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www.piper.de
Für Vittorio
ISBN 978-3-492-97442-4
Juni 2016
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2010
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, www.kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: Composing Birgit Kohlhaas mit Fotos von Phillip Graybill/Getty Images und Fotolia (Kathedrale)
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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»Schön warm hier« war das erste, was mir auffiel. Süditalien im Spätherbst, eine Kurzreise quer durch die saftig grünen Olivenhaine Apuliens, das Land der Trulli und Masserien und unberührten Adriaküste. Ein Schlüssellochblick auf eine Region Europas, die noch weitgehend unbekannt ist, weil die meisten Italienreisenden in der Toskana hängen bleiben oder gleich auf die andere Stiefelseite abbiegen, Richtung Neapel, Capri, Amalfi, und so nie erfahren, wie schön und ursprünglich und irritierend elektrisierend die Gegend zwischen Bari und Gallipoli ist.
Ich fing spontan Feuer, einen Monat später war ich wieder dort, für eine dreitägige Entdeckungstour im hellblauen Cinquecento. Mein pugliesischer Freund Vittorio hatte sich spontan bereit erklärt, mir ein bisschen sein Land zu zeigen, gemeinsam gingen wir auf große Fahrt vom Castel del Monte im Norden bis hinein in die Ebenen des Salento, die auch im tiefsten Winter noch grün sind; an ein und dem-selben Tag mal winterlich kalt, frostig und raureifbedeckt auf den Hügeln des Itria-Tals, dann frühlingshaft mild, wie im Hafen von Trani, wo Anfang Januar alles verrammelt ist und wir nur mit ein bisschen Glück und viel Geduld bei Pedro ein Glas selbstgekelterten Muscadet bekamen. Die Kamera im Anschlag für unzählige Postkartenmotive unterwegs, spazierten wir durch die verwinkelten Altstadtgassen von Otranto, das heute noch mit jedem Tuffstein an die Zeiten der Kreuzzüge erinnert. Aßen in Gallipoli an der Hafenpromenade zu Mittag, von wo aus man das Adriatische förmlich ins Ionische Meer fließen sehen kann. Ein Aperitif in Lecce, danach bis in den Morgen tanzen.
Natürlich und herzlich erlebte ich die Menschen um mich herum, offen und echt und dabei nicht oberflächlich, gelebte Leichtigkeit des Südens. So fing alles an. Ein Jahr später, ein intensives, sinnliches, emotionsgeladenes Jahr. Ein Jahr, für das ich einen Monat nach dieser Entdeckungsreise ein komplettes Leben in München stehenließ, weil es sich einfach richtiger anfühlte, in Apulien zu sein. Ein Jahr zum Atemholen und Schreiben, kein Ort wäre passender, in dem ich nicht viel vermisste, viel zu beschäftigt war ich mit der faszinierend neuen Umgebung, den neuen Lebensumständen und der neuen Sprache, weil man mit Englisch und Französisch schnell an seine Grenzen stößt im wilden Süden, sobald es übers Kaffeebestellen hinausgeht. In dem ich Menschen aus aller Welt kennenlernte, die nach Apulien kamen, um Kraft und Energie zu tanken. Viele von ihnen kommen jeden Sommer, andere sind hier geblieben, wie Maria, die in ihrem alten Leben rastlos um die Welt jettete und heute in den Bergen von Cisternino Handtaschen designt. Tiziana aus Mailand, die mir auf der Gartenbank ihres Ferien-Trullo mit Engelsgeduld Italienischstunden gab. Marina, Reporterin beim italienischen Reise-magazin Dove, die mir für dieses Buch eine unvergessliche Hong Kong-Erinnerung schenkte. Oder Donatella, der ich bei einem Sommerfest am Strand über den Weg lief. Mit einem faszinierenden Mini-Ausschnitt aus ihrem bewegten Leben schließt diese Porträtsammlung.
Schön warm hier. Temperaturen um die 45 Grad im Hochsommer machen es leichter anzudocken. Doch für emotionale Wärme, für Freundlichkeit, Offenheit und Großzügigkeit und für die Bereitschaft, freimütig zu geben, und sei es nur, eine Geschichte zu erzählen und damit einen Teil des eigenen Lebens zu teilen – dafür muss man nicht nach Apulien reisen.
Heike schrieb mir die Geschichte ihres Schweige-Retreats, nachdem man mir – auch das ist Italien – drei Meter von der Basilika Santa Croce entfernt meinen Computer gestohlen hatte und ich noch mal fast von vorne anfangen musste. Christine, fast aus den Augen verloren und sofort zur Stelle, als ich bei ihr anfragte – mit einer Liebesgeschichte, die man umwerfender nicht erfinden könnte. Jenny aus Peking nahm allen Mut zusammen und probierte sich erstmals in Schrift-Deutsch, um die Story ihrer erst Fern-, jetzt Nahbeziehung zu dem Münchner Uli aufzuschreiben.
Die Wärme, die du suchst, kann kein Ort dir geben, die muss aus dir selbst kommen, sagt Kristina, deren persönliche Wärmesuche auf Sizilien endete. Mit einer Reise kann alles anfangen – und das Ankommen im Leben kann überall stattfinden. In jeder Minute, auch wenn man am wenigsten damit rechnet. Ein Lächeln in der U-Bahn, ein freundliches Vorlassen im Supermarkt, kleine, liebevolle Gesten, die den Umgang miteinander herzlicher, lebenswerter machen – vielleicht sind Italiener darin von Natur aus besser, unbekümmerter, authentischer. Nicht immer nur erwarten, einfach mal geben, umso leichter tut man sich, Hilfe anzunehmen, wenn es kniffliger wird im Leben, das ist nur eine der Lehren, die ich aus diesem Jahr zog.
Schön warm hier. Im gleichnamigen Blog, der mit der Apulien-Reise beginnt (http://katjabuellmann.wordpress.com), können Sie nachlesen, wie es weitergeht – und wohin. Denn Rastlosigkeit heilt nicht im Rasten und Zur-Ruhe-Kommen, das wäre wohl auch zu einfach. Unterwegs sein und dabei bei sich selbst bleiben – möglicherweise ist das der Schlüssel. Leben ist das Geheimnis, sich vornüber hineinwerfen in das große Abenteuer, mutig voranschreiten und seinem Herzen folgen – das ist das Glücksrezept. Ich wünsche mir, dass Ihnen die folgenden Begegnungen, Erlebnisse und kleinen Geständnisse, notiert zwischen Amsterdam und Bangkok, ein Stück Inspiration für Ihre Lebensreisen liefern. Viel Spaß beim Reisen und Ankommen im Leben.
Ihre Katja Büllmann
im September 2009
»Wenn ich esse, gibt es nichts
außer dem Geschmack roten Currys
auf meiner Zunge.«
Anette, die Frau mit den vielen Identitäten, lernt bei einem Thailandurlaub, bei dem so ziemlich alles schiefgeht, loszulassen. Die Zeit des Müßiggangs wird für sie ebenso zum Glückssymbol wie ein kleines Fläschchen Öl – und ein ganz besonderes Geschenk, das sie von dort mitbrachte.
Anette hat 101 Persönlichkeitsprofile, auf Facebook, Xing, Flickr und ihrem eigenen Baby, einem Onlinemagazin von Frauen für Frauen. Sie wechselt ihre Moodmitteilungen wie Unterwäsche, pflegt Onlinefotoalben wie andere ein neues Auto, und wenn man sie als Junkie bezeichnet, beobachtungssüchtig, mitteilungswütig, vor allen Dingen jedoch arbeitsversessen und niemals müde, lächelt sie nur.
Anette lebt in Geschichten und für Geschichten – von Kindheit an. Da dachte sie sich bereits ganze Drehbücher für ihr kleines Streichholzschachtel-Püppchen aus, eine Art Alter Ego, das sie ständig in der Tasche mit sich herumtrug. Sitzt man heute mit ihr an einer Bar, trinkt ein Glas Chardonnay und sieht nebenbei den Leuten zu, wie sie ihrem ganz normalen Leben nachgehen, kommt es gern mal zu Dialogen wie folgendem:
»Ich glaube, der Mann dort, der in der grauen Jacke, betrügt seine Frau.«
»Ja, er ist auf dem Weg zu seiner Geliebten, die eine Straße weiter in einer Dachgeschosswohnung lebt.«
»In der Jackentasche hat er eine kleine Schachtel – bestimmt vom Juwelier!«
»Der Arme. Schau, wie er grinst. Er freut sich auf ein paar schöne Stunden, auf entspannten Sex, und weiß noch nicht, was passieren wird.«
»Na ja, er kann ja nicht ahnen, dass seine Ehefrau und seine Geliebte sich zufällig in der Sauna kennengelernt haben und Freundinnen geworden sind …«
Blühende Phantasie. Im Web lebt Anette sie nach Herzenslust aus, begeistert eine ständig wachsende Fangemeinde mit ihren lebensnahen, selbstironischen, authentischen Erzählungen. Was an Emotionen übrig bleibt, verwertet sie in ihren Büchern: Protagonist »Paul«, ihre Erfindung, ist längst eine Kultfigur auf dem Markt der Frauen- und Beziehungsliteratur. Neuerdings haben Anettes Stories noch eine weitere Hauptdarstellerin: Töchterchen Linda ist jetzt auf allen Kanälen Thema Nummer eins.
Wenn sie nun noch reisen könnte – »am liebsten ganz weit weg, nach Asien oder Australien oder die USA« –, würde der passionierten Geschichtenerzählerin nichts mehr fehlen zum Glück. Dank Linda ist bereits ein Wochenende auf der Skihütte ein großes Abenteuer. Was sie auf ihrer letzten großen Reise nach Thailand, im Oktober 2007, erlebte und was sie von dort mitbrachte, erzählt sie hier.
Ich bin in Bangkok, und ich bin unzufrieden. Unsere Reise sollte eigentlich nach Myanmar gehen. Seit Monaten habe ich mich darauf gefreut, Bücher über Birma gelesen, Freunde befragt, die schon dort waren, DVDs ausgeliehen. Wir hatten den Trip so sorgfältig geplant, in wochenlanger Arbeit. Sightseeing in Rangun – ich mag den alten Namen der birmanischen Hauptstadt, er erinnert mich immer an Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt –, eine Dschungeltour auf Elefanten im Norden, Bootsfahrt über den Lake Inle bis hin zum Strandurlaub im Süden. In dieser Gegend zu reisen ist nicht so einfach wie in Thailand, wo man in einen der klimatisierten »V.I.P.«-Busse steigt und so lange thailändische Comedyserien guckt, bis einen das Spaßmobil am Ziel wieder ausspuckt.
Alles umsonst. Die birmanischen Mönche lehnen sich gegen die Militärdiktatur auf. Von Urlaubsreisen in die Region wird daher dringend abgeraten. Deswegen sind wir nun hier, in Bangkok. Eine spontane Alternative, es gab günstige Flüge, wir haben zugeschlagen.
Drei lange Wochen liegen vor uns, und Hals über Kopf, wie wir uns umentschieden haben, gibt es nun überhaupt keinen Plan.
Das stört mich, ich reise gerne vorbereitet. Schließlich möchte ich in der knappen Zeit, die ich außerhalb des Büros verbringe, möglichst viel erleben und nicht am Ende das Interessanteste verpassen. Überraschungen konnte ich noch nie leiden, und Fahrten ins Blaue mag ich nicht mal, wenn es nur das Blau des Tegernsees ist. Das Schlimmste: Ich kann niemanden dafür verantwortlich machen. Da müssen wir jetzt durch.
Suvarnabhumi Airport. Die größte Drehscheibe Asiens, ein Megaflughafen. Meine Laune ist mäßig; meinem Mann zuliebe reiße ich mich zusammen, lenke mich mit den exotischen Destinationen auf der Anzeigentafel ab. Singapore, Kuala Lumpur, Sydney, Phnom Penh, Denpasar, Chiang Mai – die fremdländischen Namen verursachen irgendwie ein Kribbeln im Bauch …
Vielleicht ist es doch nicht so schlecht, nichts vorgebucht zu haben. Allemal eine Abwechslung zum Gewohnten. Auf einmal fühle ich mich frei.
Na ja, nicht ganz so frei. Mist. Als ich meinen Rucksack vom Gepäckband ziehe und mit Schwung schultere, spüre ich es. Meine Tage, ausgerechnet jetzt, das hat gerade noch gefehlt. Eine Woche zu früh! Ich fühle mich ungerecht behandelt. »Ach komm, dann hast du’s hinter dir, wenn wir in einer Woche irgendwo am Strand liegen«, tröstet mich mein Mann. Trotzdem ärgerlich. So war das nicht geplant. Dass ich mich auf die birmanischen Mönche nicht verlassen kann, ist eine Sache. Aber dass jetzt auch noch mein Zyklus spinnt, nervt mich.
Abends gehen wir in Chinatown essen und streiten ein bisschen. Ich bin mir ganz sicher, dass wir das Straßenlokal – eigentlich ist es nur ein fahrbarer Herd mit ein paar winzigen Plastikstühlen und -tischen, an denen die unzähligen pinkfarbenen Taxis mit Zentimeterabstand vorbeirasen – gefunden haben, in dem wir vor vier Jahren aßen, auf unserer Hochzeitsreise. »Kann sein, mein Schatz, es kann aber auch genauso gut ein anderer Essensstand gewesen sein. Ist doch eigentlich auch egal«, findet mein Mann. »Aber ich erkenne genau die Ecke wieder! Dort drüben, die rot blinkende Leuchtreklame, und hier der Shop mit den kopflosen, toten Hühnern und den Barbiepuppen …« So geht das hin und her, wir können beide nicht einlenken, vielleicht ein bisschen Jetlag, es kriselt, bis wir zu müde zum Zanken sind und auf den roten Plastikstühlen ganz einträchtig und friedlich undefinierbar Leckeres essen und chinesisches Tsingtao-Bier dazu trinken.
Ich weiß nicht, ob es der Alkohol ist, die Müdigkeit oder das nie endende Brummen und Summen dieser übervollen Stadt – aber ich fühle mich frei, schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Und langsam gewöhne ich mich daran. Ich fühle mich so frei, wie man sich nur fühlen kann, wenn man alles, was man braucht, selbst tragen kann. Drei Wochen liegen vor uns, und ich denke keine Sekunde weiter nach vorne. Langsam werde ich wieder warm mit Thailand. Wird auch Zeit.
Am liebsten würde ich pausenlos reisen. Unterwegs bin ich so anders als zu Hause. Da bin ich, wie ich zu Hause gerne wäre, entspannt und gelassen und sorgenfrei. Was bringt es, sich Gedanken über Dinge zu machen, die in der Zukunft oder in der Vergangenheit liegen? Daheim bin ich eine Meisterin darin. Hier in Asien: Kein hysterischer Anfall, als wir gestern nach hundert Kilometern Busfahrt feststellten, nach Trat unterwegs zu sein statt nach Trang. Trat und Trang – was benachbart klingt, liegt weit auseinander, weiter geht’s fast nicht. Trang ist im Südwesten Thailands, südlich von Krabi, da wollten wir hin. Und Trat … »Wo liegt Trat?«, frage ich die freundliche Thailänderin, die uns aufklärte, wo wir eigentlich hinfuhren, nachdem mein Mann bemerkt hatte, dass irgendwas mit der Himmelsrichtung nicht stimmte. – »Nahe der Grenze zu Kambodscha.« – »Oh.« – »Warum hast du denn nicht aufgepasst? Wie kann man nur so verplant sein!« Mein Mann kennt mich nicht anders, wenn irgendwas schiefläuft. Er hätte sich auch nicht gewundert, wenn ich mit dem Lonely Planet nach ihm geworfen hätte; sein Gleichmut in kleinen und größeren Krisensituationen ist bewundernswert. Doch auf dieser Reise ist alles anders. »Ach was, macht doch nichts, dann fahren wir eben nach Trat. Kann man sich doch mal angucken, vielleicht ist es sehr schön da?«, höre ich mich sagen.
Trat ist toll. Eine kleine, unbedeutende Provinzstadt mit einem riesigen Nachtmarkt, auf dem man für ein paar Baht die leckersten Dinge essen kann. Und Trat hat noch eine Spezialität: Zauberöl, Yellow Oil, Namman Leuang. Es duftet nach Pfefferminz, Eukalyptus und anderen ätherischen Subs-tanzen und wird nach einem Geheimrezept einer längst verstorbenen Einheimischen hergestellt. Überall werden die kleinen Fläschchen mit pinkfarbenem Etikett verkauft. Wir schlagen in einem winzigen Laden in einer Seitengasse zu.
»Wofür ist das gut?« – »Alles Mögliche«, antwortet die alte, runzlige Frau hinter der Kasse und tropft jedem von uns ein bisschen was davon auf die Hand. »Reiben!«, bedeutet sie uns, die Wärme macht den Duft noch intensiver. Dann die Handflächen vors Gesicht halten und tief einatmen: »Spürt Ihr es?« Oh ja. Mir wird angenehm schwindelig, gleichzeitig fühlte ich mich so hellwach wie nach zwei doppelten Espressi, frisch und putzmunter. »Es hilft bei ganz verschiedenen Dingen«, erklärt die Alte und macht eine ausholende Bewegung mit ihrer Hand, »Sonnenbrand, Wundheilung, Kopfweh, Kater, Moskitostiche, Muskelzerrungen … und Babys!« Sie deutet auf meinen Bauch, kichert zahnlos. »Nein, nein, ich bin nicht schwanger«, beeile ich mich zu sagen. »Jetzt noch nicht«, sagt sie.
Im Tuk-Tuk lassen wir uns zum Pier bringen und nehmen die Fähre, um auf die Insel Koh Chang überzusetzen. Wir nähern uns von der Nordostseite her, auf halber Strecke beginnt es leicht zu regnen. Als die Fähre in Ban Dan Kao anlegt, will ich am liebsten wieder umkehren. Der »Ort« ist nicht mehr als ein paar Wellblechhütten und ein Mopedverleih. Dafür wird der Regen stärker. Wir stellen uns unter und verpassen die ersten paar Songthaews, die die Touristen an die Westküste bringen, dahin, wo die Resorts und Bungalowanlagen liegen. Das letzte Sammeltaxi erwischen wir gerade noch, für überteuerte hundert Baht pro Person dürfen wir mitfahren. Platz gibt es nur leider keinen mehr, wir werfen unsere Rucksäcke auf das Dach des Pick-up und fahren auf dem Trittbrett mit, im Stehen. »Ist ja nicht weit. Und irgendwie aufregend …«, spreche ich uns beiden Mut zu. »Halt dich gut fest«, meint mein Mann nur und sieht mich besorgt an. Ich habe keine Angst. Unterwegs bin ich stark. Los geht es, rein in die erste Kurve, diese Küstenstraße ist halsbrecherisch. »Festhalten!«, schreit mein Mann immer wieder, wenn es eng wird oder steil oder beides zusammen, ich höre ihn kaum gegen den Fahrtwind, Motorlärm und Regen ersticken den Rest. Aber innerlich strahle ich, mir passiert schon nichts. Ganz sicher nicht. Am White Sand Beach springen wir von unseren Trittbrettern, fangen die Rucksäcke auf und machen uns auf die Suche nach einer Bleibe. Gut zwei Stunden, vergebens. »Ich versteh das nicht, es ist Oktober, die Hauptsaison beginnt doch erst im November.« Langsam wird mir mulmig. »Keine Ahnung, was hier los ist«, meint mein Mann, gewohnt stoisch. Da muss mehr kommen, um ihn aus der Ruhe zu bringen. »Mach dir keine Sorgen, wir finden schon was.« – »Was soll’s, hast recht, zur Not schlafen wir halt am Strand …«
Argwöhnischer Seitenblick, fragend, herausfordernd. Das kannst du nicht ernst meinen. Doch er sagt nichts, lässt mich gewähren, er macht seine Sache gut. Ich kann mich selbst kaum fassen. Am Strand schlafen, das hielt ich bislang für einen romantischen Traum, der nur so lange Traum ist, wie genügend Kilometer zwischen dir und dem Strand liegen. Bei Kaufhof in der Kassenschlange kurz vor Weihnachten lässt es sich gut davon träumen, unter Sternen und auf Sand zu schlafen. Wenn es keine Alternative gibt, sieht die Sache anders aus. In der Regel.
Weiter Richtung Süden, auch hier: kein Glück. Am frühen Abend landen wir am Lonely Beach. Endstation, heute fährt kein Bus mehr zurück, Sammeltaxis gibt es auch keine mehr. Wir müssen hierbleiben. »Dieser Strand macht seinem Namen keine Ehre und ist leider gar nicht mehr einsam«, mit Reiseführer in der Hand gebe ich die Oberlehrerin. »Hier steht was von Techno am Strand und betrunkenen Engländern.« Die Brit-Pop-Party findet heute woanders statt, ruhig und friedlich ist es hier draußen, man könnte problemlos jetzt und hier und gleich sofort ein Lager aufschlagen. Ermattet lehne ich meinen Rucksack an eine Palme, packe den Reiseführer weg und atme tief durch. Alles, was ich höre, sind die Geräusche des Dschungels, der die hinter der Küstenstraße aufragenden steilen Hügel vollständig bedeckt, Regenwald. Brummend, glucksend, kichernd, zwitschernd, trommelnd, die ganze Gegend ist von diesem Klangteppich erfüllt. Leises Meeresrauschen legt sich darüber wie süße Sahne. »Anana! Anana! Aaaaaanaaaaanaaaaa!« Ganz so lonely ist er dann doch nicht, unser Strand, aber als der Obstverkäufer vorbei ist, herrscht wieder Ruhe. Ein letztes Mal Rucksackschultern für einen letzten Versuch. Wir haben tatsächlich Glück und finden kurz vor Sonnenuntergang eine kleine Bungalowanlage ab vom Schuss, mitten in einem idyllischen, tropischen Hain. Für 200 Baht pro Nacht mieten wir eine Hütte, schlicht, aber sauber, mit einem einzigen Möbelstück darin: einer Matratze mit einem riesigen Moskitonetz darüber.
Anspannung macht Erleichterung Platz, ich bin glücklich, dass wir es so gut getroffen haben, was absolut atypisch für mich ist. Ein Tag wie dieser hätte mich normalerweise an den Rand des Ausrastens getrieben. Hier läuft alles anders als geplant und hat so gar nichts mit dem zu tun, wie ich es mir hier vorstellte, von Luxuswünschen ganz zu schweigen. Andererseits: Herrlich, wie leicht es einem ums Herz wird, wenn es nichts Überflüssiges mehr gibt.
Als wir uns in der Nacht auf der brettharten Matratze lieben, schließe ich die Augen und stelle mir vor, ich wäre im Dschungel. Die dünnen Bambuswände der Hütte lösen sich auf, der Regenwald übernimmt die Regie. Ich ergebe mich wohlig.
Tag vier auf der Insel. Vorletzte Nacht hat es heftig geregnet, die einzige Straße nach Norden ist durch einen Erdrutsch unpassierbar geworden. Halb so wild, meint die Besitzerin unserer kleinen Bungalowanlage seelenruhig, in ein paar Tagen könne man die Straße bestimmt wieder befahren. Vielleicht auch erst in einer oder zwei Wochen. Ob wir es eilig hätten? Nein. Eigentlich nicht. Und das, obwohl ich vorgestern mein letztes Buch fertig gelesen und nun nichts mehr zu tun habe. Mein Mann zieht die Augenbraue hoch. Das kann nicht ihr Ernst sein. »Was ist mit dir los? Du ohne Buch, in einem Kaff, in dem es nicht mal einen Supermarkt gibt, so entspannt?« Hm. Seltsam. Stimmt. Aber solange sich das so gut anfühlt?
Ich kann’s. Im Hier und Jetzt leben. Zu Hause gelingt mir das nicht, obwohl ich mindestens fünf Bücher gelesen habe, die sich mit Buddhismus beschäftigen. Vielleicht liegt es an Asien, an der Wärme hier oder an der Tatsache, dass ich keinerlei Erwartungen an diese planlose Reise hatte. Plötzlich geht es, ich kann loslassen. Wenn ich esse, gibt es nichts außer dem Geschmack des roten Currys auf meiner Zunge. Wenn wir am Strand entlanggehen, spüre ich den Sand unter meinen Füßen, das Wasser, das sie umspült, die Sonne auf meiner Haut und die Hand meines Mannes um meine. Ich gehe am Strand entlang, um am Strand entlangzugehen. Ich bin nicht eifrig auf der Suche nach den besten Fotomotiven für später und denke auch nicht an die vielen anderen Meere, an deren Küsten ich schon entlangspazierte.
Ich glaube nicht, dass sie die Straße nach Norden je wieder freischaufeln. Es ist mir auch egal. Ich war noch nie so taten- und wunschlos glücklich wie hier. Ohne Buch und mittlerweile auch ohne iPod, denn der fiel einer zweiten Regennacht zum Opfer. »Fehlt nur noch ein Stromausfall«, meint mein Mann, als wir uns darüber unterhalten, was alles passiert ist. Die Verwechslung am Busterminal. Das merkwürdige Ausgebuchtsein von White Sand Beach. Der Erdrutsch. Das Ertrinken meines iPod. »Also, das wäre aber zu viel des Guten«, finde ich und drehe mich auf den Bauch. Ich schließe die Augen und spüre den Sand, auf dem ich liege. Jedes einzelne der unzähligen kleinen Körnchen kann ich auf meiner Haut fühlen. Wohlig falle ich in den Schlaf. Erwache mit leichtem Sonnenbrand. Das Zauberöl. Sollte das nicht …? Zurück im Bungalow, drücke ich meinem Mann das Fläschchen mit dem pinkfarbenen Etikett in die Hand, bitte ihn, mir die geröteten Hautstellen damit einzureiben. Wie gut das tut!
Bäuchlings liege ich auf der Matratze und genieße die sanfte Massage, inhaliere den Duft des gelben Öls, scharf und sanft zugleich, süß und herb. Ich atme tief ein und spüre wieder den leichten Schwindel wie in dem kleinen Laden in Trat.
»Ganz schön intensiv.« Er massiert weiter, obwohl das Öl längst eingezogen ist. Dann sagt er nichts mehr. Es ist bereits stockdunkel, als wir eng umschlungen erwachen. »Du bist nackt.« – »Selber nackt.« Zwei, drei Stunden müssen vergangen sein, seit wir in Tiefschlaf fielen. Er greift nach dem Fläschchen mit dem pinkfarbenen Etikett, es liegt neben der Matratze, zugeschraubt und leer.
Seit vier Wochen sind wir aus Thailand zurück. Die Straße auf Koh Chang wurde doch noch repariert, sodass wir in aller Ruhe nach Bangkok reisen und dort planmäßig unseren Flieger nach Deutschland nehmen konnten. Es gibt wenige Fotos von dieser Reise, dafür umso mehr Erinnerungen. Geräusche, Gefühle, Gerüche. Man kann sie nicht fotografieren. Eine Erinnerung wird uns immer begleiten: Kurz nach unserer Rückkehr habe ich einen Schwangerschaftstest gemacht. Er war sofort positiv. Am 27. Juli ist unser Kind zur Welt gekommen. Nicht ungewöhnlich, im Urlaub ein Baby zu zeugen, sollte man meinen, für uns ja. Vier Jahre lang haben wir es erfolglos versucht, unsere Reisen nach meinem Zyklus geplant, in Neuseeland, Australien, Südafrika, Italien, Ecuador, auf Mauritius und im Salzkammergut miteinander geschlafen. Ich sollte nicht schwanger werden.
Als ich das Geschenkband suchte, um eine Schleife um den Test zu machen, mit dem ich meinen Mann abends überraschen wollte, klemmte die Schublade, wo wir solche Dinge aufbewahren. Als ich an ihr ruckelte, rollte mir etwas entgegen, die Ahnung eines wohlbekannten Dufts stieg mir wieder in die Nase. Der Hauch genügte, um eine Bilderflut in meinem Kopf auszulösen. Brennende Schultern, seine kühlen Hände, der Ventilator, der mit trägem Wusch-Wusch die schwülwarme Luft durchpflügt, die nie verstummenden Geräusche des Dschungels, Haut, Hitze, Lust, Schlaf.
Ich nahm das Fläschchen mit dem pinkfarbenen Etikett aus der Schublade. Es war noch fast voll.
»Der Duft von sommerwarmen
Teerosen und Lavendel haftet heute noch an dem Foto.«
Brave Mädchen kommen in den Himmel, freche überallhin. Jutta zimmerte sich ihr Glück ganz allein. Ein kleines Dorf hoch oben im italienischen Apennin ist nicht nur Inbegriff ihres persönlichen Lebenstraums, sondern auch einer späten Aussöhnung mit dem strengen Vater, der die Tochter lange Zeit lieber verheiratet und versorgt gesehen hätte.
»Wie sich doch oft Dinge im Leben herausbilden, die man schon früh empfunden hat und deren Entwicklung unterschwellig weitergeht, auch wenn man sie nicht direkt vorantreibt. Ich meine Dinge, die sich auch nur bis zu einem gewissen Grad strategisch planen und umsetzen lassen, wie eine große Liebe. Sie gibt deinem Leben Richtung und Fülle, aber planen und dirigieren lässt sie sich nicht. Meine Leidenschaft für Italien ist so eine Sache. Es gibt ein Foto aus Kinderzeiten, das alles sagt. Ich im Blümchenkleid, mit wirrem Pferdeschwanz und staubigen Lackschuhen, am Sockel einer Steinstatue im fürstbischöflichen Residenzgarten von Würzburg. Es muss im August 1964 gewesen sein, mein Bruder war gerade zur Welt gekommen, und mein Vater und ich warteten im Park, ehe man uns ins Krankenhaus zu meiner Mutter und dem Familienzuwachs ließ. Die Wärme und Unbeschwertheit dieses Tages, der intensive Duft von sommerwarmen Teerosen und Lavendel haften heute noch an dem vergilbten Foto, das ich in einer hübschen Schachtel neben einigen anderen wie kleine Schätze verwahre.
Ein italienischer Moment, der meine Seele gefangen nahm, obschon mitten in Franken. Das Lebensgefühl dieses Tages hat sich mir eingebrannt, auch wenn es den Begriff damals so noch gar nicht gab, aber für mich war es genau das.
In den vielen Jahren darauf habe ich immer wieder ganz gezielt danach gesucht, in den Gärten von Florenz, an den Hängen Taorminas oder in einem kleinen Bergfriedhof hoch über dem Gardasee. Von allen möglichen Seiten und Blickwinkeln habe ich mich meinem Italien angenähert, immer wieder intensive, aufregende Momente erlebt und wunderschöne Orte entdeckt. Und immer wieder, wie ein Thema in Variationen, tauchte dieser Kindheitsmoment vor mir auf.«
Zart gebräuntes Dekolleté in lilafarbenem Twinset, enge Jeans und High Heels, mitten im bayerischen Winter – das ist die Jutta von heute. Italienisches Frühstück in einer Münchner Cafébar, Kaffee, Plätzchen und Orangensaft, und dazu ein bisschen schwelgen in Erinnerungen und Nostalgie. Jutta liebt solche Tage. Ihr Büro ist um die Ecke, unweit des Landtags. Seit ihrem Ausstieg bei einem großen italienischen Modelabel, wo Jutta federführend für den Deutschlandvertrieb tätig war, betreibt sie heute einen Laden für Delikatess-eiscreme.
Sie ordert Caffè nach und parliert entspannt ein paar Worte mit dem Ober aus Verona. Italienisch hat sie sich selbst beigebracht. Unzählige Anläufe mit dem Langenscheidt, unzählige Male frühzeitig aufgegeben, weil viel mehr als »prima colazione« nicht hängen blieb. Am Ende hat Singen geholfen, auf ihren stundenlangen Autofahrten nach Italien. Lauthals hat sie mitgesungen, zu Eros Ramazotti und zu alten italienischen Schlagern.
Strahlende Augen, feiner Teint, zarte Linien umspielen die Schläfen. Jutta hat das Leben nie auf die leichte Schulter genommen, vielleicht deshalb, weil sie sich vieles härter erkämpfen musste als andere. Das, was man umsonst bekommt, ist bekanntlich nicht so viel wert wie das, wofür man teuer bezahlt. Was Jutta wirklich wollte, das hat sie sich erkauft, auf die eine oder andere Weise. Geduld ist nicht ihre Stärke, Anpassungsfähigkeit auch nicht, mit Enttäuschungen hat sie von frühester Jugend an umzugehen gelernt. Mit einer Persönlichkeitsstruktur wie der ihren in einer tradi-tionellen Würzburger Familie aufzuwachsen ist nicht die leichteste Aufgabe. Ihr Vater hätte so gern ein echtes Mädchen gehabt, eine kleine Prinzessin, die mit Puppen spielt, von Familie träumt und ihm viele, viele Enkel schenkt. Jutta kann es ihm nicht übel nehmen. »Ich sollte so etwas wie ein arriviertes großbürgerliches Leben führen. Dass das alles nichts mit meinen Wünschen und Träumen zu tun hatte, zählte nicht. Ich sollte eine gute Ausbildung machen und mir dann einen reichen Partner suchen. Das war nicht böse gemeint, in der Vorstellungswelt meiner Eltern gab es schlichtweg keine Alternative. Mir ging das alles viel zu langsam, das Lebenstempo meiner Heimat wollte nicht zu meinem passen, ich wurde zur Revoluzzerin in der Familie. Mein Vater und ich haben Wochen, manchmal monatelang nicht miteinander gesprochen.«
Zucken um die Mundwinkel, Mona-Lisa-Lächeln. Die beiden haben sich ausgesöhnt, schon lange bevor ihr Vater starb. Er war sehr stolz darauf, wie sie ihr Leben meisterte, leider erst spät, aber er konnte eben auch nicht aus seiner Haut. Sie hat gelernt, das mit sich selbst auszumachen, souverän und stark zu sein, ein Fels, phasenweise der Fels der Familie, und doch auch Romantikerin, die bei aller Zähigkeit nie ihren Sinn für das Schöne im Leben verlor.
»Mein Italien ist ein Quilt aus 1001 Erinnerungen, viele kleine Mosaiksteinchen, die am Ende ein Bild ergeben. Die ganz kleinen schwarz-weißen Fotos meiner Eltern etwa, aufgenommen auf ihrer Hochzeitsreise in den Fünfzigerjahren. Mei-ne Mutter steht in einem groß geblümten Sommerkleid und spitzen Schleifchenschuhen inmitten Hunderter aus-einanderstiebender Tauben und blinzelt in die Kamera. Auf einem anderen lehnt sie an einem wackeligen Stuhl, dahinter ist in großen Lettern ›BAR‹ zu lesen. Ein wunderschönes Bild, das mir regelmäßig Gänsehaut macht. Die vielen kleinen Geschichten dazu kenne ich auswendig. Als Kind habe ich in meiner Phantasie nachgespielt, wie mein Vater zwei Fische und zwei Flaschen Wein kauft und dann das nächstbeste Haus betritt, auf der Suche nach einer gleichmütigen Hausfrau, die ihm das alles a la minute zubereitet. So war er, mein Vater, spontan und volksnah. Meiner Mutter und uns Kindern war das meist wahnsinnig peinlich. Erst später begriff ich, dass er es genau richtig machte, er überfuhr die Menschen mit seiner natürlichen Herzlichkeit, seine naive Freundlichkeit steckte an, man konnte ihm nicht böse sein.
Und natürlich Spaghettieis! Sonntagnachmittag bei Benito, damals die erste und einzige Eisdiele in Würzburg, für uns Kinder das höchste der Gefühle. Die unter dem Vanilleeis gefrorene Sahne legte sich in einem zähen Fettfilm auf die Zunge, der bis zum Abend nicht verschwand. An einem der kleinen Tischchen saß für gewöhnlich ein Italiener in weißem Leinenanzug, den er sommers wie winters trug, die langen, schwarzen Haare klebten ihm mit viel Pomade am Kopf, daneben stand sein Spazierstock aus Ebenholz mit einem kleinen, silbernen Vogel als Griff. Er konsumierte nichts außer Caffè, ristretto, pechschwarz. Die Würzburger nannten ihn nur den »Künstler«. Viel später erfuhr ich, dass er die im Krieg schwer beschädigten Tiepolo-Fresken wiederhergestellt hatte.
Dann natürlich unsere erste Reise nach Italien. Anfang der Sechzigerjahre über die soeben fertiggestellte Europabrücke rauf zum Brenner und auf der kurvenreichen Staatsstraße nach Bozen. Meine Mutter rezitiert Ortsschilder und Gemüseläden und Zollstationen, mein Vater erzählt von Burgen und dem Reichtum des Landes und erklärt mir den Kulturknick kurz vor Bozen, wo die Gebäude ganz plötzlich andere Formen annehmen und die Kirchtürme spitzkegelig in den Himmel ragen. Meine Eltern hatten südlich von Bozen ein kleines Ferienhäuschen kaufen wollen, was am Ende nicht klappte, weil das Grundstück inmitten eines Landschaftsschutzgebietes lag. Aber diese ersten italienischen Ferien, der erste Flirt, der erste Kuss von einem echten Italiener, blieben unvergesslich.«
Bis zu den Mathildenbergen rund um Canossa, auf einen der schönsten Punkte im reggianischen Apennin, in ihr kleines Dorf, sind es noch viele Jahre. Und unzählige Kilometer auf der Brennerautobahn! Jutta kann sich nicht erinnern, ob der Canossagang Heinrichs des IV. im Jahr 1077 Thema im Geschichtsunterricht war. Die Geschichte hat sie viel später nachgelesen, mit wachsender Faszination; eine wahre Abenteuerstory, ausgestattet mit allem, was ein gutes Drehbuch braucht, weiß sie zu erzählen. Zumal die eigentliche Heldin eine Frau ist – Mathilde von Tuszien, eine der mächtigsten und talentiertesten Frauen ihrer Zeit. Herrscherin über die Toskana, Mantua, Parma, Reggio, Piazenza, Ferrara, Modena und einen Teil von Umbrien, gerechte Regentin und meisterhafte Diplomatin, die im Investiturstreit alles daransetzte, die hierarchischen Herrschaftspläne von Papst Gregor VII. verwirklichen zu helfen. »Sie krochen bald auf Händen und Füßen vorwärts, bald stützten sie sich auf die Schultern ihrer Führer; manchmal auch, wenn ihr Fuß auf dem glatten Boden ausglitt, fielen sie hin und rutschten ein ganzes Stück hinunter, schließlich gelangten sie doch unter großer Lebensgefahr in der Ebene an. Die Königin und die anderen Frauen ihres Gefolges setzten sie auf Rinderhäute, und (…) zogen sie darauf hinab«, zitiert sie aus einem Buch, das sie aus der Handtasche zieht, eine bildgewaltige Szene vom Canossagang.
Florenz. Wieder eine Premiere: Juttas erste Italienreise mit der ersten großen Liebe. Hand in Hand durch die belebten Gassen der Stadt schlendern, die Kuppel des Doms besteigen, die Fresken des Benozzo Gozzoli bewundern und beim Spaziergang über den Friedhof vom Touristenrummel vor den Uffizien ausspannen. »Wir beobachteten von unserem Zimmer aus die Taschendiebe, wir lagen in den Boboligärten in der Sonne, leisteten uns einen Espresso auf der Piazza della Repubblica und ergötzten uns am Anblick der schicken Florentiner. Aber eines spürten wir auch ganz deutlich, nämlich unsere Fremdheit in dieser Stadt: die fremde Sprache, die fremde Lebensart, die Einsicht, nur ein Krümelchen dessen zu sehen und zu verstehen, was Florenz zu bieten hat. Italien musste man sich schon ein bisschen erarbeiten – dies war nur ein Appetithappen.«
Eine Spritztour an den Gardasee. Zypressen, die sich sanft im Abendwind wiegen. Sonnenaufgang hinter dem Monte Baldo. Tote Frösche in der Fischhandlung, die sonnenwarmen Steinblöcke in der Arena von Verona im Mondschein, das Zirpen der Grillen, ein spätsommerliches Gewitter über dem See, das Bronzetor von San Zeno und die Heiterkeit und Leichtigkeit des Lebens. Ein anderer Mann, und mit ihm eine neue Italienfacette. »Wissensdurstig wie ich, künstlerisch und kulturhistorisch interessiert, unsere schönsten Tage verbrachten wir, wenn er aquarellierend am Ufer saß und ich historische Romane aus der Renaissance las. Wir inszenierten romantische Italienreisen wie in vergangenen Jahrhunderten, ließen das Auto in der Garage und bereisten das Land mit dem Zug und dem Schiff. Wir strolchten über verlassene Friedhöfe und erfreuten uns an einem einfachen Glas Primitivo, während wir davon träumten, wie wohl das Leben hinter den Fassaden der Palazzi aussah.«
Als ihr die deutsche Vertretung eines erfolgreichen italienischen Modelabels angeboten wird, wähnt sie sich am Ziel ihrer Träume. Leben und Arbeiten mit dem Schönsten aus beiden Welten. Jutta fühlt sich vom Schicksal begünstigt. Mit überbordender Begeisterung stürzt sie sich in ihre neue Aufgabe, wird zur Pendlerin aus Passion. Eros Ramazotti wird ihr ständiger Begleiter auf all ihren Reisen in den Süden. Sie erlebt, dass auch in Hochphasen des Lebens nicht alles Gold ist, was glänzt. »Niemand sagte mir, dass ich meinen Vertrag von einem Anwalt prüfen lassen sollte. Ich hatte wohl von der Schlitzohrigkeit der Südländer sprechen hören, wollte aber nichts darauf geben. Es dauerte eine Weile, bis ich das altrömische Gesetz ›verbum volat, scriptum manet‹ auch für meine persönlichen Beziehungen zur italienischen Geschäftswelt verwandte. Und die italienischen Männer – die waren auch so ein Thema für sich. Nicht selten verwöhnte Mamasöhnchen, flatterhaft und dauerflirtend, zudem oberflächlich … Meine Realität stellte so manches Klischee in den Schatten. Aber wozu sind Erfahrungen im Leben schließlich da? Dazu, dass man sie selber macht.« Der Job erweist sich als Nagelprobe im Durchhalten. Jutta findet sich in einem Arbeitsumfeld wieder, das kaum Zugeständnisse macht, jeder bekämpft jeden, und sie als die Deutsche bleibt im Intrigen- und Ränkespiel häufig im Regen stehen. »Wo ich heitere Kreativität vermutet hatte, fand ich verstockte Bürokraten, wo ich neue Ansätze aufzeigte, wurde ich auf Altbewährtes verwiesen. Wenn ich Kritik übte, wurde ich zur persona non grata.«
Sie fühlt sich ausgebremst. Versucht, die harte Landung im Paradies mit Charme aufzufangen, um jeden Preis professionell zu bleiben und sich auf die positiven Aspekte zu konzentrieren. Millimeter für Millimeter erkämpft sie sich Respekt und behauptet sich als Frau in einer von Männern dominierten Arbeitswelt.
»Wenn ich nach einem unerfreulichen Arbeitstag in eine Bar ging, erwachte wieder Leben in mir, da waren die Enttäuschungen schnell vergessen, und die Liebe zu diesem Land und seinen Menschen kehrte sofort zurück. Hier waren alle charmant und neugierig und anerkennend, wie mutig es war, als deutsche Frau einfach in eine italienische Bar zu gehen und ein Bier zu bestellen. Da wurde mit mir angestoßen, gelacht und gescherzt, ich bekam Essenseinladungen, wurde mit Komplimenten überhäuft. Unter ganz normalen Menschen, fernab von dem, was Arbeit und Geldverdienen hieß, fand ich die Lebensfreude und Heiterkeit wieder, die ich dem Land immer zugeschrieben hatte.«
Sie erinnert sich nicht mehr, wann und warum genau in ihr der Wunsch aufkam, in Italien Eigentum zu erwerben. Es muss irgendwann in dieser Zeit gewesen sein, selbst in größten Frustphasen im Job wohnte ihr Herz immer im Süden. »Vermutlich wollte ich mich noch enger mit dem Land verbinden, das mich schon immer so angezogen hatte. Über mich selbst erstaunt, machte ich mich auf die Suche nach einer geeigneten Immobilie. Zu Hause, in und um München, wäre mir nie in den Sinn gekommen, in meinen eigenen Wänden zu leben. In Italien wurde der Wunsch so mächtig, dass ich auch meine Familie damit ansteckte …«
Sie nutzt jede freie Minute, um den Appennino Reggiano zu erkunden. Fährt stundenlang kurvige, enge Straßen durch eine Berglandschaft, deren Vegetation fast noch deutsch anmutet, die aber dennoch fremdländisch ist, findet es reizvoll, dass viele der Burgen und Ruinen Berührungspunkte mit der deutschen Geschichte haben. Auf einer dieser Fahrten findet sie in einem kleinen Bergstädtchen ein Hinweisschild, das auf ein mittelalterliches Dörflein verweist. Instinktiv folgt sie dem Wegweiser. Als sie oben auf der Bergkuppe ankommt und auf eine Ansammlung alter Steinhäuser trifft, die wie von einer unsichtbaren Mauer umschlossen daliegen, ist ihre Neugier geweckt. Verlassen liegt das Dörflein da, versunken in eine Art Dornröschenschlaf. »Ich schlenderte die Straße entlang, die an einem Hof endet, der leicht erhöht in die Landschaft blickt. Dort setzte ich mich auf ein Steinmäuerchen, schloss die Augen und genoss die Sonne und die sommerlichen Geräusche um mich herum. Von Ferne vernahm ich ein Glockenspiel, und ich spürte förmlich, wie etwas in mir Wurzeln trieb, die sich in dieser Mauer verankerten.«
Der verlassene Borgo wird zum Lieblingsziel ihrer Ausflüge. Wann immer sich Zeit findet, kehrt Jutta dorthin zurück, sitzt eine Weile auf der Mauer, liest, schreibt, träumt vor sich hin. Mal schlüpft sie in einen offenen Stadl und findet dort einen krummen Melkschemel. Unter staubtrockenem Heu taucht das alte Ortsschild auf. Wie viele Jahre mag das Leben hier schon stillstehen, fragt sie sich. In einem kleinen Stall riecht es noch nach den Kaninchen, die einmal hier untergebracht waren. Die wenigen Häuser jedoch sind fest verschlossen und gestatten keinen Blick nach drinnen. Auf einem ihrer Streifzüge begegnet ihr ein alter Mann, der freundlich grüßt. Er habe sie schon häufiger beobachtet und sich gefragt, was sie dort oben in der Einöde machte. Jutta offenbart dem Alten ihre Faszination für den idyllischen Ort. »Es dauerte nicht lange, und wir beide saßen bei einer Flasche Lambrusco vor seinem Haus. Italo hieß der Mann, er stammte aus dem Dorf. Wann er geboren wurde? Er konnte es so genau nicht sagen. Achtzig Jahre, vielleicht auch ein paar mehr, hat er hier oben gelebt, er kannte nichts anderes und war der Einzige aus seiner Familie, der noch am Leben war.«
Kinder habe er keine, verheiratet sei er nie gewesen. Er würde sich freuen, wenn sie ihn öfter mal besuchen käme, sagt er. Jutta verspricht wiederzukommen. Mit ein paar Flaschen bayerischem Bier, einem Stück Parmesan und Schinken macht sie sich bald darauf wieder auf in die Berge. In der museumsreifen Küche veranstalten die beiden ein spontanes Picknick. Jutta kann kaum fassen, unter welchen Bedingungen der Mann hier oben lebt, ohne Herd, Kühlschrank oder sonstiges modernes Gerät. Ein offener und total verrußter Kamin dient als Kochstelle, der winzige Geschirrschrank hängt über einem steinernen Ausguss und enthält je zwei Gläser, zwei Tassen und zwei Teller. Am Tisch stehen zwei Stühle, in einer dem Fenster abgewandten Ecke entdeckt sie eine Campingliege, eine müde Funzel beleuchtet den Raum. An den grob verputzten Wänden klebt die Patina von Jahrzehnten.
»Es machte mich sprachlos, wie selbstverständlich der Mann sein Leben lebte, wie authentisch und echt alles daran war. Alle Künstlichkeit meines Joballtags, alles Belastende jener ruhelosen Tage – in der ranzigen alten Küche fiel es nach und nach von mir ab. Es flößte mir Riesenrespekt ein, wie er sich ohne jedes Statussymbol, ohne großen Besitz und sonstige gesellschaftliche Insignien seine Würde bewahrte. Er war nie in der Schule gewesen und musste sich Mühe geben, nicht in seinen Bergdialekt zu verfallen.«
Italo erzählt ihr in aller Ruhe die Geschichte des Dorfes, das 680 erstmals urkundlich erwähnt wurde, gegründet von Königin Kunigunde, später fester Bestandteil des Herrschaftsgebietes von Canossa. Der alte Mann hat seine ganz eigene Version des Canossagangs und der Rolle Mathildes, die seiner Auffassung nach »ganz sicher nicht nur Vermittlerin zwischen den beiden Männern war, wäre doch zu trist, wenn sich zwischen den Protagonisten nicht auch romantisch ein bisschen was abgespielt hätte!« Geschichte sei nun mal menschlich. Ein andermal erzählt er ihr die jüngere Geschichte des Dorfes. Vor dem Krieg hätten mehr als siebzig Menschen dort oben gelebt, alle intensiv verschwägert und ebenso heftig untereinander zerstritten. Und dass er froh sei, dass in den Sechzigern alle weggezogen seien, weil seither Ruhe und Frieden herrschten im Dorf.