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1. Auflage 2016
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-031262-3
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Das Gesundheitswesen in Deutschland befindet sich im Umbruch. Zahlreiche Anspruchsgruppen formulieren Erwartungen, denen zukünftig nur mittels innovativer Versorgungsformen, Geschäftsmodellen und Servicestrategien entsprochen werden kann.
Dies trifft insbesondere auf Krankenhäuser zu. Demografischer Wandel sorgt für eine steigende Nachfrage, während gleichzeitig finanzielle, materielle und personelle Ressourcen knapp bleiben. Der hiermit einhergehenden ansteigenden Arbeitsbelastung kann nur mit deutlich verbesserten Organisationsstrukturen und -prozessen begegnet werden. Im Mittelpunkt zukünftiger Reorganisationsvorhaben stehen daher Prozesseffizienz und Patientensicherheit.
Höchste Effizienz verknüpft mit größtmöglicher Sicherheit für ihre Kunden ist von jeher Grundanforderung an Unternehmen der Luftfahrtindustrie. Diese Ähnlichkeit in der Aufgabenstellung ist frappierend und eignet sich daher hervorragend, um von der Luftfahrtindustrie zu lernen. Das dort erreichte Sicherheitsniveau ist beachtlich und von keiner anderen Branche erreicht. Und trotzdem gelingt es den Unternehmen der Branche, wirtschaftlich erfolgreich zu arbeiten.
Das vorliegende Buch zeigt Möglichkeiten, wie in den Einrichtungen des Gesundheitswesens Ideen und Maßnahmen aus der Luftfahrtindustrie eingesetzt werden können. Der besondere Verdienst des Buches liegt darin, aufzuzeigen, wie die Anwendung und Befolgung systemübergreifender Regeln das Zusammenspiel von Menschen und Maschinen zur Lösung anspruchsvoller Aufgaben unter Zeitdruck optimiert.
Mit seinem Fokus auf Patientensicherheit schließt dieses Buch eine Lücke und bildet gleichzeitig eine Brücke zwischen zwei unterschiedlichen Branchen mit ähnlichen Aufgabenstellungen und Zielen. Die Übertragung von Prozessen aus der Luftfahrt in die Sphäre von Gesundheitseinrichtungen eröffnet Handlungsspielräume, die notwendig sind, um das Gesundheitswesen zukunftsfest zu gestalten. Es ist daher ein sehr wichtiger und wertvoller Beitrag zur Weiterentwicklung des Managements von Institutionen der Gesundheitswirtschaft.
Ich wünsche dem Buch eine weite Verbreitung und viel konstruktive Beachtung.
Dr. Olaf Bornemeier
Vorstandsvorsitzender
Mühlenkreiskliniken
Am 15. Januar 2009 setzten kurz nach dem Start von US-Airways-Flug 1549 am Flughafen La Guardia in New York beide Triebwerke des Airbus A320 durch massiven Vogelschlag aus. Nach einem dreieinhalb-minütigen Segelflug landeten die Piloten das Flugzeug mit 150 Passagieren an Bord auf dem Hudson River, ohne dass auch nur ein Mensch zu Schaden kam.
Vordergründig ist dieser glimpfliche Ausgang einer fliegerischen Meisterleistung der beiden Piloten zu verdanken. Blickt man aber hinter die Kulissen, wird deutlich, weshalb Crew und Technik in der Lage waren, ein solches Manöver zum Erfolg zu führen: Der beeindruckenden Notlandung vorausgegangen waren nämlich unermüdliche und nachdrückliche Anstrengungen der gesamten Luftfahrtbranche, betriebliche Komplexität zu reduzieren – durch Systematik, standardisierte Prozesse, Teamarbeit, kontinuierliches Training sowie ein Bewusstsein für Fehler und Verbesserungen. Kaum eine andere Branche strebt so sehr nach Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität: 99,999999 % aller Flüge erreichen heute ohne schwere Vorkommnisse sicher ihr Ziel.
Anders sieht es in der Medizin aus. Hier passieren »Bruchlandungen« sehr viel häufiger. Dennoch wird Prozessschwächen und Behandlungsfehlern intern und medial meist wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Sie sind in der Medizin in der Regel weniger spektakulär – und sie lassen sich leichter identifizieren und ehrlicherweise auch einfacher kaschieren. Teuer sind sie für Patienten und bisweilen auch für Ärzte bzw. Krankenhäuser dennoch. Dabei lassen sie sich relativ einfach vermeiden.
Natürlich müssen Mediziner dazu keinen Jet fliegen können. Dennoch möchten wir mit dem in diesem Buch immer wieder gezogenen Vergleich zur Fliegerei den Fokus auf die Chancen lenken, die sich durch bessere medizinische Arbeitsmethoden eröffnen. Würde die Medizin nämlich noch stärker nach Standards arbeiten, die denen von Airlines vergleichbar sind, könnten klinische Strukturen noch effizienter und Behandlungen noch sicherer werden. Dabei steht schon lange die Forderung im Raum, dass sich Einrichtungen des Gesundheitswesens deutlich effizienter aufstellen. Doch die Medizin wird immer noch als Black Box und insbesondere in der Chirurgie auch als Kunst betrachtet. Wir sind in Deutschland – zu Recht – stolz auf die allgemein hohe Personalqualifikation, doch für eine so wichtige Profession wie die Medizin fehlen an vielen Stellen grundlegende Standards.
Die Luftfahrt hat in den zurückliegenden Jahrzehnten innovative betriebswirtschaftliche Maßnahmen entwickelt und umgesetzt, um ihre Arbeit zu strukturieren und zu beherrschen. Die Erfahrungen, die sie dabei gemacht hat, können auch der Medizin nutzen. Dabei geht es nicht um eine einzelne neue Medizinmethode, sondern um ein Bündel von Konzepten, um den heutigen Herausforderungen in der Medizin zu begegnen. Es geht nicht darum, die Konzepte aus der Luftfahrt exakt zu übernehmen – es reicht völlig, sich die Rosinen herauszupicken. Der Ansatzpunkt liegt nicht primär darin, fachliche Anforderungen besser zu erfüllen, sondern in einer systematischeren Bewältigung der stetig zunehmenden Aufgabenkomplexität und Arbeitsteiligkeit. Deshalb müssen vor allem die prozessualen und die interpersonellen Kompetenzen stärker in den Vordergrund rücken.
Dies ist also ein Buch für alle, die ihre medizinische Arbeit nachhaltig effizienter und sicherer gestalten wollen: ob Arzt, Pfleger, Notfallmediziner, Laborant, ob Einsteiger oder Profi. Mit erfolgreichen, praxistauglichen Erkenntnissen aus der Luftfahrt soll dieser Ratgeber dazu beitragen, mehr Struktur und Systematik in die Medizin zu bringen. Mediziner in komplexen Behandlungssituationen oder in großen Organisationen wie Krankenhäusern werden am meisten davon profitieren.
Die aktive Suche nach geeigneten Methoden für mehr Effizienz in der Medizin sowie die Passion, die erfolgreichen Konzepte der Luftfahrt in andere Branchen zu übertragen, führte uns als Autorenteam zusammen. Im Zuge unserer Diskussionen entwickelte sich die Idee, einen Ratgeber über die selbst erlebten Konzepte und Tools der Luftfahrt zu schreiben und deren Anwendungsmöglichkeiten für die Medizin aufzuzeigen.
Unsere Handlungsvorschläge basieren auf zusammen rund 80 Jahren Erfahrung aus Entwicklung, praktischer Umsetzung, Beratung und Training der vorgestellten Methoden in Medizin, Luftfahrt und anderen Industrien.
Wir danken Dr. med. Florian Gebauer vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf für die wertvollen Hinweise im Zuge der Manuskripterstellung. Unser besonderer Dank gilt Herrn Dipl. Kfm. Marco Wunderlich, der im Hintergrund wesentlich zur Veröffentlichung des Buchs beigetragen hat.
Ihnen wünschen wir viel Spaß und gute Impulse beim Lesen! Auf Ihr Feedback zu den Erfahrungen mit den Ideen dieses Buches freuen wir uns.
Hamburg, im Frühjahr 2016
Dr. Martin Hinsch
Dr. Barbara Hogan
Cpt. Jens J. Olthoff
Abb. 1: | Treiber von Veränderungen in der Medizin |
Abb. 2: | Der Prozess einer Flugdurchführung im Vergleich mit dem der notfallmedizinischen Versorgung |
Abb. 3: | Schweizer-Käse-Modell |
Abb. 4: | Dirty Dozen |
Abb. 5: | Abflachung der Hierarchie im Cockpit |
Abb. 6: | Beispielhafte Prozesslandkarte für die stationäre Behandlung |
Abb. 7: | Beispielhafte Visualisierung eines Behandlungsprozesses |
Abb. 8: | Beteiligte an der betrieblichen Prozessbeschreibung |
Abb. 9: | Die Kernelemente betrieblicher Personalqualifikation |
Abb. 10: | Aufbau eines strukturierten Qualifikations- und Trainingssystems |
Abb. 11: | Eisberg-Modell aus der Fehlerforschung |
Abb. 12: | Medical Excellence aus Perspektive der Organisationentwicklung |
Abb. 13: | Pilotencheckliste |
Abb. 14: | Patientencheckliste |
Abb. 15: | Ganzheitliche Aufstellung in der Medizin |
Abb. 16: | Die Treiber von Veränderungen |
Die Patientensicherheit ist in den vergangenen Jahren zunehmend in den Blickwinkel der Öffentlichkeit geraten. Die Sensibilität der Medien bzw. der Bevölkerung im Umgang mit medizinischen Fehlern und Vorkommnissen hat deutlich zugenommen. Dies kann zur Folge haben, dass das Image eines Krankenhauses inzwischen bereits durch ein einzelnes öffentlichkeitswirksames Ereignis über Jahre hinweg nachhaltigen Schaden erleidet. Ein Beispiel dafür sind die zahlreichen Organspende- oder Bakterienskandale an großen Top-Kliniken in den letzten Jahren.
Safety, also die Sicherheit bei der medizinischen Leistungserbringung, wird somit mehr und mehr zu einem Wettbewerbsfaktor. Krankenhäuser sehen sich daher zunehmend mit der Herausforderung konfrontiert, ihre Organisationsstrukturen auf diese Entwicklungen auszurichten. Vor diesem Hintergrund scheint es nur noch eine Frage der Zeit, dass Safety im deutschen Krankenhauswesen flächendeckend als festes Unternehmensziel verankert wird. Um unter diesen Bedingungen langfristig am Markt erfolgreich agieren zu können, ist eine frühzeitige und gezielte Ausrichtung an den neuen Markterfordernissen notwendig. Die Kernfragen, die dabei auftreten, lauten:
• Was sind unsere Safety-Ziele?
• Wie sicher ist unser Krankenhaus heute?
• Wie erreichen wir operative Sicherheit?
• Wie können wir unsere Mitarbeiter »abholen« und »mitnehmen«?
• Wie schaffen wir eine Safety-Kultur?
• Wie messen wir Fortschritte im Bereich der Safety?
Im Zuge der Auseinandersetzung mit diesen Fragen und den Antworten werden durch die Reflexion eigenen Handelns Prozessverbesserungen (Aufgabenverteilung, Verantwortlichkeiten, Kommunikation) identifiziert. Diese führen zu einer verbesserten Ablaufeffizienz. Im Ergebnis bedeutet dies: Mehr und besseres Schaffen in der gleichen Zeit. Safety und Ökonomie sind also kein Widerspruch, sondern zwei Seiten derselben Medaille! Denn mit Bemühungen um mehr medizinische Sicherheit ist mittel- und langfristig auch den stetigen Sparbemühungen gedient. Eine systematische Safety-Ausrichtung von Organisation und Personal trägt aus ökonomischer Perspektive zu einer Minimierung der Arbeitsfehler bei, die durch unsachgemäße Arbeitsdurchführung entstehen. Dadurch sinken sowohl die Fehler- wie auch die Fehlerkorrekturkosten.
Es wird deutlich, dass medizinisches Handeln auch in Zukunft hohes fachliches Können erfordert – aber eben nicht mehr ausschließlich. Für substanzielle Erfolge müssen auch die interpersonellen Fähigkeiten und die Prozessorientierung medizinischen Personals stärker in den Fokus der Mitarbeiterqualifikation rücken. Zudem muss in dem bevorstehenden Veränderungsprozess die professionelle Kliniksteuerung und -überwachung eine treibende Rolle einnehmen.
Darauf müssen sich gerade Krankenhäuser künftig stärker als bisher ausrichten und in den kommenden Jahren eine radikale Wandlung vollziehen. Die neuen technologischen Möglichkeiten erleichtern es dabei, die betrieblichen Strukturen effizienter und transparenter zu gestalten.
Erfolgreiche Mediziner begeistert diese Welle der Professionalisierung. Sie werden durch zunehmende Prozessorientierung und durch die Innovationen in der Informationstechnologie der letzten zehn Jahre viel besser in ihrer Arbeit unterstützt. Die damit verbundene Systematisierung ermöglicht es überdies, mehr zu verdienen als bisher. Denjenigen, denen diese Entwicklung Sorge bereitet, sei gesagt, dass sich die meisten Defizite durch Training und Lernen ausgleichen lassen. Effizientes und sicheres Handeln sind kein Zauberwerk!
Als erstaunlich robust erweist sich der Mythos vom fehlerlosen Halbgott in Weiß. Es ist zwar nicht von der Hand zu weisen, dass sich der Arztkittel und das Stethoskop als vorteilhaft erweisen – dies gilt aber primär für die letzten Meter beim Patienten im Zuge der Vertrauensbildung. Die tatsächlich notwendige Qualifikation kann der Patient oft schwer beurteilen. Ein ausbleibender Behandlungserfolg kann sowohl dem Arzt, ggf. einem Kollegen oder aber eben der Besonderheit des eigenen Krankheitsbilds geschuldet sein.
Für den Arztberuf stellt sich das Problem, dass es zwar eine klassische und gute Arztausbildung gibt, jedoch kein umfassendes und allgemein anerkanntes Qualifikationsprofil definiert ist. Zu sehr herrscht noch immer der Glaube, dass Ärzte mit Abschluss ihres Studiums bzw. ihrer Facharztausbildung ausreichend qualifiziert seien. Diese Fähigkeiten reichen jedoch bei Weitem nicht aus. Einen guten Arzt zeichnet es nicht allein aus, zielgenau zu diagnostizieren, präzise zu operieren oder therapieren. Solche Fähigkeiten können Ärzte nämlich nur dann über dem Durchschnitt entwickeln, wenn sie z. B. zuhören, ein Team anleiten und kritikfähig sind. Die Auflistung in der folgenden Infobox zeigt, was einen guten Arzt ausmacht. Es ist eine Zusammenstellung an Aufgaben aus verschiedenen Berufsbildern.
1. Beziehungsmanager: Mediziner müssen in der Lage sein, Beziehungen aufzubauen und zu erhalten. Dabei geht es darum, mithilfe einer gesunden Empathie und Wahrnehmungsfähigkeit Vertrauen zu entwickeln, Emotionen hervorzurufen und mit dem Patienten eine Beziehung zu schaffen. Dies muss nicht nur beim Patienten gelingen, sondern auch bei den Akteuren des Behandlungsprozesses auf mehreren Ebenen und in verschiedenen Fachbereichen der Organisation.
2. Ökonom: Die ökonomischen Ziele des Krankenhauses müssen dem Arzt jederzeit präsent sein. Er sollte in der Lage sein, Ressourcenplanung und -verbrauch im Sinne der ökonomischen Vorgaben umzusetzen. Die betriebswirtschaftlichen Aspekte der Corporate Governance des Krankenhauses oder Krankenhausverbundes müssen sich sowohl im eigenen Handeln als auch in den eigenen Abteilungsprozessen zu jeder Zeit widerspiegeln.
3. Berater: Die Darstellung von Therapien bzw. Krankheits- und Behandlungsverläufen erfordert die Kompetenz der Wissensvermittlung. Der Arzt benötigt die Fähigkeit, alltagsverständlich Hintergründe zu erläutern, Konsequenzen aufzuzeigen sowie Perspektiven zu erklären.
4. Kommunikator: Für einen Arzt ist es entscheidend, die Patienten sowie deren Bedürfnisse zu verstehen. Um letztere zu identifizieren, die der Patient teilweise selbst nicht explizit kennt, erfordert es gezieltes Nachfragen und aufmerksames Zuhören. Ein Arzt muss in der Lage sein, geschickt diagnostische Fragen zu stellen, um alle für ihn und die Behandlung notwendigen Fakten zusammenzustellen.
5. Projektmanager: Bei allen komplexeren Behandlungsprozessen folgt auf die Diagnose eine mehr oder weniger umfangreiche Therapie. Gerade Klinikärzte müssen dabei die vielen Beteiligten zusammenführen und dazu die Fäden in der Hand halten. Sie steuern und überwachen Behandlungsprozesse mit Terminen und Verantwortlichkeiten.
6. Coach/Führungskraft: Jeder Arzt ist Führungskraft zum Teil auch ohne formale Berechtigung. Einerseits muss er seine Patienten durch den Behandlungsprozess führen. Andererseits wird dem Mediziner in seiner Organisation Führungsengagement abverlangt, damit die an der Behandlung beteiligten Personen kooperieren und effizient zusammenarbeiten.
7. Teamplayer: Dem Mediziner müssen zwar die wesentlichen Fragestellungen seiner Patienten bekannt sein, aber er kann nicht alle Lösungswege bis ins Detail kennen. Dafür gibt es das Pflegepersonal, MTAs, Apotheker und Kollegen anderer Fachabteilungen sowie die kaufmännischen Bereiche. Die nötige Koordination und Ressourcensteuerung lassen sich dabei nicht ohne hohe Teamfähigkeit bewerkstelligen.
8. Qualitätsmanager: Da der Arzt die Gesamtverantwortung im Behandlungsprozess trägt, ist er auch für eine angemessene Qualität und Einhaltung von Standards zuständig. Damit muss der Arzt sicherstellen, dass alles, was der Patient an Diagnostik und Behandlung erhält, auf Fehler, Unstimmigkeiten und Einhaltung von Standards kontrolliert und geprüft wird.
Die Aufgaben eines Mediziners erfordern demnach ein breites Qualifikationsspektrum. Dazu bedarf es einer strukturierten Ausbildung jenseits des Studiums. Medizinische Einrichtungen kommen nicht umhin, systematische Qualifikations- und Trainingsmaßnahmen anzubieten, die darauf abzielen, ihr Personal dahingehend zu befähigen, dass diese nicht nur den fachlichen, sondern auch den prozessualen und interpersonellen Stellenanforderungen gerecht werden.
Das Berufsbild des Arztes ist heute anspruchsvoller und komplexer als noch vor zwanzig Jahren. Reichte früher überwiegend die Interaktion mit dem Chef- oder Oberarzt, sind heute deutlich abstimmungsintensivere Vorgänge zu meistern.
»Wir haben früher ja so Einzelherrscher gehabt, die meinten, sie könnten für Patienten Einzelentscheidungen treffen und sagen: ›Sie müssen operiert werden, dann sind Sie das Problem los.‹ Wir wissen heute, dass das nicht stimmt. Wir brauchen eigentlich eine Rudermannschaft, die alle diagnostischen und therapeutischen Schritte für einen Patienten im Team entscheidet. Dazu muss sich die Rudermannschaft zum Training treffen, das ist unsere Tumorkonferenz. Da muss ehrlich für den Einzelfall alles auf den Tisch, und jeder muss darüber mitdiskutieren, was das Beste für diesen einzelnen Patienten ist.« Elke Jäger, Chefärztin der Onkologie am Nordwestkrankenhaus Frankfurt am Main1
Nicht zuletzt ist es notwendig, dass medizinische Einrichtungen die Auswahlverfahren für ihre Ärzte und deren Führungskräfte verbessern, denn falsche Mitarbeiter bringen nicht die optimale Leistung. Eine gezielte Personalauswahl ist dabei nicht nur aus Kostengründen sinnvoll. Es kann niemanden verwundern, dass eine sorgfältige Mitarbeiterauswahl zur Reduktion von Risiken und Problemen beiträgt und das Arbeitsklima fördert.
Medizinische Einrichtungen sind gezwungen, sich dem Wandel ihres Umfelds anzupassen. Der Druck zur Veränderung kommt dabei nicht nur vom Gesetzgeber, den Krankenkassen, Wettbewerbern und Patienten, sondern auch aus dem eigenen Controlling bzw. dem Management. Diese Entwicklung ist nicht über Nacht entstanden, sondern hat sich bereits seit einigen Jahren abgezeichnet. Dies macht den Handlungsdruck jedoch umso größer.
Abb. 1: Treiber von Veränderungen in der Medizin
Patienten sind heute informierter und wählen einen Arzt oder eine Klinik gezielt aus. Sie kennen ihre potenziellen Ärzte bzw. Einrichtungen dank Internet recht gut. Die Vergleichbarkeit nimmt also weiter zu. Fachliche Kompetenz bleibt essenziell wichtig – reicht alleine aber oft nicht mehr aus. Denn tatsächliche Fachkompetenz wird gerade bei großen medizinischen Einrichtungen vorausgesetzt und garantiert immer weniger (allein) eine hohe Bettenauslastung. Unterscheidungsmerkmale sind neben regionaler Nähe vor allem die durchaus subjektive öffentliche Wahrnehmung (oft mittels Internetbewertungen), das Service-Angebot, die Fähigkeit zur System- und Therapieintegration, aber auch die erwartete Zuverlässigkeit und das Vertrauen während des Behandlungsprozesses. Insoweit kommt es hier auf die Kompetenz jedes einzelnen Mitarbeiters eines Krankenhauses an.
Wesentlicher Druck zur Veränderung entsteht durch den Gesetzgeber und die Krankenkassen. Deren Ansprüche sind die Senkung der eigenen finanziellen Belastungen bzw. die der Patienten und Beitragszahler, die Steigerung der medizinischen Versorgungsqualität, die Förderung des Einsatzes neuer Behandlungsverfahren sowie zugleich die Sicherstellung eines einheitlichen medizinischen Versorgungszugangs für alle Menschen. Hinzu kommt der Anspruch einer verbesserten Information über Qualität, um damit die Mitsprache der Patienten zu stärken. Medizinische Einrichtungen befinden sich dabei im Spannungsfeld zwischen solidarischem Versorgungsauftrag und ökonomischem Druck ihrer Betreiber.
Die Medizin kommt nicht umhin, dieser Entwicklung vor allem durch Rationalisierung, strikte Prozess- und Qualitätsorientierung sowie fachliche Schwerpunktlegungen bei gleichzeitiger Zielgruppenausrichtung zu begegnen. In diesem Zusammenhang ist die Ausrichtung auf das WANZ-Prinzip (= wirtschaftlich, ausreichend, notwendig, zweckmäßig) geboten.
Klassische Einsparprogramme bieten in vielen Teilen der medizinischen Leistungserbringung nur noch marginale Effizienzsteigerungen. Das Ende der Fahnenstange ist an dieser Stelle weitestgehend erreicht. Eine besondere Rolle spielt fortan eine zunehmende Standardisierung und Automatisierung von Abläufen, die in vielen medizinischen Einrichtungen zukünftig noch deutlich ausgebaut werden wird.
Die Betriebswirtschaft hat dafür im vergangenen Jahrzehnt Instrumente speziell für den medizinischen Sektor entwickelt, die eine deutlich zielgerichtetere Steuerung und präzises Controlling erlauben. Auch die zunehmende Prozessorientierung bietet die Möglichkeit, in der Medizin weitere Qualitäts- und Leistungssteigerungen zu erzielen.
Es sind also sowohl der Bedarf wie auch die notwendigen Konzepte und Tools für einen Wandel vorhanden, um in der Organisationssteuerung einen Wettbewerbsvorsprung zu schaffen.
Die ständige Suche nach organisatorischen und strategieorientierten Optimierungspotenzialen leistet einer zunehmenden Ingenieursorientierung und Verwissenschaftlichung des Gesundheits- bzw. Krankenhausmanagements und der systematischen Organisationssteuerung deutlichen Vorschub. Dies gilt umso mehr, da die Führung und Steuerung medizinischer Einrichtungen wissenschaftlich bisher nur wenig unterlegt ist. Doch findet hier seit einiger Zeit ein Paradigmenwechsel statt. So haben sich in den vergangenen Jahren an den Hochschulen neben den Universitätskliniken zunehmend an Universitäten und Fachhochschulen immer mehr Lehrstühle zum Gesundheitsmanagement, zum medizinischen Qualitätsmanagement oder zur Patientensicherheit etabliert. Es steht zu erwarten, dass sich noch im Laufe dieses Jahrzehnts neue Methoden und Tools zur Bewertung von Klinikprozessen etablieren, insbesondere auch solche zur systematischen Messung von Behandlungserfolgen und der Patientensicherheit.
Neben einer modernen Organisationsentwicklung muss aber vor allem auch eine klare strategische Ausrichtung sichergestellt sein. Mit einem allumfassenden Behandlungsspektrum ohne Schwerpunkte werden Krankenhäuser langfristig nicht überleben können. Kliniken müssen sich hier ihrer strategischen Stärken und Schwächen im Klaren sein und ihr Tätigkeitsspektrum einschließlich ihres Marketings darauf ausrichten.
1 Jäger, E.: Krebs ist kein Todesurteil mehr. Interview. (http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/chefaerztin-jaeger-krebs-ist-kein-todesurteil-13535893.html, Zugriff am 28.04.2016).
Von den Champions einer Branche oder Berufsgruppe zu lernen, ist eine äußerst ökonomische Variante, um Herausforderungen anzugehen. Oft ist es nicht nötig, das Rad neu zu erfinden, sofern die grundsätzliche Vergleichbarkeit der Rahmenbedingungen gegeben ist.
Wie ist der Fall in der Medizin gelagert? Welche Anforderungen und Rahmenbedingungen muss eine Branche oder ein Berufsfeld erfüllen, damit diese für die Medizin nützlich wird?
Es sollte eine Industrie oder eine Berufsgruppe sein, in der
• Überzeugungs- und Durchsetzungsfähigkeit gebraucht werden,
• die Mitarbeiter hohe Verantwortung tragen,
• hohe Selbstsicherheit im Job gefragt ist,
• eine hohe Komplexität zu beherrschen ist,
• ein hoher Grad an Interaktion mit verschiedenen Fachgebieten/Abteilungen notwendig ist,
• Entscheidungsfähigkeit innerhalb eines definierten Rahmens besteht,
• unter Zeit- und Handlungsdruck gearbeitet wird,
• eine hohe Situationsflexibilität erforderlich ist.
Im Idealfall handelt es sich um einen Wirtschaftszweig, der über transparente Prozesse verfügt und individuelle, selbstbewusste Talente und »Künstler« in ihrem Berufsalltag zu starker Teamorientierung und Prozessstandardisierung gelenkt hat.
Die Luftfahrt ist so eine Branche. Sie funktioniert unter den genannten Bedingungen und kann dabei seit Jahrzehnten eine sehr hohe Erfolgsquote vorweisen. Kaum eine andere Branche setzt höhere Maßstäbe an Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität. Fluggesellschaften landen mehr als 99,99 % ihrer Flüge ohne nennenswerte Vorkommnisse sicher am Ziel. Unternehmen der Luftfahrtbranche werden daher auch als Hochleistungsorganisationen klassifiziert. Dies bedeutet, dass im Rahmen der Wertschöpfung deutlich weniger Fehler auftreten, als dies statistisch zu erwarten wäre. Die Wahrscheinlichkeit eines Totalverlusts liegt bei nur 1:100 Mio. Flügen – und das, obwohl sich Airlines in einem harten Wettbewerb behaupten müssen.
Es ist nicht überraschend, dass solche Werte nur durch ein hohes Maß an Standardisierung und Training zu erreichen sind. Hierfür sind die zahlreichen vorgeschriebenen Check-Flüge im Simulator alleine nicht genug. Um derartige Erfolge zu erzielen, muss Training als Erlebnisfaktor in den Berufsalltag integriert sein.
Beim Fliegen geht es darum, ein Ziel sicher und entsprechend dem Zeitplan zu erreichen. Der Standardprozess unterteilt sich dazu gemäß Abbildung 2 in fünf Kernelemente: Zunächst bedarf es der Vorbereitung auf das vorgegebene Ziel und der Planung der Route. Dazu zählen z. B. die Programmierung der Bordcomputer sowie die Abstimmung der Wetterverhältnisse, der zugewiesenen Luftstraßen, der Beladung, der Kraftstoffmenge, usw. In weiteren Prozessschritten folgen der Start und der Reiseflug entsprechend den Vorbereitungen und den allgemeingültigen Standard Operating Procedures. Der Gesamtprozess endet mit der Landung und der Nachbereitung. Auch die Nachbereitung als letzter Prozessschritt ist wichtig, denn die Passagiere wollen ihr Gepäck ausgehändigt bekommen und das Flugzeug soll für den nächsten Einsatz bereitgestellt werden. Nicht zuletzt lassen die Beteiligten den zurückliegenden Flug in einer Nachbesprechung (Debriefing) Revue passieren, um daraus für zukünftige Flüge zu lernen.
Während jeder Prozessphase müssen alle Beteiligten mit ihren Partnern und Zulieferern an den Schnittstellen kommunizieren. Piloten interagieren also nicht nur untereinander, sondern auch mit der Kabinencrew, dem Catering, dem Pushback, den Cargo-Beladern, den Gate-Mitarbeitern sowie der Technik und dem Control-Center der Airline und schließlich auch den Fluglotsen.
Abb. 2: Der Prozess einer Flugdurchführung im Vergleich mit dem der notfallmedizinischen Versorgung
Abb. 2