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Luise Schorn-Schütte

DIE REFORMATION

Vorgeschichte – Verlauf – Wirkung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Im Zentrum dieses informativen Überblicks stehen die Ereignisse der Reformation vom Thesenanschlag 1517 bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555 unter Berücksichtigung der neuesten sozial- und religionsgeschichtlichen Forschungsergebnisse. Das Buch skizziert ferner die Deutungsmuster der Reformation, die je nach Lager – z.B. katholisch, marxistisch, protestantisch, sozialhistorisch – stark differierten.

Über die Autorin

Luise Schorn-Schütte war bis September 2015 ordentliche Professorin für Neuere Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Frühen Neuzeit an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihr spezielles Interesse gilt der Umbruchphase vom 15. zum 16. Jahrhundert sowie der Geschichte des politischen Denkens in der Frühen Neuzeit. Bei C.H.Beck sind von derselben Autorin erschienen: Königin Luise (Beck Wissen, 2003), Karl V. (Beck Wissen, 32006), Historische Politikforschung (2006), Konfessionskriege (2010) und Gottes Wort und Menschenherrschaft (2015).

 

 

 

 

Den Potsdamer und Frankfurter Studenten und Mitarbeitern

Inhalt

   I. Einleitung

  II. Kontinuität und Umbruch. Religion, Politik, soziale Ordnung am „Vorabend der Reformation“

1. Humanismus und Reform von Kirche und Reich

2. Ständische Ordnung und sozialer Wandel

 III. Reformatio als renovatio? Die Rahmenbedingungen des reformatorischen Aufbruchs

1. „Es begann mit Luther“

2. Kaiser, Reich und Reformation

3. Der „Zürcher Weg“. Der radikale Flügel der Reformation

 IV. Resonanz und Rezeption. Reformation und soziale Gruppen

1. Bauernkrieg

2. Stadtreformation

3. Die Bewegung der Ritterschaft

  V. Spaltung und Verhärtung

1. „Fürstenreformation“ und die Verfestigung des Protestantismus

2. „Doppelte Staatlichkeit“ in der Frühen Neuzeit? Reichsständische Freiheit, konfessionelle Differenzierung und die kaiserliche Universalmonarchie

3. Religionskompromiß im Reich: Augsburg 1555

 VI. Aspekte und Wirkungen

1. Reformation als geschichtswissenschaftlicher Epochenbegriff

2. Die Reformation in der protestantischen kirchengeschichtlichen Deutung

3. Die katholische Sicht der Reformation

4. Marxistische Interpretation: Die Reformation als „frühbürgerliche Revolution“

5. Struktur- und kulturgeschichtliche Deutungen seit den beginnenden achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts

6. Christianisierung statt Konfessionalisierung – und immer wieder Luther: Deutungsmuster nach 500 Jahren Reformation

VII. Statt einer Zusammenfassung: Gab es „die“ Reformation?

 

Bibliographische Übersicht

Zeittafel

Glossar

Namenregister

Register der geographischen Begriffe

I. Einleitung

„Es begann mit Hammerschlägen.“ So ließe sich das Bild von der Reformation, das bis heute das historische Selbstverständnis der Deutschen prägt, kennzeichnen. Es gilt noch immer, selbst wenn deutlich ist, daß die Reformation für die Entfaltung einer historischen Identität in Deutschland entscheidend an Gewicht verloren hat. Gemessen an dem Stellenwert, den sie für ein protestantisch-deutsches Selbstverständnis seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entfaltet hatte, ist eine solche Relativierung weder verwunderlich noch zu bedauern. Die Chance der Gegenwart besteht vielmehr gerade darin, die Deutungsvielfalt, die die Reformation hat über sich ergehen lassen müssen, zu entflechten, die einzelnen Angebote in ihrem spezifischen Informationsgehalt zu prüfen und damit – vielleicht – zur Weiterführung historischer Identifikationsmuster beizutragen. Denn die Vergangenheit ist kein unabänderlich feststehender Block eindeutig identifizierbarer Fakten! Sie ist vielmehr eine zeitgebundene Rekonstruktion generationenbezogener Erinnerungen und insofern durch die jeweils nachfolgenden Generationen neu beschreibbar. Jede Gegenwart könnte sich eine neue Geschichte schreiben, oder, wie es ein amerikanischer Historiker jüngst formulierte, „[…] die Gegenwart [verändert] die Geschichte“ (Brady, Gott, S. 11).

Vor dem Hintergrund dieser Einsichten kann eine Darstellung der Reformation selbst für eine so weitgehend säkularisierte Gesellschaft wie diejenige des wiedervereinigten Deutschland an Bedeutung gewinnen, in der das Gewicht der christlichen Konfessionen eher ab- als zugenommen hat. Denn mit der Reformation verbanden sich in den bis 1989 doppelten historischen Erinnerungskulturen durchaus gegensätzliche Deutungsmuster von Vergangenheit. Es ist das Anliegen dieses kleinen Buches, durch deren Skizzierung die Reformation aus ihren Zeitbindungen durch vierzig Jahre gegensätzlicher deutscher Historiographie zu lösen und damit deutlich zu machen, daß bei aller durchaus fruchtbarer Arbeit der vergangenen Jahrzehnte die Beschreibung und Deutung des reformatorischen Geschehens nunmehr wieder neu beginnen könnte!

Das führt zu einer für die frühneuzeitliche Geschichte zentralen Verständnisachse: dem Verhältnis von Religion und Gesellschaft, von Staat und Kirche. Die Einheit der Christenheit war das für das vorreformatorische Europa selbstverständliche Merkmal; in ihr verbanden sich Kirche und Welt, Religion und Politik miteinander. Daß diese Verzahnung unheilvolle Wirkungen hatte, sollte bekanntermaßen zum zentralen Konfliktpunkt für die reformatorische Bewegung werden. Mit der Entfaltung mehrerer konfessioneller Kulturen aber war die spätmittelalterliche Verzahnung keineswegs beendet, vielmehr in einem sich gegenseitig ausschließenden Wahrheitsanspruch konfliktverschärfend wirksam. Für den Historiker ist diese Tatsache von großer Wichtigkeit, wird darin doch deutlich, daß die Reformation eben nicht, wie von seiten der konfessionsbewußten protestantischen Historiographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts stets betont, den Beginn der Entflechtung von Religion und Politik im Sinne einer Freisetzung der Individuen markierte. Die Verflechtung von Religion und Gesellschaft im Sinne der Einbindung des Einzelnen in die christliche Gemeinschaft, wodurch die Kontrolle ebenso verstärkt werden konnte wie die Verchristlichung der Lebensführung, fand stattdessen eine Steigerung – mit allerdings begrenztem und konkurrierendem Wirkungsgrad.

Diese den nationalprotestantischen Blick des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts korrigierende Sicht macht deutlich, daß Religion in der Frühneuzeit kein Teil einer wie auch immer zu definierenden Restmenge „Kultur“ ist. Vielmehr heißt Religion „ebenso Öffentlichkeit und Gemeinschaft“ wie „Einsamkeit und Versenkung“ (Lutz, Einheit, S. 25). „In einem Zeitalter christlicher Einheitskultur mußte“, so schrieb der Wiener Historiker Heinrich Lutz (1922–1986) sehr treffend, „jedes Ringen um Reform der Kirche […] unmittelbar die Gesellschaft als Ganzes betreffen“ (ebd.). Und damit ist offensichtlich: Eine Beschreibung der Reformation in Deutschland bedeutet stets Darstellung der wechselseitigen Verzahnung von weltlichen und geistlichen Ursachen, ohne daß die Dominanz eines einzigen Faktors zu behaupten wäre! Neueren Forschungsansätzen folgend soll vielmehr davon ausgegangen werden, daß auch für das Zeitalter der Reformation die Einheit einer zeitgenössischen „Kultur“ als Gesamt von Werthaltungen, Sinngebungen, Denkformen einerseits und der daraus resultierenden Formen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Handelns andererseits existierte (Oexle, Kultur, S. 119). Das ist eine klare Absage an eine marxistische Geschichtsdeutung und es ist zugleich ein Votum für die Wiederbelebung des Nachdenkens über die Tragfähigkeit einer historischen Kulturwissenschaft, wie sie im Deutschland der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts eine gute Tradition hatte.

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Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige von Sachsen mit Luther, Spalatin, Brück und Melanchthon. Gemälde von Lucas Cranach d. Ä., um 1530. Toledo, Ohio, Museum of Art, © akg-images

Bereits diese nur einleitenden Bemerkungen zeigen, von welch weitreichender Bedeutung das Nachdenken über die Reformation sein kann: im Blick auf die methodischen Grundfragen historischer Arbeit einerseits, die Relevanz von Geschichtsschreibung andererseits. Dieser Einsicht folgt die Gliederung der folgenden Ausführungen. Dem beschreibenden Teil schließt sich ein Kapitel an, das den verschiedenen Deutungsmustern der Reformation gewidmet ist, die seit der epochalen Darstellung der Reformation als „Ursprung der Spaltung in der Nation“ durch den Berliner Historiker Leopold v. Ranke (1795–1886) vorgetragen wurden. Das Wissen um die Verzahnung beider Bereiche muß durchaus betont werden. Die wissenschaftliche Arbeit aber bedarf der analytischen Trennung – das gilt auch für die Geschichtswissenschaft.

Der Charakter einer allgemeinverständlichen Einführung in die Geschichte der Reformation – aus der Perspektive des Historikers, nicht des Theologen – führte zur Beschränkung auf die Entwicklungen im deutschsprachigen Raum des damaligen Europa, die mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 einen ersten Abschluß fanden. So unbestreitbar die überregionale Verzahnung historischer Abläufe auch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bereits war, so unbestreitbar bleibt die Initiatorfunktion der Wittenberger Thesenpublikation, die ausstrahlende Wirkung ihres theologischen Anliegens. Deren Weiterformung durch den Zürcher Reformator Huldrych Zwingli (1484–1531) gehört in den politischen Rahmen des frühneuzeitlichen Alten Reiches mit hinein, selbst wenn die Autonomie der Schweizerischen Eidgenossenschaft faktisch seit dem Beginn des Jahrhunderts bestand.

II. Kontinuität und Umbruch. Religion, Politik, soziale Ordnung am „Vorabend der Reformation“

Es nimmt der historischen Persönlichkeit nichts von ihrem Charakter, wenn betont wird, daß sie eingebunden ist in die großen Linien historischen Wandels. Das gilt auch für Martin Luther (1483–1546). Selbst wenn die protestantische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts seit Leopold v. Ranke die zäsursetzende Bedeutung des Wittenberger Reformators besonders hervorgehoben hat, bleibt das Ergebnis der jüngeren Forschung als Relativierung bemerkenswert: Luthers reformatorisches Anliegen war keineswegs so neu wie dies gerne behauptet wurde. Es läßt sich einordnen in eine lange Tradition der Kirchenkritik und der Bemühungen um Kirchenreform seit dem Spätmittelalter.

Äußerlich schienen die weitreichenden Krisen des 14. und 15. Jahrhunderts in Gestalt von Schismen und Konzilsbewegungen überwunden. Die zahlreichen Reformbewegungen – die älteren v.a. in den Orden und in der Seelsorge (devotio moderna), die jüngeren in Gestalt der humanistisch geprägten Erneuerungsversuche (eruditio christiana) – waren kirchenkonform; es ging um die „Reinigung“ der Kirche, um ihre Rückkehr zu den ursprünglichen Formen. Zu Recht wird dies in der Forschung als „evolutionärer Weg der Erneuerung“ beschrieben (Lutz, Einheit, S. 96). Nehmen wir hinzu, worauf v.a. der Göttinger Kirchenhistoriker Bernd Moeller unermüdlich hingewiesen hat, daß nämlich am Vorabend der Reformation die Intensität der Frömmigkeit unter den Gläubigen in Deutschland einen Höchststand erreichte (Moeller, Zeitalter, S. 38), so wird die Frage immer brennender: Warum wird gerade die Thesenpublikation des Augustinereremiten und Wittenberger Theologieprofessors Luther zu einem derart „weltbewegenden“ Ereignis? Und warum gewann die reformatorische Bewegung gerade in Deutschland (von den Zeitgenossen als Altes Reich bezeichnet) und gerade zu diesem Zeitpunkt eine so weitreichende Wirkung?

1. Humanismus und Reform von Kirche und Reich

Wir haben damit die Fragen nach den religiös-kirchlichen, die zugleich diejenigen nach den politisch-verfassungsmäßigen Zuständen im Alten Reich am Vorabend der Reformation waren, gestellt. Offensichtlich hatten gerade in der spätmittelalterlichen Gesellschaft Deutschlands die allgemeinen Spannungen, Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche, die im Europa der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert überall zu bemerken waren, einen Umfang erreicht, der auf Entladung zusteuerte. Die Geschicke des Alten Reiches waren zudem mit demjenigen des Papsttums auf intensivere Art und Weise verbunden als diejenigen der v.a. westeuropäischen, im Werden begriffenen nationalen Gesellschaften jener Jahrzehnte. Und schließlich war die Auffassung weit verbreitet, daß es in hohem Maße legitim, ja Christenpflicht sei, die Reinigung und Reform der Kirche zu betreiben, um das Wachstum der Frömmigkeit und die Entwicklung der Kirche zu befördern. Eben dies war das Besondere der humanistischen Reformbewegung! Daß ihr Anliegen stets in die Welt hineinwirkte, selbst wenn zuvörderst die Reform der kirchlichen Institutionen gemeint war, wußten auch die Humanisten, insbesondere diejenigen unter den Reformatoren.

Der Humanismus war in erster Linie eine Bildungsbewegung, der es unter dem Einfluß der italienischen Renaissance um die Wiederbelebung der Kultur der klassischen Antike ging, die in Deutschland zur Erforschung der Traditionen auch des deutschen Altertums führte und darin erste Ansätze einer nationalen Identität formulierte. Der Humanismus als Bewegung im Interesse tiefergreifender Bildung der Eliten wirkte „im Bewußtsein laikaler Eigenständigkeit und Überlegenheit“ (Moeller, Zeitalter, S. 43) und entfaltete breite Wirkung für die kirchliche Reformbewegung. In der Person seines bekanntesten Vertreters Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536) fügte sich theologische Grundkritik mit der humanistischen Bildungsreform zusammen. Eine humanistische Theologie, die sich mit der akademischen Lehre der Scholastik auseinandersetzte, gab es schon seit geraumer Zeit. Sie besaß eine spezifische Struktur und „die Frage der christlichen Lebensführung des Einzelnen, […] das Ernstnehmen der christlichen Morallehre“ waren der Grund für die prägende Kraft jener Elitenbewegung (Moeller, Zeitalter, S. 44/45). Sie fand ihren Platz deshalb vor allem im Umkreis der Universitäten und in den literarischen Zirkeln der um Bildung bemühten Stadtbürger.

Der in diese Richtung wirkende Humanismus begünstigte die Akzeptanz der Kirchenkritik unter den Zeitgenossen. Diese war kein Phänomen der Eliten allein. Die tiefe Religiosität der Zeit intensivierte das Empfinden für die Unzulänglichkeiten der geistlichen Amtsträger einerseits, der Kirche als Institution andererseits. Darin äußerte sich die neue Dimension der Kirchenkritik: im Unterschied zum Ruf nach einer reformatio ecclesiae im hohen Mittelalter richtete sich diese nun erstens gegen die Kirche selbst, insbesondere gegen das Papsttum; der Ruf nach einer Reform an „Haupt und Gliedern“ war kennzeichnend. Zweitens hatte sich eine neue soziale Basis für die Reformforderungen gebildet: nicht mehr fromme Kleriker allein wie im Hochmittelalter riefen nach Änderungen, nun waren es die Laien selbst in Gestalt des erwähnten gebildeten Bürgertums, der städtischen Obrigkeiten, der Landesherren.

Am sichtbarsten wurden die Mißstände innerhalb der Priesterschaft. Vor allem der Mißbrauch des geistlichen Amtes als Versorgungsinstitution erregte tiefen Unmut, denn dadurch traten dessen pastorale Aufgaben in den Hintergrund. Zugleich zeigte sich hier die soziale Problematik der alten Kirche, die in ihrer Struktur als „Adelskirche“ begründet war. Während die hohe Geistlichkeit zumeist dem hohen Adel entstammte, rekrutierten sich alle anderen Kleriker aus den übrigen Gruppen der Gesellschaft, d.h. aus dem Stadtbürgertum und der bäuerlichen Bevölkerung, selbst wenn die viel zitierten Bauernsöhne keineswegs das große Potential des Klerus bildeten, von dem häufig noch immer gesprochen wird. Die Distanz zwischen hoher und niederer Geistlichkeit war auch eine soziale; sie wurde stabilisiert durch die damit verbundenen wirtschaftlichen Unterschiede. Denn während der hohe Klerus durch ausreichende Pfründen versorgt war, fehlte dem niederen Klerus (sowohl dem Welt- als auch dem Ordensklerus, wobei beide Gruppen in den Gemeinden die pastoralen Aufgaben wahrnehmen konnten) recht häufig eine ausreichende wirtschaftliche Absicherung. So gab es Kapläne, die mit einem Viertel des Lohns eines Maurergesellen am Anfang des 16. Jahrhunderts auszukommen hatten. Die wiederholt geübte Praxis der Pfründenkumulation und Abwesenheit vom Pfarrort verschärfte das Problem in seiner Wirkung auf die Gemeinden weiter: die Pfarrverwalter, die stattdessen die pastoralen Aufgaben wahrzunehmen hatten (um 1500 waren davon am Niederrhein z.B. die Hälfte aller Pfarreien betroffen), wurden nur unzureichend bezahlt, ihre persönliche oder auch theologische Eignung waren selten Kriterien für ihre Anstellung.

Distanz zwischen hohem und niederem Klerus bestand aber schließlich auch aufgrund der verfassungsrechtlichen Sonderstellung, die die meisten Bischöfe und viele Äbte als Reichsfürsten im Alten Reich innehatten. Die damit gebotene Verbindung zwischen geistlichem Amt und weltlicher Macht beschleunigte die Verweltlichung der Amts- und Lebensführung dieser Würdenträger; aus ökonomischen Gründen war sie im übrigen auch zum Problem des niederen Klerus geworden. Denn insbesondere die schlecht ausgestattete und zudem unzureichend ausgebildete Landgeistlichkeit war im Rahmen des kirchlichen Abgabensystems gezwungen, alle Gebühren für kirchliche Amtshandlungen unerbittlich einzutreiben, als Zusatz zum Lebensunterhalt z.B. Gastwirtschaften oder andere Handelsgeschäfte zu betreiben. Nimmt man hinzu, daß das Konkubinat recht weit verbreitet war, so ist das Bild geschlossen: dem Zwang zur Verweltlichung konnten sich nur wenige entziehen, die von den Laien erwartete Vorbildlichkeit der Lebensführung verkehrte sich in ihr Gegenteil, die Unglaubwürdigkeit vieler geistlicher Amtsträger war Realität.

Aus dieser Beschreibung folgt nicht, daß die Alte Kirche insgesamt verrottet gewesen wäre, wie dies im Kirchenkampfklima des Kaiserreichs der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts beschrieben wurde. Die Gegendarstellung des katholischen Kirchenhistorikers Johannes Janssen (1829–1891) hat zur Korrektur dieser Analyse zahlreiche Belege gesammelt, die für die heutige Forschung weiterhin Gültigkeit haben; der Reformationshistoriker der Weimarer Republik, Paul Joachimsen (1867–1930), wies darauf zu Recht hin. Trotz der beschriebenen Mißstände existierten durchaus intakte Klöster; verantwortungsbewußte Priester und Bischöfe versuchten ihre pastoralen Pflichten zu erfüllen. Und auch der stets so beklagte niedrige Bildungsstand der Kleriker war nicht durchgängige Realität. Universitätsbildung z.B. war in 30 bis 50 % der Fälle vorhanden, allerdings ohne einen Abschluß. Diese Zustände wurden innerhalb des katholischen Klerus durchaus thematisiert; das Wissen um die Richtung wirklicher Lösungen, das mit einer allgemeinen Adelskritik einhergehen konnte, zeigte sich z.B. im Erbauungsbuch des Franziskanerpredigers Johannes Pauli (veröffentlicht 1518/19): „Es war ein Priester, der ward verklagt vor dem Bischof“, so heißt es dort, „wie er also ungelehrt war. Der Bischof schickte nach ihm und sprach zu ihm: ‚Man sagt, wie ihr so schlecht zu brauchen seid zu der Pfarre, die ihr habt; ihr sollt euch versetzen lassen.‘ ‚Gern, Herr‘, sprach der Priester, ‚laßt mich Bischof sein und nehmt ihr die Pfarre.‘“ (Lutz, Einheit, S. 103)

Für die Geistlichen und die Laien unter den Kirchenkritikern stand eines fest: die Besserung der Verhältnisse in Deutschland war nur möglich im Zusammenhang einer ohnehin immer wieder diskutierten Reform der Reichsverfassung. Die aber stellte eine bis dahin ungelöste Aufgabe dar; der enge Zusammenhang zwischen Reichs- und Kirchenreform war durch die Unwilligkeit oder Unfähigkeit des nach der Konzilszeit wieder erstarkten Papsttums aufgelöst worden. Deshalb setzten die Zeitgenossen um 1500 auf die Realisierung zumindest der Reichsreform große Hoffnungen. Und in der Tat wurde sie innerhalb kürzester Zeit am Ende des 15. Jahrhunderts in Angriff genommen; wichtige Entscheidungen fielen auf den Reichstagen zu Worms und Augsburg 1495 und 1500. Mit der Verkündung des allgemeinen Landfriedens 1495 in Worms wurde das alte Fehderecht zugunsten allgemeinverbindlicher Rechtsnormen aufgehoben. Dem Wunsch nach einer weltlichen Obrigkeit, die den Frieden tatkräftig bewahren könne, entsprach diese Regelung durchaus.

Und Frieden im Innern wie im Äußern erhofften die Zeitgenossen. Die eklatante Schwäche des Reiches an der Jahrhundertwende war bedrohlich: der Rechtsunsicherheit im Innern entsprach die Bedrohung von außen in Gestalt der vordringenden Türken. Angesichts solcher Gefahren versuchten die Landesherren – als ständische Kraft im Reich von nicht zu unterschätzender Bedeutung – ihre territoriale Herrschaft zu konzentrieren, um sie zu intensivieren. Um so dringlicher wurde nunmehr die Stärkung der Reichsgewalt durch Neuordnung. In zähem Ringen zwischen Kaiser und Reichsständen (s. Schaubild S. 41) um das politisch Machbare gelangen Kompromisse, die sich „als ungemein lebensfähig und zukunftsträchtig erwiesen; das spricht dafür, daß sie den Bedürfnissen und auch den realen politischen Kräfteverhältnissen des Zeitalters einigermaßen entsprachen“ (Rabe, Jahrhundert, S. 114).

Als zentrales Entscheidungsorgan fungierte seit 1495/1500 der Reichstag als oberstes Organ der Gesetzgebung und politischen Beschlußfassung im Reich. Zusammengesetzt war er als Repräsentation der ständischen Machtträger, ein „Hauch von nationaler Repräsentation“ ist nicht zu bestreiten. Das Reichskammergericht als oberstes Organ der Rechtsprechung wurde erneuert, das römische Recht allmählich zur Grundlage der Entscheidungen gemacht, als Richter fungierten mehrheitlich studierte Juristen. Das Reichsregiment schließlich war das schwierigste Anliegen der Reform: als überwiegend ständisch organisiertes Regierungsgremium sollte es permanent tagen und dem Kaiser gegenüber weitgehend unabhängig sein. Damit trafen zwei Konzeptionen politischer Herrschaft in einer ohnehin gespannten Atmosphäre aufeinander, deren Zielsetzungen sich nur schwer vereinbaren ließen: „eine monarchische und eine ständisch-genossenschaftliche Konzeption“ (Lutz, Einheit, S. 123), verkörpert in Kaiser Maximilian I. (1459–1519) einerseits, dem Mainzer Kurfürsten Berthold v. Henneberg (1491/92–1504) als Vorsitzendem des Kurfürstenkollegs andererseits. Diesem „ging es um eine im genossenschaftlichen Sinne von den Ständen bestimmte und – vor allem – an den innenpolitischen Zielen von Recht und Frieden orientierte Regierungsbehörde“ (ebd.), während der Kaiser diese Einrichtung als unangebrachten Versuch betrachtete, seine Kompetenz als Reichsoberhaupt zu beschneiden. Es ist bezeichnend für die politische Kultur um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, daß der Mainzer Kurfürst sich mit seinen Reformansätzen als Bewahrer von guten Traditionen betrachtete, für die Religion, Recht, Politik und Ethik aufs engste verknüpft waren und die gemeinsame norma normans der Reichsreform abgeben sollten. Stärkung weltlicher Obrigkeit war für diese Vorstellung nicht gleichbedeutend mit der Stärkung der kaiserlichen Herrschergewalt, aber gleichbedeutend mit der Verpflichtung der weltlichen Gewalt zum Eingriff auch in die Belange der Kirche, um die Mißstände im Sinne innerer Befriedung zu beseitigen. Daß darin auch ein gerüttelt Maß Papst- und Romkritik verbunden mit einer bemerkenswerten Konkurrenz zwischen Landesherrschaft und der Alten Kirche um die Anteile am Steuereinkommen enthalten war, liegt auf der Hand. Selbst wenn B. v. Henneberg den unbekannten Verfasser jener Anonymschrift, die als Oberrheinischer Revolutionär bekannt und viel erforscht ist, nicht auf dem Wormser Reichstag von 1495 dulden wollte, so zeigt sich in dessen Äußerung das Anliegen der Zeitgenossen der Jahrhundertwende, das auch dasjenige des Kurfürsten war: Beseitigung der Mißstände in Kirche und Gesellschaft durch Rückkehr zu den Maßstäben christlicher Lebensführung.

Die Hoffnungen auf die Reichsreform wurden nur halb erfüllt. Dem Reichsregiment gelang die erstrebte Einbindung der kaiserlichen Gewalt nicht. Schon Kaiser Maximilian war es möglich, die wiederbelebten oder neugeschaffenen Reichsinstrumente zu umgehen; bereits zwei Jahre später löste es sich wieder auf. Das Eigeninteresse der Landesherren fand sich in der Ablehnung einer übergeordneten Reichsidee mit dem monarchischen Interesse des Kaisers zusammen und zerstörte die für das Konzept des Mainzer Kurfürsten notwendige reichsständische Solidarität.