weg zu den Schließfächern, wo Toma schon vor Tagen meinen Rucksack deponiert hat.
Die Gefühle der Menge berühren mich nicht. Sie sind wie ein Störgeräusch, das ich gelernt habe auszublenden.
Aber ich muss mich zwingen, nicht ständig in dem Meer an Gesichtern nach Daniele zu suchen. Oder nach Enzos Männern. Selbst in den neugierigen Blicken der Security lese ich Argwohn. Womöglich fahndet man bereits nach mir.
Auf der Toilette zerre ich mir das Kleid vom Leib, schlüpfe in Jeans und T-Shirt und tausche die hochhackigen Schuhe gegen Sneakers. Ich hole den Ring meiner Mutter aus der Hosentasche und stecke ihn an. Er ist aus schwerem Silber, schwarze Rosenranken zieren die breite Fläche und er passt perfekt auf meinen Ringfinger. Es tut immens gut, ihn zu tragen und nicht das scheußliche Ding von einem Ehering, das Daniele ausgesucht hat.
Ich löse die Haarnadeln und kämme meine Locken mit allen zehn Fingern durch. Für mehr bleibt keine Zeit, mein Zug geht in fünfzehn Minuten. Nur noch das Kleid in den Mülleimer gestopft, die Schuhe unter das Abflussrohr geschoben, dann bin ich wieder unterwegs, im Laufschritt und mit geschultertem Rucksack.
Ich habe kaum Gepäck dabei. Ein paar Klamotten, den heiß geliebten Mantel meiner Mutter, Geld, Papiere, Handy. Mein ganzes Leben, fein säuberlich zusammengepackt.
Doch was am wichtigsten ist: Ich bin immer noch Lia. Lia Kranz, neunzehn Jahre alt, gebürtige Deutsche. Und ich fahre nach Hause.
Auf dem Weg zum Bahnsteig komme ich an einem Elektronikshop vorbei. Im Schaufenster stehen die obligatorischen Fernseher und natürlich läuft auf einem Rai News 24. Kein Ton, aber ein kurzer Blick genügt und ich weiß, dass die Schießerei in Vanzago Hauptthema in den Lokalnachrichten ist.
»Bluthochzeit« lautet die Schlagzeile.
Die Bilder wechseln schnell: Polizeiwagen, Notarzt, Absperrungen, hinter denen sich die Schaulustigen tummeln. Der Kameramann hat einen Durchschlupf gefunden und hält, passend zur Titelstory, gnadenlos auf die Blutlachen. Enzos Name und eine Großaufnahme des Musetti-Flagship-Stores in Mailand werden eingeblendet.
Ob er am Leben ist? Ich hoffe es. Um meinetwillen.
Ehe mein Schutzwall einstürzen kann, wende ich mich ab. Ich laufe weiter, immer weiter. Der Zug wartet nicht auf mich.
In letzter Minute erreiche ich den Bahnsteig und schlüpfe durch die sich bereits schließenden Türen ins Innere des Waggons. Ich suche mir einen Platz in einem halbleeren Abteil, wo ich mich am Fenster in einen Sitz fallen lasse.
Geschafft!
Schon fahren wir ab. Der Bahnhof und Mailand gleiten an mir vorbei, schneller und schneller, bis die Landschaft vor meinen Augen verschwimmt.
Rund dreizehn Stunden Fahrt liegen vor mir, mit dem EC nach Zürich, von dort aus weiter mit dem ICE nach Berlin. Viel Zeit zum Nachdenken. Und zum Vergessen. Die Leinen sind gekappt, ich steuere auf Neuland zu. Zum ersten Mal bestimme ich selbst über mein Leben.
Noch kann ich mich nicht entspannen. Ich hole das Handy aus dem Rucksack. Es ist nagelneu und mit einer Wertkarte und einem geladenen Akku bestückt. Tomas Nummer ist der einzige Eintrag im Telefonbuch.
Er geht nicht ran, also hinterlasse ich eine Nachricht: »Bin unterwegs.«
Ernüchtert sinke ich in den Sitz zurück. Sollte Toma etwas zugestoßen sein, habe ich vielleicht zwei Menschen auf dem Gewissen. Das ist zu viel Last, ich kann sie unmöglich tragen.
Ich balle die Hände zu Fäusten. Kämpfe gegen meine Gefühle, die gegen meinen Schild drängen, intensiv, heftig, nicht zu bändigen. Meine Kräfte sind erschöpft, ich kann nicht mehr.
In Situationen wie dieser verstecke ich mich gern unter dem Mantel meiner Mutter. Er ist ein Unikat, im Patchworkstil geschneidert, weit und überlang, und besteht von der Kapuze bis zum Saum aus Hunderten von bunten Flicken.
Ich hole ihn aus dem Rucksack, schlüpfe hinein und ziehe mir die Kapuze über den Kopf. Sofort hüllt mich der Geruch meiner Mutter ein, sie ist mir ganz nah.
Als ich klein war, nahm sie mich oft auf den Schoß und wickelte uns beide in den Mantel ein. Eng aneinandergekuschelt saßen wir dann auf der Terrasse und meine Mutter erzählte mir Märchen. Sie handelten von kleinen Prinzessinnen und starken Königinnen, die ihre Gefühle zulassen, ja sogar ausleben durften, ohne Zwänge, ohne Leere. Gemeinsam waren wir traurig oder ängstlich, mutig oder zornig, ganz wie wir wollten, und meine Haut erzählte davon. Wir waren frei, für ein, zwei Stunden waren wir wirklich frei.
Meine Mutter hat diesen Mantel geliebt, ich tue es noch. Ich betaste einen Flicken nach dem anderen – so viele Muster, so viele Stoffe, so viele Geschichten. Und endlich ein bisschen Trost.
Ein Kribbeln läuft über meine Unterarme. Ich weiß, was sich unter den Ärmeln des Mantels abspielt: Meine Gefühle zeichnen meine Haut. Ich bin ein wandelndes Bilderbuch, ein Abbild meiner Emotionen, eine Freakshow.
Lass es zu, Lia Seelenauge, höre ich die sanfte Stimme meiner Mutter in meinem Kopf, der Mantel schützt dich.
Es dauert eine ganze Weile, bis ich ruhiger werde. Stein für Stein baue ich meinen Schutzschild wieder auf, bis er meine Gefühle verbirgt. Ich habe die Kontrolle zurück. Kontrolle ist wichtig, sie verhindert das Chaos.
Meine Gedanken klären sich und ich gehe dazu über, meine Lage zu analysieren. Das fällt mir leicht. Es ist, als ob mein Körper ein Gegenstück für mein nicht vorhandenes Gefühlsleben braucht und es in der nüchternen Betrachtung von Fakten findet.
Ich zerlege die Ereignisse in Einzelszenen. Jedes Detail meiner Flucht steht mir glasklar vor Augen. Ich weiß, wer wann wo war und was derjenige getan hat, egal ob es sich dabei um Enzo, Daniele, die Bodyguards oder mich handelt. Eine Vielzahl an Informationen, die ich nacheinander abrufe und gedanklich abhake.
Doch die eine Szene, die entscheidende, will sich mir nicht erschließen. Der Moment, in dem der Schuss fiel, der Enzo niederstreckte, bleibt im Dunkeln. Habe ich ihn abgegeben oder der Attentäter?
Ich sehe die Beretta, meinen gestreckten Arm, meinen Finger am Abzug. Ich sehe Enzo zusammenbrechen. Dazwischen gähnt ein Loch in meinen Erinnerungen. Verdammt!
Ich schließe die Hand um den zerknüllten Zettel in der Manteltasche. Es stehen nur ein paar Worte darauf, in zittriger Schrift verfasst, zu einem Zeitpunkt, da meine Mutter bereits ahnte, dass sie sterben würde. Meine Tränen haben die Tinte verschmiert, doch ich kenne den Inhalt auswendig.
Ich wickle mich enger in den Mantel. Fühle mich klein. Und so verloren …
Als ich gefühlte Minuten später hochschrecke, bemerke ich zum einen, dass ich offenbar mehrere Stunden lang tief und fest geschlafen habe – und zum anderen, dass der Zug angehalten hat.
»Zürich, Hauptbahnhof«, verkündet die Lautsprecherstimme und zählt auch gleich die Anschlusszüge auf.
Ich will mich nach meinem Rucksack bücken, aber er ist weg. Der Schock schickt Adrenalin durch meine Adern. Entsetzt werfe ich einen Blick unter die Sitzbank, auch unter die gegenüberliegenden. Nichts.
Ich springe auf, scanne das Abteil von vorn bis hinten, frage sogar die verbliebenen Fahrgäste, die sich zu den Türen begeben, aber niemand hat meinen Rucksack gesehen.
Notgedrungen steige ich aus.
Auf dem Bahnsteig wimmelt es vor Leuten, jeder könnte der Dieb sein. Der junge Mann mit dem Parka, das kaugummikauende Mädchen, die Frau mit der Strickjacke …
Am Ende ist es egal, wen ich verdächtige. Ich muss meinen Anschlusszug erwischen. Der Rucksack ist futsch, den sehe ich nie wieder. Und den Inhalt auch nicht.
Jetzt bist du vollkommen aufgeschmissen, Lia. Die verlorenen Klamotten sind meine geringste Sorge. Geld, Handy, Papiere, Skizzenblock – alles weg. Meine Habseligkeiten bestehen aus dem Bahnticket, das in meiner Hosentasche steckt, dem Ring und dem Mantel. Und dem Zettel mit den Abschiedsworten meiner Mutter.
Mit besten Empfehlungen, dein neues Leben.
Berlin.
Der Bahnhof ein Glaspalast, die Leute nicht weniger hektisch als in Mailand, die Sprache ungewohnt kantig, beinahe aggressiv.
Ich bin zweisprachig aufgewachsen, aber momentan scheint mir, als wäre mir mit dem Tod meiner Mutter auch mein deutscher Wortschatz abhandengekommen. Ich verstehe nicht mal die Hälfte von dem, was da auf mich einprasselt. Wichtig ist es nicht, binnen eines Atemzugs schwimmt es davon.
Die Luft scheint aus mehreren Schichten zu bestehen, die Tausende Geräusche transportieren: Stimmengewirr, Hintergrundmusik, quietschende Bremsen, Kinderlachen, rollende Koffer, Lautsprecherdurchsagen, anfahrende Züge. Das Glas fängt alles ein und wirft es zurück, ganz so, als ob es kein Verhallen gäbe.
Ziellos schlendere ich durch die Geschäftszeilen der einzelnen Ebenen. Läden über Läden, überall tummeln sich Leute. Auch bei der Bäckerei ist viel los. Der Duft von Croissants steigt mir in die Nase, mir knurrt der Magen. Seit gestern Morgen habe ich nichts mehr gegessen, nur Wasser getrunken.
Ich kann mir nichts kaufen, ich kann noch nicht einmal telefonieren, ich habe keinen Cent in der Tasche. Wie soll ich an Geld kommen?
Vor einem Buchladen hat sich ein Künstler platziert, der Fotos zum Verkauf anbietet. Er muss in meinem Alter sein. In sich versunken sitzt er auf seinem Hocker, lauscht der Musik, die ihn aus seinem Kopfhörer beschallt, und wippt mit dem Fuß dazu, die Augen halb geschlossen. Etwas an ihm berührt mich. Ist er so mittellos wie ich, dass er hier sitzen und auf Kunden warten muss?
Sein Look ist auf Künstler getrimmt. Jeans, ein schwarzes Shirt, das Bandana perfekt gebunden und im Nacken verknotet, sodass nur einzelne Strähnen seines braunen Haars hervorgucken.
Ich bleibe vor seiner kleinen Ausstellung stehen. Alles Fotos, von neun mal dreizehn bis hin zu Postergröße, die meisten in Schwarz-Weiß und gerahmt.
Lauter Bahnhöfe.
Mein Blick gleitet von einem Foto zum nächsten. Ein Wunder, dass er die hier überhaupt verkaufen darf. Als Inhaber des Buchladens hätte ich entschieden etwas dagegen.
»Interesse?«
Er ist aufgestanden, hat die Kopfhörer abgesetzt und mich offenbar schon eine Zeit lang beobachtet. Natürlich.
Überrumpelt schüttle ich den Kopf. »Nein, aber … die sind … richtig gut.« Wow, mein Deutsch sprudelt ja förmlich aus mir heraus.
»Verstehst du was von Fotografie?«
»Ein bisschen. Aber eher in Sachen Mode.«
Abschätzend begutachtet er meinen Mantel und ich schlinge ihn enger um mich.
»Soll warm werden heute«, sagt er grinsend.
»Gut zu wissen.«
Unser Gespräch stockt. Ich meide den forschenden Blick seiner grünen Augen und bücke mich nach einem Foto, nicht sicher, was ich eigentlich hier will. »Dieses hier ist toll. Wo ist das?«
»Leipzig. Der Bahnhof ist rund hundert Jahre alt.«
Verspiegeltes Glas, eingepasst in historische Rundbögen, im Vordergrund ein futuristisch anmutender Fahrstuhlzylinder. Er hat die Stimmung perfekt eingefangen. Ich mache eine ausschweifende Geste. »Hast du all die Fotos selbst geschossen?«
»Klar.«
Ich nicke. »Fotografierst du auch was anderes als Bahnhöfe?«
»Bahnhöfe sind cool.«
Ah ja. Jetzt bin ich es, die ihn forschend anblickt. Andere Jungs in seinem Alter würden FC Bayern München als cool bezeichnen oder den aktuellen Nummer-eins-Song der Charts oder die Formel 1 oder … oder weiß der Himmel was. Aber Bahnhöfe?
Mhm. Lia, die Expertin in Sachen Jungs.
Wie auch immer, die Fotos sind allesamt faszinierend, das muss ich zugeben. Sie erzählen Geschichten. Von Fernweh, von Einsamkeit und Verlust, Abschied und Heimkehr oder von einem herzlichen Willkommen. Sie treffen den Betrachter mitten ins Herz. Der Typ hat wirklich Ahnung vom Fotografieren.
»Machst du das beruflich?«, frage ich.
Er zuckt mit den Schultern. »Ein Bahnhof ist immer Anfang und Ende einer Reise. Ich könnte stundenlang dort zubringen, die Züge beobachten und mich fragen, wo die Leute hinfahren oder woher sie kommen – aber«, er räuspert sich und wirkt plötzlich verlegen, »das war nicht deine Frage, oder?«
Unwillkürlich muss ich lächeln. »Nein, nicht wirklich.«
Ein Mann tritt aus dem Buchladen, in der Hand einen ledernen Geldbeutel mit Reißverschluss, den er einfach auf den Hocker legt. »Hey, Nevio! Zu viele Moneten? Den hast du drinnen vergessen.«
Nevio also. Ich starre auf den Geldbeutel, dann dem Mann hinterher, der wieder in den Laden verschwindet. Eine Idee zündet in meinem Kopf.
»Mein Cousin, ihm gehört der Buchladen«, folgt die Erklärung von Nevio, obwohl ich nicht danach gefragt habe. »Und wie heißt du?«
»Hm?«, mache ich ganz in Gedanken. Was mich beschäftigt, ist die Frage, ob Nevio wirklich zu viel Geld besitzt. So viel, dass er etwas davon entbehren kann. Nur eine Kleinigkeit, nur damit ich über die Runden komme …
Nein, Lia, tu ihm das nicht an. Er ist einer von den Netten.
Aber ich muss. Nettigkeit füllt schließlich nicht meinen Magen.
»Wie ist dein Name?«
»Tamara«, helfe ich mir mit dem Namen meiner Mutter aus. In Kürze wird er mich hassen und da ist es doch besser, wenn er seine Wut nicht auf das Mädchen namens Lia richtet.
Ich schätze meine Fluchtmöglichkeiten ein, während ich mich langsam zum Hocker vorarbeite, wobei ich vorgebe, tief in die Betrachtung der Fotos versunken zu sein. Rechts die Rolltreppe, links der Fahrstuhl, gerade so viele Leute, dass man gut in der Menge untertauchen kann. Security oder Polizei ist keine in Sicht. Auch oben an der Brüstung nicht.
Halt.
»Ist das hier in Berlin? Der Bahnhof?«, frage ich Nevio und deute auf ein Foto, das den Ausschnitt einer Glaskuppel zeigt, in der sich das Sonnenlicht bricht. Wie erwartet senkt er den Blick. Meiner hingegen huscht noch einmal hinauf zur oberen Ebene.
Am Geländer schräg gegenüber lehnt ein Mann und schaut auf uns herab, in der Hand ein Handy. Südländischer Typ, Sonnenbrille, Lederjacke. An sich nichts Besonderes, dennoch kommt bei seinem Anblick ein wenig zu viel Heimatgefühl in mir auf. Familie, denke ich und mir wird augenblicklich übel. Enzo hat seine Männer überall, warum nicht auch in Berlin?
Mist! Das Schicksal hat die Anforderungen erhöht. Als würde eine Challenge nicht ausreichen.
»Nein«, sagt Nevio. »Das ist Frankfurt.«
»Ach, na ja, diese Glasdächer sehen alle gleich aus.«
»Cooler Ring übrigens. Silber, oder?«
»Ja. Danke.« Ich balle die Hand zur Faust und verfluche mich für meine Sorglosigkeit. Mantel und Ring haben einen hohen Wiedererkennungswert. Und Nevio hat ein Fotografenauge, dem entgeht nichts.
Der Fehler ist passiert, in Zukunft jedoch muss ich vorsichtiger sein. Ich darf nicht in Erinnerung bleiben.
Ich nehme mir das nächste Bild vor. Der Hocker ist jetzt in Griffweite.
Erstmals spüre ich wieder Angst in mir aufwallen. Sie macht sich durch Herzklopfen bemerkbar und kommt nicht von ungefähr. Angesichts der Umstände sollte ich mich darauf konzentrieren, meinen Mafiafreund loszuwerden. Das wäre vernünftig. Alles andere ist kriminell und kann mich Kopf und Kragen kosten. Werde ich erwischt, kann ich nichts vorweisen, keine Papiere, keinen Pass, keine Angehörigen, nicht mal eine Wohnadresse.
Ich bin das unbeschriebene Blatt, das ich immer sein wollte.
Dieser Gedanke beruhigt mich. Mein Schutzschild ist stabil, ich muss weder zählen noch atmen. Ich bin stark. Unempfänglich. Abgebrüht.
Ich fange ganz neu an.
»Du stammst nicht von hier«, stellt Nevio fest. »Auf der Durchreise?«
Ich setze ein Pokerface auf. »Nein. Angekommen.« Endlich. »Ich muss gehen«, murmle ich hastig, »tut mir leid.«
Meine Hand schießt vor, meine Finger schließen sich um den Geldbeutel. Ich reiße ihn an mich und sprinte in Richtung Rolltreppe davon.
»Hey! Bleib stehen! Das darf ja wohl nicht wahr sein!«
Ein Blick über die Schulter zeigt mir, dass Nevio mir nachsetzt, und mit seinen langen Beinen ist er unerhört schnell. Ich presse meine Beute fest an mich. Lege an Tempo zu, schlängle mich an den Leuten vorbei, versuche meinen Vorsprung zu halten. Die Rolltreppe kommt in Sichtweite.
Auch der Südländer hat seinen Platz an der Brüstung verlassen und höchstwahrscheinlich die Verfolgung aufgenommen. Wie kann ich ihm entwischen?
Ich muss mir einen Schlupfwinkel suchen. Dort abwarten, bis die Luft rein ist. Oder mit der S-Bahn abhauen. Oder … keine Ahnung.
Nevio ist mir dicht auf den Fersen. Ich höre ihn rufen. Gleich hat er mich.
Ich remple eine Frau an, reiße ihren Koffer mit mir mit, sodass er kippt und hoffentlich den Weg versperrt. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, doch ich laufe nur noch schneller.
Ganz unerwartet spüre ich Resignation heranschwappen, und als ich auf die Rolltreppe springe und mich an den Leuten vorbei nach unten dränge, gibt Nevio tatsächlich auf. Er muss in der Nähe seiner Fotos bleiben. Glück gehabt.
»Mann, dann viel Spaß damit!«, ruft er mir wütend nach. »Ich hätte dir auch was gegeben, weißt du?«
Nein danke, ich will keine Almosen. Da bin ich lieber eine Diebin. Und fühle nichts.
»Machst du schon Schluss für heute? Ist doch noch nicht mal Mittag.«
Egal. Ich habe die Schnauze gestrichen voll. »Ja«, sage ich und halte kurz inne, das Foto vom Frankfurter Bahnhof noch in der Hand. Natürlich hat sie es nur bewundert, um mich in ein Gespräch zu verwickeln. Alles Taktik. Reines Ablenkungsmanöver. »Warum?«
Konrad hebt abwehrend die Hände. »Ich war nur neugierig. Heute ist extrem viel los, kommt mir vor. Gut fürs Geschäft. Ist natürlich deine Entscheidung.«
»Genau.« Ich packe das Foto in die Kiste und greife nach dem nächsten.
»Hat sie nichts gekauft?«
»Wer?«
»Die Blonde von vorhin, mit der du dich so angeregt unterhalten hast.«
»Nein. Hat sie nicht.« Sie hat mich bestohlen, diese Hexe.
»Hm. Hübsches Mädchen.«
Allerdings. Sehr hübsch. Und gerissen. Aber ich würde sie wiedererkennen, da bin ich mir sicher. Den Mantel sowieso, den Ring auch. Und ihre Augen, dieses tiefe Blau.
»Wahnsinn, die blonden Locken, oder?«
Genervt blicke ich auf. »Hast du nichts zu tun, Konrad? Wo heute doch gar so viel los ist?«
»Oho. Wer hat dir denn in die Suppe gespuckt? Mach, was du willst. Bin schon weg.« Kopfschüttelnd verzieht sich Konrad in seinen Buchladen.
Na super. Jetzt hat er meine schlechte Laune abbekommen. Das hat er nicht verdient. Ich bin ihm unendlich dankbar, dass er so nett ist und mir einen Teil seiner Verkaufsfläche zur Verfügung stellt. Die Geschäftszeilen hier auf dem Bahnhof sind immer stark frequentiert und der Buchladen sowieso. Seit ich davor ausstelle, habe ich bereits acht Fotos verkauft.
Acht Fotos, die beweisen, dass sich die rund zwölftausend Euro für mein Studium an der Neuen Schule für Fotografie lohnen. Dass ich mein »Hobby«, wie sich mein Vater so gern ausdrückt, irgendwann zum Beruf machen kann.
Aber wohl kaum, wenn ich mir mein Geld von dahergelaufenen Mädchen klauen lasse.
Meine Naivität ärgert mich am meisten. Hätte ich mich bloß nicht auf ein Gespräch mit ihr eingelassen. Im Prinzip hätte ich mir denken können, dass sie mich nur ausspioniert. Warum sollte sich eine wie sie auch für Bahnhöfe interessieren?
Ich ordne die letzten Fotos in die Kiste ein und schließe den Deckel. Auf dem Weg ins Lager des Buchladens muss ich mich durch die Leute zwängen. Wirklich viel los. Na ja, ein andermal.