Illustration

Elisabeth Gruber/Andreas Weigl (Hrsg.)

Stadt und Gewalt

 

 

 

BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DER STÄDTE MITTELEUROPAS

begründet von

WILHELM RAUSCH

Band 26

ISSN 1727-2513

Herausgegeben vom

Österreichischen Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung

c/o Österreichischer Städtebund, Rathaus, Stiege 5, Hochparterre, A-1010 Wien

Homepage: www.stgf.at

Elisabeth Gruber/Andreas Weigl (Hrsg.)

Stadt und Gewalt

StudienVerlag

Innsbruck

Wien

Bozen

© 2016 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: order@studienverlag.at

Internet: www.studienverlag.at

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ISBN 978-3-7065-5847-1

Buchgestaltung nach Entwürfen von hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Satz: Studienverlag/Karin Berner

Umschlag: Studienverlag/hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlagabbildung: Gebetserinnerung an Erzherzog Thronfolger Franz Ferdinand und Herzogin Sophie Hohenberg (Privatbesitz Elisabeth Gruber); Der Weg zum Endlichen Rechtstag in der Stadt Salzburg und zur Richtstätte in Gneis auf der Basis „Salzburg von Norden“, Kupferstich mit Radierung kombiniert, Philipp Harpff 1643 (Ausschnitt aus: Franz Fuhrmann (Hg.), Salzburg in alten Ansichten. Die Stadt, Salzburg 31981, Tafel 11); Der Rabenstein, Wiens 1311 erstmals erwähnte Richtstatt, nach einer Radierung von Clemens Kohl 1786 (aus: Carl Hofbauer: Die Rossau und das Fischerdörfchen am oberen Werd. Wien 1866); Prospekt Einführung in die Schubert-Zentenarausstellung der Stadt Wien 1928 (Privatbesitz Susana Zapke); Polizeifoto vom Tatort der Ermordung Ministerpräsident Stürgkh im Hotel Meissl & Schaden (Wiener Stadt- und Landesarchiv, LGS, A11: 6441/16 Strafprozessakt Dr. Friedrich Adler); „Festangestellte“ bei der Großmarkthalle (Wien), 9. Mai 1917 (Wiener Stadt- und Landesarchiv, Fotosammlung Greiner, FF2.6.: II 575).

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Inhaltsverzeichnis

ELISABETH GRUBER – ANDREAS WEIGL

Stadt und Gewalt

MARTIN SCHEUTZ

Stadt und Gewalt im Blick historischer Forschung

GERHARD AMMERER

Öffentliche Hinrichtungen inner- und

außerhalb der Stadtmauern

SUSANA ZAPKE

Die sanfte Gewalt von Prozessionen und Kunstparaden

im Wiener Stadtraum – Die Stadt als Bühne

PETER BECKER

Macht, Gewalt und deren Kontrolle im Ersten Weltkrieg:

Theorie und Praxis des Ausnahmezustandes

in der Habsburgermonarchie

KATHARINA MIKO

Subjektive Wahrnehmung von

Sicherheit und Unsicherheit im öffentlichen Raum

HANS-GEORG HOFER

Ströme der Gewalt.

Über ärztliches Handeln im industrialisierten Krieg

WOLFGANG MADERTHANER

Enthusiasmus und Regression – Der Große Krieg

und die urbanen Intellektuellen: das Beispiel Wien

ALFRED PFOSER

Der Mythos von der allgemeinen Kriegsbegeisterung:

Wien im Juli und August 1914

ANDREAS WEIGL

Hungerproteste und Hungerpsychosen:

Wien 1916–1918

VERENA MORITZ

Kriegsgefangene als „Sicherheitsproblem“:

Zur Kontrolle von „Feindsoldaten“ im urbanen Raum (1914–1920)

HELMUT KONRAD

Kriegsende – Ende der Gewalt?

Abbildungsverzeichnis

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

ELISABETH GRUBER – ANDREAS WEIGL

Stadt und Gewalt

Am 2. Jänner 1404 traf der Stadtrat einer österreichischen Kleinstadt in seiner Funktion als Gerichtsinstanz niederer Gerichtsbarkeit eine Entscheidung in einem Konflikt zwischen Ehepartnern. Dabei bekannte sich der Bürger Hans Marbek schuldig, seine Gattin Katharina ungebührlich behandelt zu haben. Er gelobte, weder bey nacht, noch bey tag, weder messer noch schwert über sey zuekhen [...] noch khain anndere unbeschaidener zucht mit ier nicht treiben, inn meinem hauß noch inn meinem pedt, denn das ainem piderman mit seiner hausfrauen woll unnd frümbcleich anstet.1 Darüber hinaus wies ihn der Rat jedoch darauf hin, dass es ihm selbstverständlich erlaubt sei, seine Ehefrau bei Tag angemessen zu strafen, falls etwas vorfallen sollte, was zucht unnd pesserung verlangt.

Die häusliche Gewalt eines Hausvaters umfasste Kompetenzen und Verpflichtungen gegenüber den verschiedenen Mitgliedern des Haushaltes, und jedenfalls besaß der Hausvater das Recht auf Gehorsam und Arbeitsleistung, das er mit Züchtigungen durchsetzen konnte. Seine potestas (engl. power oder franz. pouvoir) – so die mittelalterliche Auffassung von Gewalt – bezieht sich auf die Vorstellung von einer institutionalisierten, rechtmäßigen Herrschaft über Sachen, Personen und ihre Organisationsformen. In diesem Sinne ist Gewalt positiv konnotiert und unter Bezug auf das mittelalterliche Verständnis von Ordnung und ihrer Aufrechterhaltung legitimiert.2 So vertritt etwa der Theologe Irenäus von Lyon im 13. Jahrhundert erstmals die Auffassung, die Einführung der Herrschaft sei ein Akt der Fürsorge Gottes, um die selbstzerstörerischen Kräfte des Bösen in der menschlichen Natur zu bannen.3 Dieses Verständnis von Gewalt findet sich auch noch im 19. Jahrhundert, etwa im Kirchenlexikon der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften, wo das Thema Gewalt ausführlich diskutiert wird.4 Neben der väterlichen, häuslichen und staatlichen Gewalt wird dort auch die kirchliche Gewalt als Gewalt über Leben und Tod der Seelen definiert und legitimiert.

Die Herstellung von Ordnung ist eng mit der Ausübung von und der Abwehr illegitimer Gewalt verbunden. Für die spätmittelalterliche Stadt als „räumliche Verdichtungszone“5 des Zusammenlebens vieler Menschen unterschiedlicher sozialer und geografischer Herkunft nimmt die Herstellung von Ordnung eine wichtige Stellung ein. Abseits höfischer und klösterlicher Lebensformen boten Städte die Möglichkeit, sich in eine – oftmals wirtschaftlich begründete – Gemeinschaft zu integrieren, die bestimmten Regeln folgte: Der Bürgereid vereinte Gleichgestellte und verpflichtete sie aufeinander. Dieser Eid unter Gleichrangigen zielte auf eine langfristig angelegte, innere Friedens- und Rechtsgemeinschaft ab, um nach außen hin die Durchsetzung gemeinsamer Interessen zu erlangen. Stadtgemeinde und Rat stellten die äußere Repräsentation und die Formalisierung dieser Gemeinschaft dar. Diese Gemeinschaft musste geschützt werden – am besten mit einer starken Mauer. Die Mauer ist bis heute ein Symbol für den Schutz gegenüber Aggression von außen, sie grenzt die Stadt von ihrem Umland ab, erschwert den Zutritt, bleibt aber durchlässig für jene, die berechtigt sind.6 Die Wirkung der Abgrenzung zum (Um-)Land blieb freilich ambivalent. Bereits die zeitgenössische Wahrnehmung der Stadt sowohl als eigener Friedensbereich als auch als Ort von Gefahr und moralischer Anfechtungen lässt Stadt als Modell gesellschaftlicher Ordnung und Unordnung erscheinen. Unter dem Eindruck von Konflikten und innerstädtischen Auseinandersetzungen um Mitgestaltungsrechte, etwa in Form von Zunftaufständen oder beispielsweise im Versuch der Handwerker Wiens zu Beginn des 15. Jahrhunderts, ihre Vertreter in den Stadtrat zu entsenden, erschien die Systematisierung und Formalisierung von Rechten und Pflichten umso notwendiger. Die Herstellung und Sicherstellung von Ordnung durch Ausübung der ihr zuerkannten ordnenden Gewalt erscheint daher vordringliche Aufgabe der städtischen Obrigkeiten. Diese bemerkenswerte Regelungsleistung basierte weniger auf obrigkeitlichen Vorgaben von außen, sondern entstand in einem intensiven Kommunikationsprozess zwischen den städtischen Akteuren und deren Fähigkeit, etablierte städtische Grundwerte, wie etwa Friede, Einigkeit, Freiheit sowohl in Form von Privilegierungen als auch persönlicher Freiheitsrechte und Rechtssicherheit zu bündeln und zu einer allgemein anerkannten Leitlinie für politisches und soziales Handeln zu integrieren. Diese Ordnungsleistung war umso notwendiger, als besonders städtische Gesellschaften mit sehr ausgeprägten, differenzierten, sich überschneidenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten zurechtkommen mussten. So übernahmen die Stadtverwaltungen und Bürger der Stadteliten nach und nach Einrichtungen der Fürsorge, die zuvor von geistlichen Institutionen getragen wurden. Verarmte und erkrankte Stadtbewohner wurden in überall entstehenden Bürgerspitälern versorgt, „würdige“ Bettler erhielten Almosen, „unwürdigen“ drohte jedoch die Vertreibung. Für die städtische Ordnungs- und Strafpolitik spielten Vermittlerfiguren aus dem religiösen Kontext wie etwa Stadtheilige und deren Verehrung eine wichtige Rolle.7 Damit wird die religiöse Erinnerungs- und Heilsgemeinschaft in periodischen Abständen durch Formen „sanfter Gewalt“ aktiviert, um ihre Mitglieder an die geteilten und für unhintergehbar erachteten Normen zu erinnern.8

In der frühen Neuzeit und der Verdichtung von Territorialherrschaft trat zu diesem stadtbürgerlichen Ordnungsmodell das (vor-)staatliche in Konkurrenz, wenn sich auch die Intentionen der landesfürstlichen „Polizey“ nicht grundlegend von jenen der Bürgergemeinde unterschieden und inkludierende und exkludierende Strategien der Inhaber staatlicher Gewalt häufig jenen städtischer Obrigkeiten ähnelten. Für städtische Autonomie blieb allerdings dabei immer weniger Platz.

Für die bürgerliche Elite des 19. Jahrhunderts übte daher das Modell der mittelalterlichen Stadt große Faszination aus, sahen sie doch darin die Grundlage ihrer Freiheitsbestrebungen begründet. Unter dem Eindruck der im Laufe des 19. Jahrhunderts expandierenden Städte setzte eine intensive länderübergreifende Auseinandersetzung über den adäquaten Umgang mit Stadtwachstum, sanitärer Not, Pauperisierung und Proletarisierung der städtischen Bevölkerungen ein. Im Zuge dieses Prozesses erlangte die kommunale Autonomie eine gewisse Aufwertung, allerdings in ständiger Konkurrenz mit dem staatlichen Gewaltmonopol, besonders akzentuiert in den administrativen Zentren, den Hauptstädten. Dynamischer Städtebau, Zuwanderung und Modernisierung machten wie manche andere urbane Zentren auch Wien, die Hauptstadt der Habsburgermonarchie, zur Metropole.9 Ihre Bedeutung als regionales Wirtschaftszentrum und ihre politische Funktion als Hauptstadt bedingte eine hohe Dichte von Interaktion(en), die im Raum der Stadt stattfanden.10

Die Bedeutung der Stadt als Ordnungsraum gewann im Industriezeitalter eine neue Qualität. Symbolische wie physische Besetzung städtischer Teilräume, durch Herrschaftsarchitektur und Denkmäler ebenso wie durch Aufmärsche und Demonstrationen wurden zum kontroversiellen politischen Thema.11 Kollektive Gewalt äußerte sich in blutigen Straßenkämpfen zwischen urbanen Teilpopulationen, in ethnischen Vertreibungen und Pogromen und im Widerstand gegen staatliche und städtische Obrigkeit. Angesichts zunehmender Komplexität und angesichts der Einbindung in größere politische, wirtschaftliche und technologische Systeme verschob sich der Ort der Regelung hin zur staatlichen Ebene.

Kriegerische Gewalt hatte schon seit den mittelalterlichen Anfängen das städtische Ordnungsmodell bedroht. Die Befestigungsanlagen der Stadt boten Schutz, aber waren sie im Zuge oft langwieriger Belagerungen einmal überwunden, dann drohte von den stürmenden Angreifern ein grenzenloses Massaker bis hin zur völligen Zerstörung der Stadt, eine „Magdeburgisierung“, um ein spektakuläres Beispiel aus dem „Dreißigjährigen Krieg“ zu zitieren.12 Im 18. und 19. Jahrhundert verloren die Verteidigungsanlagen der Städte, sieht man von Festungsstädten einmal ab, zwar in vielen Fällen ihre militärische Bedeutung. Strategisch blieben Großstädte jedoch weiterhin wichtige Ziele militärischer Gewalt: als Kommandozentralen, als Standorte von Kriegsindustrien und nicht zuletzt als Machtsymbole des Gegners. Moderne Kriegsführung erschöpfte sich keineswegs nur in Bombardements und Sturmangriffen. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, des ersten modernen Krieges, richteten sich Hungerblockaden gegen die Bevölkerung der feindlichen Macht an der „Heimatfront“. Gleichzeitig waren die großen Metropolen Orte diffiziler Propagandaschlachten. Ob Soldat, Arbeiter und Arbeiterin in der Kriegsindustrie, Hausfrauen oder Kinder. Der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts konnte sich gerade in den Großstädten niemand entziehen – mit weitreichenden gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen. Nirgends wurde das deutlicher als in den Hauptstädten der infolge des Ersten Weltkrieges zerfallenden multinationalen europäischen Reiche. „Keine europäische Großstadt hat im und nach dem Ersten Weltkrieg eine Metamorphose ähnlicher Art erlebt: Wien, zur Hauptstadt eines kleinen Restes eines mächtigen Imperiums degradiert, wurde in Europa zum Synonym für einen umfassenden urbanen Niedergang. Der triste Hungeralltag seiner Einwohnerinnen und Einwohner machte aus der einst glanzvollen Metropole eines Großreiches, in der der Kaiser eines Imperiums von 53 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern residierte, eine ,sterbende Stadt‘.“13

Der Erste Weltkrieg bedeutete einen massiven Schub von staatlicher Durchdringung von Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei kam es zu massiven Ein- und Übergriffen, die das Potenzial an struktureller und „sanfter“ Gewalt, das in den bestehenden Ordnungs- und Regelsystemen angelegt war, voll nutzten.

Gewalt erschien und erscheint in vielen Gestalten: Sie tritt auf als Instrument von Herrschaft, als strukturelle Gewalt in der Beschränkung des Zugangs zu Lebenschancen und Überlebensmöglichkeiten, als „sanfte Gewalt“ in Folge anerkannter Herrschaftsformen und Ungleichheiten, aber auch als Begleiterscheinung von Unruhen, legitimiert oder illegitim, kontrolliert oder exzessiv. Die Erforschung des Phänomens Gewalt hat eine lange Tradition und nimmt einen nicht unwesentlichen Stellenwert im gesellschaftlichen Denken und Handeln ein.14 Das historische Interesse galt zunächst dem Wandel von Gewalt-Phänomenen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Eine zentrale Figur der theoretischen Auseinandersetzung mit der zivilisatorischen Bedeutung von Gewalt ist Norbert Elias, der die „parallele Institutionalisierung des staatlichen Gewaltmonopols“ und die „Entwicklung einer [...] Selbstdiziplinierung des Menschen“ aufzuzeigen suchte.15 Dem Prozess der Zivilisation wurde eine zunehmende Affektkontrolle im zwischenmenschlichen Handeln und damit verbunden eine Abnahme der Gewalt zugeschrieben. Die historische Forschung hat an diesem Modell Kritik geübt und fordert eine stärkere historische Kontextualisierung. Die neuere Gewaltforschung rückt daher das Gewaltgeschehen ins Zentrum der Betrachtung und unternimmt eine Phänomenologie von Gewalt.16 Die Erforschung konkreter Gewalttaten, ihrer Dynamik und die damit verbundene Etablierung (inner-)städtischer Räume der Gewalt zielt auf eine kulturwissenschaftliche Betrachtung von Gewalt im städtischen Umfeld, die jedoch immer die strukturellen und institutionellen Bedingungen mit reflektiert, in denen Gewalt sich in je spezifischer Form artikuliert.17

Dies gilt auch für die unterschiedlichen Szenarien von Krieg, von denen Städte und ihre Bewohner im Lauf der Zeit betroffen waren. Aspekte der Finanzierung, des Befestigungsbaus, der Erinnerungspolitik oder der alltäglichen Kriegserfahrung sowie des Wiederaufbaus rücken dabei in den Mittelpunkt des Interesses.18 Ein wichtiger Impuls zur systematischen Kontextualisierung von Gewalt- und Kriegserfahrungen kam dabei aus dem anglo-amerikanischen Forschungskontext in Form von Studien zu europäischen Städten im Ersten Weltkrieg wie etwa Roger Chickerings Band zum Kriegsalltag der Stadt Freiburg im Ersten Weltkrieg,19 die vergleichende Weltkriegsgeschichte von Paris, London und Berlin,20 oder der von Markus Funck herausgegebene Sammelband über die spezifische Bedrohung und Gefährdung europäischer Städte in der Epoche der Weltkriege.21 Mit der Ermittlung spezifischer Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen von Gewalt und der Analyse symbolischer Vermittlungen von Gewalt rückt immer mehr die Frage nach dem „Wie?“ als nach dem „Warum?“ in den Mittelpunkt. Diese Feststellung legt nahe, grundsätzlicher nach Formen, Verständnis, Rahmenbedingungen und Kontextualisierung von Gewalt zu fragen.22 Dies ist der konzeptuelle Rahmen, der diesem Sammelband zugrundeliegt.

Die versammelten Beiträge spannen einen weiten zeitlichen Bogen. Ausgehend von der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mehrfachbedeutung des Gewaltbegriffs sowohl als göttliche und weltliche Herrschergewalt als auch als deviante Ausübung von Gewalt, die nur in Relation zu herrschenden Normen und zur jeweiligen rechtlichen und sozialen Praxis zu verstehen ist, werden konkrete Situationen der Gewaltausübung im räumlichen Umfeld der Habsburgermonarchie vorgestellt. Die Stadt wird dabei greifbar als ein Raum zur Herstellung von Sicherheit, in der verdichtete Prozesse der Ausübung von Gewalt nachvollziehbar werden.

Die Autorinnen und Autoren näherten sich dem Thema Stadt und Gewalt unter dem Eindruck des Gedenkjahres zum Beginn des Ersten Weltkriegs in unterschiedlicher Weise. Die Aufrechterhaltung einer – in verschiedenen Konstellationen ausverhandelten – Ordnung spielte in allen Beiträgen eine wichtige Rolle. Fragt man nach besonderen Formen von Gewalt, wird deutlich, dass der städtische Raum einen Kristallisationspunkt sowohl für obrigkeitlich-staatliches Handeln als auch für öffentliche Kommunikation, Protest und Konflikt darstellt, der nicht nur unter den Rahmenbedingungen des Ersten Weltkriegs sichtbar wird.

Die Veränderung von Begrifflichkeiten und Definitionen von Gewalt im historischen Längsschnitt veranschaulicht MARTIN SCHEUTZ (Wien) in einem eindrucksvollen Überblick über die vielfältigen Formen von Gewalt und deren systematischer Erforschung. Er stellte dabei die Stadt als Gewaltraum in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Das Wirtshaus ebenso wie das Rathaus und der Marktplatz werden zu Räumen der positiv oder negativ konnotierten Gewalt. Beispielhaft führte dies GERHARD AMMERER (Salzburg) an der Praxis öffentlicher Hinrichtungen in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten aus. Bei dieser Art öffentlicher Veranstaltung in Form eines kommerziellen Massenspektakels diente die Stadt als Bühne, als theatrum poenarum, für eine nachhaltige Vermittlung zeitspezifischer Wert-vorstellungen.23 Disziplinierung, Unterhaltung und Unterweisung thematisiert auch SUSANA ZAPKE (Wien) in ihrem Beitrag und verweist dabei auf die Vermittlung von autorisierter Gewalt durch die klanglichen Elemente der Stadt. Fronleichnamsprozessionen, Gedenkfeiern oder Imagefilme: die zeitgenössischen Inhaber des Gewaltmonopols nutzten die Wirkkraft städtischer soundscapes. Besonders deutlich wurde dabei die Kontinuität der Mechanismen der Ausübung von „sanfter Gewalt“ durch die städtischen Obrigkeiten.

Sicherheit ist ein Begriff, der sich im Kontext von Gewalt sehr häufig wiederfindet: nicht vorhandene, wiederherzustellende, aufrechtzuerhaltende Sicherheit – Sicherheitsdiskurs ist das moderne Schlagwort, das sich im Gefolge von Gewalt etabliert hat. KATHARINA MIKO (Wien) lenkt den Blick auf aktuelle Sicherheitsdiskurse und jene Elemente, die das subjektive Sicherheitsempfinden beeinflussen. Wie darf öffentlicher Raum genutzt werden? Welchen Strategien folgen Sicherheit vermittelnde Planungskonzepte? Durch Institutionalisierung des Raumes mit Hilfe der Etablierung von Schutzzonen und Toleranzzonen wird subjektive Sicherheit vermittelt und kriminelles Gewaltpotential ausgegrenzt.

Mit der Ausübung von staatlicher Gewalt im Verlauf des Ersten Weltkriegs setzt sich PETER BECKER (Wien) auseinander. Er analysierte die Möglichkeiten des Ausnahmezustandes als erweiterte Raumzuteilung für staatliches Handeln besonders im urbanen Raum. Der Einsatz von Militär zur Durchsetzung staatlicher Autorität wird legitimiert, um die innere Ordnung wiederherzustellen. Der Aufrechterhaltung von Ordnung diente das Kriegsüberwachungsamt, das auf rechtlicher Grundlage des Ausnahmezustandes eingerichtet worden war.24

Mit zunehmender Dauer erreichte der Krieg schließlich den städtischen Raum, wenn auch nicht zwingend in Form von Kampfhandlungen, so doch durch die vielen Nebenerscheinungen. Psychische Belastungen durch die extremen Kriegserfahrungen an der Front und Hunger haben die Kriegshysterie, die im Sommer 1914 in der Hauptstadt der Monarchie spürbar war, verdrängt. WOLFGANG MADERTHANER (Wien) geht der Frage nach den Reaktionen Wiener Intellektueller auf den Krieg, ihren Kriegserfahrungen und deren Verarbeitung im literarischen Schaffen auf den Grund. Auch Sigmund Freud, Robert Musil und Ludwig Wittgenstein erlagen – zumindest zeitweise – der herrschenden Kriegseuphorie. ALFRED PFOSER (Wien) ist dennoch skeptisch gegenüber der Meinung, im Sommer 1914 sei eine allgemeine Kriegsbegeisterung spürbar gewesen. Eher sei von einer Kriegshysterie zu sprechen, die keinesfalls alle Bewohner der Stadt teilten, etwa jene, die in den Wiener Arbeiterbezirken verbreitet unter Mangelerscheinungen litten. Hunger und Hungerrevolten prägten den städtischen Alltag, wie der Beitrag von ANDREAS WEIGL (Wien) zeigt. In der Spätphase des Krieges gewannen die kollektiven und individuellen Proteste den Charakter von Psychosen und Massenhysterien. Sie bedrohen den Durchhaltewillen und damit die (vermeintlichen) Siegeschancen. Die Antwort der Staatsgewalt war Repression in Form von Pathologisierung durch willige, durchaus prominente Vertreter der Schulmedizin. Bei Kindern und Jugendlichen wurden „Verwahrlosung“ und „neuropathische Konstitution“ zur Modediagnose und ein Teil der Betroffenen zwangshospitalisiert. „Kriegsneurosen“ von in den Schützengräben zurückkehrenden Frontsoldaten wurden mit Elektroschocks „therapiert“. Diese medizinischen Folgen der Kriegserfahrung thematisiert HANS-GEORG HOFER (Münster).25 Auch dabei bot die Stadt den „Gewaltraum“ für eine zentralisierte Beherbergung und Behandlung, etwa in der „Gesundungsfabrik“ Grinzing, wo 6.000 Patienten in 60 Baracken versorgt wurden. Für die Weiterentwicklung medizinischer Behandlungsmethoden spielte die Wiener Medizin und Psychiatrie eine bedeutende Rolle. Dennoch bevölkerten nunmehr „Kriegszitterer“, jene Rückkehrer aus dem Ersten Weltkrieg, die an massenhaft auftretenden psychischen Folgeschäden der Kriegserlebnisse litten, den öffentlichen Raum. Ein weiteres Versorgungsproblem stellten die Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs dar, die in Wien untergebracht waren. Als wichtige Arbeitskräfte in den Wiener Betrieben entschärften sie zwar den akuten Mangel, der in der Stadt herrschte. Doch damit verschärfte sich das Problem der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, so VERENA MORITZ (Wien).

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Abbildung 1: Erbeutete montenegrinische Kanone am Schwarzenbergplatz (Wien), 21. Mai 1915.

HELMUT KONRAD (Graz) schließlich zieht Bilanz zur Frage nach Stadt, Gewalt und Krieg am Ende des Ersten Weltkriegs. Er konstatierte eine Zunahme der Akzeptanz von Brutalität in der Gesellschaft ganz allgemein, im Besonderen jedoch im urbanen Raum. Verlust des staatlichen Gewaltmonopols, traumatische Fronterfahrung und Kriegsniederlage, die Suche nach den nationalen Identitäten nach Zerfall der Großreiche und die Angst vor drohenden sozialen Revolten und revolutionären Umstürzen förderten diese Entwicklung nachhaltig.

Quellen und Literatur

Websites und Quellen

Stadt und Gewalt – Ein Hörbuch: http://fsp-oeisu.univie.ac.at/hoerbuch/ (Zugriff 15. August 2015).

Wien im Ersten Weltkrieg. Wohin der Krieg führt: https://erster-weltkrieg.wien.gv.at/site/ (Zugriff 11. August 2015).

OÖLA, StA Freistadt: Oberösterreichisches Landesarchiv Linz, Stadtarchiv Freistadt, Urkundenreihe.

Literatur

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GRUBER, Einschätzungen: Elisabeth GRUBER, Bilder, Ansichten und Einschätzungen von Stadt im lateinischen Westen Europas, in: Elisabeth GRUBER – Mihailo Popovic – Martin SCHEUTZ – Herwig WEIGL (Hg.), Städte im lateinischen Westen und griechischen Osten. Topographie, Recht, Religion, Wien 2016 (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Erg. Bd. 66), 257–271.

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HERGENRÖTHER, Kirchenlexikon: Joseph Cardinal HERGENRÖTHER – Franz KAULEN, Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften. Band 5, 2. Auflage, Freiburg im Breisgau 1888.

HOFER, Nervenschwäche: Hans-Georg HOFER, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Wien/Köln/Weimar 2004.

ISENMANN, Stadt: Eberhard ISENMANN, Die deutsche Stadt im Mittelalter, 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, 2., durchgesehene Auflage, Köln/Wien 2014.

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MADERTHANER, 1860 bis zum Jahr 1945: Wolfgang MADERTHANER, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, in: Peter CSENDES – Ferdinand OPLL (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt. Band 3: Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 2006, 175–544.

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ULBRICH, Familien- und Hausbücher: Claudia ULBRICH, Familien- und Hausbücher, in: Claudia ULBRICH, Verflochtene Geschichte(n). Ausgewählte Aufsätze zu Geschlecht, Macht und Religion in der Frühen Neuzeit, hg. von Andrea GRIESEBNER – Annekathrin HELBIG – Michaela HOHKAMP – Gabriela JANCKE – Claudia JARZEBOWSKI – Sebastian KÜHN, Wien/Weimar/Köln 201–218.

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1 OÖLA, StA Freistadt, UK-Nr. 211 (1404 Jänner 2).

2 GESTRICH, Häusliche Gewalt, 794–796. Zum mittelalterlichen Verständnis der Herrschaftsgewalt des Hausvaters vgl. ULBRICH, Familien- und Hausbücher. Zur Haushaltsstruktur des städtischen Bürgertums im Mittelalter ISENMANN, Stadt, 786–788, mit grundlegender Literatur.

3 GOETZ, Potestas, 47–50. Im 2010 erschienenen Handbook for medieval studies wird zwar Violence im Sinne der vis oder violentia diskutiert, Power/potestas fehlt jedoch: PINCIKOWSKI, Violence, 1593–1601. Umgekehrt scheint im Lexikon des Mittelalters (1977–1999) und in der International Encyclopaedia for the Middle Ages-Online das Stichwort Potestas auf, Gewalt beziehungsweise Violence sucht man dort jedoch vergeblich: VONES, Potestas, 131–133. Die Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche aus demselben Zeitraum hingegen findet den Begriff der Gewalt keiner Nennung wert: HAUCH, Realenzyklopädie.

4 HERGENRÖTHER, Kirchenlexikon, 562 f.

5 KÄSTNER – SCHWERHOFF, Religiöse Devianz, 9.

6 Zur Wahrnehmung von Stadt im späten Mittelalter vgl. GRUBER, Einschätzungen.

7 KÄSTNER – SCHWERHOFF, Religiöse Devianz, 10–15.

8 REXROTH, Topographie, 229.

9 MADERTHANER, 1860 bis zum Jahr 1945, 177.

10 BANIK-SCHWEITZER – MATTL – MUSNER – ZIMMERMANN, Kriterien, 31; MIEG, Metropolen, 12; zur Metropolendiskussion in der Frühen Neuzeit vgl. KNITTLER, Metropolen, 213–231.

11 LENGER, Metropolen, 246.

12 KAISER, „Excidium Magdeburgense“, 43–64.

13 Die Stadt Wien richtete eine Website mit dem Titel „Wien im Ersten Weltkrieg. Wohin der Krieg führt“ ein: https://erster-weltkrieg.wien.gv.at/site/ (Zugriff 11. August 2015).

14 HEITMEYER – HAGAN, Gewalt, 16 f.

15 MÜNKLER – LLANQÜE, Legitimation, 1216.

16 STAÜDIGL, Phänomenologie.

17 LENGER, Einführung, IX-X.

18 SCHOTT, Stadt in der Geschichtswissenschaft, 135; MIEG – HEYL, Stadt, 135.

19 CHICKERING, Great War.

20 WINTER – ROBERT, Capital Cities I und II.

21 FUNCK – CHICKERING, Endangered Cities.

22 SCHWERHOFF, Gewalt, 789.

23 Ähnliches gilt auch für die im Juli 1916 eröffnete Kriegsausstellung zum Ersten Weltkrieg im Gelände des Wiener Praters mit ihrem enormen Unterhaltungsangebot, das die Stimmung der Bevölkerung steuern sollte. Den Krieg an der Front erfahr- und erlebbar zu machen, war erklärtes Ziel dieses gemeinsamen Projektes von Kriegsministerium, Rotem Kreuz, Heeresmuseum und Kriegsfürsorgeamt. Disziplinierung durch Unterhaltung ist auch für die letzte große Ausstellung der Monarchie ein probates Instrument der obrigkeitlichen Gewalt im urbanen Raum. Leider stand der Beitrag von MONIKA SOMMER (Wien) für die Drucklegung nicht zur Verfügung. Teile des Vortrags können jedoch im Hörbuch nachgehört werden: http://fsp-oeisu.univie.ac.at/hoerbuch/ (Zugriff 15. August 2015).

24 Die bereits gedruckten Ergebnisse ihrer Forschungen zur inneren Kontrolle der Monarchie durch das Überwachungsamt referierte Tamara Scheer (Wien): SCHEER, Kriegsüberwachungsamt.

25 Vgl. dazu auch HOFER, Nervenschwäche.

MARTIN SCHEUTZ

Stadt und Gewalt
im Blick historischer Forschung

Ein Längsschnitt

Das Schreckgespenst der Gewalt, in der Diktion von tagesaktuellen Medien ein übler, ständig zunehmender, randalierender Zeitgenosse der Moderne, bestimmt wesentlich unsere mediale Aufmerksamkeit. Familiäre und sexuelle Gewalt, Gewaltexzesse von Jugendlichen, Gewalt von staatlichen Behörden beziehungsweise Herrschaftsträgern gegenüber Demonstranten, aber vor allem die Gewalt des Krieges dominieren unsere stark von Emotionen besetzte Nachrichtenwelt, vielfach könnte man sagen, dass eine breitere Berichterstattung über bestimmte Themen erst via Katalysator Gewalt anspringt. Gewalt in den Medien erinnert auch daran, dass der Mensch ein stark instinkt- und triebgesteuertes Wesen ist, das „geringfügig“ rational überformt ist. Vielen gilt Gewalt im Sinne von Norbert Elias als anachronistisch, indem die Vorstellung einer durch Gewalt geprägten Vergangenheit (etwa das Mittelalter) im Gegensatz zu einer gezähmten, gewaltarmen Gegenwart vorherrscht.1 Auch die historische Literatur wendet sich breit, wenn auch manchmal undifferenziert – und analytisch wenig trennscharf – dem Begriff der Gewalt zu. Versucht man sich einen raschen, bibliographischen Überblick über Gewalt zu verschaffen, stößt der Leser auf einen vielfältigen Gewaltbegriff, der je nach Autor verschiedene Facetten und Ausdrucksformen präferiert. Die Vergesellschaftung von Gewalt – etwa im Begriff der „kollektiven Gewalt“2 – ist häufig Thema, aber auch spezifische Anwendungsfelder von Gewalt werden und wurden von der Forschung breiter untersucht: die „sexualisierte Gewalt“3 oder etwa die „physische Gewalt“.4 Daneben finden sich häufig auf bestimmte Anwendungsfelder konzentrierte Begrifflichkeiten wie „emotionale“, „ethnische“, „globale“, „kollektive“, „kulturelle“, „links-/rechtsextreme“, „ökonomische“, „psychische“, „religiöse“, „rituelle“, „sexuelle“, „strukturelle“ Gewalt – die Aufzählung der Gewaltformen ist damit längst nicht erschöpft!5 Der Grad der Legitimierung von Gewalt und das sich in der Frühen Neuzeit herausbildende Gewaltmonopol bilden breite Themenfelder der Forschung: Die „hoheitliche, hoheitlich-legitimierte und nicht-hoheitliche Gewalt“6 oder die „institutionalisierte Gewalt“7 sind beliebte Themen der Kriminalitätsforschung, aber etwa auch der Untersuchung von Verwahreinrichtungen. Implizit scheint vielen Darstellungen zu sein, dass es ein normales, toleriertes Maß an Gewalt gibt, dem kontrastiv die „exzessive“ – in der Diktion der Frühen Neuzeit „unchristliche“ – Gewalt8 gegenübersteht.

Versucht man das Wort begriffsgeschichtlich zu fassen, so leitet sich der Wortstamm „walten“ (abgeleitet vom indogermanischen „val“, lateinisch „valere“) inhaltlich vom Begriff „Vermögen“ ab. Das deutschsprachige Wort Gewalt meint eine spezifische Form des Könnens im Sinne einer „Verfügungsfähigkeit“, ohne dass sich mit dem Begriff eine bestimmte rechtliche oder ethische Qualität verbindet.9 Erst ab dem Hochmittelalter dient das mehrsinnige Wort Gewalt als Übersetzungsbegriff für das lateinische „potestas“ (Herrschaftsbefugnis), aber auch für „vis“ (Zwang) beziehungsweise „violentia“ (Gewalttätigkeit).10 Diese etymologische Ambivalenz des Begriffes blieb für das weitere Verständnis von Gewalt bis heute bestimmend. Die Zeitgenossen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit erlebten „erzwungene Sache[n]“ in das Spannungsverhältnis von legitimer und nicht-legitimer Gewalt eingepasst, wie auch das protestantisch dominierte Zedler’sche Universallexikon zu definieren sucht: „Gewalt heißt das Vermögen etwas auszurichten, entweder mit Fug und Recht, und als denn ist es eine rechtmäßige Gewalt, Potestas, Pouvoir, oder ohne Recht und aus Muthwillen, da ist es eine straffbare Gewaltsamkeit, Vis, Violentia; und da ist man befugt, Gewalt mit Gewalt, wie man kann, zu vertreiben.“11 Die Frühe Neuzeit kannte eine klare Unterscheidung zwischen einer unrechtmäßigen, nicht legitimierten Gewalt und einer legitimierten, politischen/herrschaftlichen Gewalt, wobei die negative Konnotation von Gewalt (also im Sinne von „violentia“) für das heutige Verständnis prägend wurde, ohne dass die Konnotation der Herrschaftsgewalt gänzlich verschwunden wäre. Martin Luther unterschied beispielsweise in seiner Zwei-Reiche-Lehre die weltliche von der göttlichen Gewalt, das Schwert vom Wort Gottes.

Die vielschichtige, nicht „messbare“ Gewalt als eine jeder Person zugängliche „Ressource“ meint in einem modernen Verständnis in der Regel die Ausübung physischen Zwanges, um Widerstand, in welcher Form auch immer, zu brechen. Versucht man das Phänomen Gewalt allgemeingültig, annähernd wertneutral und nach strukturellen Gemeinsamkeiten der verschiedenen Ausformungen von Gewalt zusammenzufassen, so steht im Zentrum des Gewaltbegriffes – unabhängig von Täter, Opfer oder Beobachter – die zielgerichtete Schädigung von Menschen durch Menschen und der physische Zwang.12 Man kann in den Gewaltbeziehungen zwischen einer Täterperspektive, einer Gewalt hervorbringenden Konstellation und der daraus resultierenden, die Betroffenen einschließenden Wirkung unterscheiden, ohne dass in diesem Definitionsversuch der institutionelle, soziale, mediale oder etwa geschlechtliche Rahmen von Gewalt näher fassbar wird. Während sich Juristen vor allem für die strafrechtliche Normierung von Gewalt interessieren (Gewalt gegen Sachen, gegen Personen, Delikte wie Mord, Totschlag, Vergewaltigung), interpretieren Soziologen wie der Freiburger Sozialwissenschaftler Heinrich Popitz (1925–2002) Gewalt als eine der vier Grundformen von Macht. Im Anklang an Max Webers Machtbegriff13 versteht Popitz Macht als soziales Handeln und als Bestreben sich gegen andere Kräfte durchzusetzen: (1) Die auf Einzelaktionen begrenzte „Aktionsmacht“ versteht er als eine auf Stärke gründende Macht, als Form des Entzuges von sozialer Teilhabe und/oder von Ressourcen. Die (2) „instrumentelle Macht“ zielt auf die durch Drohung erzielte Lenkung des Verhaltens über Strafen und Belohnung und stellt eine Verstetigung der Aktionsmacht dar. Direkte Aktionen sind nicht mehr erforderlich, um bei Betroffenen eine Änderung des Verhaltens zu bewirken. Als Einwirkung auf Einstellung und Verhalten führt Popitz die (3) innere Macht an, die keiner Kontrolle mehr von außen bedarf. Unmittelbaren Einfluss auf die Lebensbedingungen erzielt (4) die tatensetzende Macht, welche die äußeren Rahmenbedingungen für das Leben schafft (Auto, Atombombe usw.). Popitz ordnete die Gewalt als „Durchsetzungsform von Macht“ dem Machtbegriff unter. Als direkteste Form der Macht sieht er die sowohl von Unterlegenen als auch Überlegenen ausgeübte Gewalt als „schiere Aktionsmacht: die Macht, anderen in einer gegen sie gerichteten Aktion Schaden zuzufügen“.14 Grundbedingung der Vergesellschaftung von Macht ist die durch Gewalt bedingte „Verletzungsmächtigkeit, Verletzungsoffenheit“15 der Menschen. Jeder Mensch ist prinzipiell durch die seine körperliche Integrität bedrohende Gewalt (in äußerster Form der Tod) verletzbar – Gewalt erscheint bei Popitz als eine beunruhigende, jederzeit unmittelbar einsetzbare Handlungsoption. Aktionsmacht bedeutet aber nicht nur körperliche Beeinträchtigung, sondern auch eine Verminderung von sozialem Kapital im Sinne von Ehrenstrafe, öffentlichen Verweisen oder in Form von Mobbing. Popitz unterscheidet bei seinem Gewaltbegriff die bloße Aktionsmacht von der bindenden Aktionsmacht, die nach seiner Konzeption eine dauerhafte Machterhaltung sicherstellen soll. Gewalt wird in dieser Sichtweise zu einer alltäglichen, ordnungsstiftenden Erfahrung und zu einer Grundkonstante des menschlichen Zusammenlebens. Häufig zitiert wird der anfänglich paradox anmutende Zusammenhang von Ordnung und Gewalt: „Soziale Ordnung ist eine notwendige Bedingung der Eindämmung von Gewalt – Gewalt ist eine notwendige Bedingung zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung.“16 Durch das bewusste Gewalthandeln wird gesellschaftliche soziale Norm gleichermaßen destabilisiert (etwa im Sinne von Violentia) oder stabilisiert (indem etwa Ehren-, Körper- und Gefängnisstrafen ausgesprochen werden, im Sinne von Potestas). Daneben gibt es aber auch eine Komponente des Gewalthandelns, die aus irrationalen Gründen Gewalttaten begeht.17

Mittelpunkt der auch zweckrationalen18 Gewalt ist der menschliche Körper, wobei zwischen dem/den Täter/n (Gewalt antun) und den Opfern (Gewalt erleiden) unterschieden werden muss. „Gewalt ist körperliche Einsatz, ist physisches Verletzen und körperliches Leid – das ist der unverzichtbare Referenzpunkt aller Gewaltanalysen.“19 Gewalt als Form des sozialen Handelns ist zudem in die menschliche Erfahrungsgeschichte und die Medialität der Gesellschaft eng eingebunden. Jede Gesellschaft entwickelt somit eigene kulturelle, aber auch soziale, ökonomische, geschlechtliche usw. geprägte Gewaltmuster. Die sinnstiftende soziale Praxis Gewalt – ein Interagieren von mindesten zwei Personen – lässt sich, nach einem Definitionsversuch der Schweizer Historikerin Francisca Loetz als eine „teils ritualisierte Form sozialen Handelns mit physischen, verbalen und symbolischen Mitteln innerhalb strukturell geprägter (zumeist asymmetrischer) Situationen“ verstehen. „Soziales Handeln erfolgt, wie es der Ausdruck verdeutlicht, zwischen Mitgliedern einer Gesellschaft und gründet darauf, dass es bestimmten Regeln folgt, die für die Mitglieder dieser Gesellschaft mit bestimmten Bedeutungen versehen sind.“20

Als zentral für die Forschungen zur Gewalt erwiesen sich alle Formen physischer Gewalt, die auf eine Schädigung von Mensch beziehungsweise Tier abzielen. Während der Begriff der physischen Gewalt auf körperliche Schädigung abzielt, orientiert sich der schwer messbare, im Verborgenen angesiedelte Begriff der psychischen Gewalt auf geistige und seelische Schädigungen. „Psychische Gewalt stützt sich auf Worte, Gebärden, Bilder, Symbole oder den Entzug von Lebensnotwendigkeiten, um Menschen durch Einschüchterung und Angst oder spezifische ,Belohnung‘ gefügig zu machen.“21 Neben der häufig punktuellen physischen Gewalt zielt der Begriff der institutionellen Gewalt auf eine dauerhafte Unterwerfung, indem damit die ordnungsstiftenden Elemente der Gewalt betont werden (etwa das Gewaltmonopol des Staates, der Sicherheitsbehörden, des Militärs). Institutionelle Gewalt zeigt sich immer im legitimierenden Spannungsfeld von Kriterien wie Legalität und Illegalität angesiedelt. Strukturelle Gewalt – begrifflich vom norwegischen Soziologen Johan Galtung (geboren 1930) 1975 geprägt – lässt sich als eine Erweiterung des Gewaltbegriffes verstehen. Gewalt resultiert ohne direkte Täterschaft auf systemischen Strukturen, die für bestimmte, asymmetrische Formen der Gesellschaft und für ungleiche Ressourcenverteilung verantwortlich ist, was strukturelle Gewaltphänomene wie Massenverelendung, bewusste wirtschaftliche Benachteiligung von Ländern/Bevölkerungsgruppen, Kolonialismus usw. zeitigt.22 In Verlängerung des Konzeptes der strukturellen Gewalt wird mitunter noch von kultureller/symbolischer Gewalt gesprochen, die „zur Rechtfertigung oder zur Legitimierung direkter, illegitimer institutioneller oder struktureller Gewalt benutzt werden“ kann.23 Schließlich könnte man als häufiger thematisierte Gewaltform noch die ritualisierte Gewalt ansprechen, wo Gewalt in „eine Handlung oder ein Interaktionsgeschehen als Ritual“24 eingebaut wird (etwa öffentliche Hinrichtungen, Turniere, Fankulturen im Sportbereich etc.).

Versucht man Gewalt in der Stadt nach verschiedenen Formen der Vergesellschaftung zu unterscheiden, so lassen sich mit einem Schwerpunkt auf der Neuzeit idealtypisch gegliedert individuelle Formen physischer Gewalt (meist über Gerichtsakten) von kollektiven Formen scheiden, daneben könnte man die verschiedenen, oft ritualisierten Jugend-Protestkulturen (Gesellen, Studenten) und institutionelle, verpolizeilichte Gewaltformen stellen, ohne damit auch nur der Vielfältigkeit der Gewaltformen und -forschung annähernd Rechnung zu tragen. Ein abschließender Versuch, die Räume städtischer Gewalt (Haus, Wirtshaus und Straße) zu erfassen, schließt den Beitrag ab.

Individuelle Formen der Gewalt:
Gewaltdelinquenz in Städten

Nach einem gängigen, von der Forschung immer wieder hinterfragten Modell waren die mittelalterlichen Städte wesentlich durch Gewaltkriminalität gekennzeichnet, während sich ab der Frühen Neuzeit eine langsame Verlagerung der Kriminalitätsstruktur in Richtung der Eigentumsdelinquenz abzeichnet. Diese langsame Abkehr von städtischer Gewaltdelinquenz scheint weniger mit der Durkheim’schen, in der Befreiung des Individuums von kollektivistischen Ordnungen formulierten Gesellschaftstheorie oder der akkulturierenden Zivilisationstheorie Elias’scher Prägung im Sinne erhöhter Affektkontrolle zusammenzuhängen,25 sondern mit einer sich verändernden Konfliktkultur ab der Frühen Neuzeit, die Gewalt als Mittel der Konfliktlösung vor dem Hintergrund des sich entwickelnden staatlichen Gewaltmonopols stärker an den Rand drängte.26 Nach den heute kritisch hinterfragten Forschungen von Ted Robert Gurr (geboren 1936) lag die Anzahl der Tötungsdelikte im Spätmittelalter bei 20 pro 100.000 Einwohner und verminderte sich auf rund ein Tötungsdelikt pro 100.000 Einwohner im 20. Jahrhundert,27 wobei die Gewaltkriminalität seit den 1960er Jahren wieder anstieg.28

Empirisch fällt die Gewaltdominanz der spätmittelalterlichen Städte auf: Im spätmittelalterlichen Konstanz entfielen bei den zwei Mal pro Woche vor dem kleinen Rat verhandelten Delikten im 15. Jahrhundert rund ein Drittel auf Gewalttaten, je ein Fünftel dagegen auf Wort- und Eigentumsdelikte.29

In der Reichsstadt Köln umfasste die Gewaltdelinquenz („Gewalteruptionen“: Mord/Totschlag, Injurienhändel) um 1600 rund ein Drittel der vom Rat behandelten Fälle, wobei die Gewaltdelikte im Vergleich zu den Eigentumsdelikten im Spätmittelalter noch milde bestraft wurden.30 Die Deliktverteilung in der wichtigen Reichsstadt Frankfurt am Main mit rund 35.000 Einwohnern im 18. Jahrhundert und rund 11.000 dokumentierten Gerichtsprozessen sah dagegen einen anderen Spitzenreiter: Diebstahl mit 47,9 Prozent rangierte nach einer neueren Stichprobenuntersuchung (1721–1725, 1741–1745, 1761–1765, 1781–1785, 1801–1805) weit vor Gewaltverbrechen mit 28,1 Prozent.31 So lassen sich in Frankfurt zwischen 1721 und 1725 im Schnitt pro Jahr 1,6 Mordfälle/Totschläge, zehn Körperverletzungen/Schlägereien und 36 Fälle von Eigentumsdelikten nachweisen. Die aufgrund historischer Untersuchungen gewonnene, mechanistisch gedachte „violence au vol“-Konzeption von Pierre Chaunu (1923–2009) erlebte in der Forschung kritische Diskussion, weil die jeweilige Gerichtsnutzung der Beteiligten für die quellenmäßige Sichtbarmachung von Gewalt entscheidend ist.32

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