Petra M. Klikovits * Barbara Traber * Sabina Naber * Susanne Oswald
Urlaubsfeeling
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-digital.de
Gmeiner Digital
Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH
© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung der Fotos: © lunamarina – Fotolia.com (Inselsturm, erstmals erschienen 2013); © aussi97 / photocase.com (Tödliche Seilschaft, erstmals erschienen 2012); © Aliaksandr Zabudzko, © Eva Gruendemann und © remar / Fotolia.com (Liebe wie gemalt, erstmals erschienen 2011); Matthias Schatz unter Verwendung eines Fotos von: © Serg Zastavkin – Fotolia.com (Die Namensvetterin, erstmals erschienen 2013);
Zusammenführung: Simone Hölsch
ISBN 978-3-7349-9245-2
Petra M. Klikovits
Inselsturm
Barbara Traber
Tödliche Seilschaft
Sabina Naber
Die Namensvetterin
Susanne Oswald
Liebe wie gemalt
Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt,
wenngleich bei Gesellschaftssatiren unvermeidlich.
Rosa schlug den Koffer auf. Bisher war sie auf Urlaub gefahren für ein, zwei, höchstens vier Wochen. Wie viele Unterhosen man mitnahm für 14 Tage, wusste sie: 14. Wie viele aber sollte sie einpacken, für länger, vielleicht für immer?
Sie stopfte Socken und Handtücher in die Ecken, in der Mitte würden Hosen und Kleider Platz finden. Ich kann noch immer keinen Koffer packen!, dachte sie verzweifelt und wischte sich über das verschwitzte Gesicht.
Leicht gestresst sah sie aus, die langen braunen Haare hingen in Strähnen herunter, die Schminke war unter den Augen bereits verlaufen.
Ihr Blick glitt über das Chaos im Obergeschoss. Überall lagen Kleider ausgebreitet und Schuhe verstreut. Auf dem Bett türmten sich Röcke und Hosen, auf dem Sofa Blusen und Shirts. Zwischen den Wäschestücken hockten die Katzen Bubba Billian und Bubba Lillian und schauten sie aus großen Augen an.
Von Zeit zu Zeit versuchten die beiden in den Koffer zu springen, was Rosa zu verhindern wusste. Durchs Fenster betrachtet mochte dies ein interessantes Schauspiel abgeben.
Das Läuten des Telefons erinnerte Rosa daran, dass sie eine psychologische Praxis am See führte, die betreut werden wollte. Sie zuckte zusammen, durchwühlte die Wäsche, die am Bett gestapelt lag, um ans Telefon zu gelangen.
»Praxis Dr. Talbot, guten Tag …, ja, servus. Glücklichsein für Anfänger, natürlich …, wie ausgemacht.«
Der Anruf ihrer Kollegin war wie das Anklopfen aus einer anderen Welt. Als hätte sich ein verflossener Liebhaber gemeldet, der wissen wollte, ob sie noch lebte. Höflich, aber reserviert ging sie auf Roxannes Angebot ein. Sie hatte sich sogleich im Griff. Ihre Stimme klang mechanisch.
Vor einem Jahr hatten sie vereinbart, den großen Meister der Glückseligkeit, den Rosa bislang nur aus Büchern kannte, persönlich zu erleben. Das Jahr war rasch vorübergegangen, zumindest für Rosa. Heute flog sie in ihren Tagträumen südwärts. Adios …
War es Pflichtbewusstsein oder wollte sie die Studienkollegin nicht vergrämen? Tatsache war, dass sie soeben zugesagt hatte. Sie ließ sich in den nächsten Sessel fallen, auf die frisch gebügelten Blusen.
Und nun? Wollte sie es vor ihrem Abgang noch einmal wissen? Kollegen treffen, für die das Leben ihrer Klienten interessanter war als ihr eigenes? Vortragende, die nichts lieber taten, als sich im grauen Anzug oder dunkelblauen Kostüm vor die Kollegenschaft zu stellen, aus jeder Pore ›ich bin besser als ihr‹ schwitzend?
Sie strich die Haare aus dem Gesicht. Auch sie schwitzte, auch sie war aufgeregt. Sie wusste, dass das, worauf sie sich bisher berufen konnte – Ausbildung, Berufserfahrung und Routine – ihr nichts helfen würde bei dem, was sie nun vorhatte. Auf Wiedersehen altes – und Bienvenido neues Leben! Geräuschvoll blies sie die Luft aus.
Eine Tür war zugegangen, und eine andere war im Begriff aufzugehen. Was dahinter lag? Sie konnte es nicht ausmachen. Vielleicht zwei Zentimeter stand diese nun offen, es fehlten noch fünf oder zehn, um durchspähen zu können.
Sich in Bilder versenken, die Farben, den Geruch, ja sogar das Knarren der Tür wahrzunehmen, das konnte sie. Schade nur, dass diese jetzt nicht weiter aufging. Die schwere Tür mit dem runden Eisenring in der Mitte, die nach Räucherwerk eines indischen Tempels roch, blieb nach einem ausgedehnten Ahhhr einfach stehen.
»Rosa!« Es war Martis Stimme, die sie aus ihrem Tagtraum holte. Sie schlug die Augen auf, die Bubbas saßen zu ihrer Seite. Die schwarz-weißen Fellbündel als Mahnmal für meine Verantwortungslosigkeit?, schoss ihr durch den Kopf.
Im Alltag ungestört zu bleiben, war nicht leicht. Das war für sie als Fachfrau nicht anders als für jede andere Frau auf diesem Planeten. Sie sprang auf, fast hätte ihr Kreislauf die Kursänderung verpasst, und eilte die Stufen hinunter. Ein Mann stand mit Koffern in der Tür – und es war ihrer.
»Hallo, Schatz, ich stell nur schnell meine Sachen rein!«
Im Vorbeigehen küsste Marti sie auf die Stirn und verschwand im Bad, »mein Flieger hatte Verspätung, ich muss weiter zu einem Termin. Wie war’s bei dir?«
Im Hintergrund war das Rauschen der Toilettenspülung zu vernehmen, nicht sehr romantisch. Rosa fühlte sich gerufen und verabschiedet zugleich.
»Wo ist jetzt mein Kännykkä1?« Er riss die Tür auf. Vor ihr stand ein blonder, großgewachsener Mann mittleren Alters mit heruntergelassener Hose, und sah sie verdattert an.
Sie blieb kühl. »Vielleicht hast du’s im Klo versenkt?«
Marti, ihren grandiosen Lebensabschnittspartner (TopLAP, wie Rosa ihn gern nannte) zog es nach den Projekten in Österreich wieder vermehrt in seine Heimat Finnland.
»Dort ist es so schön unkompliziert«, lachte er schelmisch, als sie nach dem Grund fragte. Marti nahm es in Kauf, alle zwei Wochen seinen Koffer zu packen. Rosa wusste allerdings nicht, ob das berufliche Angebot der einzige Grund war – Häuser planen konnte man doch überall.
Seit Kurzem kannte Rosa ein Land, wo alles noch eine Spur bürokratischer ablief, als sie es gewohnt war: Spanien. Um das Haus auf ihrer geliebten Insel kaufen zu können, musste sie zusammen mit Marti und den Freundinnen Unterlagen im Umfang eines Historienromans einreichen. Aber seit letzter Woche war der Kauf durch.
Das Haus.
Die Insel.
Ein Traum schien wahr zu werden.
Und gleichzeitig machte sich ein ungewohntes Gefühl in ihr breit.
Rosa klappte mit dem Bein den Kofferdeckel zu. Würde sie es schaffen, fortan nur mehr mit halbem Herzen Österreicherin zu sein? Ohne die neue Sprache zu beherrschen, würde sie stets Touristin bleiben. Keine Rede von unausgelasteter zweiter Herzhälfte, sondern – ja, was? Sentimentalität, vielleicht.
»Dónde está? Dónde está? Está aquí. Está alli!«, dudelte es aus dem Computer. Spanisch für Einsteiger, wir singen. »Wo ist es? Wo ist es? Es ist da. Es ist dort.«
Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. Falls mein Gepäck am Flughafen verloren gehen sollte, müsste ich unweigerlich zu trällern beginnen!
1 Finnisch für Handy
Zur selben Zeit saßen Rosas Freundinnen in einem Kaffeehaus in der schmucken Kleinstadt am See.
»Wann fahren wir endlich in unser Clubhaus?« Mona lutschte genüsslich an ihrem Lolli, dann streckte sie die Arme hoch.
Die Aussicht auf einen Aufenthalt am Vollmondstrand ließ bei den Mädels Vorfreude aufsteigen. Letztes Jahr hatte ihre Freundin Rosa eine Weintherapie entwickelt, die Önopsychologie. Sie war nachdenklich geworden, ob es Sinn machte, nur für andere da zu sein, und dann stand dieses wundervolle Häuschen zum Verkauf. Wer träumte nicht von einem Haus am Meer? Und warum sollten sie nicht das Verrückte Wirklichkeit werden lassen und es gemeinsam kaufen?
Can Amistad2, als Gemeinschaftsprojekt wurde es für jede der sechs Frauen erschwinglich. Kein Status-Objekt das 50 Wochen im Jahr leer stand, sollte es sein, sondern eine WG, die abwechselnd genutzt werden konnte. Jede der Frauen hatte mit einem Betrag, der in etwa dem Wert eines neuen Autos entsprach, 2 Monate Aufenthalt im Jahr erworben. In der Handhabung der Zeiten wollte man flexibel bleiben, ebenso bei der Finanzierung, Marti sprang für Maria ein, die knapp bei Kasse war. Welch genialer Plan!
Monas Blick fiel durchs Fenster. Es war sonnig, einer der ersten Frühlingstage, bei dem man Lust bekam auf mehr. Sie, die Genießerin der Runde kam in der letzten Zeit selten dazu, das Leben von der sorglosen Seite zu betrachten. Aus der gemeinsam aufgebauten Werbeagentur hatte sie sich von ihrem geschiedenen Mann auszahlen lassen. Ein beruflicher Neustart stand am Plan.
»Wir haben bereits einen Termin. Hat Rosa nichts erzählt?« Maria war erstaunt. Als engste Vertraute war sie näher dran an den Veränderungen um die Freundin. Die beiden hatten zusammen die Uni besucht, und ein Zimmer im Internationalen Studentenheim geteilt. Damals war Maria aufgefallen, dass Rosa ihren Hang zum Tagtraum kultivierte, indem sie sich in Hypnose ausbilden ließ. Über Männer sprach Maria nicht, sie traf sich lieber mit ihnen. Seit der Geburt ihres mittlerweile erwachsenen Sohnes hatte sie ihr Herz auf Eis gelegt. Der Kindesvater hatte sich nicht einmal verabschiedet, mit dem kleinen Michi am Arm hatte sie aus dem Krankenhaus kommend, eine leer geräumte Wohnung vorgefunden.
»Nein, uns sagt ja keiner etwas!«, mischte sich Elli ein. Die Physiotherapeutin war die patente Pragmatikerin der Truppe und ließ sich kein A für ein O vormachen. Sie vertraute Rosas Weintherapie von dem Augenblick an, als sie revolutionäre Veränderungen in ihren Gedanken feststellen konnte. Der richtige Tropfen zur richtigen Zeit!, war fortan auch Ellis Motto.
»Das kommt daher, dass ihr nur einmal in der Woche eure Mails checkt!« Bibi wusste, was Sache war, sie selbst war mit dem Handy rund um die Uhr online. »Nichts ist so alt wie die Mail von gestern, Süße!« Bibi, in den höheren Etagen der Pharmaindustrie tätig, konnte nichts zur Änderung einmal gefasster Lebenspläne bewegen. Größtmögliche Autonomie war ihr erklärtes Ziel, alles andere hatte sich für sie als nutzloses Beiwerk entpuppt.
Alle sechs Frauen kannten einander von Kindesbeinen an, doch das war es nicht allein, was sie verband. Mit knapp über 40 hatten sie ihr Leben im Griff – plus ein paar ungelebter Sehnsüchte in petto. Während diese bei der einen Frau bereits schmerzten, blieben sie bei der anderen gerade noch im Rahmen, die Frage nach dem: was wäre wenn …
Es würde nicht mehr lange dauern, dann konnte das Haus auf Ibiza endlich seine Funktion erfüllen: den Mädels einen Ort für ihre geheimen Träume geben. Rosa würde den Anfang machen und ein paar Monate am Stück darin verbringen. Sie hatte es wahrlich nötig. Was sie dem Rest der Truppe verheimlichte: an eine Rückkehr dachte sie nicht. Auf und davon war ihr Motto. Kaum ein Lebensbereich, der im letzten Jahr nicht von öder Sinnentleerung betroffen war.
»Was glaubt ihr, wie es Rosi jetzt geht?« Jana zog den Satz in die Länge und ihre Stirn in Falten. Als Hüterin des Feuers im heimischen Schwedenofen war sie die ausgewiesene Exotin in der Runde. Verliebt, verlobt, verheiratet mit zwei Kindern und Familienhund galt sie für ihre Freundinnen als Ausstellungsstück in der Reihe ›bestaunbare Realität‹.
»Ich habe gehört, sie packt. Na, das kann dauern.« Elli verdrehte die Augen.
»Das wäre nichts für mich.« Mona rührte in ihrem Kapuziner3. »All die schönen Dinge, die ich hier lassen müsste, bei nur 20 Kilo Freigepäck!«
»Dafür hat sie dann Freiheit, du Nuss!«, entgegnete Bibi scharf.
2 Haus der Freundschaft
3 wienerisch: Kleiner Mokka mit einigen Tropfen Obers (bis er die Farbe der Kapuziner-Kutte annimmt)
Der Koffer war leidlich gepackt, letzte Besorgungen standen an. Langsam musste sie sich von den ihr wichtigen Menschen verabschieden. Rosa beschloss, beides miteinander zu verbinden, und mit ihrem Neffen in ein Outlet-Center zu fahren. Alfi konnte ein Griptape für sein Skateboard gebrauchen, und Rosa musste sich um neue Lieblingsschuhe umsehen, in die alten regnete es bereits hinein. Schon am Weg zu diesem Freizeitpark für Erwachsene beschlich Rosa ein mulmiges Gefühl. Als sie an einem Edeldesignerladen vorbeikamen, sah sie zwei Japanerinnen, die sich um eine weiße Handtasche balgten. Inklusive Haare raufen. Dabei hatte Rosa immer gedacht, Japanerinnen wären zurückhaltend!
Alfi gefiel die Szene, das Accessoire seine Jugendlichkeit unterstreichend, war schnell erstanden, und flott ging es weiter zu den Schuhen.
Rosa nahm ein Paar aus dem Regal. »Glaubst du, passen die zu mir, Alfi?«
In dieser Sekunde beging Rosa den Fehler, einen 16-Jährigen zu Dingen zu befragen, die jenseits seines geistigen Aktionsradius lagen. Also abseits von Skateparks, dem Frequency Festival und gemixten Energydrinks.
»30 bis 33«, war Alfis lapidare Antwort. Rosa schluckte, ließ sich aber nicht verunsichern. Was wusste der schon!
»Und die hier?« Sie hielt abermals Sportschuhe in die Höhe, diesmal statt in hell- in dunkelblau.
»55 bis unendlich.« Dabei verzog Alfi das Gesicht.
Die Situation schien verfahren. Die Schuhe, die Rosa gefielen, schienen allesamt für eine andere Altersklasse bestimmt.
»Mhh, was hältst du von den hellgoldenen hier?«
»Leider nichts für dich. 20 bis 22.« Alfi schob seine Skater-Mütze nach hinten und zog sich mit geübtem Griff eine Haarsträhne ins Gesicht. »Ich sag die Wahrheit!«
»Und du meinst, da lässt sich nichts machen?« Rosa ließ nicht locker.
»Ich könnte deinen Ausweis fälschen, vielleicht geben sie dir dann die violetten hier, die sind für 28 bis 35.«
Sie glaubte, einen Anflug von Schmunzeln in Alfis Gesicht gesehen zu haben.
»Das könnte gehen.«
»Du meinst, als 35-Jährige gehe ich noch durch?«
Alfi überlegte kurz, immerhin ließ seine Tante gern ein paar Scheine springen, wenn er zum Einkaufen mitkam.
»Passt schon!«, antwortete er dann. Genau genommen befanden sich für Alfi alle Lebewesen über 25 auf dem Weg in die Unendlichkeit.
Den kommenden Abend wollte Rosa nicht wieder allein verbringen und hatte deshalb ein Treffen mit Maria an der Mole West ausgemacht. Jede Jahreszeit zauberte ihr eigenes reizvolles Farbenspiel auf und um den See. Langsam wurde es frühlingshaft grün.
Die beiden Frauen setzten sich an die Bar, mit Blick über das Wasser. Sogar von hinten betrachtet, wirkten sie höchst unterschiedlich: die zarte, quirlige Maria mit ihrer Vogelnestfrisur, und Rosa, die üppigere, ruhige mit dunklem Chignon. So verschieden sie äußerlich wirkten, so sehr waren sie Schwestern im Geiste. Selten, dass die eine Wichtiges entscheiden konnte, ohne die andere einzubinden. So auch heute.
»Sei froh, dass du dich bald verziehen kannst. Vorher musst du mir noch einen Tipp geben. Weißt du eine gute Supervisorin?«, Maria zündete sich eine Zigarette an und redete weiter, während der Rauch aus ihrem Mund quoll, »ich hab meiner Supi-Tante zum Geburtstag eine Mail mit einem Blumenbild geschickt. Darauf hat sie geantwortet: Erstens war mein Geburtstag gestern, zweitens mag ich keine Blumen und drittens setzen Sie sich mit meinem Sekretariat in Verbindung, die sagen Ihnen schon, was Sie mir schenken können!«
»Die ist aber glasklar!«, antwortete Rosa halb erstaunt, halb amüsiert.
»Um nicht zu sagen, geradlinig wie ein Pfitschipfeil4! Ich bring’s seither nicht fertig, sie nochmals anzurufen.«
»Das ist doch die …, wie heißt sie nur?«
»Einmal ist sie während der Stunde eingeschlafen und hat danach gemeint, sie arbeite so viel, da müsse sie doch auch einmal ruhen. Ob wir es ihr nicht gönnen würden?«
»Das merk ich mir!« Rosa konnte sich kaum einkriegen vor Lachen.
»Weißt du, wie viele sich’s richten konnten, solange die Psychoszene noch im Wildwuchs war? Ich sag nur, die Egomanen finden überall den Weg nach oben. Die sind darauf programmiert.«
»Und wo erscheint’s legitimer, als sagen wir, in der Kirche … oder bei uns?«, ergänzte Rosa, nachdem sie sich die Lachtränen aus den Augen gewischt hatte.
»Hilfe für die Menschheit! Einmal hast du ein Naheverhältnis zu Gott, das andere Mal spielst du ihn gleich selbst.«
Das Lachen blieb den beiden im Hals stecken.
»Komm, lass uns was trinken, Rosi. Wir werden’s heut und hier nicht ändern. Wir sind halt die Ameisen in diesem Riesenhaufen!«, Maria dämpfte ihre Zigarette aus, »übrigens, was empfiehlst du mir als meine persönliche Öno-psycho-login?«
»Gar nicht so einfach«, überlegte Rosa kurz, dann tippte sie sich an die Stirn und winkte den Kellner heran, »bring uns zwei Achtel von dem guten Messwein, du weißt schon!«
4 Österreichisch für Flitzbogen
Rosa wollte nicht abreisen, ohne ihre Nichte Lina ein letztes Mal gesehen zu haben. Zu der resoluten jungen Dame hatte sie eine besondere Verbindung. Lina kam vorbei, wann immer sie Lust dazu hatte, erzählte von der Schule, Problemen beim Fortgehen oder ihrer nervigen Mutter.
Für heute hatten sich die beiden Frauen im Garten des Eissalons verabredet.
Es war kühl geworden, doch draußen sitzend konnten sie zumindest so tun, als wären sie in südlicheren Gefilden.
Das Mädchen sah sie aus großen, dunklen Augen an. »Was wirst du in Spanien machen, Tante Rosa?« ›Tante‹ hatte sie schon lange nicht mehr gesagt.
War es das Eis, das sie gerade gegessen hatte, oder war es ihre Gefühlsregung? Rosa verspürte einen Kloß im Hals.
»Ach, Lini, ich mach einfach Urlaub, nur eben länger, und vielleicht such ich mir auch Arbeit.«
»Aber das kannst du doch auch hier!«
»Ja, schon«, Rosa überlegte. Damit hatte sie nun nicht gerechnet, dass ihre Nichte Lina, 15 Jahre alt, ein Problem mit ihrem Weggehen haben könnte.
»Und Marti, kommt er mit?«, Lina neigte den Kopf zur Seite. »Ich würde nicht solange weg sein wollen, von dem Menschen, den ich liebe. Ich meine …, ich weiß schon, dass das wehtun kann.«
Rosa horchte auf. »Hast du einen Freund, hab ich da was verpasst?«
Lina schüttelte ihr blondes Haar in den Nacken.
»Tja, Bewerber gibt es genug, aber der Jojo – der war halt etwas Besonderes.«
Rosa dachte nach, um die richtigen Worte zu finden, »weißt du, manchmal ist es wichtig, allein zu sein, auch wenn es wehtut. Manchmal bringt dich genau das weiter.« Lina blickte zu Boden.
Sie erinnerte sich daran, das Mädchen vor wenigen Wochen verstört an ihrer Wohnungstür aufgelesen zu haben. Jojo hatte Schluss gemacht, weil ihm eingefallen war, dass er die Megabraut an seiner Seite nie geliebt hatte. Wahrscheinlich hatte er in diesem Augenblick ›geliebt‹ mit ›verdient‹ verwechselt, so lief das ja zumeist. Dass sie Klein-Linchen nun in der Bösen-Buben-Falle wähnte, verschwieg Rosa lieber. Irgendwann fiel da jede Frau hinein, und je jünger sie war, desto früher fand sie vielleicht auch wieder heraus?
Wer weiß, Linchen war klug. Und frech.
Für einen Moment saßen die beiden still in den Metallsesseln. Rosa zog ihr Schultertuch fester um ihren Körper, als Lina ihr um den Hals fiel.
»Ich wünsch dir, dass du findest, wonach du suchst, aber mach schnell!«
Beim Heimfahren musste Rosa an den Blick und die Umarmung des Mädchens denken. Sie hatte sie umhalst, als wollte sie sich an einem Rettungsring festhalten.
Tu ich das Richtige?
Rosa kuschelte sich in ihren Umhang und drehte die Musik lauter: Die anan fohrn noch Ibiza, die andern nach Rovinj. Wir bleiben daham im Parkbad und machen Party in Kabine …
Ach was, Lina war jung. Sie würde sich im nächsten Monat schon in einen Jojo reloaded Typen verlieben, und es wäre ihr gänzlich egal, ob sie ihre Tante ums Eck, in der nächsten größeren Stadt oder eben auf einer Insel nicht besuchen würde.
So war der Lauf der Welt, die Jungen wurden flügge und flogen aus. Warum also sollte sie, Rosa, Rücksicht nehmen? Und, bitteschön, wer nahm Rücksicht auf sie? Marti etwa? Ihn zog es zurück zu seinen Wurzeln und zu seinem Mökki5, zum Nacktbaden mit Freunden.
Herr Marti Virtanen, ich erinnere Sie an Ihre Entscheidung, in die Fremde zu ziehen und sich mit einer Eingeborenen paaren zu wollen – also unterlassen Sie gefälligst die feigen Fluchttendenzen in Richtung finnische Nestwärme! – Das konnte sie schlecht vorbringen, und wenn, dann maximal am Salzamt6.
5 typ. finnische Ferienhütte mit Sauna
6 wienerisch: Ort für aussichtslose Beschwerden
»Da seid ihr ja!« Rosa breitete die Arme aus und hielt inne. In der Ferne waren zwei Gestalten zu erkennen, es waren die Studienfreundinnen von früher. Als sie vor ihr standen, erschrak sie. Das Älterwerden bemerkte man immer zuerst an den anderen. Wie viele Jahre war es her, dass sie gedacht hatten, sie würden niemals so angepasst aussehen wie ihre Professorinnen? 25 oder nur 20?
Viel Zeit war vergangen.
Und ihre Blüte.
Es folgten Umarmungen.
Die Frauen rochen heute anders.
Rosa leckte beim Kaffeetrinken im ›Landtmann‹ den Milchschaum von den Lippen.
»Was arbeitest du jetzt?«
»Noch immer im Gesundheitsamt, halbwegs sicherer Posten, du weißt schon.« Die adrett gekleidete, rundliche Frau rückte ihre Brille zurecht.
»Und du, Roxanne, bist du noch in der Frauenförderung?«
Diese, sichtlich überrascht: »Nein, ich habe einen Diagnostikvertrag und teste alles rauf und runter!« Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »15 Jahre zittern, ob der Verein weiterbesteht, das zehrt, davon bin ich geheilt. Das sollen die Jungen machen. Und das WG-Leben erst!« Rosa sog am Strohhalm ihres Eiskaffees, bis er gurgelnde Geräusche von sich gab.
»Und du, Rosalie? Wie läuft es bei dir?«
»Ach, na ja.«
»Bist du noch in deiner Praxis?«
»Ja, so quasi …«
»Was soll das heißen?« Die beiden anderen blickten von ihren Tassen auf.
»Nichts. Es ist alles wie immer«, log sie, um weiteren Fragen auszuweichen.
»Wir müssen langsam los, der Vortrag beginnt.« Rosa war aufgesprungen und zur Tür geeilt. Die beiden Frauen folgten ihr.
Was war noch mal das Thema? Ach ja, Glücklichsein. Warum hatte sie den Kolleginnen nichts von ihrer Glücksquelle erzählt? Alle Menschen wollen glücklich sein, aber es fällt schwer, jemand anderem sein Glück zu gönnen.
Rosa zog sich in die letzte Reihe des Vortragssaales zurück. Von hier aus wollte sie das Geschehen beobachten. So wenig Teil davon sein wie nur möglich. Die Kolleginnen hatten Spitzenplätze in der dritten Reihe ergattert und waren, ihrer Geschäftigkeit nach zu urteilen, darüber hocherfreut.
Wie in alten Studienzeiten, dachte Rosa. Sie war keine gewesen, die in der ersten Reihe Plätze besetzt hatte. Sie hatte es vorgezogen, mit dem Attribut Studentin versehen, sich umzusehen, was das Leben, außer diesem Schulbetrieb für Ältere, noch zu bieten hatte. Ob das heute auch noch möglich war? Politische Gruppierungen hatten sich rund um die Alma Mater getroffen; Theater-, Frauen-, Friedens-, Anti-Wehrdienstgruppen versuchten, den StudentInnen einen eigenen kritischen Standpunkt zu entlocken. Heute wurde auf Facebook gepostet, wie leid einem Unterdrückte, Hungernde und Rechtlose taten. Ihre Freundin Maria hatte dies so kommentiert: »Blöd nur, dass man von den vielen Gefällt mir-Klicks nicht abbeißen kann!«
Der Vortrag begann, und Rosa musterte verstohlen die Leute ringsum. Wie emsig sie sich Notizen machten, wie konzentriert sie den Ausführungen des Onkels aus Amerika lauschten. Frauen und Männer im allerbesten Alter ließen sich die Welt erklären, als hätten sie das Fach nicht selbst studiert.
Sie musste kurz eingenickt sein, denn sie sah einen Kasperl auftreten, die rote Zipfelmütze im Verstakt schwingend. Seid ihr alle da? Und die Kinder auf ihren Sitzen riefen: Jaja jaja jaaa!
Im Traum dachte sie: Hatten die Zuschauer etwa kein eigenes Leben? Die einen keine Erfahrungen gesammelt, wie kleine Mädchen Anhänger fürs Bettelarmband? Keine Mutproben absolviert, um über sich hinauszuwachsen, und die anderen sich zu viele Cuts geschlagen, die sie ihre Grenzen spüren ließen? Dazwischen blieb kein Raum, eine eigene Vision zu realisieren.
Oder fehlte es am Schneid, zu widersprechen? Musste immer jemand kommen, der alles besser wusste? Der Papi, der Herr Lehrer, der Herr Professor Freud?
Applaus. Der Nächste.
»Wusstest du, dass die Psychoanalyse gar nicht dafür gedacht war, zu heilen?«
Rosas Sitznachbarin hatte sich vorgebeugt, ihre wachen Augen waren in diesem Moment einprägsamer als ihre Stimme. Sie flüsterte, um den Vortragenden nicht zu stören. Dieser erging sich in der Theorie, wie das Glück eines Menschen statistisch voraussagbar wäre.
»Das hab ich schon gehört, ist lange her. Also, was meinst du?«, wandte sich Rosa ihr zu.
»Die Psychoanalyse war Lebensanschauung und Philosophie – die Linderung von Leiden war das zufällige Nebenprodukt und hat auch nicht so prima funktioniert. Übrigens, Freuds Haushälterin wusste davon.« Die Frau verdrehte bedeutungsvoll die Augen.
Rosa war überrascht. In der letzten Reihe machten sich die Menschen ihre eigenen Gedanken.
»Sag, stimmt es, dass die Therapeuten, die auf der Privat-Uni ausgebildet werden, gar keine rechtliche Anerkennung haben?«, ertönte es von der anderen Seite.
»Ja, das stimmt leider!«
»Wer unternimmt dann diese Odyssee?«
Eine junge Frau aus der Sitzreihe davor hatte mitgehört, die Emotionen ließen die Stimmen lauter werden als vorgehabt. Sie drehte sich um: »18-jährige Maturantinnen mit reichen Eltern, die sie finanzieren.«
»Das kann doch nicht wahr sein!«, entfuhr es Rosa, »zu meiner Zeit war es noch ein Ausschließungsgrund, wenn die Eltern die Ausbildung bezahlten. Wie sollte man in einem Abhängigkeitsverhältnis die Herkunftsfamilie in Frage stellen?«
»Einleuchtend, irgendwie«, flüsterte die junge Frau und setzte ihre Brille zurecht, »wie gesagt, arbeiten dürfen sie nachher sowieso nicht, zumindest nach heutiger Rechtslage.«
»Typisch österreichisch, wie das Rauchergesetz!«, mischte sich ein Bursche ein, fischte eine Zigarette aus der Packung und verließ den Saal in Richtung Ausgang.
Als die Vorträge zu Ende waren, verließ auch Rosa den Saal. Alle waren glücklich. Oder doch nicht?
Sturm auf die Insel! Zu sagen, ich geh weg, war eine Sache. Das zeigte Stärke, ließ einen interessant wirken. Und mutig!
Es zu tun, war schon schwieriger.
Bei ihren Patienten hatte Rosa den Joker für ›Ja (es wird gemacht)‹ oder ›Nein (es wird nur darüber geredet)‹ längst geknackt. Genauso wie für die Frage, ob ein Paar ein Paar bleiben würde. In einer Beziehung lag viel daran, ob beide Respekt füreinander aufbringen konnten. Sobald dieser sich verabschiedete – was sollte da noch helfen? Eine kaputte Tasse ließ sich kitten, aber wurde sie davon wieder heil? Mit gegenseitiger Achtung verhielt es sich genauso. War es deshalb so wichtig, im täglichen Umgang auf Geschirr und Gefühle gleichermaßen achtzugeben und sie nicht erst als wertvoll zu beklagen, wenn sie bereits am Boden lagen?
Rosa und Marti hatten im letzten Jahr einen Kurs in Liebestherapie belegt. Um einander besser verstehen zu lernen, sollten sie wiederholen, was der oder die andere gesagt hatte. Immer wieder. Das lief gut in der Praxis Sonnenschein, aber nicht so gut beim darauffolgenden Abendessen:
»Du hast gesagt, du wärst lieber nach Hause gegangen«, begann Rosa, »aber du weißt, dass der Kühlschrank leer ist, und deshalb sind wir in diesem Beisl gelandet.«
»Und du hast gesagt, dass es dir hier zu wenig romantisch ist und du ganz gern wieder mal schick ausgehen würdest«, entgegnete Marti.
Dazwischen der Kellner: »Also, was darf’s sein?«
»Möchtest du hierbleiben, Schatz?«
»Du hast mich gefragt, ob ich hierbleiben will. Ich weiß nicht! Der Kellner hat gefragt, was es sein darf …«
»Du hast gesagt, du weißt es nicht …«
Der Kellner, schwitzend, mit einem Anflug von Grant7 in der Stimme: »Ja, wer soll’s denn wissen, gnä’ Frau?«
»Der Kellner sagte, wer soll’s wissen, gnä’ …«
»Weißt du was? Wir gehen wieder!«
So endete der erste Tag ihrer Liebestherapie. Beide fuhren nach Hause und legten sich hungrig ins Bett. Sie konnten nicht einschlafen. Miteinander reden wollten sie aber auch nicht, viel zu kompliziert!
»Theoretisch«, begann Marti nach einer gefühlten Stunde, »ist diese Selbsterfahrungsgeschichte interessant, aber in der Praxis … Ich rede ja wie mit meinem eigenen Echo!«
Einen Augenblick lang dachte er nach, dann fuhr er fort: »Wir brauchen keine Liebestherapie, wir brauchen einfach Zeit – und Nähe!«
Rosa hatte begonnen, es sich in Martis Achselhöhle gemütlich einzurichten und grummelte: »Grrhhmm, sehr gut … grrmhh!«
»Ab jetzt gehen wir statt in die Praxis Sonnenschein schön was essen, danach ins Kino oder auf einen Cocktail. So wie früher«, er strich Rosa sanft übers Haar, »da haben wir uns freiwillig geliebt und nicht, damit sich der andere keine Sorgen macht!«
7 wienerisch für Unmut
Energisch tippte Rosa in die Tastatur ihres Laptops.
›Ich hasse Abschiede! Das wisst ihr doch.‹
So sehr sie ihre Mädelsrunde liebte, so sehr hatte sie Schiss vor einem finalen Treffen. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, wie sie in Zukunft ohne die Truppe auskommen sollte. Mit wem sollte sie in Zukunft herzlich ablästern, zum Himmel schreienden Blödsinn reden oder ausbleichende Erinnerungen auffrischen?
»Also, wenn du nicht zu einem Abschiedstreffen kommst, können wir für nichts garantieren!«
Das klang wie eine Drohung. Rosa schluckte. Die Mädels taten sich leicht, sie hatten sich weiterhin zu fünft. Sie hatte insgeheim auf einen Besuch im Sommer gehofft und sich schon darauf gefreut. Da war sie wohl voreilig gewesen.
Drei Fragezeichen waren rasch eingetippt und der Koffer fertig gepackt. In Gedanken ging sie den Inhalt noch einmal durch. Hatte sie alles mit? Zahnseide? Zahnbürste? Wer wollte schon mit heimischen Parodontosebakterien als Entourage auswandern? Na eben.
Alles auf Anfang, war ihr Motto!
Bubba Billian strich um ihre Beine. Der Kleine war mittlerweile zu einem stattlichen Leider-Nein-Kater herangewachsen. Irgendwann, in ancient times, war er männlich gewesen. Er hatte nicht raufen, wegbleiben oder ein Zähnchen verlieren sollen, und dann noch die Vorschrift – flugs war Billian zum Neutrum geschnippelt worden.
Ob er ihr deshalb grollte? Sie sah ihn an. Er erwiderte ihren Blick aus Chardonnay-in-Eiche-gelagerten Augen – und Rosa bekam Durst.
Einen kurzen Abstecher in den Club wollte sie unternehmen. Ganz allein und als Abschiedsmeditation. Zur Einstimmung für den morgigen Abflug in ein Land, in dem sie niemanden kannte und allein in einem ungewärmten Bett liegen würde.
Doch sie hatte es so gewollt, sie konnte sich nicht beklagen.
Eine liebe Kollegin kam ihr in den Sinn, die, nach zweieinhalb Jahren hormoneller Unterstützung endlich schwanger, meinte: »Das kann ich meinen Patientinnen doch nicht antun!« Rosa schulterte ihre bunte Umhängetasche und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Sie konnte, und wie.
Entweder hatte sie die selbständigeren Menschen bei sich sitzen oder sie traute ihnen mehr zu.
Oder war sie, Rosa, einfach mehr Mensch geblieben und weniger Fachfrau, hatte nicht alle ihrer Gehirnzellen der Wissenschaft überantwortet?
Sie stieß die Tür des Lokals auf. Auf diese Frage wollte sie einen guten Tropfen auswählen, vielleicht einen ›schwoaz weiß‹ oder ›schwoaz rot‹. Einen authentischen Tropfen jedenfalls, der sie in Gedanken auch noch morgen wärmte.
Es war früher Abend, und außer einem Kellner war niemand da. Rosa setzte sich an die Bar.
»Einen Roten vom Butcher!«
Die Servierkraft nickte freundlich und verschwand wieder. Rosa steckte sich die verkrümmte Zigarette an, die sie in ihrer Jackentasche gefunden hatte. Besondere Ereignisse erforderten besondere Handlungen, Rauchen war eine davon. Der Tabak fühlte sich im Hals kratzig an. Da wurde auch schon ihr Wein serviert.
»Bitteschön. Einen Roten für die Dame!«
»Ja, danke schön!«
Der Kellner war neu, und Rosa zu aufgeregt, um sich an den Namen erinnern zu können.
»Kommt noch jemand?«
»Nein, danke. Passt schon.«
»Vielleicht etwas zum Knuspern?« Der junge Kellner zwinkerte ihr zu und stellte eine Schale mit Walnusskernen auf die Theke.
»Prost!« Allein für sich erhob Rosa das Glas. War dies die Einstimmung für ein Leben in der Fremde? Der neue Kellner, das leere Lokal und Captain Slowhand, der ›Will I see you in heaven‹ weinte?
Sie trank ihr Glas in großen Schlucken leer, und die Eindrücke wurden langsam gedämpfter. Die weite Landschaft, der See, das Schilf und die Lettn8, all das war zu spüren in diesem Moment, in diesem Wein und durch ihre Vorstellungskraft.
Das Telefon setzte einen Kontrapunkt. Das Personal war außer Hörweite, folglich schaltete sich der Anrufbeantworter ein: »Club fine Wine and dine fine, wir sind in Kürze für Sie da, piep.« Rosa dämpfte gerade die Zigarette ab, als eine ihr bekannte Stimme ertönte: »Hallo, hier ist die Jana. Das wird nichts mit der Feier. Sorry für die Unannehmlichkeiten. Piep.«
Als die Servierkraft zwei Minuten später um die Ecke bog, fand sie ein wimmerndes Weib vor, das sich an der Bar festkrallte, als wollte es einem Swimmingpool ohne Leiter entsteigen.
»Uiuiui! Alles gut?«
»Hast du … einen Rioja … bitte?«, war alles, was Rosa in diesem Moment stammeln konnte.
Es half nichts, langsam musste sie sich umstellen.
Es kam noch schlimmer.
Nachdem sie einen Musikwunsch hatte äußern dürfen und tatsächlich eine CD von David Guetta auffindbar war, beruhigte sie sich ein wenig. Auf Ibiza hatte sie noch nie den Wunsch verspürt, den DJ zu sehen. Es verhielt sich wie mit Wiener Schnitzel; diese mundeten Rosa auch nur nach langem Aufenthalt in der Fremde.
Ganz in Gedanken an Essen war sie, als plötzlich die Tür aufgestoßen wurde. Ein Riesenexemplar von Kardinalschnitte9, samt Maria und Elli dahinter, erschien. Die gute Laune der Mädels schwand schlagartig, als sie Rosa allein an der Bar lehnen sahen.
»Was, sonst ist niemand da?«
»Es gibt keine Feier«, antwortete Rosa matt.
»Siehst du, ich hab’s gleich gesagt, Elli, aber du hörst ja nur die Hälfte!«, bemerkte Maria harsch.
Ein wenig rührte es Rosa nun, dass die Mädels sie hatten überraschen wollen. So ein Blödsinn aber auch, sie war schon mitten drin in dieser Sentimentalitätsblase namens Abschied.
»Kommt, setzt euch zu mir!«, und an den jungen Kellner gewandt, »du darfst uns den jungen Hansi Hölzel10 spielen, den einzigen Popstar, den wir je hatten.«
Wie oft waren sie hier gesessen? Wie viele Männer hatten sie hier besprochen? Zuletzt war es Henry, den eine der Mädels auf einem Kongress kennengelernt hatte und der ihr nach dem Dessert, im rotierenden 92. Stock eines Restaurants in Chicago, einen weiteren Gang offerieren wollte, den diese als ›Anfrage zum gemeinsamen Toilettenbesuch‹ ablehnte.
Rosa hatte bisher nicht viel erzählen können, sie war mit Marti immer zufrieden gewesen, wie langweilig. Und nun, wo es interessant werden konnte, würde sie niemanden zum Quatschen haben.
»Wie geht’s?« Rosa ging in die Offensive, um diese Frage nicht selbst beantworten zu müssen.
»Wir waren bei Ikea. Ich sag dir, das nächste Mal treib’ ich mich auch um neun am Abend in der Bettenabteilung herum, das ist freitags der Geheimtipp.« Elli bekam rote Wangen, als sie weiter erzählte, »und das beste ist, man sieht gleich, wer Single ist und einem einsamen Wochenende entgegenblickt, sagt Maria.«
»Na die muss es ja wissen!« Rosa versuchte das Thema in die Länge zu ziehen, leider ohne Erfolg.
»Und?«, Maria blickte ihrer Freundin geradewegs in die Augen, »wie geht’s dir?«
»Blendend. Endlich raus aus dem Kleinstadtmief, rein ins pralle Leben!« Rosa hatte schon überzeugender geklungen, befanden die Freundinnen.
»Und weg von deinen alten Lebensbegleiterinnen …«
»Macht jetzt kein Theater! Maria, du hörst dich an wie mein eifersüchtiger Ehemann!«
»Apropos Fast-Ehemann: Bringt Marti dich hin oder fliegst du allein?«
Rosa nestelte an den Knöpfen ihrer Jacke. »Weiß ich nicht«, war die ebenso knappe wie ehrliche Antwort.
8 der schlammige Geruch des Steppensees
9 geradezu himmlische Wiener Süßspeise, hauptsächlich aus Baiser und Obers
10 besser bekannt unter Falco
»Die Franzosen streiken schon wieder! Den Anschluss in Madrid kannst du vergessen!« Rosa schob einen Handgepäckskoffer vor sich her, zwei Umhängetaschen hatte sie quer über ihren Körper gezogen. Damit wirkte sie ziemlich bepackt.
»Wenigstens komm’ ich in die Hauptstadt. Ich muss ja mal meine Hauptstadt sehen!«, entgegnete Rosa aufgeregt.
»Noch bist du keine Spanierin.«
»Aber bald. Ich habe gestern den letzten Teilbetrag überwiesen. Jetzt ist es fix, Herr Virtanen. Jetzt bist du mich los, fürs Erste!«
Marti lächelte, mehr gequält, und zog den Koffer hinter sich her. Was war darin nur so schwer? Das musste das aufblasbare Gästebett sein, das Rosa im Internet entdeckt hatte, und das sich in fünf Minuten quasi selbst erschaffen konnte.
»Hast du alles mit?«
»Marti, du klingst wie Oma Käthe. Sie hatte beim Abschied auch immer diesen Ton in der Stimme: Wenn du nur schon wieder zu Hause wärst!«
»Ich wollte wissen, ich meine, immerhin fährst du nicht eben ins nächste Dorf, sondern weit weg für lange. Ich weiß gar nicht, für wie lange!«
»Lange eben. Mensch, Marti, jetzt mach mir keine Szene.« Sie blickte genervt um sich. Wie sehr sie Abschiede hasste, und dann noch in der Öffentlichkeit!
»Du und die Mädels«, zischte sie ihn an, »zuerst wollt ihr dass ich glücklich bin, und wenn ich es dann auch will, seid ihr so was von beleidigt!«
»Aber nein, was redest du?« Martis rote Gesichtsfarbe stand in Kontrast zu seinen hellen Augen und ließ ihn etwas hilflos erscheinen.
Mit ihm konnte man einfach nicht streiten, fand Rosa. Harmoniesüchtig bis 100, und wenn ihm etwas nicht passte, ging er einfach.
Proben, Sporteln, Arbeiten – bis zu seiner Rückkehr war natürlich nichts anders geworden, sondern lediglich leichter zu ertragen. War es nordische Gelassenheit oder die Unfähigkeit über seine Gefühle zu sprechen? Rosa hatte sich zu keinem eindeutigen Ergebnis durchringen können. Dass kein Mann gerne mit einer weiblichen Fachkraft sein Privatleben analysierte, und schon gar nicht mit der eigenen Frau, zog sie dabei nicht in Betracht, leider.
»Deinen Pass hast du? Geld, Papiere?«
»Ich bin erwachsen und kann auf mich aufpassen, Herr Virtanen. Kümmere du dich um die Bubbas!«
Ihre geliebten Katzen musste Rosa zurücklassen, das fiel ihr nicht leicht. Nicht nur wegen der heilsamen Schnurrfrequenzen, die den Stubentigern neuerdings von ärztlicher Seite attestiert wurden. Die beiden fehlten ihr jetzt schon, besonders der kleine. Er war ein Draufgänger, der, wenn Singvögel im Angebot waren, ein halbes Dutzend in der Woche von den Bäumen holte. Die Überreste deponierte er mit Vorliebe vor Rosas Praxistür. Kein leichtes Los für Menschen mit Ornithophobie.11
Frau Doktor, da liegt ein – ähäm – Vogel mit separatem Kopf vor der Tür. – Schon wieder? Den letzten hab ich in der Mittagspause begraben! Dialoge dieser Art konnten vorkommen, wenn die Piepmätze unerfahren waren und Billian mit seinen sechseinhalb Kilo nur mittelflink sein musste, um sie zu fangen. Und dann seine Mutter Lillian. Die Katze mit der quietschrosa Nase, die sich ihre Streicheleinheiten durch Anstupsen holte. So wie manche Menschen das virtuell taten.
Anstupsen – Sie sind im Begriff XY anzustupsen. Okay? – Ja, gefällt mir.
Virtuell war es nicht dasselbe. Die wollene Schnurreinheit aus Liebe und Hingabe zu erfühlen, das tat wirklich gut.
»Machen wir’s kurz, Marti. Danke, dass du mich hergebracht hast. Wir sehen uns spätestens zu Halloween.«
Er umarmte sie wortlos und nickte.
»Und ruf an, wenn du was brauchst«, murmelte er und drehte sich schneller um, als ihr lieb war, letztlich.
11 Angst vor Vögeln
In der Luft fand sie Abstand, nicht nur räumlich zur Erde. In dieser Begegnung mit Marti, warum war sie so hart gewesen? Vielleicht, um es sich nicht im letzten Moment anders zu überlegen. Umfallen, stopp, retour? Nein, danke.
Sie wollte nicht zu Hause versauern, während der Gespons sich ohne ihre geschätzte Begleitung auf Vergnügungstour begab. Schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass Marti seine Angel in fremden Gewässern ausgeworfen hätte. Rosa war erst unlängst über ein Sauna-Video mit kichernden Mädchen gestolpert. Kleinlich, meinte Marti, darauf angesprochen, Sisu12, fand Rosa. So aufgeweckt er sich präsentierte, in kritischen Phasen kam seine nordische Unzugänglichkeit zum Vorschein.
Sie sah aus dem Fenster. Die italienischen Alpen waren zu erkennen, da ein kleiner See, wie hingespuckt, und dort einer. In den Tüpfelchen daneben wohnten Menschen.
Männer und Frauen, sie liebten oder hassten sich, oder noch schlimmer, sie waren einander gleichgültig. Dabei fing die Liebe meist so wundervoll an, wie bei Marti und ihr.
Ja, so wollte sie angefasst werden von einem Mann, genau so! Alle anderen Männer waren mit einem Mal als ›nicht passend‹ entlarvt. Als hätten sie eine Kreuzschraube mit einem Imbusschlüssel einzudrehen versucht.
Marti passte. Das fühlte sie im Moment, in dem er seinen Arm um ihre Mitte legte. Er war ›eingerastet‹. Selbst jetzt konnte sie ihn spüren, wenn auch nur schwach. Es war mehr eine Ahnung. Er legte seinen Arm um ihre Mitte, nicht schüchtern, nicht fordernd, sondern genau richtig. Hier bin ich und hier bist du, sagte die Geste, und vielleicht gibt es uns bald als Paar.
Rosa kramte nach einem Taschentuch. Nun saß sie im Flugzeug, begleitet allein von unantastbaren Erinnerungen.
Ich muss ins Hier und Jetzt navigieren, anstatt in die Vergangenheit abzudriften!, gab sie sich selbst Anweisung. Also los. Ihr Blick blieb an ein paar Mitreisenden hängen, die – hoppla – gar nicht uninteressant wirkten. Frau überflog gerade die Côte d’Azur, als Rosa bemerkte, dass der Unbekannte in der Reihe schräg vor ihr bereits zum dritten Mal nach hinten lächelte. Er war in ihrem Alter, mit dunklen gewellten Haaren, braunen Augen und einem Ausdruck im Gesicht, als würden sie sich seit Jahren kennen. Wow!
Im Flirten war sie nie gut gewesen, fiel Rosa ein. Meist war sie zu aufgeregt oder konnte die Signale nicht richtig deuten. Das sollte nun anders werden! Rosa nahm die Karte mit den Sicherheitshinweisen zur Hand. Niemand sollte sehen, wie sie dahinter ihr Lächeln in Form brachte. War das zu viel oder das zu wenig? Nun passte es. Sie steckte das gefaltete Ding zurück und begann ungehindert ihre Jetzt-aber-Attitüde zu verströmen. Wie das Spaß machte! Ja, sie war eine unabhängige Frau, durchaus attraktiv, auf dem Weg in die Freiheit. Alles andere war so was von gestern!
»Papi, kannst du mir das aufmachen?« Ein Säckchen bunter Malstifte schwebte in ihr Gesichtsfeld.
»Entschuldigen Sie …« Der unbekannte Mann drehte sich ihr zu und lächelte wieder.
Oh wie süß! Wem das jetzt wohl galt? Egal.
Der Kleine klang niedlich, und man musste schließlich mit der Zeit gehen. Ein Mann, der den Frühlingsbeginn mit seinem geschätzt Fünfjährigen in Spanien erleben wollte, konnte so tröge nicht sein. Rosa antwortete mit Lächeln Nummer drei. Vielleicht war das ja ein Wink des Schicksals? Mann und Kind im Doppelpack, gleich zum Mitnehmen.
Ein Gespons, schreiresistent und milde, mit vom Windeleimer-Hinaustragen gestählten Oberarmen auf der Suche nach der Mutter seines zweiten Kindes und Sex, der sein Leben veränderte?
Auf Rosas Gesicht huschte wie von selbst Lächeln Nummer eins. Sie begann, sich tief in die Augen des Wunderwuzzis13 zu versenken, während dieser mit den Zähnen das Spielzeugsäckchen zu bezwingen versuchte.
»… die Mami schläft schon wieder«, raunzte es da von hinten.
Ein Schläfchen, das war auch für Rosa eine gute Idee gewesen. Sie streckte sich, soweit es das Platzangebot zuließ, und sah aus dem Fenster. Die Hauptstadt war bereits in Sichtweite, und der unbekannte Papi gefühlte 500 Meter weit entfernt. Aus den Augen! Sie hatte keine Lust, sich nur den Ansatz eines Gedankens zu machen. Sie war nicht mehr in der Praxis, also keine Probleme, bitte! Aussteigen stand am Programm. Danach Warten, Einsteigen und hoffentlich, endlich, Ankommen. Der bunte Flughafen in Madrid, seine Holzkonstruktion hätte sie Marti gern gezeigt. Aber sie war allein. Keine Patienten, keine Familie, keine Verpflichtungen. Rosa hatte bemerkt, dass sie mit jedem Kilometer, der sie weiter wegführte, entspannter wurde. Das war immer so gewesen. Ommh – bald würde sie am gepriesenen Eiland sein.
Die Orte auf Ibiza trugen allesamt Heiligennamen. Angeblich war es für betuchte Festland-Spanier der beste Ort, ihre allerletzte Ruhe zu finden. Das war, bevor Sinclair, Väth und Morillo die Clubs zum Beben brachten. Ganz Ibiza also ein Friedhof? Sie hatte immer gedacht, Neptun, der Gott der universalen Liebe, aber auch der Vernebelung, würde die Insel beherrschen, aber nein, laut ›Ibiza immer und überall‹ war es Pluto, der Wandler. Was sie betraf, konnten sich die Götter darüber streiten, Rosa würde sich, wie bei so vielem, auf ihr Gespür verlassen. Damit hatte sie schließlich 41 Jahre überlebt. Sie kramte in der Tasche nach etwas Süßem, dabei fiel ihr auf, wie seltsam es sich anfühlte, keinen Kalender bei sich zu tragen. Jetzt war sie wohl frei.
›Frau lauf weg, nimm dich selbst bei der Hand …‹ Das Chanson von Erika Pluhar kam ihr in den Sinn. In diesem Moment ging der Flieger auf Sinkflug, und eine lispelnde Spanierin kündigte die Landung an.
Die Insel lag ausgebreitet unter ihr, und die kupferrote Erde war das Erste, das sie sehen konnte. Still lief ihr eine Träne über die Wange. Die Umrisse der Windmühlen, die Marina und den Hügel mit der Altstadt von Eivissa, wie die Hauptstadt Ibizas auf Katalanisch heißt, wurden erkennbar.
Rosa wurde unruhig. Eine Welle begann in ihrem Körper rauf und runter zu laufen, als hätte jemand in ihrem Kopf Licht aufgedreht, als würde sie in Vanilleeis mit heißen Himbeeren baden, als hätte sie für immer Ferien!
Sie war hier.
Endlich.
Und ohne Rückflugticket.
12 typ. finn: Kühnheit und Starrköpfigkeit
13 österreichisch für Tausendsassa