Inhalt
[Cover]
Titel
Mazies Tagebuch, 9. März 1939
Erster Teil: Grand Street
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Zweiter Teil: Surf Avenue
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Dritter Teil: Knickerbocker Village
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Danksagung
Autorenporträt
Übersetzerporträt
Über das Buch
Impressum
[Leseprobe – Die Middlesteins]
[Leseprobe – Der amerikanische Architekt]
Saint Mazie
Mazies Tagebuch, 9. März 1939
Fannie hat gestern Abend einen von ihren noblen Freunden mit zum Kino gebracht. Zuerst gab sie mir ein Bier, dann musste ich ihm die Hand schütteln. Bestechung. Er schenkte mir eine Zigarette, meine erste seit Wochen. Sie schmeckte so gut wie in meiner Erinnerung. Lauter Sachen, die ich eigentlich nicht haben soll, und siehe da, hab ich sie doch. Rosie würde mich umbringen. Wir rauchten ein Weilchen und redeten so daher. Dann sagte der Bursche zu mir, er hätte einen Anschlag auf mich vor und ein Nein käme gar nicht infrage. Ich sollte ein Buch über mein Leben schreiben.
Ich sagte: Wen interessiert schon mein Leben? Den ganzen Tag sitze ich bloß hier an der Kinokasse.
Da sagte er: Das interessiert viele, denn was wären diese Straßen ohne Sie?
Fannie hielt sich zurück und schwieg, anders als sonst. Sie beobachtete uns zwei, vielleicht auch nur ihn. Sie hat gern so junge Kerle um sich, und ich glaube, das kann ich ihr nicht mal verdenken. Der hier kriegt Punkte für sein Aussehen. So richtig geschniegelt, braungebrannt, der mediterrane Typ mit Maßanzug. Er ist gerade mal fünfundzwanzig, aber das war egal, der Haltung nach wusste er nämlich von Geburt an über das Leben Bescheid. Wie einfach das sein muss, wenn man auf alles eine Antwort hat. Wie einfach das sein muss, wenn man glaubt, man kennt die Wahrheit.
Ich sagte: So interessant bin ich nicht. Die Stadtstreicher, die haben was zu erzählen.
Da sagte er: Nein, die Stadtstreicher sind Ihretwegen interessant.
Wenn er nicht versteht, warum es sich lohnt, von denen zu reden, was soll ich dann sonst erzählen, seiner Meinung nach? Zehn Jahre meines Lebens helfe ich schon den Stadtstreichern, da kann ich sie doch nicht auslassen. Und der Kerl da, mit diesem Anzug und diesen Haaren und diesen Augen, der will, dass ich vergesse, wie sie heißen.
Ich fing an zuzumachen. Zählte das Geld, das ich schon gezählt hatte, damit er’s kapiert.
Fannie sagte: Tut mir leid, dass ich ihn mitgebracht habe.
Ich sagte: Im Venice Theater ist jeder willkommen, sogar ein Snob.
Er sagte: Sie haben etwas zu erzählen. In dieser Hinsicht irre ich mich nie. Sie sind die Königin, erzählen Sie also von Ihrem Reich.
Diese Zigarette saß auf seinen Lippen wie angewachsen. Ich hätte am liebsten noch hundert davon gehabt, aber das will der Doktor nicht. Er schob die Hand durch den Schlitz in die Zelle, bevor er ging. Ich schüttelte sie, aber dann ließen wir beide nicht los, und da fühlte ich mich wieder jung unter der Haut, als wäre ich ein Brocken Eis, der in der Sonne schmilzt. Bis nur eine Pfütze bleibt. So standen wir also da. Er hielt meine Hand, ich hielt seine.
Ich bin ein Rindvieh. Eine alte Frau. Töricht.
Er sagte: Denken Sie drüber nach.
Heute Morgen habe ich Dich dann aus dem Schrank gekramt und abgestaubt. Also gut, ich denke drüber nach.
Erster Teil
Grand Street
1
Auszug aus der unveröffentlichten Autobiografie von Mazie Phillips-Gordon
Man fragt mich, warum ich so viel auf der Straße bin. Ich sage, da bin ich aufgewachsen. Die Straßen hier sind schmutzig, aber sie sind ein Zuhause, und für mich sind sie schön. Stadtstreicher wissen von dieser Schönheit. Stadtstreicher lieben sie wie ihre eigene Haut. Der rötliche Staub der Straße, der Matsch in den Parks, wo sie schlafen, tief in ihre Stirnfalten gegraben, unter den Fingernägeln festgesetzt. Die Sonne und der Dreck, vermischt mit ihrem Schweiß und dem Schnaps. Der ganze Dreck. So ist die Erde. Wenn ihr die Schönheit im Dreck nicht sehen könnt, dann tut ihr mir leid. Und wenn ihr nicht sehen könnt, warum die Straßen hier was Besonderes sind, dann geht doch nach Hause.
George Flicker, Mazies Nachbar, Grand Street Nr. 285
Bevor sie als Königin der Bowery in diesen knallbunten Kleidern herumlief, mit ihrem Schlapphut aus Filz, klimpernden Armbändern und Spazierstock, und jahrelang den vielen wohnungslosen Männern half, und bevor man in Zeitungen und Zeitschriften über sie zu schreiben begann und sie eine bedeutende New Yorkerin nannte, eine Heldin hieß es sogar, vor alldem war sie einfach nur Mazie Phillips, das Mädchen, das in der Etage über mir wohnte, in das ich vielleicht ein bisschen verknallt war, ohne dass es mich eines Blickes gewürdigt hätte.
Mazies Tagebuch, 1. November 1907
Heute habe ich Geburtstag. Ich werde zehn. Dich habe ich geschenkt bekommen.
Ich bin die Tochter von Ada und Horvath Phillips. Aber die wohnen in Boston, weit weg. Ich sehe sie überhaupt nicht mehr. Sind sie dann noch meine Eltern? Mir doch egal. Mein Vater ist fies und meine Mutter einfältig.
Ich wohne jetzt in New York. Rosie sagt, ich bin New Yorkerin. Du bist mein New-York-Tagebuch.
George Flicker
Zuerst war nur Louis Gordon in der einen großen Wohnung in der zweiten Etage, er lebte ziemlich lange allein, das weiß ich noch. Ein riesiger Mann, rotes Fleisch satt. Das konnte man auf dem Korridor riechen. Wie er es kochte, meine ich. Und er war einer, der viel schwitzte. Mitten im Winter, da hatte er schon vormittags Schweißflecken. Er trug immer so einen braunen Filzhut mit blauer Feder dran – das war das Auffälligste an ihm, diese Feder. Er war kein Mann, der gern Aufmerksamkeit erregte, aber diese Feder besagte, dass es da doch irgendwas gab. Da wohnte also Louis, der große Mann, ganz allein, gleich über uns.
Wir hingegen waren zu fünft in unserer Familie, meine Mutter, mein Vater, meine Tante, mein Onkel, alle in ein kleines Zimmer gepfercht. Und noch ein Onkel, Al, der Bruder meiner Mutter, der wohnte unter der Treppe und war ständig oben bei uns in der Wohnung, wo er noch mehr von dem bisschen Platz einnahm. Ich sehe Ihr Gesicht, aber damals hat man sich wirklich da reingezwängt. Und Mazie hat sich später noch sehr verdient gemacht um meinen Onkel Al, deswegen ist er wichtig für diese Geschichte. Er ist nicht bloß mein verrückter Onkel Al, der unter der Treppe wohnte.
Okay, wir waren also manchmal zu sechst in dem einen Zimmer, aber Louis, der hatte zwei Zimmer für sich allein. Es ist beklemmend, auf so engem Raum zu wohnen. Einerseits waren wir’s gewohnt. Ich kannte gar nichts anderes als dieses Zimmer; ich wurde da reingeboren. Und wir hatten unsere kleinen Freuden. Wir hatten alle zu essen. Niemand wurde krank, niemand starb. Die Mietskasernen in der Umgebung waren verdreckt und stanken. Aber wir hatten Glück, mit diesem einen Gebäude. Wir waren zwar zusammengepfercht, hatten es aber sicher und sauber. Die Familie blieb heil. Doch wir beneideten die mit mehr Platz.
Ein bisschen Missgunst gab es also, aber trotzdem, er war unser Nachbar. Seid nett zu den Nachbarn, das hat man uns beigebracht. Meine Mutter nannte ihn immer den »stillen Riesen«, weil er so groß war, aber nie ein Geräusch machte. Man hörte kein einziges Mal den Fußboden knarren, und wir reden hier von einem Haus, wo ständig irgendwas knarrte. Jeden Muckser konnte man hören. Manchmal ging sie rauf und klopfte bei ihm, nur um sicherzugehen, dass er noch lebte. Sie machte sich Sorgen, weil er alleinstehend war; darum machte sie sich unentwegt Sorgen.
Und dann heiratet er Rosie. Man erzählt sich, dass er sie auf der Rennbahn kennengelernt hat, nicht hier in der Stadt, in Boston. Ah, ich muss überlegen … die Rennbahn hieß Readville, war damals eine große Sache, aber jetzt gibt es sie schon viele Jahre nicht mehr. Was man sich so alles erzählt, hm? (Lacht.) Er heiratet sie also und bringt sie mit nach New York. Und Rosie ist wirklich umwerfend, als sie da auftaucht, dieses schöne, dunkle, aufgesteckte Haar, die Augen mit Kajal umrandet, die Lippen dunkelrot. Sie sieht exotisch aus, wie eine Zigeunerin, ist aber Jüdin, natürlich. Und sie lächelt allen zu, weil alle ihr zulächeln. Das Mädchen sieht einfach gut aus.
Und nun sind es also zwei Leute in zwei Zimmern, und jetzt knarrt auch der Boden. Jede Nacht! Jetzt ist er nicht unbedingt still, und meine Mutter klopft gar nicht mehr bei ihm an. So geht das, ich weiß nicht, ein Jahr? Aber das Knarren, das hören wir inzwischen nicht mehr so oft, und Rosie, die so glücklich gewesen ist, wenn wir die jetzt in der Nachbarschaft sehen, lächelt sie nie. Geht sie einkaufen, ist sie traurig. Geht sie mit Louis spazieren, ist sie traurig. Sagt man ihr Hallo auf dem Korridor, grüßt sie griesgrämig zurück. Ich erinnere mich, wie meine Mutter sagte: »Der stille Riese und die Prinzessin Sauertopf.«
Einmal war ich bei ihnen in der Wohnung. Aber nur einmal. Ich rannte in unserem Mietshaus die Treppe runter, und da stolperte ich und stürzte und schlug mir das ganze Knie auf. Kinder machen so was ständig. Tja, Rosie kam gerade mit ihren Lebensmitteln die Treppe hoch und sah meinen Sturz. Also schleppte sie mich in ihre Wohnung, um mich zu versorgen. Vor allem erinnere ich mich an so einen riesigen Holztisch mit lauter Stühlen drum herum, so schönes, glänzendes Holz. Als Rosie im Bad war und einen Verband für mein Knie suchte, lief ich um den Tisch herum, zählte dabei die Schritte und strich mit der Hand darüber. Wozu brauchten die einen dermaßen großen Tisch?
Jedenfalls kümmerte sich Rosie sehr gut um mich. Sie gurrte mich an, nahm mich in die Arme, drückte mich an ihre Brust. Sie hielt mich ganz fest, und dann ließ sie mich urplötzlich los und schickte mich nach unten zu meiner Mutter. Ich erinnere mich sehr deutlich daran. Sie sagte: »Du gehörst zu deiner Mutter.«
Danach, ich weiß nicht, ein, zwei Monate später vielleicht, fahren Louis und Rosie für eine Woche weg. Sie bitten meine Mutter, ein Auge auf die Wohnung zu haben. Sie sagen, sie machen die Hochzeitsreise, die sie nie hatten. Meine Mutter glaubte, dass er Geld unter den Dielenbrettern versteckte. »Unrecht Gut gedeiht nicht.« Sie sprach im Scherz davon, die Böden mal anzuheben, während er weg war, aber das war kein Witz. Sie dachte, dass er vorgab, zu sein, was er nicht war, damit ihn niemand verdächtigte. Dass es unrecht Gut war, dachte sie erst, als Rosie auf den Plan trat. Ich mochte Louis ja. Er machte auch legale Geschäfte. Er besaß das Filmtheater, er besaß den Bonbonladen. Er investierte in die Gemeinschaft. Und jeder bekam jederzeit einen Nickel von ihm. Unrecht Gut – wem steht es zu, das zu sagen?
Als Louis und Rosie dann zurückkommen in die Stadt, haben sie zwei Mädchen dabei, Rosies kleine Schwestern. So lerne ich Mazie und Jeanie kennen, die Phillips-Mädchen. Ungefähr ein halbes Jahr nach der Ankunft der Mädchen zog die ganze Familie, Louis und Rosie und Mazie und Jeanie, auf die andere Straßenseite in eine größere Wohnung, eine ganze Etage, wie ich gehört habe, aber nie gesehen. Da hätten Sie mal meine Mutter hören sollen.
Mazies Tagebuch, 3. Dezember 1907
Ich hab Dich verloren! Und jetzt hab ich Dich wiedergefunden. Aber ich hab nichts zu sagen.
Mazies Tagebuch, 13. März 1908
Ich kann das nicht gut. Daran denken, in Dich reinzuschreiben.
Mazies Tagebuch, 3. Juni 1908
Ich bin keine Lügnerin, ganz egal, was irgendwer sagt.
George Flicker
Als sie in die Stadt kamen, war Mazie wahrscheinlich zehn Jahre alt, Jeanie ist vier oder fünf. Ich muss damals knapp sieben gewesen sein. Die beiden waren immer sehr nett anzuschauen, obwohl sie nicht unbedingt hübscher waren als sonst irgendwer. Sie sahen nicht viel anders aus als die übrigen gelockten, dunkeläugigen Jüdinnen von der Lower East Side.
Aber Rosie kaufte ihnen schöne Kleider und Schleifen für die Haare, und sie waren wohlgenährt. Sie waren also nicht krank oder so fahl wie andere, die nicht genug zu essen bekamen, was man damals auf der Straße gar nicht so selten sah. Und Jeanie nahm schon Ballettstunden, da war sie noch ganz klein, was meine ganze Familie verrückt fand, wo es doch für die Flickers keine Sonderwünsche gab und Onkel Al unter der Treppe wohnte. Aber sie lief gekleidet wie eine winzige Ballerina herum, was zugegebenermaßen ein netter Anblick für uns alle war, ein kleines Mädchen, das hübsch aussah.
Mazie hatte keine Verwendung für mich. Ich langweilte sie. Sie suchte immer die Aufregung, sah drei Meter durch einen hindurch, als gäbe es weiter hinten was Besseres. Und sie wirkte viel älter als ich. Ich nehme mal an, sieben und zehn ist ein großer Unterschied, aber inzwischen denke ich, es lag einfach daran, dass sie mehr durchgemacht hatte als wir alle. Mazie war sehr klug. Natürlich hatte sie das nicht aus Büchern, so war das bei keinem von uns. Sie hatte das von der Straße, aber das war bei uns allen so, uns Stadtkindern. Nur dass sie eben den Eindruck erweckte, als wüsste sie mehr über die Welt, schon immer. Sie lieferte sich Rennen mit den älteren Kindern auf den Dächern der Mietskasernen. Ein wilder Haufen. Meine Mutter hielt mich da natürlich fern.
Also, nein, ich spielte nicht mit den Phillips-Mädchen. Ich bewunderte sie nur aus der Ferne. Beziehungsweise von der anderen Straßenseite aus.
Mazies Tagebuch, 8. Juli 1909
Ich kann schneller rennen als sämtliche Jungen aus dem Block. Denen habe ich gesagt, ich würde es beweisen, und das habe ich getan. Heute Abend habe ich auf dem Dach ein Wettrennen mit ihnen gemacht und gewonnen. Ich habe Abe und Gussy und Jacob und Hyman geschlagen, und zwar um Längen, alle Mann. Staub haben die geschluckt. Sogar im Kleid schlage ich die Jungen. Gussy sagte, ich hätte gemogelt, aber wie soll ich da mogeln? Er ist der Mogler, wenn er das bloß sagt. Das miese, verlogene Aas. Hinterher hat Rosie mich angeschrien, weil ich mich dreckig gemacht habe, aber ich hab gesagt, das wäre mir egal. War doch nur ein Kleid.
Louis sagte zu ihr, dass sie mich in Ruhe lassen sollte, das machen Kinder nun mal, die machen sich dreckig. Rosie sagte zu ihm, dass er kein Wort mehr über Kinder sagen sollte, kein einziges Wort mehr. Da war er still. Dann fing sie an zu heulen. Jeanie umarmte sie, bat sie, nicht zu heulen. Ich brüllte los, das wäre doch bloß ein Scheißkleid. Ich rannte hinaus, sie konnten mich nicht fangen. Ich rannte einen Block weit, dann noch einen. Ich rannte, so schnell ich konnte. Es war bloß ein Kleid. Was gab es da zu heulen?
Mazies Tagebuch, 8. August 1909
Gussy hat heute meine Faust zu spüren gekriegt. Nenn mich noch ein Mal Moglerin, habe ich zu ihm gesagt. Noch ein Mal. Tja, das hat er gemacht, und jetzt bereut er es.
George Flicker
Bei ihr floss öfter mal Blut. Das hat uns Angst gemacht, und es hat uns beeindruckt. Mädchen oder Junge, ihr war das einerlei.
Mazies Tagebuch, 4. Januar 1911
Du bist der Platz für Geheimnisse. Ich will die ganze Zeit in Dich reinschreiben. Ich will Dir alles erzählen. Ich will jemand alles über mein Leben erzählen, aber bis jetzt hab ich es vergessen. Ich hab so viele Geheimnisse in mir. Nur dass ich einfach vergesse, sie rauszulassen.
Mazies Tagebuch, 3. Februar 1913
Ich würde nicht zulassen, dass Rosie Dich wegwirft. Sie hat nichts Besseres zu tun, als den ganzen Tag in meinen persönlichen Privatsachen zu wühlen. Aber Du gehörst mir.
Mazies Tagebuch, 1. November 1913
Ich bin heute sechzehn geworden, und ich habe schon zweimal mit Rosie gestritten. Ich kann ihr keine Minute mehr zuhören. Immer brüllt sie und schreit, wenn ich spät nach Hause komme. Behandelt mich wie ein kleines Balg. Ich bin kein kleines Balg! Die alte Kuh. Dabei war ich wochenlang brav. Tagelang und wochenlang und jahrelang mache ich alles, was sie will. Dann gehe ich einen Abend aus, und zwar an meinem Geburtstag. Da komme ich einen Abend spät nach Hause. Einen Abend!
George Flicker
Dann bekam sie natürlich diesen Busen, und alles wurde anders.
Mazies Tagebuch, 12. Mai 1916
Ich habe Dich aus meinem Schrank gekramt, damit ich aus Leibeskräften schreien kann, ohne dass jemand es hört.
Rosie versteht nicht, wie es ist, wenn man einfach gern auf der Straße ist. Sie sieht nicht das schimmernde Kopfsteinpflaster im Mondlicht, sie fragt sich nur, warum die Stadt nicht längst noch eine Laterne aufgestellt hat. Sie sieht nicht, wie die Flittchen bei ihren Kunden Süßholz raspeln, sich jeden Nickel sauer verdienen und so hart arbeiten wie alle anderen auch. Sie sieht nur das Verbrechen. Sie sieht keine Nonnen und Chinesen und Matrosen und Kneipenwirte – diese ganze Welt voller verschiedener Menschen. Für sie sind das bloß Scharen, die ihr im Weg stehen. Sie sieht ein Taxi vorbeistieben und denkt: Wozu die Eile? Und ich denke: Wo wird gefeiert?
Das ist es, was ich ihr sagen will! Es wird gefeiert.
Mazies Tagebuch, 1. Juni 1916
Alle Mädchen, die ich kenne, haben einen Burschen, außer mir. Aber wieso sollte ich einen wollen, der mich liebt, wenn ich auch drei haben kann?
George Flicker
Ob sie wilder war als wir anderen? Sie war wilder als ich, so viel kann ich Ihnen sagen. Das war aber auch keine Kunst. Ich war ein braver Junge, und sie war ein lebenslustiges Mädchen. Ein ganz schöner Unterschied. Sie … kam einem gern ziemlich nahe. Was das heißen soll? Sie sind doch augenscheinlich klug. Sie wissen, was das heißen soll.
Damals war sie noch brünett und trug das Haar wellig. Manchmal steckte sie es auch auf, aber meist war es offen, gepflegt allerdings. Die Augenbrauen waren dünn gezupft, und sie puderte ihre Wangen weiß. Sie trug Kleider in Knallrosa oder Rot, je knalliger, desto besser – ich glaube, es hätte ihr gefallen, wenn einem bei ihrem Anblick die Augen brannten. Ständig neue Kleider. Sie ließ sich immerzu davon umspielen, flirtete mit ihrem Körper. Ob tagsüber oder nachts, sie war nicht zu übersehen. Dafür sorgte sie schon.
Sie tat mal dies, mal das. Ab und zu arbeitete sie tagsüber in so einem Bonbonladen, der Louis gehörte, aber darauf konnte man auch nicht zählen, wenn man sie suchte.
Meistens jedoch sah man sie auf der Straße, da suchte sie das Vergnügen. Sie frequentierte sämtliche Bars auf der Bowery, auch die, wo Mädchen keinen Zutritt hatten. Meine Mutter sagte oft, sie hätte keinen Sinn für Anstand, aber ich fand immer, Anstand ist was für Leute, die Regeln brauchen. Und Mazie machte sich ihre Regeln schon zu lange selbst.
Ziemlich oft kam sie gerade erst nach Hause, wenn mein Vater morgens zur Arbeit ging. Ich muss wohl erklären, dass mein anderer Onkel, mein Onkel Barney, einen schlimmen Rücken hatte und ab und zu auf der Nase lag, sodass mein Vater schließlich eine zweite Stelle annehmen musste, und zwar in einer Konservenfabrik. Weil ich ihn anschließend so selten zu Gesicht bekam, fing ich an, aus dem Fenster zu schauen, wenn er ging. Ich wollte ihn bis zur letzten Sekunde sehen. Ist das nicht verrückt? Wir waren alle in diese Wohnung gepfercht, ein Bett neben dem anderen, keine Privatsphäre, keine Ruhe. Meistens wachte man morgens unter der Decke von jemand anderem auf. Und doch vermisste ich ihn, sobald er ging. Aber er war ein guter Mann, klar vermisste ich ihn. Er rauchte gern Pfeife, er hatte ein ganzes Sortiment, und ich sah zu, wie er sie mit Tabak stopfte. Ich durfte sie auch stopfen, und dann rochen meine Finger nach Tabak. Ich liebte diesen Geruch. Ich habe Pfeife geraucht bis weit über achtzig. Ich dachte jedes Mal beim Rauchen an ihn. Er war Arbeiter – das Leben bestand für ihn aus Arbeit –, aber er hatte seine kleinen Freuden.
Jedenfalls, er ging oft die Treppe runter, wenn Mazie ihre gerade raufging. Sie winkte, er nickte. Sie war inzwischen kein Kind mehr, also hatten alle erwachsenen Männer auch Angst vor ihr. Kein Mann in der Nachbarschaft hätte sich ums Verrecken dabei erwischen lassen, mit ihr zu reden, wenn sie so auf der Straße herumstreunte. Die Mütter mochten sie nicht, die Väter wollten nicht mit ihr reden. Doch ab und zu war sie auch das kleine Mädchen, das alle lieb hatten. Das war nicht geheuchelt, kam einem aber irgendwie so vor.
Mazies Tagebuch, 14. Juni 1916
Ich habe mich auf die Vordertreppe gesetzt, bevor ich nach Hause ging. Ich wusste, was kam. Und wie ich das wusste. Ich kann auf der anderen Seite des East River stehen und kriege es trotzdem mit, wenn diese Frau den Mund aufmacht. Also wartete ich ein bisschen ab. Ich wollte sehen, wie das Tageslicht auf die Stufen fiel. Ich sehe gern zu, wie es sich über die Straße und dann auf dem Gehweg ausbreitet. Ich rauchte. Ich schloss die Augen. Ich ließ mich von der Sonne bescheinen. Die Sonne ist ein echtes Geschenk. Noch ein Tag, an dem wir alle leben. Wenn sie das nur verstehen könnte. Ich bin einfach froh, dass ich lebe.
Sie schlief auf der Couch, als ich hereinkam, in eine Quiltdecke gepackt. Wenn sie ruhig ist, sieht sie wieder aus wie ein Mädchen, mit diesem Speckpölsterchen ums Kinn. Louis war wie immer in der Küche. Er saß vor einem Teller mit Rührei und übriggebliebenem Steak. Er pfefferte gerade das Steak und nickte mir einfach nur zu. Er will mit der Streiterei nichts zu tun haben. Armer Louis. Er gibt uns jeden Cent, den er hat, nur um des lieben Friedens willen.
Ich stolperte in mein Zimmer. Da knallte ich gegen die Wand. Na gut, wahrscheinlich war ich betrunken. Also war es meine Schuld, dass ich sie weckte. Meine Schuld, meine Schuld. Alles ist meine Schuld. Gleich darauf steht Rosie in meinem Zimmer. Ohne anzuklopfen! Kam einfach herein. Fing an zu reden, dass die Nachbarn zu viel wüssten, dass sie sich Sorgen machte, sie würden sich mit Louis’ Geschäft befassen. Dass niemand die Nasen anderer Leute irgendwo haben wollte. Ich konnte nichts dagegen sagen, also ließ ich es. Jeanie zuliebe beschwichtigte ich sie nur.
Jeanie war aber schon wach. Sie hatte wieder in einem von ihren Ballerinakostümen geschlafen. Jetzt konnte niemand mehr schlafen, also ab in die Küche mit uns allen. Rosie legte sich wieder auf die Couch und wickelte sich in ihren Quilt. Ich flocht Jeanie das Haar, während Louis uns Rührei machte. Jeanie erzählte Witze und brachte uns zum Lachen. Louis ging zur Arbeit und ich machte den Abwasch, während Rosie mich von der Couch aus anstarrte. Sie machte ein böses Gesicht.
Rosie sagte: Eines Tages wird diese Tür geschlossen sein.
Ich sagte zu ihr, dann würde ich durchs Fenster kriechen. Ich sagte, sie würde mich niemals loswerden.
Jeanie tanzte durchs ganze Zimmer, im Kreis herum. Schnell, im Wirbel. Jeanies Zöpfe gingen auf. Rosie verwünschte mich. Ich konnte es einfach nicht ändern.
Rosie sagte: Es reicht, Jeanie.
Dieses Mädchen kann man aber nicht am Tanzen hindern.
Lydia Wallach, Urenkelin von Rudy Wallach, Direktor des Venice Theater (1916–1938)
Zunächst sind das selbstverständlich alles Informationen aus zweiter Hand. Natürlich will ich mich gern verbindlich äußern, aber das meiste habe ich von meiner Mutter und meiner Großmutter erfahren, und viele der Informationen stammen, glaube ich, von meiner Urgroßmutter, die ich allerdings nicht mehr gekannt habe, und wenn doch, dann weiß ich es nicht mehr. Es könnte sein, dass sie mich gehalten hat, als ich noch ein Baby war. Ich erinnere mich dunkel, von meiner Mutter gehört zu haben, dass das einmal vorgekommen ist.
Wie auch immer, im Wesentlichen handelt es sich bei all dem um Gerüchte und Klatsch, Familienüberlieferung, könnte man wohl sagen, und ich weiß gar nicht, ob etwas davon interessant ist. Vermutlich nehmen wir in die Familienüberlieferung hinein, was wir kriegen können. Und unter allen Leuten, die man so kannte, kam Mazie einer Prominenten am nächsten. Sie war prominent, weil man über sie schrieb, und irgendwie stadtbekannt als Institution im südlichen Manhattan, aber in meiner Familie war sie darüber hinaus prominent, weil sie charismatisch und großzügig war und ziemlich aufsehenerregend lebte für jemand, der kaum über einen Umkreis von zwanzig Blocks hinauskam.
Eine Kleinigkeit, die ich Ihnen mit Sicherheit sagen kann, ist, dass Louis Gordon das Venice Theater 1915 gekauft hat und mein Urgroßvater im Jahr darauf dort Direktor wurde. In den ersten paar Jahren arbeitete Louis’ Frau Rosie an der Kinokasse. Es gab hier und da noch andere Angestellte, aber den Laden geschmissen hat Rosie.
George Flicker
Als Louis das Filmtheater gekauft hatte, fingen die Mädchen so richtig an, sich auf der Straße herumzutreiben. Rosie war zu sehr mit der Kinokasse beschäftigt, um sie im Blick zu behalten. Jeanie war immer ein braves Mädchen gewesen. Aber dann wurde auch sie eher schwierig, auf ihre Art. Manchmal sah man sie auf der Straße tanzen, um ein paar Münzen ranzuschaffen. Bella Barker sang, Jeanie tanzte. Wir klatschten alle und warfen ihnen einen Penny hin oder auch zwei.
Das war vielleicht ein Pärchen. Jeanie hatte ein Lächeln, so breit wie der Broadway. Und Bella hatte schon als kleines Mädchen diese dunklen, schmachtenden Augen, durch die sie älter wirkte, als sie war, und natürlich diese Stimme einer weisen Frau. Sie war zu Großem geboren. Bei ihrer Stimme blieb jeder stehen und hörte zu.
Natürlich war Bella schon immer eher Solistin. Als Teenager zog sie für eine Weile aus dem Viertel weg. Sie ging für ein, zwei Jahre nach Pennsylvania und tingelte durch die dortigen Varietés. Als sie zurückkam, war sie mit einem Mann namens Lew verheiratet, ihr Agent, der neben ihr wirkte wie ein alter Mann. Einen neuen Namen hat sie auch, einen erwachsenen. Jetzt heißt sie also Belle Baker, und dann wurde sie auch allmählich berühmt. Doch für Jeanie war das Tanzen immer noch ein Spiel. Kein Mensch glaubte auch nur eine Sekunde, dass sie auch so einen Ehrgeiz hatte wie Belle.
Mazies Tagebuch, 12. September 1916
Da bin ich auf dem Heimweg von der Arbeit, und wen sehe ich, wenn nicht unsere kleine Jeanie, die sich an einer Straßenecke dreht. Ich stellte mich daneben und sah ihr eine Weile zu, in ihrem bonbonfarbenen Tutu. Unser kleiner Schatz. Ihre Wangen waren ganz rot von der Sonne. Unser Vater hat liebend gern getanzt, dachte ich in dem Moment. Du kannst nicht ewig auf der Straße tanzen, dachte ich in dem Moment auch. Obwohl ich ihr das wünsche.
Mazies Tagebuch, 23. September 1916
Heute Abend habe ich zwei Matrosen aus Kalifornien kennengelernt. San Francisco scheint so weit weg zu sein, ob es das überhaupt wirklich gibt? Einer war groß und einer war klein, und an mehr kann ich mich nicht erinnern. Namen weiß ich nicht. Ich habe die ganze Zeit so viele Namen im Kopf.
Sie meinten, dass New York sie an zu Hause erinnert, weil es so nah am Wasser liegt. Aber in San Francisco steigen Dunst und Nebel vom Meer auf, so dicht, dass man keine zwei Fuß weit sieht, das haben sie mir erzählt.
Ich sagte, das wäre gelogen, und da haben sie gelacht.
Ich sagte: Was ist daran witzig?
Ich tanzte mit dem Großen, während der Kleine uns zusah und eisern lächelte. Er sah aus, als würde er sich verzehren. Als mich der eine hintenüber bog, kitzelte mich der Binder von seiner Uniform am Kinn. Ich liebe Männer in Uniform. Egal, in welcher. Ich finde, sie gehen aufrechter, wenn sie was Formelles zum Anziehen haben. Wenn sie wissen, wo sie hinwollen. Der Große fragte mich, wie alt ich bin.
Ich sagte: Alt genug.
Er sagte: Alt genug wofür?
Dann lachten die zwei mich schon wieder aus. Aber ich bin alt genug für alles. Die wissen das nicht, aber ich.
Der Große schmeckte salzig, als ich ihn küsste, aber später sah ich ihn mit dem Kleinen Händchen halten. Sie waren so schlank und hübsch in ihren Uniformen. Manchmal will ich auch eine Uniform haben.
George Flicker
Sie rechtfertigte sich niemals und war überheblich gegenüber allen, die sie infrage stellten, auch wenn die gar nichts sagten. Wie meine Mutter zum Beispiel. Die beiden konnten einander nicht ausstehen. Die Leute denken manchmal, »Chuzpe« ist ein Kompliment, aber nicht so, wie meine Mutter das sagte. Manchmal wechselte sie die Straßenseite, wenn sie Mazie kommen sah, und zwar keineswegs dezent. Sie hustete und stampfte. Meine Mutter konnte enormen Lärm veranstalten. Wenn das Mazie etwas ausmachte, zeigte sie es nicht. Einmal, als meine Mutter über die Straße stolziert war, hörte ich sie rufen: »Mehr Platz für mich.«
Mazies Tagebuch, 1. November 1916
Jeanie hat ein Geburtstagsgeschenk für mich gekauft, eine hübsche dunkellila Schleife, fast von der Farbe des Nachthimmels. Als ich sie fragte, wo sie das Geld herhatte, erzählte sie mir, sie hätte jeden Penny vom Tanzen neben Bella gespart.
Sie sagte: Ich darf einen Penny behalten von zehn, die wir verdienen.
Ich sagte: Das finde ich nicht fair.
Sie sagte: Sie hatte zuerst die Idee, so aufzutreten. Bella sagt, das Geld verdienen die Leute mit Grips.
Ich sagte: Du hast Grips.
Sie sagte: Ich tanze einfach so gern.
Ich fragte sie, wie viel Geld sie hätte, und sie erzählte mir, eine Menge. Ich sagte, ich würde ihr zeigen, wo ich Dich verstecke, wenn sie mir zeigt, wo sie ihr Geld versteckt.
Ich sagte: Wir könnten Geheimnisse tauschen.
Jeanie zeigte mir ihre ganze Barschaft, ein paar Scheine mindestens. Versteckt in ihrem Koffer im Schrank, in dem Koffer, mit dem wir von Boston in die Stadt gekommen sind. Ich fragte sie, ob sie auf etwas sparte. Da sagte sie nichts. Ich erzählte ihr, sie könnte mir alles erzählen, sie wäre mein Schatz, mein kleines Mädchen. Schließlich kam sie ganz dicht an mein Ohr.
Sie sagte: Ich will gar nicht für immer weg, aber ich möchte zum Zirkus.
Ich sagte ihr, ich würde mitkommen. Ich würde auf einem Pferd reiten mit einer Krone auf dem Kopf, und sie wäre Akrobatin und würde hoch über mir fliegen. Die Phillips-Schwestern, die Attraktion der Show. Sämtliche Männer würden uns ohnmächtig zu Füßen liegen. Das gefiel mir am besten daran, aber das erzählte ich ihr nicht.
Jeanie sagte: Aber was würde Rosie sagen?
Ich sagte: Die würde gar nichts sagen. Die würde einfach im Publikum sitzen und klatschen wie alle anderen auch.
Jeanie sagte: Meinst du wirklich? Würde sie uns nicht vermissen?
Ich sagte: Das sind doch nur Tagträume, Jeanie. Mach sie nicht kaputt.
Jeanie sagte: In Ordnung. Dann würde sie wohl in der ersten Reihe sitzen.
Ich sagte: Sie wäre unsere größte Verehrerin.
Mazies Tagebuch, 7. November 1916
Ich muss heute im Bonbonladen arbeiten, schon wieder. Langweilig. Da kommen den ganzen Tag nur kleine Kinder rein, dreckiges Münzgeld, klebrige Pfoten. Die Glocke an der Eingangstür klingelt, und ich schaue auf, und es ist immer und immer wieder dasselbe. Ich komme mir vor wie ein Hund, wenn diese Glocke klingelt. Weil ich darauf warte, dass mich jemand mit etwas füttert, das interessant aussieht.
Lieber würde ich für Louis Botengänge auf der Rennbahn machen. Die Rennbahn gefällt mir. Da gibt es Gras und Bäume, und über uns prangt blauer Himmel, aber es rauchen auch alle Zigarren. Es gefällt mir, dass es gleichzeitig sauber und dreckig riecht. Außerdem trinkt da jeder sein Schlückchen. Die Flachmänner, die alle dort haben, mit den eingebackenen Edelsteinen. Wie man sein Geld eben am besten versteckt. Aber sie teilen auch großzügig, was sie haben. So machen mir nicht mal die Pferdeäpfel was aus.
Aber Louis mag es nicht, wenn ich dort hinkomme. Die Rennbahn ist nichts für eine Frau, das sagt Louis. Natürlich sagt er das. Er mag es nicht, wie mich die Männer dort anschauen. Ich dachte, er will, dass ich heirate, aber Louis traut keinem von diesen Männern, jedenfalls nicht, wenn es um mich geht. Aber er gehört ja selbst dazu. Ich ziehe ihn gern damit auf.
Ich sagte: Rosie hat dich auf der Rennbahn gefunden. Wie hat sie dich denn gefunden?
Ich pikse ihn mit dem Finger.
Ich sagte: Liegt es daran, dass du so groß bist, Louis?
Er antwortet nicht.
Ich sagte: Weil du herausragst wie eine Giraffe?
Nichts. Louis lässt sich wirklich nicht in die Karten sehen.
Ich glaube, ich esse heute das ganze Konfekt im Laden auf. Die ganzen Schokoküsse, die ganzen Schokoriegel. Die Verpackungen reiße ich mit den Zähnen ab. Und dann esse ich die ganzen Squirrel Nut Zippers und die ganzen Tootsie Rolls. Kaue, bis mir der Kiefer schmerzt. Und die ganzen Karamellen und Buttertoffees und Erdnussbutterbröckchen und Mandelkekse. Ich lutsche die ganzen Bonbons, Kirsch, Erdbeer, Traube, Orange-Minze. Schlecke die ganzen Lutscher, bis sie alle sind.
Ich esse und esse und esse, nur damit ich diese Scheißbonbons nie wieder sehen muss.
Mazies Tagebuch, 3. Januar 1917
Gestern Abend haben Rosie und ich uns eine Flasche Whiskey geteilt. Und zwar, als ich heimgekommen war, ausnahmsweise pünktlich. Ich kam rein und wollte ihr gute Nacht sagen, da lag sie mit der Flasche im Bett. Ich konnte nicht sagen, wie lange sie schon am Trinken war. Ich wusste nur, sie war schon ziemlich voll. Sie trauerte um etwas, ich wusste nicht, um was. Louis ließ sich nicht blicken. Jeanie schlief. Ich kroch zu Rosie unter die Decke, und sie reichte mir die Flasche.
Ich sagte: Woran denkst du?
Sie sagte: An unsere Eltern.
Ich sagte: Tja, das genügt schon.
Sie sagte: Weißt du noch, was in Topsfield passiert ist?
Diese Geschichte wieder. Sie und ich hatten schon darüber gesprochen, als Jeanie nicht dabei war. Topsfield, das war kurz bevor sie uns zurückgelassen hat.
Wir waren alle zusammen unterwegs, als richtige, glückliche Familie für einen Tag. Papa, der mich an der Hand und Jeanie auf dem anderen Arm hielt, Rosie, zwischen ihn und Mama geklemmt. Papa sah nicht gut aus. Seine Augenlider hingen, und seine Haut hatte die Farbe von kalter, wässriger Suppe. Und wegen der Falten um Mund und Augen sah er immer wütend aus, was er auch war. Falten lügen nicht. Aber er war groß und jung und hatte richtig viel Haar, und in meiner Erinnerung ist er stark. An diesem Tag, draußen in der Welt, war er unser Vater.
So gingen wir also zusammen herum. Ein rotbackiger Ausschreier rief uns heran und prahlte mit dem dünnsten Mann der Welt und seiner Gattin, der dicksten Frau der Welt. Es gab den dunkelhäutigen Gummimann, dünn wie Streckmetall. Sein Gesicht war ganz ruhig, als würde es ihm gar nichts ausmachen, sich so umzustülpen. Er war dafür geboren, sich zu verbiegen. Ich erinnere mich an strahlenden Sonnenschein und dass es fast Herbst war, aber immer noch warm. Ich blinzelte und sah die Welt durch winzige Schlitze in meinen Augen. Männer mit tief in die Stirn gezogenen Hüten winkten Papa grüßend zu. Alle kannten Horvath Phillips, im guten wie im schlechten Sinne.
Zu Rosie sagte ich aber: Ich erinnere mich, dass er uns an diesem Tag verlassen hat.
Ich wusste nämlich, sie wollte, dass das meine einzige Erinnerung war.
Er sagte zu uns, wir sollten uns nicht von der Stelle rühren, er würde gleich wiederkommen, und zog im Weggehen diesen Flachmann aus der Tasche. Da waren Männer mit weiß angemalten Gesichtern, die so taten, als würden sie an einem imaginären Tau ziehen. Allmählich ging die Sonne unter. Jeanie war müde, wir suchten uns eine Bank, und Mama nahm sie auf den Schoß. Meine Haut brannte von der Sonne, im Bauch war mir schlecht von den Süßigkeiten.
Mama sagte: Sollen wir ihn suchen gehen? Ich weiß es nicht.
Sie sprach mit Rosie, die als Einzige von uns alt genug war und verstehen konnte, dass das keine einfache Frage war. Ich kann mich aber nicht erinnern, ob sie etwas sagte. Sie war einfach unruhig.
Mama sagte: Ja, wir warten.
Dann war es dunkel und die Pantomimen waren fort, die meisten Familien auch. Nur junge Leute schlenderten noch herum, auch ein paar Männer, die einsam aussahen. Mama blickte sich immer wieder um, weil sie dachte, dass er zurückkommen würde.
Rosie sagte: Wenn du ihn nicht suchen gehst, tu ich’s.
Sie stritten, weil Rosie nachts allein herumlaufen wollte. Dann setzte sich Rosie dafür ein, dass wir schon mal nach Hause gingen. Mama wollte nicht allein durch die Straßen laufen. Sie fürchtete sich immer noch vor diesem Land, seit dem Tag ihrer Ankunft schon. Dass sie den schreckenerregendsten Mann der Stadt gefunden und geheiratet hatte, kann auch nicht viel geholfen haben.
Mama gab Rosie schließlich nach und meinte auch, dass wir ihn suchen sollten. Ich erinnere mich an ihr seufzendes Schulterzucken, und dann wäre Jeanie fast von ihrem Schoß gekullert.
Sie war damals nicht mehr hübsch, unsere Mama. Ihr Haar war dünn. Sie riss es büschelweise aus, und er auch, wenn er böse war. Aber sie hatte immer noch diese umwerfenden Hüften. Ich lief hinter ihr her, als wir ihn suchten, und ich erinnere mich an die Hüften, ich habe nämlich auch solche Hüften. Ein kleines Mädchen, das sich an seine Mama klammert und das Gesicht in diese Hüften drückt.
Rosie hatte den ganzen Abend gewusst, wo er war. Mama auch. Die beiden hatten bloß stundenlang Spielchen miteinander gemacht. Hinter dem Zirkuszelt war nämlich ein offenes, mit Laternen und weißen Kerzen beleuchtetes Feld, auf dem die Leute tanzten wie rasend. In der Mitte stand eine kleine Bühne, vollgepackt mit Männern, die alle möglichen Instrumente spielten, Akkordeon, Fiedel, Gitarre, ein Waschbrett mit Löffel. Ein Mann sang aus tiefster Kehle, Französisch, das weiß ich jetzt, wusste ich aber damals nicht. Vorn auf der Bühne hing ein Schild, die Cajun Dancers, so hießen die.
Das Publikum ging ganz auf im Hier und Jetzt, zappelte immer schneller, lachte und grinste, die Leute waren geradezu hysterisch. Ich konnte die Hitze spüren, die von ihren Leibern ausging, und dann war auch ich fast hysterisch. Die Lust dieser Menschen ist eine Lust, die ich im Herzen trage. Sie waren herrlich und frei.
Mama stellte Jeanie neben mir ab, wir nahmen uns bei den Händen, und dann sahen wir einander an. Während Rosie und Mama die Menge absuchten, begannen wir mit unserem eigenen Tanz. Wir würden niemals stillsitzen, Jeanie und ich. Nicht wie die braven Mädchen. Ich wirbelte sie herum, bis sie fiel, schwindelig, und dann fiel ich auch. Das Gras kitzelte hinten an meinen Beinen.
Als ich aufblickte, entfernte sich Rosie gerade von Mama und drängte sich durch die Menge. Sie hatte Papa gefunden. Er sah glücklich aus, ich erinnere mich, dass ich das dachte. Er hatte die Augen zu, Seligkeit, und seine Züge waren entspannt, die Falten zeitweise ausradiert. Er umfasste eine junge, mollige, schwarzhaarige Frau in einem langen grünen Gewand. Das Kleid wogte wild, während sie tanzten. Ich weiß nicht, ob er die Frau kannte oder nicht, ob er ihretwegen so zufrieden war oder ob das nur am Tanzen lag. Vielleicht liebte er einfach die Freiheit. Ich habe mich öfter gefragt, ob es leichter gewesen wäre, ihm all seine Taten zu vergeben, wenn er einfach aufgestanden und von zu Hause weggegangen wäre, statt zu bleiben und uns mit seiner Grausamkeit zu belasten.
Ich sagte: Ich erinnere mich, wie du ihn am Arm gepackt hast, und ich erinnere mich, wie du auf uns gezeigt hast. Du hast ihn beschämt. Du warst so mutig.
Papa verbeugte sich vor der Frau, mit der er getanzt hatte, und ging dann mit Rosie durch die Menge zurück, der es irgendwie gelang, in Bewegung zu bleiben und sich gleichzeitig für sie zu teilen. So habe ich es zumindest in Erinnerung: Alles verblasste zum Hintergrund, bis auf Rosie und Papa.
Ich sagte: Die Heimfahrt war lang.
Rosie sagte: Mir war, als wäre ich in dieser Zeit um zehn Jahre gealtert.
Ich sagte: Sie hat uns an diesem Abend ganz ruhig zugedeckt. Sie hat uns im ganzen Gesicht abgeküsst.
Rosie sagte: Ich kam nicht zum Einschlafen. Er hat mich wieder rausgeholt.
Ich sagte: Ich weiß.
Rosie sagte: Bis ich vor Schmerz ohnmächtig wurde.
Ich sagte: Ach, Rosie.
Rosie sagte: War was falsch an mir an diesem Tag? Hatte ich es verdient?
Sie war zu betrunken. Sie klang wirr.
Ich sagte: An dir war alles richtig, an ihm war was falsch.
Rosie sagte: Tut mir leid, dass ich dich dagelassen habe.
Ich sagte: Wir haben dir keinen Vorwurf gemacht, als du uns verlassen hast. Ich jedenfalls nicht. Jeanie wusste gar nicht, was vor sich ging.
Rosie sagte: Und ich bin euch ja holen gekommen, nicht?
Ich sagte: Ja.
Rosie sagte: Ich wollte immer nur tun, was für uns richtig war, wo sie es doch nicht gemacht hat.
Ich sagte: Ja.
Sie sagte: Ich habe mich um euch gekümmert, stimmt’s?
Ich sagte: Rosie, wir haben dich lieb. Du weißt, dass wir dich lieb haben.
Rosie sagte: Ich bin nicht schlecht, oder?
Ich sagte: Bist du nicht. Du bist ein gutes Mädchen.
Wir tranken bis zum Einschlafen. Rosie mehr als ich. Als ich aufwachte, war Jeanie da und schlief zwischen uns. Ich weiß nicht, ob sie uns gehört hat. Ich möchte nicht, dass sie es hört. Ich möchte nicht, dass sie sich da an etwas erinnert.
Mazies Tagebuch, 1. März 1917
Die Sonne ging auf, als ich heute Morgen die Schuhe auszog. Rosie stand in der Tür und fixierte mich. Ich wandte ihr den Rücken zu und wickelte mich in die Decke, legte den Kopf aufs Kissen und betete um Frieden. Gott erhörte mich.
Ich weiß nicht viel vom Beten. Mir kommt es vor, als würde man da eins gegen das andere eintauschen, obwohl einem das, was man eintauscht, eigentlich gar nicht gehört.
Rosie kroch einfach zu mir ins Bett. Kein Gebrüll. Wir fingen an, miteinander zu flüstern.
Wir verschränkten unsere Hände. Sie waren kalt wie immer. Ich erinnere mich, als Jeanie und ich noch klein waren, sind wir oft zu ihr und Louis ins Bett gekrochen, haben ihr die blau angelaufenen Finger und Zehen gerieben, mit unserem heißen Atem angehaucht. Alles, was ich wollte, war diese Wärme und Nähe, für immer.
Sie sagte: Und wenn du ein Baby da drin hast?