Aus dem Niederländischen
von Isabel Hessel
C.H.Beck
Alice und Jules, ein altes Ehepaar, haben ein morgendliches Ritual – und auch an diesem Wintermorgen wird Alice geweckt von dem Duft des Kaffees, den Jules schon zubereitet hat. Doch als sie zu ihm ins Wohnzimmer kommt, sitzt Jules tot auf dem Sofa. Da beschließt Alice, diesen Tag noch mit ihrem toten Mann zu verbringen, denn es gibt das eine oder andere, was sie mit ihm zu klären hat und worüber nie gesprochen werden konnte.
Wie immer kommt um zehn Uhr der kleine autistische Nachbarsjunge David, um seine übliche Partie Schach mit Jules zu spielen. Am Ende muß David sogar die Nacht bei Alice verbringen, eine ganz unvorstellbare Komplikation. Doch David reagiert ganz anders, als Alice befürchtet hatte, ja er überrascht sie sogar.
Diane Broeckhovens Novelle über Alice und Jules und über David und Alice ist eine dichte, ergreifende, wunderbar feine Geschichte über Rituale, Liebe, Verrat und Verlust, einen Verlust, der am Ende auf wunderliche Weise ausgeglichen wird.
Diane Broeckhoven, 1946 geboren, hat zahlreiche Kinder- und Jugendbücher geschrieben, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde, und einige Romane für Erwachsene veröffentlicht, u. a. „Eine Reise mit Alice“, „Der verschlungene Weg des Herrn Silvain“, von denen „Ein Tag mit Herrn Jules“ zu einem Bestseller wurde. Diane Broeckhoven lebt in Antwerpen.
Isabel Hessel, 1973 geboren, Studium der Germanistik, Pädagogik und Niederländischen Philologie. 2003 Stipendium des LCB für Literaturübersetzer. Sie lebt und arbeitet in Antwerpen und übersetzte schon mehrere Bücher von Diane Broeckhoven für C.H.Beck.
Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert
vom Flämischen Literaturfonds
Die Übersetzerin dankt dem Literarischen
Colloquium Berlin für die freundliche Unterstützung
bei diesem Projekt.
Titel der Originalausgabe:
«De buitenkant van Meneer Jules»
Erschienen bei The House of Books,
Antwerpen/Vianen 2001
Copyright © 2001 by The House of Books
7. Auflage 2005
1. Auflage. 2016
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2016
Umschlaggestaltung: Studio BINZ
Fotografie: Simone Ackermann
ISBN Buch 978 3 406 52975 7
ISBN eBook 978 3 406 69913 9
Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website
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«Was wir aus unserem Leben gemacht haben,
läßt uns zu dem werden, was wir sind,
wenn wir sterben.
Und alles, absolut alles, zählt.»
Aus ‹Das Tibetische Buch vom Leben und vom Sterben›
Die zeitlose halbe Stunde zwischen Erwachen und Aufstehen umhüllt Alice wie ein vertrautes Kleidungsstück. Sie hat das Gefühl, in einer Gebärmutter dahinzutreiben und einem neuen Tag entgegenzuschaukeln. Entspannt schmiegt sich ihr Körper in die warmen Falten des Bettes, ihre Muskeln und Gelenke sind schwerelos, der Geist leer. Jules’ Geruch – ein Hauch von verflogenem Alkohol, Muskatnuß und altem Mann – liegt wie ein dunkler Schatten hinter ihr. Gewohnheitsgemäß kümmert er sich in der Küche um das Frühstück, das einzige, was er im Haushalt tut, soweit sie sich erinnert. Jeden Morgen Punkt acht beginnt er mit seinem Ritual. Alice steht erst auf, wenn der Duft von frischem Kaffee die Gerüche des Bettes überdeckt und sie sich bewußt gemacht hat, wie gut es ihr eigentlich geht. Dann rappelt sie sich hoch, spürt, daß ihre Haut um Hüften und Schenkel spannt wie ein zu straff gezogenes Gummiband. Ihre geschrumpften Brüste suchen Halt an den Rippen. Sie weiß, daß die Beschwerlichkeiten der ersten Morgenstunde nach und nach mit kleinen Stichen hier und da vergehen werden und daß sie gegen Mittag wieder in ihrem alten Körper stecken wird. Mehr oder weniger.
Es hatte geschneit. Alice schaute aus dem Fenster und sah unten die weiß leuchtende Straße. Sie hüllte sich in den Morgenmantel und versuchte so, die Wärme des Bettes unter dem blauen Frotteestoff zu bewahren. Den Gürtel zog sie stramm um ihre Taille und steckte die Hände in die Taschen. Bea, die unter ihnen wohnte, kehrte im gelblichen Schein einer Straßenlaterne auf dem Bürgersteig vor dem Haus Schnee.
«Die ist auch immer nur am Ackern», dachte Alice.
Sie blieb stehen und hörte zu, wie sich Rauschen und Schaben von Besen und Schaufel immer wieder abwechselten, eine Fanfare in der Ferne, die nicht näher kam. Fröstelnd ging sie in die Richtung, aus der der Kaffeeduft kam.
«Es hat geschneit, Jules», sagte sie zum Hinterkopf ihres Mannes, der über die Rückenlehne des Sofas ragte. Meistens wartete er in der Küche am Frühstückstisch auf sie, den er immer auf die gleiche, akkurate Weise gedeckt hatte. Jules antwortete nicht, was ihr ein Lächeln entlockte. Bestimmt starrte er wehmütig in den Schnee und dachte dabei an früher, als es noch richtige Winter gegeben hatte. Eisig und rauh. Langsam kam sie näher, gebremst durch ihre steifen Knie. Aus einem Impuls heraus legte sie kurz die Hand auf sein schütteres Haar. Sacht auftretend ging sie um das Ledersofa herum und setzte sich neben ihren Mann. Daß er von seinen eigenen Hausregeln abwich, um durch die Wand aus Glas die Schneelandschaft in sich aufzunehmen, stimmte sie mild. Auf diese Weise bekam sie selbst unerwartet ein Stückchen Freiheit geschenkt. Die Pflicht rief sie noch nicht gleich.
Sie rückte näher an ihn heran und spürte die Wärme seiner Schulter an ihrer. Kurz neigte sie den Kopf zur Seite, bis der rauhe Stoff seiner Jacke ihre Wange kratzte.
«Es ist irgendwie hell und dunkel zugleich», sagte sie und lächelte ihr Spiegelbild in der großen Fensterscheibe an.
Jules erwiderte nichts. Reglos blieb er neben ihr sitzen, mit den Händen auf den scharfen Bügelfalten der Hose. In der Küche hörte sie, wie die letzten Tropfen durch die Kaffeemaschine fielen, dann das Finale aus Dampfen und Schnauben. In der lärmenden Stille, die darauf folgte, drang die Wirklichkeit zu ihr durch.
«Jules!»
Ihre Stimme brach mit Kraft aus ihrer Kehle hervor, wie ein Vogel, der aus dem Gebüsch aufschreckt.
Sie schüttelte und schlug ihn, bekam aber keine Bewegung in den starren Körper.
«Jules!»
Wieder ein Vogel. Ein kleiner, scheuer.
Er reagierte nicht. Schwerfällig bewegte er sich mit, als sie ihn mit klauenartig gekrümmten Fingern bei den Schultern packte. Jules war tot. Sie konnte es nicht fassen. Im glückseligsten Moment ihres Tages, ihrem Gebärmutterhalbenstündchen, war er gestorben. Doch vorher hatte er noch seine Pflicht getan. Er hatte den Tisch gedeckt und Kaffee aufgesetzt.
Es kam ihr so merkwürdig vor, daß sie neben ihm gesessen hatte und einfach davon ausgegangen war, daß er lebte. Sie hatte mit ihm gesprochen und gedacht, er würde aufstehen, mit ihr in die Küche gehen und sich an den gedeckten Tisch setzen. Dieser Gedanke beruhigte sie. Jules würde erst dann wirklich tot sein, wenn sein Sterben bis ins Mark zu ihr durchgedrungen war. Bisher traf die Wahrheit lediglich von außen zu, an den äußeren Enden ihrer Nerven. Wie Nieselregen sickerte die Wahrheit durch ihre Poren in sie hinein.
«Für die Hinterbliebenen ist es immer schlimm», flüsterte sie, und die Oberflächlichkeit dieser lächerlichen Bemerkung beruhigte sie einen Moment lang. Sie legte ihre noch bettwarme Hand auf seine, die sich kühl anfühlte. Aber nicht kalt.
Natürlich hatten sie übers Sterben geredet, ihre Angst davor, sich in menschliche Wracks zu verwandeln, miteinander geteilt. Jules reagierte immer gereizt, wenn sie sagte, sie fände es gar nicht so tragisch, dement zu werden. Es erschien ihr wie ein recht sorgloses Dasein. Nichts mehr regeln müssen, Schwestern, die einem geduldig das letzte bißchen Leben einlöffelten, die Freundinnen aus dem Kindergarten und die ersten heimlichen Liebhaber, die unerwartet vorbeikämen. Vor allem mit letzterem konnte sie ihren Mann auf die Palme bringen. Er war ihr erster Liebhaber gewesen, er hatte sie ins Leben und in die Liebe eingeweiht. Sogar fünfzig Jahre später duldete er keine Scherze über sogenannte Rivalen.
«Denk doch auch mal an die Hinterbliebenen und nicht nur an dich selbst», sagte er dann. «Stell dir vor, du würdest mich nicht mehr wiedererkennen. Auch Herman nicht oder die Enkel.»
Tja, das war dann das Problem der Hinterbliebenen, dachte sie. Doch diesen völlig auf sich selbst bezogenen Gedanken sprach sie nicht aus. Ihr kam es so friedlich vor, auf der Schwelle des Todes in einer Nebelbank zu verschwinden, wo Erinnerungen langsam verblaßten und Geräusche verebbten. Sie fand es sogar romantisch, wenn das Leben auf diese Weise erlosch. Wie am Ende eines französischen Films, wenn sich die Farben in einem Panorama aus Pastell brachen. Fin!
Es hatte Momente gegeben, da hatte sie das starke Bedürfnis gehabt, Jules nicht wiederzuerkennen. Doch er war ihr in die Haut eingebrannt. Niemals würde er für sie unsichtbar sein.
Plötzlich sterben, ohne Schmerzen, ohne Angst, das wäre seine Wahl, wenn er eine hätte. Wie der Stoß einer riesigen Hand in den Rücken, ohne jede Chance, sich dagegen zu wappnen. Das Gefühl, das eine Fliege in dem Sekundenbruchteil haben muß, wenn sich die zusammengerollte Zeitung über ihren schutzlosen Körper erhebt. Das fand Alice dann schlimm für die Hinterbliebenen. Und unverschämt, so ganz ohne jedes Vorzeichen einfach aus dem Leben zu verschwinden.
Wenn Jules also nicht wollte, daß sie dement wurde, dann wäre sie doch für ein schönes, tiefsinniges Sterbelager. Nicht zu lang, nicht zu kurz. Schmerzen und menschenunwürdige Körperlichkeiten wie Windeln oder blauverfärbte Gliedmaßen verdrängte sie. Sie würde in einem warmen Nachthemd unter frischgebügelten Decken liegen, mit silbergrau getöntem Haar und manikürten Nägeln. Sie würde Jules alles sagen können, was sie fünfzig Jahre lang in sich hineingefressen hatte. Daß sie ihn haßte und daß sie ihn liebte. Daß sie manchmal am liebsten weggelaufen wäre und daß sie froh war, geblieben zu sein. Daß sie hatte frei sein wollen und sich mit jeder Faser an ihn gebunden fühlte. Dinge, die man sich vor dem Hintergrund der Alltagssorgen nicht sagt. Sie würden sich bei den Händen fassen und einander vergeben. Alles. Jules’ Kiefergelenk würde sich nur kurz unter seiner schlaffgewordenen Haut bewegen, für sie das Zeichen einzulenken. Unter diesen endgültigen Umständen würde er sich allerdings beherrschen. Er würde nicht böse werden, ihr keine Vorwürfe machen. Er würde sie in Ruhe sterben lassen. Sie schon vermissen, bevor sie Kraft sammelte für ihren letzten Atemzug.