Die in diesem Buch wiedergegebenen Anzeigen sind in deutschen Tageszeitungen zwischen 1985 und 2015 erschienen.
Die Namen der Inserenten wurden weggelassen.
Die Fotos der Kriegsgräberstätten hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. zur Verfügung gestellt.
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© für der Originalausgabe und das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel
Satz und eBook-Produktion: Satzwerk Huber, Germering
978-3-7844-8255-2
Inhalt
Vorwort
Im Papierkorb
Friedhof Europa
Der Anfang
Zur See
»Als wir nach Frankreich zogen …«
»Von Finnland bis zum Schwarzen Meer …«
In den russischen Wäldern
Falsches Gedenken
Geschichte eines Jagdfliegers
»Wanderer kommst du nach Sparta …«
Zwischen Kursk und Feuersturm
In memoriam und kein Ende
Sonderbares Gedenken
Rückzug im Osten
Frauen im Krieg
Fliegertod
Wo blieb Gott?
Normandie
Gefallen in Ostpreußen
Versöhnliches
Anklagen
Zum Monte Cassino
Ausgelöschte Familien
Die letzten Toten
Über den Krieg hinaus
Ohne Worte
Von fernen Kriegen
Kein Ende
Antimachiavell
Vorwort
Lasst die Toten ihre Toten begraben, heißt es im Buch der Bücher. Die Toten ruhen lassen, nicht in vergangenem Unglück rühren, sondern nach vorne schauen, ist eine weit verbreitete Einstellung. Es gibt aber auch Menschen, die gern in der Vergangenheit leben, die sich immer wieder erinnern wollen, weil mit den Toten ein Stück des eigenen Lebens verloren gegangen ist, die auch eine moralische Verpflichtung fühlen, die Toten nicht zu vergessen. Sie sind es, die Gräber pflegen, Grabsteine besuchen und ihren im Krieg gefallenen Angehörigen mit Anzeigen einen Gedenkstein aus Zeitungspapier setzen. Dieses Gedenken kennt keine zeitlichen Grenzen, es geht über den Zweiten Weltkrieg hinaus zu 1914/18 bis zu den napoleonischen Kriegen.
Einigen Zeitgenossen sind solche Anzeigen zuwider, wenn sie Soldaten der deutschen Wehrmacht betreffen. Sie können es den Toten nicht verzeihen, dass sie sich von einem Rattenfänger verführen ließen. Sie rechnen die Gefallenen einem verbrecherischen Regime zu, das diese Aufmerksamkeit nicht verdient hat. Das Tucholsky-Wort »Soldaten sind Mörder« ist ihr Leitmotiv. Unter den einhundertvierundsiebzig Anzeigen, die in dieser Dokumentation versammelt sind, mag es Generäle und NS-Anhänger geben, aber noch mehr ahnungslose junge Männer, die zum Krieg verführt wurden und sterben mussten. Nicht Mörder sind unter uns, sondern Väter, Brüder. Sie verdienen nicht unseren Hass, sondern unser Mitgefühl, weil sie so schändlich missbraucht und schuldig gemacht wurden. Häufig enthalten die Anzeigen Anklagen gegen die Verursacher des Unglücks, aber auch versöhnliche Worte. Und über allen steht die Botschaft »Nie wieder Krieg«. Das würden die Toten fordern, wenn es ihnen nicht die Sprache verschlagen hätte.
Arno Surminski
Kriegsgräber sind die großen Prediger des Friedens.
Albert Schweitzer
© Mascha Greune, München
Ach, sie haben einen guten Mann begraben.
Und mir war er mehr.
Matthias Claudius
(Bei dem Grabe meines Vaters)
Im Papierkorb
Der Tag fing gut an. Keine Wolke am Himmel, am Morgen schon eine Wärme, die für den Nachmittag große Hitze versprach. Baden wäre angebracht. Aber zuvor noch die letzte Vorlesung bei Professor Wiesener. Wieder wird es um die alte römische Geschichte gehen, vermutlich um die Punischen Kriege. Sie sind so fern, so unblutig. Ob die Karthager in Rom landeten oder die Römer in Karthago, was geht es uns heute noch an? Es ist erkaltete Geschichte, geronnenes Blut, an dem niemand mehr Anteil nimmt. Keine Schuld, keine Anklagen, keine Tränen.
Gero Warnecke studierte alte und neue Geschichte. Die alte Geschichte lag ihm mehr, weil sie abgestanden und emotionslos war; niemand weint heute über die toten Spartaner vom Thermopylenpass. Geboren wurde er im Jahr 1989, als die neue Geschichte kräftig Atem holte. Das lag fast sechsundzwanzig Jahre zurück und war noch nicht erkaltet. Er kannte das Geschehen nur vom Hörensagen. Als seine Eltern mit einem Trabi von Ungarn nach Bayern fuhren, strampelte er in Mutters Bauch. Später erfuhr er, in seinem Geburtsjahr sei etwas Großes geschehen, vergleichbar mit der Entdeckung Amerikas. Die Eltern sagten, sie seien nur deshalb über die Grenze gefahren, weil sie ihrem ungeborenen Kind eine bessere Zukunft schenken wollten. Und so sah sie aus, die Zukunft: Student in einer weltoffenen Stadt mit der Aussicht, einmal Geschichtslehrer zu werden und den Schülern von fernen Kriegen zu erzählen. Er wusste zu wenig von dem Leben vor 1989, und wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass damals eine große Geschichte geschrieben wurde. Deshalb blieb er bei den Punischen Kriegen. Sie regten niemand auf.
Die Vorlesung war mäßig besucht, das Wetter zu gut für die alte Geschichte. Außerdem begannen die Semesterferien.
Gero neigte den Karthagern zu, Hannibal wäre sein Mann gewesen.
Wie wäre die Welt heute beschaffen, wenn wir kein Römisches, sondern ein Karthagisches Reich bekommen hätten?, fragte Wiesener und gab selbst die Antwort: Wohl auch nicht besser.
Woher mag die Neigung kommen, die alten Herrscher zu glorifizieren? Alexander, Hannibal, Cäsar, Napoleon, sogar Dschingis Khan gelten als große Helden, nicht nur bei Geschichtsprofessoren.
Ein gewisser Hitler wird wohl niemals in diese Ahnengalerie aufsteigen, meinte Gero.
Wiesener war sich da nicht so sicher. Über die Distanz von Jahrhunderten sehen wir nur die historische Tat, die leidenden Opfer verschwinden im Flugsand der Geschichte. Die Menschheit hat ein ewiges Interesse an den blutrünstigen Ungeheuern. So kann auch Hitler eines Tages zur historischen Größe werden, während ein Mann wie Adenauer als Randfigur aus der Geschichte herausfällt.
Ehrlich gesagt, von Adenauer hatte Gero noch nie gehört.
Zum Ende der Vorlesung schlug Wiesener vor, die Studenten sollten in den Ferien zu den Ruinen von Karthago reisen. Gewiss nur ein Scherz. Es gibt nichts Öderes als diese Ruinen, zu ihnen darf man nur in Gedanken fahren.
Wohin geht die Reise?, fragte Wiesener bei der Verabschiedung.
Ein paar Tage an die Ostsee, antwortete Gero Warnecke.
Komm mal mit in mein Büro, ich habe etwas für dich.
In Wieseners Büro lag auf dem Schreibtisch eine gefüllte Plastiktüte.
Hat mir jemand zugeschickt, sagte er und tippte auf einen Brief, der neben der Tüte lag. Kein Absender, kein Datum, per Computer geschrieben. Er drückte Gero das Papier in die Hand und ließ ihn lesen:
Sehr geehrter Herr Professor,
kürzlich half ich bei einer Wohnungsauflösung. In einem Papierkorb fand ich diesen Umschlag, bereit für die Mülltonne. Ich schaute hinein und dachte, es sei nicht gut, die Papierstücke in die Müllverbrennung zu geben. Kam mir vor wie eine Beleidigung der Toten. Vielleicht können Sie etwas damit anfangen, schließlich geht es um Geschichte.
Lauter Todesanzeigen, sagte Wiesener.
Wer schneidet Todesanzeigen aus Zeitungen, um sie wie Briefmarken zu sammeln?, wunderte sich Gero.
Es sind besondere Anzeigen. Fast alle sind mit einem Eisernen Kreuz versehen und betreffen deutsche Gefallene des Zweiten Weltkrieges. Heldentum und Tapferkeit kommen darin vor, und immer geht es um Deutschland.
Das ist ein Dreivierteljahrhundert her, sagte Gero. Warum geben die Leute nach so langer Zeit noch viel Geld aus für solche Anzeigen?
Sie haben keinen Stein, kein Kreuz, an dem sie ihrer Familienangehörigen gedenken könnten, meinte Wiesener. Darum schaffen sie sich Gedenksteine aus Papier. Die Todesanzeige ist ein letzter Versuch, dem Toten jene Aufmerksamkeit zu verschaffen, die er nach Meinung der Angehörigen verdient hat.
Wiesener zog einen Papierschnipsel aus dem Umschlag.
Die Anzeige erschien am 24.12.2012. War wohl als Geburtstagsgruß gedacht für den am 24.12.1919 geborenen Anton Heller.
Gero staunte. Die beiden Brüder wurden nur einundzwanzig Jahre alt!
So ist das mit den Kriegen, meinte Wiesener. Wer sich mit ihnen abgibt, wird nicht alt.
Du bist fünf Jahre älter und hast noch keinen Krieg erlebt, dachte Gero. Er wunderte sich, wie die Gedanken immer noch um die Gräber in der Hohen Tatra und der Ukraine kreisten. Irgendwann muss das Gedenken doch enden, spätestens dann, wenn neue Kriege neue Gedenksteine verlangen. Das ist es: Die alten Grabsteine stehen neuen Kriegen im Wege. Darum müssen wir sie erhalten.
Mein erster Gedanke war, die Tüte in den Müll zu geben, sagte Wiesener. Dann las ich den Brief noch einmal. Diesem Arbeiter der Räumungsfirma war die Entsorgung im Müllcontainer wie eine Beleidigung der Toten vorgekommen. Er schickte uns die Anzeigen zur Aufbewahrung und wissenschaftlichen Auswertung. Also müssen wir etwas tun.
Wiesener schlug vor, die Anzeigen zu ordnen und aufzulisten. Es genügten Alter, Kriegsschauplatz, Waffengattung, Todestag. Eine rein wissenschaftliche Arbeit ohne Gefühle. Die Inserenten, die die Anzeigen aufgegeben haben, interessieren nur am Rande.
Und was ist der wissenschaftliche Sinn?, wollte Gero wissen.
Eine Sammlung von Gedenkanzeigen wäre eine einzige Anklage gegen die, die das Massensterben angerichtet haben, sagte Wiesener. Wir brauchen immer wieder solche Anstöße, damit nicht jede Generation die gleichen Fehler wiederholt. Die Kreuze in der europäischen Landschaft sind Mahnmale. Hier ist alles besetzt!, rufen sie. Wir brauchen keine Friedhöfe mehr. Hundert Jahre Erster Weltkrieg und siebzig Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges sind Anlass genug, des Elends eines ganzen Jahrhunderts zu gedenken. Über all diesen Gräbern und ihren Anzeigen steht die Botschaft »Nie wieder Krieg!«
Sie wühlten in den Papierschnipseln. Weder chronologisch noch alphabetisch gab es eine Ordnung, auch geographisch lief alles durcheinander: Ost und West, Luft und Meer.
Welche Motive brachten die Angehörigen dazu, diese Anzeigen aufzugeben?
Wiesener sagte, es sei die alte Art, Verstorbener zu gedenken. Die Angehörigen fühlen sich moralisch verpflichtet, eine Beerdigungsfeier auszurichten, einen Stein zu setzen, das Grab zu besuchen und zu pflegen. Auf diese Weise halten sie Verbindung mit den Toten. Auch der christliche Glaube an die Auferstehung mag eine Rolle spielen. Mit dem Gedenken an die Toten soll die Zeit bis zur Auferstehung überbrückt werden. Die neue Zeit ist da oberflächlicher. Aus den Augen aus dem Sinn, sagt sie und schüttet die Asche ins Meer oder in anonyme Gräber.
Ein Anzeigenberg lag auf Wieseners Schreibtisch.
Das sind Hunderte, staunte Gero.
Bei den Kriegstoten gibt es die Besonderheit, dass sie an unbekannten Orten, oft in fremden Ländern, begraben liegen, meinte Wiesener. Die Angehörigen können die Gräber nicht besuchen, sondern müssen das Gedenken in die Zeitungsanzeigen verlegen. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat sich der Gefühle der Hinterbliebenen angenommen und sorgt für die Verbindung zu den Gefallenen, denen er ein Grab zugesteht, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie für eine gute Sache, ein verbrecherisches Regime oder völlig ahnungslos gefallen sind. Viele Menschen reisen zu den vom Volksbund betreuten Kriegsgräberstätten ins Ausland, um ihren Toten nahe zu sein.
Sie gaben die Papierschnitzel zurück in die Tüte. Wiesener drückte sie ihm in die Hand und ließ Gero keine Zeit, Ja oder Nein zu sagen. Es war ja auch keine schwere Arbeit. In zwei Tagen hast du den Zweiten Weltkrieg abgearbeitet, dachte Gero. Und ganz ohne Emotionen, rein wissenschaftlich, versteht sich.
Betrachte es als Geschichtsunterricht, sagte Wiesener. Du wirst dich mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Kriegsschauplätzen befassen müssen, du wirst ein Experte werden.
Wer hat die Anzeigen gesammelt?, fragte Gero.
Wir kennen weder den Sammler noch den anonymen Absender, der sie an die Uni geschickt hat. Den Sammler können wir nicht fragen, er ist vermutlich tot. Nach seinem Tod gab es eine Wohnungsauflösung, die Reste landeten im Papierkorb.
Behutsam trug Gero die Papierschnipsel in seine Wohnung, diese Gedenksteine aus Zeitungspapier. Trotz großer Hitze verschob er das Baden auf den nächsten Tag. Ob Rommel die Ruinen von Karthago besucht hat?, fragte er sich.
Friedhof Europa
Die Papierfetzen taumelten wie aufgeschreckte Vögel auf die Tischplatte, einige landeten auf dem Fußboden. Eiserne Kreuze starrten ihn an. Was hatte Gero Warnecke mit diesen »Helden« zu schaffen? Er kam auf die Welt, als die Mauer fiel. Hat jemand eine Anzeige auf den Tod der Mauer in die Zeitung gegeben?
In den fünfundzwanzig Jahren deines Lebens herrschte Frieden, sagte Wiesener zu ihm. Aber nur bei uns. Überall in der Welt brannte es. Im Balkankrieg starben Tausende, in Afrika folgte ein Massaker dem anderen, ebenso im Nahen Osten. Da können wir noch so laut »Nie wieder Krieg!« schreien, es geschieht immer wieder. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass du auch deinen fünfzigsten Geburtstag in einem friedlichen Land feiern kannst.