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PFEILER
KOLOPHON
Übersetzt von Heike Baryga
Die Frau im pistaziengrünen Mantel auf dem Gehweg starrt gebannt durch die Fensterscheibe in den Supermarkt. Eindringlich beobachtet sie eine andere Frau, die dort einen merkwürdigen Tanz aufführt. Unbeholfen umarmt die Frau einen Turm mit Lebensmitteln und stellt sich damit an der Kasse an. Und jedes Mal, wenn sie sich bückt, um etwas aufzuheben, das von dem wackeligen Turm gerutscht ist, fällt ein anderes Lebensmittel herunter. Bücken, aufheben, aufrichten, und wieder bücken, aufheben, aufrichten, so geht das endlos weiter. Die unbeholfene Frau bin ich, die starrende Göttin in pistaziengrün ist eine Römerin. Nirgendwo habe ich die Leute so starren sehen wie in Rom. So schamlos und aufrichtig, so teilnehmend, so voller Hingabe und so mitreißend. Man stellt sich in der Pizzeria an und ertappt sich dabei, wie man unentwegt die Pizza patata (jawohl: Pizza mit Kartoffeln) anstarrt, und während man sich die Bestellung auf Italienisch im Kopf zurechtlegt, drängelt sich jemand vor. Noch so eine italienische Eigenart: Zunächst glaubt man, der wild mit den Armen herumfuchtelnde Mann braucht einen Notarzt, doch er will sich nur auf diese Weise ein Stück Focaccia ergattern, bevor er an der Reihe ist. In Belgien finde ich so etwas ungehobelt, hier ist es ein Spiel. Der Mann ist furbo – listig, gerissen, durchtrieben, mit allen Wassern gewaschen, in Rom ist das etwas Positives. Los, mitmachen!, scheint er die anderen antreiben zu wollen und beißt herzhaft in sein frisches Focacciastück.
Der amerikanische Schriftsteller und Filmregisseur Orson Welles bemerkte einmal, die Italiener hätten bereits seit den Borgias nur Streit und Blutvergießen im Kopf gehabt und dennoch hätten sie Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance hervorgebracht. In der Schweiz plätscherte fünfhundert Jahre lang alles demokratisch und friedlich daher. Und mit welchem Ergebnis? Der Kuckucksuhr.
Die Römer blühen, egal ob es nun passend oder unpassend ist, bei kleinen oder großen Zänkereien und liti auf, etwas, das ich gerne mit ihnen teile. Es gibt jedoch einen Ort, an dem ich dieses Spiel zu meiner großen Überraschung nur selten spielen konnte: Im Straßenverkehr. Natürlich gibt es einen sonderbaren Tanz der Blechkisten, schwungvoll aufgestoßene Autotüren, wie Flügel von Schmetterlingen aus Metall, die graugrünen Vespas, die sich wie grimmige Raupen hindurchschlängeln. Aber das einzige, wovor ein Römer im Verkehr zurückschreckt, das sind die Vollidioten auf ihren misslungen Zweirädern ohne Motor. Radfahrer. So etwas kennt der Römer wirklich nicht. Er geht ihnen aus dem Weg und reißt die Arme in die Luft.
So, wie sich unter dem Kolosseum in den Katakomben Abertausend Knochen befinden, muss sich hinter der Streitlust, dem Kampf, der Heftigkeit etwas Anderes verbergen. Es befindet sich in der Verweigerung, gefallen zu wollen, es liegt im verzweifelten Gestikulieren, es läuft durch die Gassen, die nie in einer Sackgasse enden, es mäandert entlang der Sieben Hügel, man kann es nicht abstellen, es schichtet sich auf den Überfluss obendrauf und ist zugleich tief mit den Römern verankert. Eine Art Schwermut über dem Zuviel.
Denn man kommt nicht darum herum, es gibt einfach zu viel: zu viele Autos, zu viele Menschen, zu viele Kirchen, zu viel Sonne, zu viele Touristen, zu viele Sehenswürdigkeiten, auch zu viel Melancholie.
Und was macht man dann als Römer? Man zuckt mit den Schultern, man versucht das Beste daraus zu machen, man reißt die Arme in die Luft, man hört auf herumzuirren, so stelle ich mir das vor. Man geht nach Hause, dein Zuhause ist dort, wo ein Teller Pasta auf dich wartet, du lässt dich am Tisch nieder, dort ist deine Familie, dein echtes Zuhause, du redest und redest und isst das Essen, das zu deinem Leben passt. Dem süßesten Gebäck fügst du ein wenig Bitterkeit hinzu, den Geschmack gemahlener Aprikosenkerne, das amer, das Bittere der Amaretti.
Früher habe ich mit meinem Bruder oft das Glotzspiel gespielt. Sieger war der, der dem anderen am längsten in die Augen starren konnte, ohne lachen zu müssen. Hier, an einer Kasse in Rom, befinde ich mich nach vier ganzen Minuten noch immer im Wettkampf mit der Frau - ich weiß nicht, ob sie Botox verwendet oder ob es die Sonne ist, die ihr glattpoliertes Gesicht so gnädig strahlen und ihren pistaziengrünen Mantel wie gerade aus den Händen eines Modeschöpfers entrissen aussehen lässt – und mache unterdessen unentwegt weiter: bücken, aufheben, aufrichten. Gerade als ich denke, dass ich gleich aufgebe, wendet meine Rivalin brüsk ihren Blick ab. Ich habe gewonnen!
Als ich auf die Straße trete, steht die Frau noch immer auf dem Gehweg. Zu hastig überquere ich Türschwelle und erneut schwankt der Turm. Der Büffelmozzarella gerät ins Rutschen. Gewand wie ein Reh im Wald ist die Frau in den hochhackigen Lackschuhen in drei Sätzen bei mir und fängt mit einer geschickten Bewegung den Plastikbeutel mit dem Nationalstolz in Käseform auf. Der Reißverschluss ihres Mundes öffnet sich und ein italienischer Wortschwall ergießt sich über den Büffelmozzarella, den man giammai fallen lassen darf, niemals, sonst bestraft einen Gott. Beziehungsweise so habe ich das verstanden, denn es gibt da noch etwas, das die Römer ebenfalls glänzend beherrschen: rasend schnell zu sprechen.
Übersetzt von Christiane Burkhardt
Am Morgen nach den Anschlägen gehen Polizisten mit Maschinengewehren vor der Brust am Gleis des Hochgeschwindigkeitszugs Thalys Patrouille. Ein junger Mann versucht, sie aus einer gewissen Entfernung zu fotografieren, und sie versuchen so zu tun, als bemerkten sie es nicht. Einem von ihnen baumelt eine knallblaue Lesebrille vor der kugelsicheren Weste. Ich nehme den Zug nach Brüssel, getragen vom blinden Vertrauen eines Menschen, der Sicherheit als Selbstverständlichkeit betrachtet und daher davon ausgeht, dass sich wirkliche Gefahr vorher ankündigt, damit man ihr ausweichen kann. Aus den Nachrichten kenne ich Terrorismus weniger, vielmehr als Fiktion aus diesen Actionfilmen, in denen die Hauptfigur zuverlässig überlebt, und die Kamera das Geschehen deutlich heranzoomt, bevor etwas Schlimmes passiert.
Panzer auf der Straße. Auf dem Börsenplatz warten die Ü-Wagen mit ihren Satellitenschüsseln. Die Weltnachricht wird aus weißen Partyzelten gesendet, nur dass man diese banalen Behelfsbehausungen im Fernsehen nie sieht. Gegen Abend übt ein Moderator seinen Text, wiederholt immer wieder dieselben Sätze. Wer das Leben nicht auskostet, kostet die Gewalt aus.
An der Hotelrezeption stehen mehrere Soldaten in voller Montur, sie haben einen entschuldigenden Blick aufgesetzt. In diesem aufpolierten Ambiente scheinen sie sich für ihre Ausrüstung zu schämen, so als hätten sie die Einladung zu einem Kostümball zu wörtlich genommen. Die Leute erzählen, wie sie an besagtem Dienstag das Haus verlassen haben, wie gern sie geholfen hätten. Dass diese Hilfe – ihr Schlafsofa, ihre jeweilige Blutgruppe – aber nicht benötigt worden sei, und wie enttäuschend das war. Sie berichten von anderen, die es nötig gefunden hätten zu verkünden, dass sie in Sicherheit seien, wo doch alle Welt wusste, dass sie nicht mal in Brüssel waren: dieser unbezähmbare Drang, Teil einer Geschichte zu sein.
Für die Literaturveranstaltung sind Sicherheitsleute engagiert worden. Jemand im Publikum beschwert sich über ihr arabisches Aussehen. Beim anschließenden Umtrunk fange ich Satzfetzen auf, wie sich jemand erst wirklich betroffen fühlte, nachdem er die weinenden Mütter auf dem Schulhof gesehen hatte, die Kopftuchmütter. „Unsere Angst betrifft das Hier und Heute, ihre die Zukunft ihrer Kinder.“
Stunden zuvor waren drei Frauen aus unserer Runde in Tränen ausgebrochen, als es um die Anschläge ging, keine von ihnen stammte aus Belgien. Peinlich berührt hatte ich mich abgewandt. Jemand kommentiert das mit den Worten, ich sei kalt und gefühllos, und das ist nicht wirklich ironisch gemeint. Die Betreffende lebt erst seit kurzem in Brüssel und kennt noch nicht viele Leute. „Ich hatte niemanden, um den ich Angst haben müsste, als alle anderen voller Sorge um Freunde oder Verwandte waren. Das war der Moment, in dem mir klar geworden ist, dass ich nicht dazugehöre.“ Auch eine Gruppendefinition und nicht einmal die schlechteste: gemeinsam gemeinsame Ängste haben.
Übersetzt von Heike Baryga
Seit Kurzem wirft ein dicker Junge aus dem Nachbarort mir jeden Donnerstag den Prümer Wochenspiegel vor die Eingangstür. Vor längerer Zeit hat er mich gefragt, ob ich den Wochenspiegel haben möchte. Da habe ich nein gesagt. Nein, denn ich habe keinen Briefkasten. Kürzlich hat er mich wieder gefragt, zuvor hatte ihn mein Hund lautstark angebellt. Ja, habe ich da gesagt. Ja, und wirf ihn einfach bei mir vor die Tür, denn einen Briefkasten habe ich zu meiner Schande noch immer nicht.
Der Prümer Wochenspiegel. Kein Mensch liest den, alle interessieren sich nur für die beigelegten Anzeigenblätter vom Aldi, dem Hela, Edeka. Er eignet sich ausgezeichnet zum Kaminanzünden. Ich lese den Wochenspiegel natürlich sehr wohl, denn ich bin ein Ausländer. Und etwas ist mir sofort aufgefallen, eine besondere soziale Eigenheit, die ich in den Niederlanden so nicht kenne. Die sogenannten Memoriam-Anzeigen. Sie sind um einiges häufiger als die „frischen“ Traueranzeigen. Ein oder zwei Jahre, drei, vier, fünf Jahre nach dem Tod wird nochmals dem geliebten Verstorbenen gedacht, inklusive wiederholtem Dank für die zum Ausdruck gebrachte Anteilnahme. Und wenn man dann nach der Lektüre des Wochenspiegels mit dem Hund am Friedhof vorbeikommt oder darüber spaziert, fällt einem ein weiterer Unterschied zu den Niederlanden auf: Die Wahrscheinlichkeit, in der Eifel einen melancholisch stimmenden, verfallenen Totenacker anzutreffen, ist äußerst gering. Es sieht dort aus wie am Tag der Bauabnahme, kein Grashalm krümmt sich, kein einziger abgefallener Grabsteinbuchstabe, keine verdorrte Zwergkonifere. Stattdessen überall frische Blumen, Stauden, brennende Grablichter, hier schaut am Wochenende regelmäßig jemand vorbei. Kein Ort, der zum Verweilen einlädt, alles nur starr und gepflegt und streng.
Ich vermute, dass es sich um eine katholische Besonderheit handelt, doch ganz sicher bin ich mir da nicht, denn ich bin nicht gläubig. Ich habe diese Vermutung, weil allerlei weitere „Höhepunkte des Lebens“ ebenfalls ausgiebig gefeiert werden. So traf ich meinen Nachbar Klaus mitten in der Woche im Sonntagsanzug an. „Was ist los?“, fragte ich ihn. Nun ja, Einschulung der Enkelin. Große Feier, sogar mit Großneffen und Großtanten. Mir bricht dann immer gleich der kalte Schweiß aus, und ich danke Gott, an den ich wie gesagt nicht glaube, auf den Knien, dass ich keine Enkelin habe.
Seit der Lektüre des Wochenspiegels weiß ich nun auch, dass in der Eifel keine Literatur erscheint. Die Eifel ist berühmt oder berüchtigt für ihre Krimis. Im Wochenblatt werden ausschließlich Lesungen mit Krimischriftstellern angekündigt. Dazu gibt es dann immer Musik, was mir etwas seltsam vorkommt, denn eine Harfe oder ein Cello verbinde ich eher mit Literatur und ernsten Gesichtern. Wenn ich meinen Führerschein gemacht habe, werde ich einmal eine solche Veranstaltung, so eine Lesung, besuchen. Dann werde ich den geladenen Schriftsteller oder die Schriftstellerin im Anschluss fragen, wie man das macht, einen Krimi schreiben. Ich glaube, damit lässt sich eine Menge Geld verdienen.
Übersetzt von Heike Baryga
Wie wunderbar, endlich wieder einmal europäischen Boden unter den Füßen zu haben, der nicht zur EU gehört. Ich befinde mich auf dem Bahnhof von Davos Platz und es schneit. Dieser Geburtstag fängt gut an. Trotz des frostigen Wetters durchzieht mich ein warmes Gefühl von meinen wolligen Füßen hinauf bis zu meinem Herzen. Es ist fast ein wenig schade, dass diese Füße sofort in der Standseilbahn Platz nehmen müssen, die mich nach oben bringen wird. Doch auch im Wageninnern erwartet mich Glückseligkeit: Die Sitze sind beheizt. Und als ich bedenke, dass auch Thomas Mann sich von dieser engen Bahn hinaufziehen ließ, mit einem Gesäß, so warm wie ein ofenfrisches Brötchen, weiß ich, dass dieses Wochenende jetzt schon ein Erfolg ist. Auf zur Schatzalp! Arnon Grunberg, ich komme!
Das ehemalige Sanatorium, ein herrliches Jugendstilhotel mit Holzbalkonen und erleuchteten Fenstern, scheint mir zu winken. Ich pflüge mir einen Weg durch den Schnee und melde mich wie verabredet bei der Hotelrezeption als Mitglied der Extended Grunberg family. Noch keine Viertelstunde später sitze ich bereits gemeinsam mit dem Familienoberhaupt und ein paar weiteren frischgebackenen Familienmitgliedern beim behaglichen Abendessen zusammen. Ein köstlicher Vorgeschmack auf das, was mich am nächsten Tag noch erwartet.
Als ich gegen elf Uhr entzückt in mein Zimmer komme, springen mir sofort die beiden strahlend weißen Kopfkissen ins Auge. Stolz postieren sie sich mit scharfer Spitze nach oben an der Kopfseite des Kingsizebetts (leider ohne King), als wollten sie mit den Bergen draußen konkurrieren. Wie hat man das nur hinbekommen? Manchmal sieht man Servietten, die kunstvoll zu einem weißen Tafelspitz gefaltet sind, doch Servietten sind leicht, Kissen hingegen schwer. Dass ein solches Kissen nicht gleich in sich zusammensackt, ist der Beweis dafür, dass es die Willenskraft einer Alp besitzt. Ich schlafe wunderbar auf ihnen.
Am nächsten Morgen präsentiert sich mir eine weitere Überraschung: Mein Zimmer ist nach Süden ausgerichtet und die Alpengipfel leuchten ungeniert im Sonnenlicht. Sofort will ich nur eins: Heidi sein, und zwar jetzt sogleich! Ich will Zöpfe tragen, Pausbacken haben, Peter treffen, Milch trinken und immer von einer Ziegenherde umgeben sein. Wieso nur habe ich immer auf die Heidi-Bücher herabgesehen, ohne sie gelesen zu haben? Wie dumm und arrogant von mir. Ich werde mich bessern und offener für andere Dinge sein.
Insgesamt sind wir sechzig Gäste. Mittags sind wir zu frischem Flammkuchen geladen, danach werden wir in Fünfergruppen aufgeteilt, die alle die Aufgabe bekommen haben, einen Schneemann zu bauen, der dem Gastgeber ähnelt. Das macht viel Spaß. Ein paar Stunden später stehen die imposanten Männer im Schnee vor dem Hotel: Jeder von ihnen hat eine Brille auf der Nase und eine groß ausgefallene Möhre zwischen den Beinen. Unwillkürlich ziehen sich die Hotelgäste auf der Terrasse die Decken über den Schritt, es ist nicht kalt.
Am späten Nachmittag gibt es ein lustiges Quiz, das sich Mark Schaevers ausgedacht hat. Wie gut kennen wir unseren vielseitigen Gastgeber eigentlich? Leider kann ich nur zwei Fragen richtig beantworten. Die erste lautet: „Arnon Grunberg bestellt sich in der Eisdiele ein Eis in der Waffel. Welche Sorte nimmt er? Mango, Erdbeere, Banane oder Stracciatella?“ Stracciatella, na klar, das muss richtig sein. Wieso? Weil ich die Sorte auch am liebsten mag. In der anderen Frage geht es um Märchen und welches Märchen Arnon am schönsten findet. Aschenputtel, Dornröschen oder Das hässliche Entlein? An sich hält sich Arnons Begeisterung für Märchen in Grenzen, doch Das hässliche Entlein eroberte sein Herz. So wie das meine. Bei der letzten Frage liegen die meisten falsch: Wie viele von Arnons ehemaligen Bettgenossen oder auch nicht befinden sich unter uns? Sofort schaut jeder jeden taxierend mit einem Brutus, auch du?- Blick an. Tja, wie viele werden das sein? Ich tippe auf ungefähr zehn, doch es scheint sich um mindestens ein Drittel der Gesellschaft zu handeln. „Ist doch klar“, sagte Arnon, „es sind nicht die Personen gemeint, mit denen ich etwas hatte, sondern die, mit denen ich gemeinsam in einem Bett gelegen habe. Das ist etwas anderes.“ Nina Polak versteht das. Sie hat sowieso fast alles verstanden, denn sie ist die stolze Gewinnerin dieses Quiz’. Ob sie etwa auch?
Gegen sechs Uhr wird es schick und alle geladenen Gäste nehmen im Après-Ski-Outfit an den runden Tischen im Dinnersaal Platz, der mit Blumen und Girlanden geschmückt ist. Sofort bin ich in eine heftige Diskussion über den Zauberberg verwickelt. Ist Settembrini nun der sympathischste oder dieser zynische Naphta? Gewinnt die reine Wissenschaft gegen die Metaphysik? Und was soll man von der Russin Madame Chauchat halten?
Dann ergreift Arnon das Wort. Dieses Wort dauert genau eine Stunde. In einer spritzigen Rede spricht er jedem einzelnen Gast genau eine Minute zu. Es geht darum, wie er die entsprechende Person kennengelernt hat und wieso er sie oder ihn schätzt. Normalerweise verabscheue ich Brückenbauer, doch die Brücken, die hier zwischen den Gästen gelegt werden, sind einfach sagenhaft.
Schließlich wird das Geburtstagsgeschenk überreicht. Ein Buch des Schweizers Walter Muschg aus dem Jahr 1948 mit dem bedeutungsvollen Titel Tragische Literaturgeschichte. Arnon wollte es schon lange besitzen, und das Festkomitee ist stolz darauf, es antiquarisch erstanden zu haben. Nachdem alle ihren Namen ins Buch geschrieben haben, begeben wir uns an die Bar.
Zur Mitternachtsstunde hat Arnon endlich Geburtstag und es wird kräftig gesungen. Dann startet die Tanzparty bis in den frühen Morgen hinein. Doch das hindert niemanden daran, beim ersten Hahnenschrei wieder in der Sonne bereit zu stehen, weil Arnon uns gemeinsam mit seiner Freundin Roos eine Trainingsstunde in Krav Maga erteilen will. Wir werden ziemlich rangenommen. Nach ein paar Minuten liegen alle bereits kichernd und raufend im Schnee. Wer einen Kater hatte, der ist ihn schnell wieder los. „Tja, würgen macht einfach süchtig!“, ruft Arnon und hoppla!, schon zum x-ten Mal wirft er seine blühende Freundin lachend zu Boden.
Als auch dieser Tag sich dem Ende zu neigt und der Abschied näher rückt, haben alle für die kommenden Wochen rote Wangen.
Übersetzt von Janet Blanken
Eine Viertelstunde Verspätung
Wie das Fliegen von gebrochenen Flügeln tropft,
fällt blaue Stille auf Stein.
Mein Inneres ist von nun an der einzige Ort, an dem ich reise.
Ich habe die Reisfelder vergessen, die Dattelpalmen,
die verwundeten Schwäne, von weißem Nebel umgeben.
Und jetzt bin ich hier,
wie eine Viertelstunde Verspätung bei Regen.
Meine Abfahrt ist mein einziges Dasein.
Ich muss gehen,
in den Süden, wenn diese Stille der Norden,
in den Norden, wenn diese Stille der Süden ist.
Wir haben vier Autoren gebeten, uns eine Flaschenpost von einer einsamen Insel zu schreiben.
Alle vier Texte übersetzt von Stefan Wieczorek
Sie wollen, dass es wie ein Unglück aussieht.