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ISBN 978-3-492-97487-5
August 2016
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Covergestaltung: FAVORITBUERO
Covermotiv: Paul Jackson/GettyImages
Datenkonvertierung: psb, Berlin
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Die Nächte waren das Einzige. Alles andere machte mir nichts. Vierzehn Zimmer allein, das war Knochenarbeit. Aber Knochenarbeit hab ich mein Leben lang geleistet.
Früher wars die Hütte. Das Hochofenfeuer hat die ganze Nacht lang die Stadt beleuchtet. Als es dann aus war, wurd es trotzdem nicht dunkel, weil sie das nutzlose Ding mit bunten Lichtern anstrahlten, als wärs der Eiffelturm. Erholungspark nennen sie das. Für mich wärs erholsamer gewesen, wenn die Nacht mal wieder schwarz geworden wär und ich mehr als ein Schnapsglas Schlaf bekommen hätte. Ich hatte jeden Tag vierzehn Zimmer zu machen, es konnte schließlich jederzeit jemand kommen, und das merkt man einem Zimmer an, wenns nicht jeden Tag gemacht wird.
Ich hab nie viel von irgendwas gebraucht. Mit einer Tasse Kaffee kam ich bis zum Abend aus, bisschen Zucker drin oder ein Schluck Eierlikör, das reichte. Meine Mutter und ich haben ganze Winter mit einem einzigen Sack Kartoffeln überlebt. Eine Kartoffel am Tag und wenns wärmer wurde ein Klacks Löwenzahngemüse dazu.
Ich hab auch nie dran gedacht, Tante Gertrud die Wurst vom Brot zu mopsen. Mir fehlte nichts. Außer Schlaf. Schlaf war das Einzige, von dem ich viel brauchte. So viel, dass Tante Gertrud mich oft an den Haaren aus dem Bett ziehen musste.
Dann war ich plötzlich allein und hätte so lange schlafen können, wie ich wollte – und war wach. Jede Nacht.
Lag wach, fror bitterlich und wünschte mir, dass die Nacht endlich vorbeiging. Dass sich draußen wieder was bewegte. Und wenns ein Zigeuner gewesen wär.
Aber das ist eine Geisterstadt nachts, vor allem im Winter. Ehrlich gesagt, im Sommer ist es auch nicht besser. Auch tags nicht. Das war ganz schnell gegangen, nachdem sie die Flüchtlinge in die alte Berufsschule gesetzt hatten. Erst verschwanden die Leute von den Straßen, dann wurden die Schaufenster vernagelt. Gertrud hatte grad das neue Leuchtschild anbringen lassen. Hotel Zum Löwen, mit einem Löwenkopf oben, und drunter stand »Zimmer frei«, das konnte man anschalten. Keine drei Tage hat das geblinkt, da hatten sie es uns eingeschmissen.
Im Kino versuchten sie es noch eine Zeit mit Schmuddelfilmen, aber das lockte auch keinen mehr. War ja keiner mehr da. Außer uns, aber das schien niemand zu wissen. Wie auch, ohne Leuchtschild. Da hat auch der Glaspalast nicht geholfen, den sie am alten Bahnhof hingesetzt haben, wo kein Wunsch offenbleibt, wie das auf den Plakaten hieß. Von denen, die da einkauften, kam keiner bis zu uns rauf. Es war, als hätte man die Stadt hinterm Bahnhof abgebunden wie ein zerschossenes Bein. Das Einzige, was durchsickerte war Kroppzeug. Zigeuner, Kopftuchfrauen, Ölaugen. Aber in den kalten Nächten blieben auch die lieber in ihren Löchern.
Nur Gertrud krabbelte noch unterm Lichtkegel der Straßenlaterne herum, tastete nach dem Pfahl und zog sich daran wieder auf die Beine, wurde länger und länger und dünner, wie ein Schatten, wenn die Sonne untergeht, und schaute zu mir rein. Ihr Gesicht war schwarz wie lackiert, die Augen blendend weiß darin.
Das war nicht Gertrud, das war die Negerin. Wieder die Negerin.
Das konnte nicht sein. Mein Zimmer lag im ersten Stock, da konnte niemand durchs Fenster reinsehen. Und nachts kam die Negerin nie, da hatte ich oft genug nachgeschaut.
War ich also doch eingeschlafen.
Endlich, dachte ich und war wieder hellwach. Und blieb es.
Das war nicht nur das Licht und die Kälte. Da war was. Ich stand auf und sah nach, aber unter der Laterne war niemand.
Selbst die Negerin schlief also. Ich zog den Vorhang wieder zu, aber nicht ganz. Wenn ich schon mal wach war, konnte ich auch stehen bleiben und warten, bis sie kam.
Ich hatte sie noch nie kommen sehen. Und auch nicht gehen. Sie war immer einfach da, sobald es hell war, und wieder weg, wenns dunkel wurde. Also wartete ich. Blies mir in die hohlen Hände und legte sie über meine Ohren. Ich war zwar an die Kälte gewöhnt, aber meine Ohren sind empfindlich.
Irgendwann schliefen mir die Beine ein. Da musste ich vorsichtig sein, die knickten leicht weg, wenn sie so kribbelten. Ich ging zurück ins Bett. Was hatte ich davon, zu sehen, wie sie kam? Zu mir rein konnte sie nicht. Unser Löwe ist eine Burg. Das Kribbeln in den Beinen ließ nach. Schlafen konnte ich trotzdem nicht.
Die Dämmerung kommt nicht mit der Sonne von unten, sie fängt oben an, ein bleiches Schimmern in der Mitte des Himmels, das sich langsam verteilt, wie Seife in Badewasser. Wenn alles milchig war, stand ich auf. Seit die Batterien in meiner Uhr den Geist aufgegeben hatten, musste ich mir mit solchen Himmelszeichen behelfen.
Aufstehen wär eine Erlösung, wenns nicht so kompliziert wär. Jeden Morgen dachte ich mir, lass es bleiben, aber ich hatte die vierzehn Zimmer. Außerdem saß ich schon beinah, so viele Kissen hatte ich hinter mich gestopft. Ich hab nie gut liegen können wegen meinem Rundrücken. So hat es mal ein Oberarzt genannt, der unser Gast war.
Ja, wir hatten Ärzte im Löwen, oft sogar. Und Studienräte. Überhaupt viele gehobene Leute.
Immer gerade halten, hatte der Oberarzt gesagt, dann werden Sie auch wieder gerade, Fräulein. Tante Gertrud lachte mich aus: Rundrücken? Das ist ’nen Buckel. Da kannste deinen Busen noch so rausstrecken, der bleibt. Sie hat recht behalten.
Kalt wars. Ich musste mir lang in die Hände atmen, bis ich meine Finger bewegen konnte. Ich schob meine Füße aus dem Bett und stemmte mich hoch.
Stand ich erst mal, ging es. Ich tauschte das Nachthemd gegen Bluse und Putzkittel. Das war wichtig. Wer tagsüber Schlafsachen trägt, der wartet nur darauf, für immer zu schlafen.
Ich holte meinen Schlüsselbund unter dem Kissenberg hervor und steckte ihn in die Kitteltasche. Bevor ich ins Bad ging, warf ich einen Blick aus dem Fenster und erschrak.
Da stand die Negerin aus meinem Traum, schwarz wie ein Rest Nacht.
Dass mich das immer noch so erschreckte. Die war doch schon vor dem Weihnachtsbaum da gewesen. Dem einzigen Weihnachtsbaum, der in diesem Jahr nach Dreikönig auf der Straße gelegen hatte. Früher hatten die sich hier mal gestapelt.
Der Baum war immer kleiner und brauner geworden und dann über Nacht verschwunden. Zu Brennholz gemacht von irgendeinem Zigeuner. Die Negerin blieb. Suchte die Fenster ab, nach einem Loch, durch das sie hereinkriechen könnte. Lauerte, wie ein Tier. Sie versuchten es alle immer zuerst hier. Das lag an mir. Weil ich das Haus in Schuss hielt. So was sieht man auch von außen.
Ich wich zurück. Ich wollte im ersten Augenblick auch noch den Vorhang zuziehen, aber wenn ich das tat und sie die Bewegung sah, wusste sie sicher, dass jemand hier war.
Na und? Wem sollte sie denn davon erzählen? Selbst wenn sie Deutsch konnte, es würden doch alle denken, sie hätte Geister gesehen. Eine alte weiße Frau? Im Löwen? Gibts den überhaupt noch?
Wahrscheinlich hatte sie ohnehin nichts gesehen. Die Sonne spiegelte zu sehr in den Fenstern.
Ich ließ den Vorhang, wie er war, ging ins Bad und dachte nicht mehr an sie. Im Bad lagen ganz andere Gedanken.
Seit ich allein war, hatte ich meine Gedanken so auf die Zimmer verteilt. Das half, wenn ich Zeit verlor und der Himmel, wie so oft, keine eindeutigen Zeichen gab. Die Zimmer blieben fest, unser Löwe war eine Burg. Viele der Wände hatte ich selber gezogen. Eins a gerade, hatte Gertrud gesagt. Daran dachte ich zum Beispiel immer, wenn ich durch den Flur im ersten Stock ging.
Eins a, davon zehr ich heut noch. Ich sag ja, ich bin genügsam. Im kleinen Bad erinnerte ich mich dann dran, dass Tante Gertrud es auch ausgehalten hatte, allein hier zu sein. Nach dem Krieg. Und was hatte sie sich darauf eingebildet! Als wärs ihr Verdienst, dass der Löwe noch stand, wo alles drum herum in Schutt und Asche lag. Ein abgebrochener Zahn in einem zertrümmerten Mund.
Es dauerte, bis ich begriff, dass ich das war, dieser Trümmermund.
Morgens sah ich Gertrud erschreckend ähnlich. Dabei hab ich die Augen meiner Mutter, die Nase, die Lippen – aber an mir ist das alles ein winziges bisschen anders, größer oder kleiner, ich hab es nie ausmachen können, aber an mir ist das hübsche Gesicht hässlich.
Ich wusch mich – jeden Morgen froh, dass ich mir warmes Wasser nie angewöhnt hatte – und nahm die Seifendose aus dem Schrank. Ich benutzte sie nicht mehr, ich roch nur dran. Das Stück war trotzdem kleiner geworden über die Jahre, aber es war noch immer lilienweiß und duftete nach süßer Milch.
Im Spiegel sah ich, wie meine Mutter hinter mir in den Bottich stieg und sich wusch. Sie zerreibt die Seife zu Schaum und bläst ein paar Flocken in mein Spiegelgesicht. Lilienmilch macht sogar Neger weiß. Meine Mutter steigt aus dem Bottich, und wie alle hässlichen Menschen kann ich mich nicht sattsehen an etwas so Schönem.
Komisch, wie deutlich diese Sachen werden.
Ihre Haut schimmerte auch noch seifenweiß, wenn sie frühmorgens zurückkam und sich neben mich legte. Ich konnte immer erst einschlafen, wenn ich sie berührt hatte. Das hatte ich vergessen.
Ich schloss die Küche auf – ich sperrte stets alle Räume ab, das war für mich so überlebenswichtig wie für einen Gefängniswärter. Dann löffelte ich Kaffeepulver in den Topf und ließ den Löffel klingeln, dass es sich anhörte, als wären zwanzig Mann im Raum. Wie früher, wenn wir die Schweißer dahatten für ihre Berufsschulwochen. Zwanzig Jungens mit Schlafkörnchen in den Wimpern und Bartresten unter den Kieferknochen. Einmal bin ich mit einem ausgegangen, ins Kino, vor den Schmuddelfilmen. Es war das einzige Mal, dass ich in einem Gästezimmer eingeschlafen bin – und dann auch noch auf einen Sonntag! Tante Gertrud musste warten, bis der Schweißer – um zwölf Uhr Mittag! – wach wurde und in die Schankstube runterging, bevor sie mich aus seinem Bett zerren konnte. Der Gast wird nicht geweckt!
Ich weiß noch, wie wunderbar es war, im Halbschlaf das Getrippel auf den Gängen zu hören, und wie die Sonne auf meinen Beinen wärmer wurde.
Ich machte mir ein Brot, und bevor ich merkte, was ich tat, hatte ich es zur Hälfte gegessen. Normalerweise aß ich morgens nichts, das Brot war für die Kitteltasche, für den Mittag. Ich machte ein zweites und hätte beinah auch da reingebissen. Das mussten die schlaflosen Nächte sein, die machten hungrig. Wenn ich weiter so fraß, würde ich in zwei, drei Tagen schon wieder rausmüssen. Ich steckte das Brot ein, trank noch ein Glas Wasser und holte mein Putzzeug. Ausgeschlafen oder nicht, in einem Hotel muss jedes Zimmer jeden Tag makellos aussehen. Die Betten papierglatt und papierweiß, so als könnte man nach einer Nacht darin noch mal ganz von vorn beginnen.
Die Negerin war immer noch auf ihrem Posten unter der Laterne, während ich die vierzehn machte. Die vierzehn war mein liebstes Zimmer, da ließ ich mir Zeit beim Putzen, hier waren so viele Gedanken drin. Manchmal legte ich mich sogar aufs Bett, um mich an wirklich alles zu erinnern. Es stand schon lang leer, seit dem Lehrer, aber riechen konnte man das nicht. Es war immer das erste auf meiner Runde, sodass ich es selbst an diesen kurzen Tagen im Winter machen konnte, wo ich manchmal nicht mehr als zwei, drei Zimmer schaffte.
Ich achtete darauf, nicht zu nah ans Fenster zu kommen, während ich Staub wischte. Das tat ich nicht erst, seit die Negerin da lauerte, das war mir in Fleisch und Blut übergegangen, seit ich allein war.
In meinem hohlen Zahn fing Gertrud leise zu singen an: Vor dem Tor, da steht ein Neger, und er wartet auf sein Opfer, das er tötet mit dem Klopfer.
Du machst mir keine Angst, sagte ich. Und die auch nicht. Sie stand jetzt schon so lang da, und nichts war passiert. Wenn sie jetzt noch kein Loch gefunden hatte, würde sie keins mehr finden. Außerdem sah sie erbärmlich aus.
Es war windig an dem Tag, aber ihre Kraushaare bewegten sich nicht. Ein erstarrter schwarzer Wattebausch. Die musste halb erfroren sein, so wie der Wind an ihrem dünnen Mäntelchen zerrte. Wie dürr sie war. Als würde sie jeden Augenblick umkippen vor Hunger.
Warum stand die nicht am Bahnhof, wie die Zigeuner, passte die paar Leutchen ab, die zu diesen Glasarkaden gingen mit ihren Taschen voll Geld. Oder wenn sie sich zu schade war zum Betteln: Die Container dahinter quollen nachts über. Vieles davon war vollkommen in Ordnung, noch verpackt und höchstens mal zwei Tage abgelaufen.
Schlau war sie jedenfalls nicht. Sie bemühte sich ja nicht mal, sich zu verstecken. Ich konnte sie von fast jedem Fenster aus sehen.
Der Löwe ist ein Eckhaus, was gut ist für ein Hotel, da schaut kein Zimmer auf einen hässlichen Hinterhof raus. Und es war gut für mich, da ich so immer die Straße im Blick halten konnte und das Kroppzeug, das sich da rumtrieb.
Die Negerin war seit Tagen die Einzige. Und die konnte auch nicht mehr lang bleiben, wenn sie nicht erfrieren wollte.
Hau ab, dachte ich, als ich das nächste Zimmer betrat und sie noch immer da unten sah. Obwohl sie sich kaum bewegte, machte sie mich nach einer Weile doch fickerig. Ich wurde hastig und schlampte bei der Arbeit, vergaß meinen Staubwedel in einem Zimmer, meinen Schlüsselbund in einem anderen, musste zurückgehen und fand ein Bett ungemacht.
Und als ich aus dem Fenster sah, war die Negerin immer noch da.
Wenn die nicht bald verschwand, würde mir hier alles durcheinandergeraten.
Hau ab, dachte ich. Hau endlich ab.
Aber sie blieb. Stand da wie festgefroren und stierte ins Nirgendwo. Wo glotzte die denn da hin?
Ich trat näher ans Fenster. Sie hatte die Eingangstür im Blick.
Gib auf, dachte ich. Da kommst du nie rein.
Die Tür war so sicher vernagelt wie ein Sarg. Ich hatte zugeschaut, als sie das machten, drei Mann, mit Nägeln dick wie kleine Finger und so lang wie meine Hand.
Es dauerte nicht lang, da bemerkte die Negerin, dass sie beobachtet wurde. Sie ruckte mit dem Kopf, und das Weiß in ihren Augen blitzte wie in meinem Traum. Und wie in meinem Traum sah sie mir geradewegs ins Gesicht, geradewegs, ohne erst andere Fenster abzusuchen. Die wusste genau, wo ich war.
Das konnte nicht sein.
Ich stand hinter dem Vorhang, und das Fenster war vom getrockneten Regen so dreckig, dass es fast blind war. Zum ersten Mal war ich glücklich über meine ungeputzten Fenster. Ich musste die ja dreckig lassen, so schwer mir das fiel. Aber wenn ich Fenster geputzt hätte, hätt ich auch gleich die Vordertür aufreißen und das Leuchtschild wieder anschmeißen können.
Die konnte mich nicht sehen. Wahrscheinlich suchte sie nur nach einem Fenster zum Einschmeißen. Hatte vielleicht die Steine schon in den Fäusten, die sie da in den Manteltaschen ballte.
Und der Häuptling Schwarzer Zacken, der frisst deinen weißen Backen, sang Gertrud aus meinem einsamen Zahn. Und von deinen kurzen Knochen lässt er sich ’ne Suppe kochen.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund, obwohl ich wusste, dass die Schwarze da draußen nichts gehört haben konnte. Ich hielt ganz still, hielt sogar den Atem an, bis sie ihren Blick – langsam, langsam, wie ein träges Raubtier – abwandte.
Sehr vorsichtig zog ich den Vorhang ganz vor das Fenster, sammelte mein Putzzeug ein und schlich rauf in die 23.
Normalerweise arbeitete ich mich ordentlich von unten nach oben durch die Räume, aber da hätt sie mich noch Stunden beobachten können. In der 23 konnte sie mich nicht sehen. Das winzige Fenster hatte ich mit Pappe verklebt, seit mir ein paar halbstarke Ölaugen einen Flachmann reingeworfen hatten. Doch bei denen hatte ich nur meinen Besen schwingen müssen, und sie waren gerannt, kreischend wie Mädchen.
Ich hätt gleich den Glaser rufen sollen, aber dann gefielen mir das Halbdunkel und der Wind, der mir über die Beine strich, wenn ich im Bett lag und mein Pausenbrot aß. Kalt wars eh überall, daran war ich gewöhnt.
In der 23 lagen die Schweißergedanken. Nichts anderes. Komisch, da hatte ich für eine einzige Nacht im Löwen ein ganzes Zimmer, und von anderen ganzen Jahren vor dem Löwen war nichts geblieben als ein bisschen grüngoldenes Geflirr in der Kitteltasche.
Doch als ich an diesem Morgen ins Schweißerzimmer kam, waren da gar keine Gedanken. Und es war auch nicht dunkel. Das Zimmer war taghell und so schneidend kalt, dass sich niemand dran hätte gewöhnen können. Die Pappe war aufgeweicht und runtergefallen. Ich sah direkt, ungeschützt, runter auf die Schwarze, die noch immer unter der Laterne stand und die Fenster nach mir absuchte. Ich duckte mich, bevor sie mich entdecken konnte, schob die nasse Pappe von der Bettdecke runter und kroch dann ins Bett. Zum Glück war die Decke nicht ganz durchgeweicht. Ich zog sie über mich, machte die Augen zu und wartete auf die Schweißergedanken.
Es kamen keine. Als hätte der Wind das Zimmer leer gepustet. Ich öffnete die Augen wieder und sah, dass über dem Bett, in der Zimmerecke, irgendwas hing. Da war was gewachsen. Fächer von flachen, fleischig gelben Hüten wie bei einem Baumpilz. Mein Mund zog sich zusammen.
Wärs was anderes gewesen – ich hätt die Tür abgeschlossen und das Zimmer nie wieder betreten. Mich von den Schweißergedanken verabschiedet und mich gefreut, nur noch dreizehn Zimmer zu haben. Aber Pilz – ein Pilz ist das Schlimmste, was einem Hotel passieren kann. Das ist ein Todesurteil.
Ich zwang mich aufzustehen. Ob die Negerin mich nun sah, war jetzt erst mal egal. Das Pilzding musste weg. So was war nicht nur für ein Haus ein Todesurteil. Gertrud war an einem Pilz in der Lunge gestorben.
Ich stellte mich aufs Bett und versuchte das Ding mit dem Besenstiel runterzuholen, aber ich konnte mich nicht hoch genug strecken. Ich bin nicht nur krumm, ich war auch nie die Größte. Ich holte den Stuhl aus dem Flur und stellte ihn aufs Bett. Danach musste ich erst mal eine Weile durchatmen, bevor ich mich ans Klettern machte. Mir war sehr wohl klar, wie gefährlich das war, in meinem Alter. Aber ich hab immer gut klettern können. Man muss nur langsam machen.
Und es hielt.
Es fühlte sich an, als würde ich in Fleisch stochern, falbe Brocken fielen an mir vorbei. Ich sah nicht hin. Ich sah auch nicht auf die Schwarze, die mich sicher entdeckt hatte. Ich hielt mich mit den Augen an der kahlen Kastanie fest, um die Balance nicht zu verlieren, und während ich kratzte, wurde mir klar, dass da eine Verbindung war zwischen der da unten und dem Pilz hier oben. Wenn ich den Pilz loswurde, würde die auch verschwinden. Und wenns mir nicht gelang –
Ein Pilzbrocken traf mein Gesicht, ich zuckte, der Stuhl kippte und ich fiel, seltsam langsam wie eine Feder. Den Aufschlag fühlte ich nicht. Ich sah nur ein Stück Teppich, und dann legte sich feuchtes Dunkel über mein Gesicht. Es stank milchsauer nach Putzlumpen.
Gertrud lachte. Dann wurd es still.
Jemand war im Zimmer. Ich hatte die Tür nicht aufgehen gehört, aber da stand jemand direkt neben dem Bett, auf das ich gefallen war. Die Haut war schwarz wie Ebenholz, das Weiß ihrer Augen wie mit Lilienmilch gewaschen. Wie war die hier reingekommen?
Geflogen, flüsterte Gertrud, durchs zerbrochene Fenster hereingeflogen.
Ich wollte mich aufrichten, aber wenn ich einmal auf dem Rücken liege, bin ich hilflos wie ein Käfer.
Ich wollte schreien, aber über meinem Gesicht lag noch immer das stinkende, feuchte Dunkel, und aus meinem Mund kam kein Ton. Ich wedelte mit den Händen, aber das hatte schon bei der einäugigen Katze nicht funktioniert.
Mit ihren sauberen weißen Augen sah die Negerin sich im Zimmer um, und unter ihrem Blick verwandelte sich alles. Da löste sich Tapete in langen Streifen, der Vorhang franste aus, die Bettwäsche wurde grau und fadenscheinig, und auf dem Teppich hatten sich Federn und Staub und Haare zu Klumpen gesammelt, die aussahen wie von der Katze hervorgewürgt. Und dazwischen lagen eklige gelbe Stücke von dem Pilz. Einer berührte beinahe ihre schwarzen Zehen. Ich starrte auf ihre nackten Füße. Verhornte, dicke Klumpen. Sie sahen aus, als wär sie barfuß aus Afrika hergekommen.
Ich hörte sie atmen und so ein leises Schmatzen von Speichel, und mit einem Mal hatte ich panische Angst, wieder hochzuschauen und ihre gebleckten Zähne zu sehen, ihre blendend weißen Zähne. Und ihre Augen.
Ich dachte, wenn ich ihr in die Augen sehe, ist es aus.
Und dann rutschte mir die nasse Dunkelheit vom Gesicht, und ich lag im Schweißerbett und neben mir auf dem Kissen, kalt, nass und stinkend, mein Putzlappen. Da war niemand im Zimmer. Durch das offene Fenster neben dem Bett fiel eisige Luft auf mich herab, wie Nadelstiche, und hin und wieder ein Streifen Sonnenlicht.
Ich sah nicht gleich nach, ob die Negerin noch draußen war. Aus meiner Kitteltasche holte ich das Käsebrot, das ich mir für die Mittagspause gemacht hatte. Das Brot war zerquetscht, aber es schmeckte wunderbar. Ich konnte mich nicht erinnern, je so hungrig gewesen zu sein.
Ich konnte mich auch nicht erinnern, je im Bett gegessen zu haben. Mir war bitterkalt, obwohl die Sonnenstreifen auf meinen Beinen lagen und auch wärmer wurden. Der Himmel allerdings wurde dunkler.
Wars nun Morgen oder Abend?
Das passierte, wenn ich zur falschen Zeit im falschen Raum war. Ich würde warten müssen, bis die Sonne sich bewegte, um zu wissen, ob es Zeit war zu putzen oder zu schlafen.
Ich hielt mich am Fensterbrett fest und zog mich so weit hoch, dass ich raussehen konnte. Die Sonne rührte sich nicht. Nichts rührte sich. Da war keiner mehr, der hinaufsah, ich wagte mich ganz nah ans Fenster und lehnte mich schließlich sogar raus.
Ich spürte einen kalten Stich im Nacken und sah ganz am Ende der Straße einen schwarzen Schatten, der hinter der Bude von der Blume verschwand, und bemerkte, dass es schneite.
Die Flocken wurden schnell dicker. Keine Nadelstiche mehr, eher klamme, dicke Fingerspitzen.
Ich fragte mich, ob die Negerin geflohen war, weil sie nicht wusste, was da vom Himmel fiel, oder weil sie es genau wusste und nicht erfrieren wollte. Mir selber machte die Kälte nichts, ich halte einiges aus. Und ich hatte genug Kohlen.
Ich hätt lachen können vor Freude über den Schnee, wenn nicht über mir – das sah ich aus dem Augenwinkel – noch immer der Pilz geklebt hätte. Zerstochert, aber kaum kleiner.
Ich schob meine Beine aus dem Bett. Als mein Fuß auf den Boden schlug, hätt ich fast aufgeschrien, so weh tat das. Der Knöchel war seltsam verdreht, als würde er abbrechen, wenn ich aufstand.
Gertrud lachte. Fußkrank? So was gibts in unserm Geschäft nicht.
Sie hatte recht. Da waren noch ein Dutzend Zimmer, die gemacht werden mussten. Ich stand auf, aber mein Fuß schmerzte so arg, dass mir übel wurde. So konnte ich unmöglich weiterarbeiten.
Für heute wars genug, ganz gleich, ob es jetzt Morgen oder Abend war.
Ich hob die Pappe auf und drückte sie so gut es ging wieder am Fensterrahmen fest. Um den Pilz würde ich mich morgen kümmern. Um die anderen Zimmer auch.
Ich humpelte runter in mein Zimmer, legte mich in mein Bett und versuchte, ein wenig die Augen zu schließen. Es ging nicht. Irgendwas machte mich fickerig.
Ich stand auf und sah vorsichtig am Vorhang vorbei nach draußen. Da war niemand. Und es schneite immer noch. Ich hätt mich freuen sollen. Die Schwarze würde nicht wiederkommen. Es blieb ja schon Schnee liegen, auf den Kastanienzweigen und der nackten Erde auf der Verkehrsinsel. Ich drehte mich vom Fenster weg, suchte mir eine von meinen Reisezeitschriften aus und setzte mich damit wieder ins Bett.
Viele hatte ich nicht davon, die waren teuer. Aber es lohnte sich schon, die waren dick wie Bücher und aus Hochglanzpapier. Die Geschichten waren auch gut, man lernte was über die Welt, und zwar mehr, als wenn man selber hingefahren wär. Das hatte der Lehrer selber gesagt. Aber das Beste waren die Fotos. Die konnte ich stundenlang angucken.
Doch diesmal funktionierte es nicht. Ich blätterte mich durch eine Zeitung nach der anderen und fand nichts, was mich abgelenkt hätte. Schließlich versuchte ich es mit dem Buch vom Lehrer, dem Buch über die Entdeckung des Franz-Josef-Landes. Das hatte noch immer geholfen.
Ich weiß nicht, wie oft ich es schon gelesen hatte. Obwohl es mich inzwischen anstrengte, weil die Schrift so altertümlich war. Ich musste mich immer erst wieder dran gewöhnen. Aber diesmal hätte da ebenso gut Chinesisch stehen können.
Ich stand noch mal auf, sah noch mal raus. Keine Negerin. Und schon eine deutliche Schneedecke auf dem Gehsteig. Ich hatte es doch gewusst, die Negerin war die letzte, von jetzt an war für den Rest des Winters Ruhe. Ich zog den Vorhang zu.
Es gab auch Bilder in dem Buch, Zeichnungen und Karten zum Ausklappen. Einfache, gezeichnete Karten, wie ich sie früher selbst gemacht hatte. Vielleicht half das. Ich holte meine Bleistifte aus der Schultasche. Es dauerte, bis ich eine Kladde fand, in der noch freie Seiten waren. Mein Fuß pochte furchtbar, als ich mich wieder aufs Bett setzte. Ich legte mir ein Kissen auf die Beine, lehnte das Buch vom Lehrer dran und begann, die erste Karte abzuzeichnen. Eine Originalkarte des Kaiser-Franz-Josef-Landes, gezeichnet vom Entdecker selber.
Es war keine ganz korrekte Karte, aber es war ein guter Einstieg, meine Finger waren steif, und es dauerte, bis ich die einfache Karte ordentlich in mein Buch übertragen hatte.
Als ich fertig war damit, versuchte ich, die korrekte Karte zu zeichnen, aber ohne Atlas ging das nicht mehr. Ich musste noch mal aufstehen. Und als ich stand, ging ich doch wieder ans Fenster, zog den Vorhang zurück.
Es war noch immer Tag, es schneite noch immer und die Straße war noch immer leer. Alles gut.
Ich sagte mir das sogar laut, um es endlich zu glauben. Dann holte ich meinen Atlas und setzte mich damit zurück ins Bett und begann eine korrekte Karte vom Franz-Josef-Land.
Einhunderteinundneunzig Inseln. Früher hätt ich die alle aus dem Kopf hinzeichnen können. Ich war unglaublich gut darin gewesen. Ich hab die ganze Welt gezeichnet, mehrmals.
Gekritzel, hatte Gertrud das genannt. Weil sie nicht wusste, was sie da sah.
Selbst die dümmsten Schüler lernen irgendwann, ein ungefähres Afrika zu kritzeln, oder einen zittrigen Stiefel für Italien. Aber meine Zeichnungen waren genau. Das waren richtig gute Karten, maßstabsgetreu. Man hätte den Atlas darunterlegen können, und meine Linien wären nicht einen Millimeter von den gedruckten abgewichen.
Ich machte das alles aus dem Kopf, ohne Radiergummi. Und ohne ein Eckchen zu vergessen, das in Wirklichkeit Hunderte oder sogar Tausende von Quadratkilometern von Land war. Natürlich verstand eine wie Gertrud nicht, weshalb das wichtig war. Das verstanden die wenigsten.
Angefangen hatte es mit den Orten, aus denen unsere Gäste kamen. Da war ich noch ein Mädchen. Wenn Gertrud abends im Schankraum hinterm Tresen stand, blätterte ich mich durch die Gästekartei. Die Orte, die ich nicht kannte oder von denen ich nicht wusste, wo sie lagen, schlug ich in einem alten Conti-Atlas nach, den ich in einem Gästezimmer gefunden hatte. Später kamen dann auch mal Gäste von weiter her, da reichte der Conti nicht mehr und ich brauchte meinen Schulatlas. Ich machte ein kleines Kreuz an die Orte, und dann zeichnete ich, was darumlag. Die Stadt, das Land, den Kontinent, wie es eben aufs Papier passte. Manchmal kam ich so bis zu einem zweiten Kreuz, und dann wanderte ich mit den Fingern von einem zum anderen, und wenn ich eine gute Route gefunden hatte, zeichnete ich sie ein.
Das ist nicht so leicht, wie es sich anhört. Da kann man nicht einfach einen Strich ziehen, da muss man auf Berge achten und Wälder und Flüsse. Ich verlief mich, oft, musste radieren und neu anfangen. War ich fertig, taten mir nicht nur die Finger weh. Meine Füße pochten, als wären sie tatsächlich bis nach Patagonien gewandert. Und so fühlte ich mich auch.
Man muss die Welt kennen, dachte ich, wenn man darin überleben will.
Als ich dann mit der Schule aufhörte, weil wir so viele Gäste hatten, dass Gertrud mich auch morgens brauchte, konnte ich nur noch abends zeichnen, im Bett. Jeden Abend dachte ich, ich kann keinen Finger mehr rühren, aber dann machte ich die Kladde auf, und es ging, wenn auch nicht sehr lang.
Seltsamerweise wurde ich trotzdem besser. Ich wurde so gut, dass man mein Gekritzel sogar Kunst nannte.
Das ist keine Prahlerei, das ist mir gesagt worden. Nicht nur ein Mal. Und nicht nur von einfachen Leuten.
Sehr artig, hatte der Lehrer gesagt. Doktor war der. Studienrat, um genau zu sein. Geografie und Deutsch, am besten Gymnasium in der Stadt.
Er hatte mich in der Küche dabei erwischt, wie ich gerade an Afrika arbeitete. Er hatte es sofort erkannt und sich dann die ganze Kladde angeschaut. Sehr artig, sagte er, sehr artig.
Und artig, sagte er, als er mir die Kladde zurückgab, das dürfen Sie nicht falsch verstehen, artig meine ich hier im wahrsten Sinn des Wortes. Kunstvoll. Von Artis, den Künsten.
Gertrud hatte gelacht, wie über alles, was er sagte. Aber es war kein Scherz, er meinte das ernst.
Er hat mir seine Fotos gezeigt, zur Inspiration, wie er das nannte, und mir von seinen Reisen erzählt. Die Orte klangen wie aus dem Märchen. Helgoland, Samarkand, Hindukusch. Irgendwie konnte ich erst glauben, dass es das alles gab, wenn ich es angekreuzt und abgezeichnet hatte.
Das Rote Meer, das Schwarze Meer, das Tote Meer.
Ich hatte das alles so oft gezeichnet, dass es war, als hätt ich dort gelebt. All diese wilden fremden Gegenden, für mich waren das Westentaschen. Irgendwann, dachte ich, fährst du da auch überall hin. Einen Atlas brauchte ich längst nicht mehr.
Der Lehrer hat mir dann sogar ein Bild abgekauft, für fünfzig Mark. Das war damals richtig gutes Geld.
Franz-Josef-Land, abgezeichnet aus seinem alten Wälzer. Ich hab das Papier noch ordentlich zerknüllt und durch Kaffee gezogen, sodass es richtig original aussah. Und ausnahmsweise auch alle Beschriftungen angebracht, genau wie es im Buch war. Er hat sich das rahmen lassen und über sein Bett gehängt. Sein Bett hier, bei uns.
Bei Ihnen, hatte er gesagt, bei Ihnen, Fräulein Frieda, bin ich angekommen. Zimmer 14, den Umriss sieht man heut noch. Fünfzehn Jahre hat er da gewohnt, unter der Woche. Am Wochenende und in den Schulferien wohnte er bei seiner Frau Mutter in Paderborn.
Meine Frau Mutter, so redete der wirklich. Und sah auch so aus. Kaum größer als ich und schwächlich, wie ein verhutzelter alter Professor, obwohl er grad Mitte zwanzig war, als er hier ankam. Man hätte nie geglaubt, dass der schon die ganze Welt gesehen hatte. Afrika, Amerika, Australien, er war auf allen Kontinenten gewesen.
Aber bei Ihnen, Fräulein Frieda, bei Ihnen bin ich angekommen.
Und auch das meinte er ernst. Fünfzehn Jahre lang.
Jeden Abend hab ich dem sein eines Hemd waschen und das andere bügeln müssen. Er hatte nur zwei. Über den Tag wurde das, das er trug, schwarz vom Ruß, der hier in der Luft hing.
Ja, hier wurde mal so viel geschafft in der Stadt, dass die Luft weiße Hemden schwärzte. Alle malochten damals, nicht nur wir. Es wurd nie dunkel und nie still. Bis es dann aufhörte.
Wir haben das gar nicht richtig mitbekommen, wir waren ja noch dran, Gertrud und ich. Alle andern in unserer Straße hockten schon den lieben langen Tag zu Hause vor ihren Flimmerkisten und schauten andern beim Leben zu. Oder wenn sie nicht fernsahen, glotzten sie aus ihren immer dreckiger werdenden Fenstern und schauten uns beim Arbeiten zu.
Faule Hunde, sagte Gertrud. Sie wurde richtig kiebig, als wären es die Glotzer, die uns die Arbeit machten. Dabei machte uns niemand mehr Arbeit. Könnte aber, sagte Gertrud und zog mich weiter jeden Morgen aus dem Bett. Während ich mich um die Zimmer kümmerte, vierzehn Zimmer, allein, war Gertrud unten im Schankraum beschäftigt. Ich musste nicht fragen, womit, ich konnts riechen.
Mich störten die Glotzer nicht. Ich war froh, dass es sie gab, das merkte ich so richtig, als sie verschwanden und nur verschmierte Fenster übrig blieben. Es war, als hätte man die Menschen dahinter mit einem schlechten Radiergummi ausradiert, und eine ganze Zeit kam ich mir selber ganz unwirklich vor.
Gezeichnet hab ich da kaum mehr, hin und wieder mal ein kleines, einfaches Land, frei aus der Hand, nur um zu sehen, ob ich es noch konnte. Lieber las ich, in den Reisezeitschriften oder in dem alten Wälzer über den Nordpol.
Das, dachte ich, als ich an dem Abend meine Zeichensachen herausholte und mit dem Franz-Josef-Land anfing, war die einzige Reise, um die es mir leidtat. Da wär ich gern wirklich hingefahren. Zum Nordpol. Und zwar allein. Ganz allein in diese vollkommen weiße Leere.
In einem Hotel zu leben mag einsam sein, aber wirklich allein ist man nie. Überall riecht und hört und spürt man andere, immer. Auch wenn sie längst abgereist sind. So viele Menschen, das gibt Spuren, die man nicht wegputzen kann. Menschenreste in allen Fugen. Schlimmer als Schimmel. Es war seltsam, aber je weniger Gäste wir hatten, desto mehr wünschte ich mir die Einsamkeit.
Ich hatte immer gedacht, wenn Gertrud es endlich geschafft hat – aber dann war sie tatsächlich tot und nichts änderte sich. Von wegen seinen Frieden finden. Sie hockte in meinem Zahn, und alles war, wie es immer gewesen war.
Ich würde gehen müssen. So weit fort, dass ich sie auf dem Weg verlor. Ich malte mir das, während ich zeichnete, so genau aus, dass es sich wie ein richtiger Plan anfühlte. Ich würde sehen, was keiner unsrer Gäste je gesehen hatte. Auch er nicht.
So wie er das schwarz-weiße Foto auf dem dünnen Buch gestreichelt hatte, als ich ihn fragte, ob er überall gewesen sei. Nein, nicht überall. Er fror nicht gern, und auf Schiffen wurde er sofort seekrank. Selbst auf diesen Ausflugsdampfern, die auf dem Rhein rumtuckerten. Dabei wars seine Idee gewesen. Ich hatte gelacht. Ich hatte mich angehört wie Gertrud. Aber ich konnte nicht anders, er sah wirklich grün aus.
Ich nicht. Ich hatte mich wie zu Haus gefühlt. Seebeine, hatte der alte Kapitän gesagt, weil ich mich nicht mal festhalten musste. Noch so was, von dem ich bis heute zehren kann. Gut, dass Ihre Frau Seebeine hat.
Er hatte nichts gesagt. Er war zu grün gewesen, um den Kapitän zu korrigieren.
Seebeine, davon zehr ich heut noch. Mit diesen Seebeinen würde ich auf ein Schiff gehen und ans Ende der Welt fahren. Das verlassenste Land betreten.
Mit jeder Insel, die ich zeichnete, wurde der Plan fantastischer und gleichzeitig ausgefeilter. So war das immer, wenn ich zeichnete. Das war wie diese Frühmorgensträume, die man absichtlich weiterträumen kann, wenn man die Augen nicht aufmacht.
Ich würde, irgendwie, das Schiff verlassen und an Land gehen. Wie ein alter Eskimo aufs Eis gehen. Mich im Schneegestöber auflösen, eingefroren für die Ewigkeit. Ein Rätsel für irgendeine zukünftige Expedition. Wenn sie mich fanden. Aber sie hatten ja Zeit. Bis die Polkappen schmelzen, sagte ich mir, während ich das Franz-Josef-Land zeichnete, bis die Polkappen schmelzen.
Draußen wurd es eindeutig Abend, während ich zeichnete. Als ich aufsah, konnte ich durch den Vorhang das Licht der Laterne sehen. Zeit, ins Bad zu gehen, aber ich wollte nicht aufhören mit meiner Kritzelei und meinem Geflüster, meinem albernen Traum vom Eis. Sah mich ja keiner.
Ich setzte weiter winzige Inseln auf das weiße Papier. Bis ich mit einem Mal mein Herz im Hals pochen fühlte. Mir war, als hätt ich was gehört. Nein, als hätt ich was überhört, das ich hätte hören sollen. Eine klappende Tür oder Schritte oder –
Gertrud?
Unter der Laterne war sie nicht. Sie hatte nicht mal über meine Polkappen gelacht.
Da wusste ich, dass was nicht stimmte.
In keinem Hotel ruft man gleich die Polizei. Blaulicht ist schlecht fürs Geschäft. Und bisher war ich mit allem, was da gekommen war, gut allein fertiggeworden, die Zigeuner, die Halbstarken, die einäugige Katze. Wahrscheinlich wars wieder ein Viech, sagte ich mir. Oder ein Kind. Ein großes Geräusch wars jedenfalls nicht gewesen.
Ich legte meine Zeichensachen beiseite und zog den Schlüsselbund unterm Kopfkissen hervor. Ich hatte schon oft überlegt, das Brotmesser mit aufs Zimmer zu nehmen. Es unter mein Kopfkissen zu legen, für genau solche Fälle. Könnte ja doch mal jemand schnell und leise genug sein und bis zu meinem Zimmer kommen, ohne dass ich es merkte. Aber alles, was ich nicht an seinen rechten Platz zurücklegte, vergaß ich zu schnell in diesen Tagen.
Ich schob meine Beine aus dem Bett. Mein rechter Fuß fiel wieder zu Boden, und es fühlte sich an, als seien alle Bänder, die ihn eben noch gehalten hatten, gerissen. Fast hätt ich geheult.
Ich war froh, dass ich Socken trug und nicht ansehen musste, was genau ihm passiert war. Ich stemmte mich hoch, humpelte aus dem Zimmer und kam mir unglaublich tapfer vor. Bis ich mich im Flurspiegel sah. Eine Abenteurerin in Nachthemd und Bettsocken, bleich wie ein Gespenst.
Ich ging zuerst runter in die Küche, um mir das Brotmesser zu holen.
Ich hatte sehr, sehr leise das Messer aus der Schublade genommen und wollte die Küche gerade wieder absperren, da hörte ich das Geräusch noch mal. Diesmal war ich aufmerksam: Es war ein kleines Piepsen, ein elektronisches Piepsen. Es kam aus dem Schankraum. Das war eins von Gertruds Gerätchen.
Unter der Laterne machte sie mir keine Angst, da kam sie ja kaum noch auf die Beine, aber wenn Gertrud jetzt hier drin wieder auftauchte – ich schaute zum Schankraum, und in meinen Ohren fing es leise an zu rauschen.
Die Tür stand auf.
Das war ich nicht. Das konnte ich nicht gewesen sein. Ich sperrte immer zu, alle Türen und ganz besonders diese. Ich hatte den Schankraum seit Ewigkeiten nicht betreten. Zu viele Fenster mit zu fadenscheinigen Vorhängen, durch die man von der Straße aus hineinschauen konnte. Zu viele Gedanken.
Durch den Türspalt kamen Kälte und ein alter Gestank. Ranziges Fett, abgestandener Rauch, Schnaps. Und Gertrud in ihren besten schlechten Tagen. Kein Wunder, dass ich nicht schlafen konnte. Wer wusste, wie lang die schon offen stand?
Ich packte das Messer fester und schlich über den Flur, griff die Klinke, schlug die Tür eilig zu und sperrte ab. Dreimal, krack, krack, krack. Ich sperre alle Türen immer dreimal ab. Zu jedem Krack kam aus dem Schankraum ein Piepsen, furchtbar laut. Und es piepste weiter, als die Tür zu war. So laut, dass man es auf der Straße hören musste.
Ich weiß nicht, wie lang ich vor der Tür stand und darauf wartete, dass es aufhörte. Meine Finger waren steif, als ich den Schlüssel doch wieder zurückdrehte. Ich konnte das nicht so piepsen lassen, das würde mir Gott weiß wen anlocken. Schlimmeres als Gertrud.
Es dauerte, bis ich den Lichtschalter fand. Er hing höher, als ich erwartet hatte. Was seltsam war. Normalerweise schrumpften die Räume, die ich lang nicht betrat.
Die Glühbirne flackerte knisternd und beleuchtete das Gerümpel, das sich vermehrt zu haben schien. Woher kamen all die kaputten Stühle, die eingeknickten Tische, deren Beine wie gebrochene Knochen aussahen. Dazwischen verstreut lag Gertruds gesammelter Schrott. Die früher glänzenden, schwarzen Gehäuse waren staubmatt, die silbernen Knöpfchen gerostet. Die meisten davon hat sie nie benutzt. Teurer Müll, aufgeschwatzt vom Elektro-Paul. Bevor ich erkennen konnte, welches Ding sich da angeschaltet hatte, ging mit einem platschenden Geräusch das Licht aus. Einen Moment lang wars so finster, wie ich es mir in meinen schlaflosen Nächten gewünscht hätte.
Die Glühbirne war durchgebrannt. Das passierte, wenn man sie so lang nicht anmachte. Ich erschrak trotzdem.
Dann sah ich ein blaues Flackern hinter dem Tresen. Wie von einem kleinen Fernseher. Gertrud war wieder da, platt gedrückt auf ihrem Matratzenlager, fischäugig eins ihrer Gerätchen beglotzend, ohne es zu verstehen.
Ihre Augen waren nicht mehr zugegangen, aber ich hatte ihr ein Geschirrtuch um den Kopf gebunden, damit ihr der Mund nicht so offen stand. Sie sah schon schlimm genug aus. Nachher ärgerte ich mich, so blöd gewesen zu sein. Der rotgesichtige Polizist hatte mich angestarrt, als hätt ich ihr ’nen Strick gedreht, und Gertruds offene Augen sahen auch ganz danach aus, so vorgequollen und erschrocken und vorwurfsvoll.
Aber das war nicht ich gewesen, die Gertrud da zuletzt so angeglotzt hatte, das war irgendein Gerätchen gewesen, das nicht angehen wollte. Jetzt wars an und piepste und leuchtete blau.
Gertrud?
Ich legte Messer und Schlüssel auf dem Tresen ab und bückte mich zu ihr.
Sie packte mein Handgelenk so fest, dass es wehtat. Ich versuchte mich loszumachen und aufzurichten, aber mit meinem Rücken ist das auch so schon nicht leicht, und Gertrud hatte Kraft. Erstaunlich viel Kraft. Sie zog so heftig an mir, dass sich in meinem Rücken was verschob, ich konnts hören, ein knöchernes Knirschen, und dann blieb mir die Luft weg.
Was mich da festhielt, kalt und fest wie eine Handschelle, war nicht Gertrud. Das waren schwarze Finger, das war deutlich zu sehen in dem bläulichen Dämmer. Das war die Negerin, von draußen.
Ich war beinah erleichtert. Die würde ich schon noch loswerden können, dieses halb verhungerte Gestrüpp.