Rudolf Altrichter

Spiegelungen

Traktat über die Liebe
oder die Metaphysik des Todes

ATHENA

Diskurs Philosophie

Band 15

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

E-Book-Ausgabe 2016

Copyright der Printausgabe © 2016 by ATHENA-Verlag,
Copyright der E-Book-Ausgabe © 2016 by ATHENA-Verlag,
Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen
www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Print) 978-3-89896-645-0
ISBN (ePUB) 978-3-89896-878-2

Für Elisabeth

Wissenschaft? Blödsinn! Ein Narr und ein Genie sind hier gleichermaßen hilflos. Wir möchten gar nicht den Kosmos erobern. Wir möchten die Grenzen der Erde bis an seine Grenzen erweitern. Was machen wir mit den Welten, wir brauchen keine andere Welt. Wir brauchen einen Spiegel. […] Der Mensch braucht einen anderen Menschen. (Aus: Andrej Tarkowskij, Solaris)

Der Spiegel des Lebens

Etwas im Spiegel zu betrachten, bedeutet, die Perspektive umzukehren. Der Spiegel reflektiert Licht oder absorbiert es. So ist das auch mit dem Sterben, das wie ein Spiegel ist für die Ausstrahlung des Lebens. Im Sterben zeigt es sich von der anderen Seite her. Was lange im Vordergrund stand, rückt dann in den Hintergrund. Dem Sterbenden gerät auf einmal in den Blick, was sich im Leben eher an den Rändern zeigt und als blinder Fleck fungiert: der Tod und das, was jenseits des Spiegels ist – die Nachtseite unserer Existenz. Dies setzt natürlich so etwas wie ein Leben oder ein Existieren voraus, und klar wird es auch nur, wenn es eine Ahnung der Kehrseite gibt: wir dazu bereit sind, die Pointe umzudrehen. [1]

Der Umstand, dass manche Menschen in Erwartung des eigenen Todes nicht in den Spiegel des Lebens blicken wollen, der das Sterben ist, mag damit zu tun haben, dass der natürliche Tod rar geworden ist. Es könnte auch sein, dass man zum Sterben noch nicht bereit ist, vielleicht ist man zu alt geworden dazu; man stirbt immer zu früh oder zu spät, soll Sartre gesagt haben. Die vergebliche oder zu späte Einsicht, dass alles im Leben seine Kehrseite hat, sogar das Leben selbst, mag mit ein Grund dafür sein, den Tod möglichst lange hinauszuschieben. Am besten scheint es daher, dereinst beim Sterben lieber nicht dabei zu sein, wie Woody Allen in »Manhattan« sagt. Das Sterben ist soweit nichts, was man sich ersehnen könnte. [2]

Nicht sterben zu wollen, solange man am Leben ist, erscheint natürlich, aber es könnte auch sein, dass wir nicht sterben können. Ich meine damit nicht den Umstand, dass wir das Sterben nicht mehr kennen und es deshalb verlernt haben (man stirbt bekanntlich nur einmal). Es könnte ja sein, dass wir vom Leben einfach nicht lassen können, weil wir dieses Leben ›über alles‹ lieben, oder uns Verpflichtungen auferlegt haben, die uns daran hindern, uns zu verabschieden (was normal ist). Ein etwas andrer Grund wäre, dass wir feststellen müssten, noch gar nicht richtig gelebt zu haben – wir am Ende gar nicht wüssten, wovon wir uns eigentlich verabschieden sollten, wenn wir dann endlich sterben. [3]

Es könnte also sein, dass unser Nicht-Sterben-Wollen in einer gewissen Lebensunfähigkeit oder Bewusstlosigkeit diesem Leben selbst gegenüber gründet. Dieser Verdacht muss nicht einmal damit zu tun haben, dass wir nicht zu leben wissen, uns Illusionen machen. Es könnte schon daher rühren, dass wir oft zerstreut sind und uns vieles nichts angeht. Die Moden, die das Leben formen, können sich dadurch stets wieder neu erfinden, dass sie uns vergessen machen, was eben erst in Mode war. Die Allgegenwart der unzähligen Eindrücke, die uns der mediale Fortschritt beschert, raubt uns nicht nur den Schlaf, mit dem der Tod im Märchen oft verglichen wird, sondern auch das Bewusstsein, wach zu sein. [4]

Aber das Leben ist kein Traum, denn dazu ist es zu anstrengend (jedenfalls für die meisten); und so sehnen wir uns danach, dass es ein Leben gibt, das uns widerfährt oder wir anderen antun: ein unmittelbares Leben, welches uns ganz ausfüllt und sich uns niemals entzieht. Die Schwierigkeit ist allerdings die, dass die Lebenszusammenhänge selten so ungezwungen sind wie ein Weinfest nach der Ernte, und dass folglich die Unmittelbarkeit, die wir anderen gegenüber an den Tag legen, oft bloß gespielt ist, während sie in den Momenten, wo sie es nicht ist und wir daher wirklich etwas erleben, sie als Erlebnis erinnert werden müsste, um erfahren zu werden (in ihrer Bedeutung nicht verkannt zu werden). [5]

Das Leben am Bildschirm zum Beispiel ist immer eines, das anderswo stattfindet, während wir gerade auf der Couch liegen; oder es ist eines, an dem wir nur teilhaben, weil diejenigen, die uns gezeigt werden, sich in einer anderen materiellen Situation befinden, die wir glücklicher- oder auch unglücklicherweise nicht wirklich teilen; oder es ist eines, das wir selbst erlebt haben und nochmal erleben möchten, indem wir es konsumieren oder zu dem Zweck einer virtuellen Teilhabe anderen anbieten. Die Erinnerungsarbeit wird hierbei ersetzt durch einen Automatismus der Vervielfältigung des zu Erinnernden, in der jede Unmittelbarkeit schlicht dadurch verschwindet, dass sie andernorts stattfindet. [6]

Auch die Empfindung der Unmittelbarkeit ist schwierig unter diesen Bedingungen, sofern von Erlebnissen überhaupt die Rede sein kann, und deshalb gesellen sich zum Konsum des Lebens gern auch die Drogen. Das Dumme ist bloß, dass die Drogen, die in uns auf eine chemische Weise Gefühle verursachen, die wir nicht haben, unsere Empfindsamkeit zerstören, und Drogen, die den Körper in einen willkürlichen Schlaf versetzen, dem sowohl der äußere Anlass, die bestimmte Zeit, als auch die innere Bereitschaft, die Müdigkeit, fehlt, das Erinnerungsvermögen beschädigen. Die Unempfindlichkeit (Apathie) sowie auch die Triebhaftigkeit bezeichnen dann keine philosophische Haltung oder schlichte Begleiterscheinung des Lebens mehr, sondern Handikaps mit Folgen. [7]

Trotz den unzählbaren Fotos, die es dokumentieren, müssen wir uns fragen, ob wir dieses Leben je erinnern werden. Vielleicht werden wir dereinst erkennen, dass wir ein Leben lang nichts anderes gewesen waren als Konsumenten von Gefühlen, die wir selbst niemals hatten und die wir deshalb auch nie haben werden, dass wir Statisten einer banalen, durch Sport, Spiel, Unterhaltung und körpererhaltenden Maßnahmen aller Art am Laufen gehaltenen ereignislosen Physik waren. Und vermutlich hatte ein Überschuss an Sinn dafür gesorgt, dass wir diesen Umstand schönreden und unseren im Grunde nicht vorhandenen eigentlichen Zustand ausblenden konnten. Das Nicht-Sterben-Wollen hätte so gesehen einen empirischen Grund. [8]

Unser Nicht-Sterben-Wollen könnte also durchaus ein Nicht-Sterben-Können sein, weil uns zum Sterben buchstäblich die innere ›Substanz‹ fehlt. Gibt es deshalb so viele ältere Menschen, die darüber klagen, dass sie durchaus sterben möchten, jedoch nicht sterben können, und, um diesem ihrem Wunsch zu entsprechen, den Suizid in Erwägung ziehen? Der Konjunktiv des Mögens scheint darauf zu verweisen, dass sich im Alter durchaus so etwas einstellen kann wie eine Liebe zum Tod, die nicht unbedingt im Gegensatz zur Weigerung des Sterbens stehen muss. Der Tod scheint mithin gar nicht so sehr das Problem zu sein. Meine Vermutung ist, dass Sterben als minderwertige Form von Leben interpretiert wird. [9]

Dieser Verdacht drängt sich auf, wenn man die Forderung nach einer »Kultur des Sterbens« ernst nimmt. Schon diese Formulierung zeigt, dass mit der vermeintlichen Aufwertung etwas nicht stimmt: Als ob nicht jeder für sich stirbt, sich das Sterben wiederholen ließe, das Drumherum – die sog. Kultur – uns darüber hinwegtrösten könnte, dass wir sterben müssen! Es ist schon klar, dass dieses Müssen der Skandal ist, den es zu vertuschen gilt, und so macht man aus dem Sterben eben ein Projekt. Früher durfte oder konnte man einfach sterben, heute muss man Sterben können, was in einer säkularen Kultur, die DEN nicht mehr kennt, der einen das Sterben lehren könnte, ziemlich schwierig ist. [10]

Doch was könnte dieses sein, jenes ›Können‹, was beinhaltet es? Bedeutet es, den Blick nach oben zu richten, sein Leben zu bekennen, sich zu bekehren? Weit gefehlt! Es ist, besteht aus einer Anleitung zum Leben unter schwierigen Bedingungen. Es soll nicht wahr sein, dass das Sterben uns lebensuntüchtig und lebensunfähig, dumm, taub und blind macht, ganz wie das Schicksal oder der Zufall dies will. Man mag auch nicht wahrhaben, dass sich alle angenehmeren Aspekte des Lebens durch das Sterben oft tragisch, manchmal komisch verkehren. Im Gegenteil: Man möchte auch aus dem Sterben noch eine Erfolgsgeschichte machen; wem die Voraussetzungen dazu fehlen, soll sich besser gleich umbringen. [11]

Es genügt also nicht, einfach zu sterben, wir sollen es auch noch praktizieren müssen, und damit das gelingt, muss man es ›richtig‹ machen – wie alles im Leben, worüber verfügt zu werden pflegt. Kein Gedanke, dass das Vermögen (Können) zu sterben, das genaue Gegenteil von all dem beinhalten dürfte, was wir besitzen und können. Dabei wäre es das, was das Sterben ausmachte – ihm seine Würde verleiht: die Freiheit, sich von den materiellen Gütern und dem ganzen »irdischen Plunder« (nach Joseph von Eichendorff) zu trennen. Das ›Vermögen‹ des Sterbenden ist es ja gerade, ganz und gar arm zu sein; deswegen ist es nach christlicher Auffassung unmöglich, reich in den Himmel zu kommen. [12]

Viele möchten daher, anstatt sterben zu müssen, lieber verschwinden – wozu gehört, dass man das Datum seines Ablebens vorverlegt. Denn für die Sterbehilfe, die jemand sich selbst antut, könnte es sonst allenfalls zu spät sein. Wichtig dabei: Die anderen sollen nicht gestört werden, das heißt, man geht, wie man ein Fest verlässt und sich ›verabschiedet‹, ohne dessen Gang zu stören. Vor allem aber möchte man keine Schwäche zeigen – als wäre es ein Luxus, Schmerzen zu zeigen und wären die Empfindungen nicht der Teil unseres Lebens, den wir mit anderen teilen, um es zu ertragen. Vielleicht haben wir verlernt zu sterben, vielleicht sind wir dem Tod nicht gewachsen, auch weil der Körper sich gegen das Sterben wehrt (es gibt keinen sanften Tod). [13]

Man vergisst gelegentlich, dass der Suizid, weil er ein Außerkraft-Setzen aller Regeln, des Lebens in seinen Verbindlichkeiten enthält, ein jugendliches Phantasma, eine kindliche Allmachtphantasie darstellt, wobei der paradoxe Wunsch der Selbstbestimmung, mit dem der Selbstmord rechtfertigt wird, auch durch ein Am-Leben-Bleiben verursacht sein kann. Im sog. Alterssuizid wird die ganze Paradoxie dieser Handlung erkennbar, da in jenem Fall ein realer oder gefühlter Zustand der Hilflosigkeit in einen selbstbestimmten Akt umfunktioniert werden soll, die dem Alter gar nicht entspricht, indes die altersbedingte Zurücknahme der Lebenstätigkeit, die das Sterben abschließt, gerade übersprungen wird. [14]

Ich will das hier in aller Deutlichkeit noch einmal wiederholen: Der Suizid ist nicht Sterben, sondern ein Versuch, das Sterben durch eine Handlung zu ersetzen. Das Hand-an-sich-Legen ist ein Sterbeersatz. Daher, aus diesem Handlungscharakter, rührt die Illusion der Selbstbestimmung, die die Verteidiger des Selbstmords zur Begründung anführen – und als solche einseitig rational ist – und von außen ans Leben herangetragen. Dieser substituiert das Sterben besonders dann, wenn man gestorben wird – andere die Handlung für uns übernehmen. Der Wunsch vieler Menschen, sich zu verabschieden durch einen Akt, der die Illusion verwirklicht, nicht sterben zu müssen, offenbart so den eigentlichen Grund und Widersinn des Suizids. [15]

Der Umstand, dass der Suizid absurd ist, macht ihn noch nicht verwerflich, wie überhaupt die absichtliche Selbsttötung – wir sprechen deswegen von Selbstmord – eine zutiefst menschliche Handlung darstellt, sei es, dass es sich bei ihr um ein Produkt der Verzweiflung handelt, sei es, dass derjenige, der sie begeht, nicht bei Sinnen ist. Sie ließe sich sogar moralisch rechtfertigen, wäre es nicht eine absolute Handlung, die alle Handlungen außer Kraft setzt und sich durch keine fremde Instanz relativieren lässt. Doch in dieser Absolutheit und scheinbaren Notwendigkeit liegt auch ein Problem, da sie einen Lebenszweck setzt, der – immanent belanglos – als ein Zustand jenseits des Sterbens definiert ist. [16]

Wer sich aus Liebe umbringt, stellt sich selbst als Opfer dar. Selbstmord fügt auf diese Art dem Sterben etwas hinzu, was man mit Jean Baudrillard sein Double nennen könnte – die Utopie eines Seins, oder besser Nichtseins, welches sich als Vorbild der Auslöschung eines nicht geliebten Lebens versteht. Indem so der Selbstmörder sich sein ›Sein‹ verwirklichen sieht, das als solches im Leben keinen Grund gefunden hat, bzw. im Grunde ein Nichts ist, schafft er sich (s)einen tödlichen Begründungszusammenhang. Diese Begründung des Todes macht aus seinem Akt des Selbstmords nicht bloß eine Darstellung, die den Anschein der Souveränität von Leben vermittelt. Sie propagiert auch etwas, und zwar das Tot-Sein. [17]

Der darstellende Charakter des Suizides dürfte übrigens ein Grund dafür sein, weswegen so viele Selbstmorde misslingen. Anders ist das bei dem Attentäter, für den der Selbstmord ein Vorwand ist, um Fremde mit dem eigenen Tot-Sein zu konfrontieren (das er vorwegnimmt durch Empfindungen der eigenen Inexistenz), indem er andere diesen Zustand darstellen lässt. Auf diese Weise ›realisiert‹ der Selbstmörder einerseits quasi seine eigene Rechtfertigung des Selbstmords und stellt er das Tot-Sein andererseits als Hypostase des Lebens für ihn selbst und für die anderen (das ist sein Opfer) her – dies im Rahmen der Umsetzung der Regeln einer Religion, welche verspricht, dass Gott ihn, soweit er sich ihm ganz unterwirft, ganz neu machen wird. [18]

Manchen Menschen erscheint der Tod so gegenwärtig, dass alles Leben darin verschwindet, wie ein kleiner Punkt im Ozean. Hierzulande entsteht dagegen oft der Eindruck, die Insel des Lebens sei so groß, dass der Tod nicht einmal am Horizont sichtbar wird. In der Erscheinungswelt der anderen sterben die Menschen wie die Fliegen und stapeln sich die Toten, während man hierzulande am Diesseits hängt, als gäbe es die Toten nicht oder hätte es sie nie gegeben – und tatsächlich sind sie hier ja auch unsichtbar, das fängt schon bei den Sterbenden an. Es ist, als würden wir die Insel der Wahrheit, die vom weiten und stürmischen Ozean der Metaphysik umschlossen wird in der »Kritik der reinen Vernunft« bei Kant, durchmessen können, ohne den Horizont wahrnehmen zu müssen, innerhalb dessen unser Verstand operiert. [19]

Es könnte sein, dass einige von denen, die gestorben sind, nicht nur vom Tod geholt wurden, sondern für immer zur Hölle fahren und tot bleiben werden, und vielleicht bedürfen wir der Ironie, um begreifen zu können, was es heißt, zur Hölle zu fahren. Die Ironie und der Tod sind sogar gleichursprünglich, sie relativieren beide den Sinn auf ein Sein hin, welches die physische Inversion des Todes genauso wenig auszeichnet wie die rhetorische der Ironie. Kinder begreifen die Ironie, die sie mimetisch betreiben, lange bevor sie sie zu deuten wissen, sobald sie den Tod begreifen – als Wegbleiben einer Sache. Die Ironie dient also dem Wegdenken, und sie ist substanzlos wie der Tod. [20]

Wie der Blick auf die berühmte Apologie des Sokrates zeigt, der an der Schwelle zum Tod die Ironie praktiziert, lernen wir von der Ironie, was wir über den Tod wissen können. Der Tod birgt in sich die Möglichkeit, das Bild, welches sich die anderen von uns machen, zu korrigieren – und so wie die Ironie für eine Fähigkeit steht, etwas weg zu denken, vernichtet der Tod unsere körperliche Existenz. Dabei ist der Tod zuallererst einmal wie die Ironie eine Unterbrechung des Diskurses – ein plötzlicher Einschnitt, der unser Leben auf die Ebene einer Nachbearbeitung überführt, in der unser Wesen sich definiert. Aristoteles umschreibt den sokratischen Begriff des Wesens als ein »was war-Sein« (ti ên einai). [21]