Frank Kreisler, 1962 in Rostock geboren, lebt seit 1985 in Leipzig. Hier studierte er am Literaturinstitut Leipzig. Seit 1995 ist Frank Kreisler freiberuflich tätig, zunächst journalistisch, später als Buchautor.
Der vielseitige Autor ist unter anderen an verschiedenen Krimi-Anthologien wie ›Giftmorde‹ I bis III, ›Stammtischmorde‹ oder ›Weihnachtsmorde‹ beteiligt.
2013 erschien im fhl Verlag mit ›Wasserfest – Trotzenburg und die Macht der Roten Tide‹ sein erster Kriminalroman.
Trotzenburg und
der Weg des Schnees
1. Auflage, Juli 2016
Copyright © 2016 by edition krimi, Leipzig
edition krimi
Alle Rechte vorbehalten
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Lektorat: Elia van Scirouvsky
Umschlaggestaltung: ama medien
Umschlagmotiv: youareweb/Pixabay
Satz: ama medien
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ISBN 978-3-946734-47-5 (ebook)
ISBN 978-3-946734-06-2 (print)
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www.edition-krimi.de
Einige Wochen zuvor
Eine geheime, temporäre Marina irgendwo an der anderthalbtausend Kilometer langen Karibikküste Kolumbiens. Die Bucht hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Traumstrand und ist von undurchdringlichem Urwald umgeben. Der ist sumpfig und tückisch und niemand weiß, wie viele Menschen hier schon auf Nimmerwiedersehen im Sumpf versunken oder von Krokodilen gefressen worden sind, die im Wasser auf Beute lauern. Meistens sind es Ahnungslose oder Abenteurer, die in diese gottverlassene Gegend kommen und nicht mehr hinausfinden.
Oder Verbrecher, die ihre Opfer hier spurlos beseitigen und selbst jeden Weg kennen.
Von der tiefblauen See her führt eine sehr schmale, nur wenige Meter breite Zufahrt in die Bucht. Wer den Küstenverlauf der Karibik an dieser Stelle kennt, findet sie. Andere suchen sie nicht einmal.
Wer die von schroffen Felsen eingerahmte Bucht dennoch entdeckt und einen neugierigen Blick riskiert, reibt sich verwundert die Augen und es kann passieren, dass dem Zufallsgast keine Zeit mehr bleibt, seine Neugierde zu bereuen und schnellstens und vor allem unauffällig wieder zu verschwinden. Wer sich erwischen lässt, verlässt die Bucht nicht mehr. Der hört einfach auf zu existieren.
Chromblitzende Yachten liegen unter tief hängenden Palmen dicht nebeneinander. Pontonstege reichen, ausgehend von einem Basissteg am Ufer, weit in die Bucht hinaus, wie die Zacken eines leicht gekrümmten Kamms. Eine Yacht gleicht der anderen, als hätte ein superreicher Eigner die Serienproduktion eines Jahres aufgekauft und auf eine Mission geschickt. Sie erinnern äußerlich an Marineboote: Hellgrauer Rumpf, Reling aus blitzendem Chrom, graublaue Aufbauten. Alles gut getarnt auf See. Eine Bewaffnung ist rein äußerlich nicht erkennbar. Das hat aber nichts zu bedeuten. Denn das Innere dieser Schiffe ist groß und geräumig. Da passt viel hinein, auch für eine Bewaffnung wäre sicher Platz.
Im Grunde unterscheiden sich die zahlreichen Yachten rein äußerlich nur in einem einzigen bunten Punkt und der befindet am Heck der Schiffe, nämlich da, wo die Hoheitsflaggen der Schiffe im tropischen Wind flattern. Aller Herren Länder scheinen hier vertreten zu sein. Die Mission ist offenbar international.
Diese Marina unter dunklen Palmen ist alles andere als ein entspanntes Ferienparadies. Die exklusive Flotte wird von Söldnern bewacht, die bis an die Zähne bewaffnet sind. Entlang der Küstenlinie sind MG-Nester versteckt. Nur wer nah am Ufer fährt, hat eine Chance, unentdeckt zu bleiben. Ein Teil der Schützen beobachtet das Meer und die schmale, verwinkelte Einfahrt. Skippern, die sie links liegen lassen, passiert nichts. Niemand will unnötige Aufmerksamkeit. Das Gros der Schützen hat allerdings den Urwald im Blick, die Wege, die durch den Urwald führen. Fallen mit Speeren und angespitzten Pfählen sind auf verborgenen Dschungelpfaden installiert, auch selbstschießende Anlagen, die mit Schalldämpfer ausgestattet sind, damit es im weiten Umkreis niemand mitbekommt, sollte die Schussanlage losfeuern. Gegen die Schreie der Getroffenen konnte man nichts weiter unternehmen, als die Anlagen so oft und so genau wie möglich schießen zu lassen, um den verräterischen Geräuschen keine Chance zu geben. Die Hauptwege, die auch für Fahrzeuge passierbar sind, werden von bewaffneten, ziemlich grimmig umherschauenden Männern bewacht. Mit Angreifern, zufälligen Passanten, aufmüpfigen Mitarbeitern und Versagern wird hier im Urwald kurzer Prozess gemacht. Krokodile oder Raubkatzen warten nur darauf.
Ein penetranter, oft süßlicher Verwesungsgestank, der von Leichen und fauligem Schlamm stammt, liegt in der Luft und wabert durch die Gegend.
Ein solcher Job im Urwald ist gefährlich und die meisten machen drei Kreuze, falls sie diesen Ort nach ein paar Tagen wieder verlassen können.
Boltenhagen ist ein Ostseebad mit eigener, windgeschützter Bucht. Badehungrige, Sonnenanbeter oder Aussteiger auf Zeit aus allen Teilen des Landes überfluten, vor allem in den Sommermonaten, den Ort – und das nicht erst seit gestern, sondern seit genau 1803.
Seit jenem Jahr zogen die Fischer nicht nur volle Fischnetze an Land, sondern immer öfter auch rumplige Badekarren ins Wasser, in denen vor allem Frauen – keine Nixen – saßen, den Blicken der Männer entzogen. Längst sind die fahrbaren Bretterbuden vermodert oder in kalten Wintern durch die Schornsteine gejagt worden. Und längst haben die Leute schwimmen gelernt und die Frauen denken im Traum nicht daran, sich in irgendwelchen Karren zu verstecken und ins Wasser ziehen zu lassen. Irrsinniger Gedanke heutzutage und nicht nur Feministinnen würden aus den fahrbaren Kisten Kleinholz machen. Schmucke Hotels und Pensionen wurden an drei parallel liegenden Promenaden errichtet und längst auch darüber hinaus. Die Kapazitäten reichen mittlerweile für bis zu 30.000 Urlauber in der Saison. Tonnenweise werden Lebensmittel und hektoliterweise Getränke herangekarrt und an unzählige Gaststätten, Bistros und Supermärkte verteilt, damit es den Urlaubern an nichts mangelt. Ebenso gilt es, Bedürfnisse zu stillen, die so mancher Gast lieber im Verborgenen pflegt. Denn auch in diesem Paradies gibt es nicht nur Friede, Freude, gefüllte Eierkuchen für zwei fünfzig.
Dunkle Gestalten drücken sich, vornehmlich nachts, in noch dunkleren Ecken herum. Wie gierige Spinnen im Netz, liegen sie auf der Lauer und halten mit brennenden Augen nach Kundschaft Ausschau.
Sie warten nicht umsonst und sie müssen nicht lange warten.
Nachdem die hübsche, alleinreisende Urlauberin aus der 1. Etage des exquisiten Boltenhagener 5-Sterne-Hotels ›Vier Meereszeiten‹ nicht zum Frühstück erschienen ist, sorgt sich der graumelierte Nachbar vom Nebentisch.
»Wo sie bloß bleibt? Zwei Tage lang saß sie pünktlich um acht beim Frühstück und heute hat sie die Zeit verpasst? Hm, so richtig kann ich das nicht glauben«, unkt Lutz Brenner, ein Mann um die Fünfzig. Die Frau, um die er sich sorgt, könnte seine Tochter sein.
»Vielleicht hat sie wen abgeschleppt oder sich abschleppen lassen und schläft noch erschöpft in irgendeinem zerwühlten Bett«, meint eine ältere Frau vom Nebentisch, die so was wohl noch von früher her kennt, und denkt: Ist doch egal, was du glaubst, du alter Sack. Du bekommst sie jedenfalls nicht.
Sie schaut verstohlen zu Brenner hinüber, um zu sehen, wie er auf ihren Einwand reagiert. Sie hat in den vergangenen Tagen bemerkt, dass er sein lüsternes Auge auf die junge Frau richtete, die erwartungsgemäß nicht sonderlich interessiert war.
Brenner sagt nichts. Aber er tut etwas: Er beißt sich auf die Lippen und schaut, als würde ihn ein schmerzhafter Gedanke packen, mit zusammengekniffenen Augen durch den Raum. Aber nicht lange, dann sieht er aus wie immer. – War das Eifersucht?
»Vielleicht haben Sie Recht, liebe Frau Pulsar. – Aber vielleicht stimmt da auch irgendetwas nicht. – Fragen Sie mich jetzt bitte nicht, was da nicht stimmen könnte. Keine Ahnung. Vielleicht ist ja alles in Ordnung. Ich hoffe und glaube es. Aber man will ja wenigstens dran gedacht haben«, meint eine andere Dame etwas nebulös. Sie ist grau wie eine Kirchenmaus gekleidet und genauso hört sie sich an. Man könnte meinen, die Damen und Herren der Frühstücksrunde sind von Langeweile geplagt.
»Um Gottes willen! Kann die Rezeption da nicht mal nachsehen«, ließ sich Rita Blumling, eine weitere Frau aus der morgendlichen Runde, von der Sorge, die sich plötzlich an den Frühstückstischen wie ein Virus breitgemacht hat, anstecken und meint mit »Rezeption« natürlich das Personal, das an der Rezeption arbeitet.
Doch die »Rezeption«, die das gehört hat, schüttelt den Kopf.
»Unsere Gäste können tun und lassen, was sie wollen: Sie können ausschlafen oder anderswo übernachten oder keinen Appetit aufs Frühstück haben oder in aller Herrgottsfrühe zum Wandern, Paddeln, Schwimmen, Kiten aufbrechen. Tut mir leid, da kann ich nichts machen«, meint Empfangschefin Liane Kempenow. Und Rita Blumling denkt: Na klar, hat sie gestern Abend im ›Seestern‹ einen Knackarsch aufgegabelt, was sonst? Da hat sie jetzt Schlaf nachzuholen. Ist doch klar. Eifersüchtiger, alternder Single!
Doch so harmlos ist das nicht, leider!
Zwei Stunden später findet der Zimmerservice die Leiche von Ilonka Zulert im Bad ihres geräumigen Apartments, das zum überaus üppig begrünten Hotelgarten mit parkähnlicher Anlage hinauszeigt. Von hier sind es nicht einmal einhundert Meter bis zum weißen, feinkörnigen Strand und nur ein paar Meter weiter bis zur Seebrücke, die knapp dreihundert Meter in das smaragdgrüne Wasser der Ostsee hinausführt. Ein metallenes Schild erinnert an ertrunkene Diktatur-Flüchtlinge. Die Ostseeküste ist eine Landschaft mit Geschichte und fast täglich werden neue Kapitel dazugeschrieben.
Die Polizei, in Gestalt von Kommissar Heiner Trotzenburg und seinem noch jungen Assistenten Sven Leberknecht, reist ohne Blaulicht und Sirene aus der nahen Kreisstadt Grevesmühlen an, etwa zwanzig Kilometer entfernt.
Vor nicht allzu langer Zeit ist Trotzenburg Hauptkommissar in Leipzig gewesen. Doch nach dem schrecklichen Desaster im Fall Lisa Claussen, der in einem Helikopter hoch über der Ostsee sein katastrophales, tödliches und überaus mysteriöses Ende – ihre Leiche verschwand spurlos in der Ostsee – gefunden hatte, hat der Leipziger Polizeipräsident Ebert Trotzenburg die Hölle heiß gemacht. Und er hat dabei gewissermaßen einen Brandbeschleuniger benutzt, der den in Ungnade gefallene Trotzenburg augenblicklich im Fegefeuer hatte schmoren lassen.
Er hatte gegen zahlreiche Dienstvorschriften verstoßen. Am meisten jedoch hat man ihm angekreidet, dass er den Fall nicht abgegeben hatte, als für ihn klar gewesen sein musste, dass die Täterin ihn, den ermittelnden Hauptkommissar, im Fadenkreuz hatte und vor allem aus welchem Grund. So ein Typ ist als Polizist untragbar, selbst wenn man alle Augen, einschließlich der Hühneraugen, zudrücken würde. Feigheit – nicht so relevant – und vor allem Verdunkelung und Vertuschung – sehr relevant, weil hochkriminell – hatte Ebert ihm vorgeworfen und der Staatsanwalt hatte sich lange und gründlich gefragt, ob Trotzenburg am Tod Lisa Claussens nicht fahrlässig oder gar vorsätzlich beteiligt gewesen ist. Er hatte ein astreines Motiv und im Fonds des fliegenden Hubschraubers die allerbeste Gelegenheit, um Lisa Claussen aus dem Helikopter zu stürzen. Doch Trotzenburg konnte nicht nachgewiesen werden, dass er die Gelegenheit tatsächlich genutzt hatte und ob er so etwas überhaupt vorhatte. Der Pilot hatte nichts Gegenteiliges beobachtet. Und so kamen die Ermittler zu dem Schluss, dass die Gefangene Lisa Claussen selbst in die Ostsee und damit in den Tod gesprungen sein muss. Um es kurz zu machen: Trotzenburg war, bildlich gesprochen, mit zwei blauen, ziemlich geschwollenen Augen davongekommen. Er wurde zum Kommissar degradiert – selbst damit hatte er noch Glück – und zunächst vom Dienst suspendiert. Dann war im staubigen, trostlosen Registraturkeller eine schlecht bezahlte Stelle frei geworden. Inmitten hell getünchter Wände, hoch liegender Fenster, surrender Neonleuchten und einem endlosen Meer aus Regalen und Akten, war auch sein Arbeitseifer in den Keller gerutscht. Hier hatte er monatelang mit altem Papier zu tun. Es war so brüchig, dass man von der sprichwörtlichen Geduld des Papiers nicht mehr reden konnte. Es war zwischen seinen Fingern zerbröselt. Doch irgendwie hatte der Polizeipräsident gemeint, sobald der nach etwa einem Jahr wegen fehlenden Sonnenlichts aschfahl gewordene Trotzenburg ihm über den Weg gelaufen war, dass er nicht einmal im Keller jemanden gebrauchen konnte, der einer wandelnden Leiche zum Verwechseln ähnlich sieht. Und so hatte Ebert Trotzenburgs Leipziger Zeit rabiat beendet, indem der Polizeipräsident seine Kontakte spielen und den unliebsamen Polizisten nach Grevesmühlen verfrachten ließ. Eine dünn besiedelte, scheinbar verschlafene und landschaftlich sehr reizvolle Gegend, in der man Fuchs und Hase nach wie vor durchaus begegnen kann, und nicht nur zum Gute-Nacht-Sagen. Eine Gegend eingekeilt zwischen Wismar und Lübeck. Anfangs hatten sich die dortigen Polizisten nicht gerade über den unsanft gefallenen Kollegen gefreut. Aber weil sie chronisch unterbesetzt gewesen sind, haben sie ihn bald mit anderen Augen gesehen. Sie nahmen ihn in ihrer Mitte auf und pflegten ein kollegiales Verhältnis zu ihm. Nach relativ kurzer Zeit leitete er eine Mini-Mordabteilung und jagte wieder Verbrecher. Es ging wieder aufwärts für ihn.
»Schon gehört, dass ein Polizistenmörder sein Unwesen treibt, genauer gesagt: ein Polizisten-Doppelmörder«, teilt Leberknecht dem Kommissar während der Anfahrt mit.
»So? Das wüsste ich aber! Wo denn?«, reagiert der Angesprochene ungläubig. »In Lübeck vielleicht?«
»Ne, Gott sei Dank nicht hier bei uns. In Kopenhagen hat ein Killer vor ein paar Tagen zwei Wasserschutzpolizisten aus nächster Nähe erschossen. War eigentlich eine Routinekontrolle, die aus bislang unbekannten Gründen eskaliert ist. Der Täter ist flüchtig, wahrscheinlich mit einem unglaublich schnellen Boot getürmt.«
»Und was haben wir damit zu tun?«, fragt Trotzenburg seinen Kompagnon, während Leberknecht das Fahrzeug auf den Parkplatz des Hotels lenkt.
»Ich hoffe mal, nichts. Ist nur ziemlich spektakulär und da geht eben mal ein Rundschreiben an die Ostseeanrainer heraus. Der Typ ist doch längst über alle Berge, irgendwo in den schwedischen Wäldern oder so, wie das immer so ist. Untergetaucht, bei den Elchen, in einer verlassenen Hütte. Was weiß ich. Das geht uns nichts an.«
Trotzenburg brummt noch irgendetwas vor sich hin.
»So, da wären wir. Auch wir haben einen Mord auf dem Tisch. Dann wollen wir mal«, sagt Trotzenburg und hievt seinen leicht übergewichtigen Körper aus dem Fahrzeug. Die spektakuläre Meldung hat er längst vergessen.
Ihn erwartet eine Tote. Bald darauf steht er in jenem Hotelzimmer, in dem kürzlich ein Mord passiert ist.
Er konstatiert sachlich und ohne jede Emotion, dass die mit Slip und Pyjamaoberteil bekleidete Frau schon seit Stunden tot sein müsse. Erschlagen mit einem stumpfen Gegenstand. Ihr Schädel ist zertrümmert, das lange blonde Haar mit getrocknetem Blut verkrustet. Dieses helle Blond und das kräftige, dunkle Rot passen einfach nicht zusammen, denkt Trotzenburg wie in Trance. Diese dissonante Farbkonstellation betont den gewaltsamen Tod auf eine schreckliche Art. Ihn fröstelt. Er verlässt das Apartment und bestellt alle Hotelgäste ins Foyer, weil er sich von ihnen Hinweise bezüglich der Tat und des Täters erhofft. Er will sie sofort befragen. Je eher, desto besser.
»Mein Gott! Schon seit Stunden tot. Wenn man sich das mal vorstellt. Ermordet! Und dann wird sie nur ein paar Meter von uns entfernt gefunden!«, ruft Rita Blumling affektiert, wie Trotzenburg findet. Und er fragt sich, ob der Tod dieser Frau Rita Blumling tatsächlich so aus der Fassung bringt, wie es scheint. »Und der Mörder läuft noch frei herum und schlägt vielleicht bald wieder zu!«
»Warum hat sie nicht nach Hilfe geschrien?«, wundert sich die Dame in Grau ein wenig nachdenklicher.
Die Urlauber, die sich auf die schreckliche Nachricht hin in der Empfangshalle eingefunden haben, schauen sich ratlos an. Ja, warum hat sie nicht geschrien?
»Vielleicht hat niemand etwas gehört«, wendet Lutz Brenner ein.
»Ja, vielleicht. Aber vielleicht hat sie nicht geschrien, weil alles so plötzlich kam und sie damit gar nicht gerechnet hat«, meint Liane Kempenow hinter der Empfangstheke.
»Okay, mal langsam«, mischt sich jetzt der ermittelnde Kommissar Heiner Trotzenburg ein, der alle im Foyer anwesenden Gäste um sich versammelt hat. Das wird ihm jetzt alles ein bisschen zu bunt. Diese Spekulationen schießen ins Kraut und führen zu nichts. Er übernimmt das Zepter.
»Wer hat Ilonka Zulert zuletzt gesehen, wann und wo?« Er spricht Lutz Brenner an.
»Ja, ich. Gestern beim Frühstück. So gegen halb neun. Ich habe sie eingeladen zu einer Fahrt mit dem Ausflugdampfer nach Travemünde. Der soll ja bald verschrottet werden. Aber sie hat abgelehnt«, antwortet er, noch immer sichtlich frustriert. Immer diese Frauen, seufzt er und will einfach nicht begreifen, dass er für die Frauen, die er im Blick hat, einfach nicht mehr infrage kommt.
»Was hat sie genau gesagt?«, will der Kommissar wissen.
»Sie hat etwas anderes vor und sie schien sich darauf gefreut zu haben«, entgegnet er ziemlich verdrießlich. Zu gern wäre er die Verabredung gewesen, auf die sie sich gefreut hatte.
»Wissen Sie auch, was?«
»Keine Ahnung. Auf jeden Fall habe ich sie seither nicht mehr gesehen.«
Okay, notiert Trotzenburg ins Gedächtnis, Brenner im Blick behalten. Ilonka Zulert hat ihn abgewiesen. Zurückweisung und Eifersucht sind immer brauchbare Motive.
»Und Sie?«, wendet er sich nun Rita Blumling zu.
»Nachmittags am Strand, so gegen 15:30 Uhr«, entgegnet sie nach kurzer Überlegung.
»Allein?«, fragt Trotzenburg interessiert.
»Nein, ein Mann war bei ihr . . .«
»Ein Mann?«
»Ja, klar, ein Mann – warum nicht? Soll vorkommen, oder?«
Ja, warum eigentlich nicht. Trotzenburg räuspert sich.
»Können Sie ihn beschreiben? Wie sah er aus?«
»Splitterfasernackt.«
»Na, das ist doch ein Anfang. Beschreiben Sie seine Statur!«, ermuntert der Kommissar seine bislang beste Zeugin und er meint das nicht ironisch.
»Also, der Mann war etwa so groß«, beginnt sie und fährt mit der rechten, ausgestreckten Hand vertikal eine unsichtbare Skala ab und bleibt ein paar Zentimeter über Trotzenburgs Kopf stehen.
Der sieht hoch und meint: »So eins fünfundsiebzig also.«
»Wenn Sie das sagen. Er war schlank, mit leichtem Bauchansatz, kurzes graues Haar, der Körper war nicht besonders muskulös und nicht übermäßig behaart.«
»Haben die beiden einen . . . will mal sagen, vertrauten oder gar innigen Eindruck auf Sie gemacht?«
Sie überlegt und nickt. »Ja, die haben geturtelt, gegurrt, wenn Sie verstehen, was ich meine?«
Trotzenburg hat’s begriffen.
»Können Sie mir etwas über sein Alter sagen?«
»Etwa Mitte vierzig – über den Daumen gepeilt. Er schien in diesem Jahr noch nicht allzu oft in der Sonne gewesen zu sein. Sah noch ziemlich käsig aus«, sagt sie und verzieht beim Wort ›käsig‹ die Schnute, als wäre es unanständig, sich blass und käsig an den Strand zu wagen.
»Ist das alles?«, fragt er routinemäßig.
Die Frau überlegt. Sie will schon verneinend den Kopf schütteln, aber dann fällt ihr tatsächlich noch etwas ein.
»Als er sich mit der rechten Hand am graumelierten Kopf kratzte, blitzte an einem der Finger kurzzeitig etwas auf. Ich glaube, das war so ein Dings, so ein . . . Ehering! Ja, ein Ehering war das. Was steckt man sich sonst so an den Finger. Und er trug eine ziemlich große Sonnenbrille, wie ein Mafiosi sah der Mann aus. Ich meine, dass von seinem Gesicht nicht allzu viel zu erkennen war. Ansonsten stelle ich mir Mafiosi braun gebrannter vor, südländischer eben, also ganz das Gegenteil.«
Na, das ist doch endlich mal was. Ein geheimnisvoller Unbekannter, der offensichtlich verheiratet ist und käsig aussieht.
»Ilonka Zulert war wohl nicht verheiratet?«, wendet sich Trotzenburg an Liane Kempenow, nur um ganz sicher zu gehen.
»Weiß ich nicht. So etwas steht nicht in den Anmeldeunterlagen. Aber selbst, wenn sie verheiratet gewesen sein sollte, was hat das zu sagen?« Sie blickt wieder auf.
»Aber . . .«
Der Kommissar ist derart mit seinen Gedanken beschäftigt, dass er nicht weiter auf sie achtet. Er grübelt. Hat sie den verheirateten Mann hier kennengelernt oder kannten sich beide schon vorher? Ist er vielleicht mit der Ehefrau und möglichen Kindern hier im Urlaub und ist sie ihm, vereinbart oder nicht, hinterhergereist? Ist sie seine Geliebte und, wenn die Ehefrau shoppen ist oder schläft oder mit der besten Freundin klönt, treffen sie sich am Strand oder sonst wo? Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Ehemann mit heimlicher Geliebter auf diese Art seinen Urlaub verbringt, wie soll man sagen . . . zweigleisig halt. – Aber wie finde ich den Mann?
»An welchem Strandabschnitt haben Sie ihn gesehen?«, nimmt Trotzenburg das Problem in Angriff. Vielleicht erfährt er ja, wann die beiden gekommen und wieder gegangenen sind und vielleicht auch noch, quasi als Sahnehäubchen obendrauf, woher und wohin.
Rita Blumling beschreibt dem Kommissar, an welchem Strandabschnitt sie die beiden Turteltäubchen gesehen hat. Nicht weit von der Seebrücke entfernt.
»Ach, und die Ilonka Zulert hatte so eine Tasche dabei, eine Sporttasche. Grau war die, glaube ich. Ja, ich denke, grau.«
Sporttasche, na gut, denkt Trotzenburg.
Er schickt augenblicklich seinen Assistenten los, über den er derzeit nur stundenweise verfügen kann, aber das wird sich ändern, hofft er jedenfalls: von stundenweise auf fulltime.
Leberknecht stiefelt an den Strand, ausgestattet mit Trotzenburgs Hoffnung, heute mögen sich dieselben Urlauber in der Sonne aalen wie gestern und irgendetwas Interessantes beobachtet haben, das zur Auflösung des Falls beiträgt.
Während der Beamte loszieht und durch den feinen, fließenden Sand stapft, sich an großen und kleinen Sandburgen und mit Handtüchern markierten Revieren vorbeiquält, um den Badegästen eine brauchbare Zeugenaussage zu entlocken, dauert die Zeugenbefragung im Foyer an.
»Und Sie, wer sind Sie?«, wendet er sich einer leicht rundlichen, mittelgroßen Dame mit tiefschwarzer Kurzhaarfrisur zu. Auch ihre Kleidung, Bluse und Rock, sind schwarz gehalten.
»Mercedes Liebert, Herr Kommissar«, entgegnet sie mit ernster Miene. »Ich komme aus Berlin und versuche gerade, ein paar nette Tage an der Ostsee zu verbringen. Mein über alles geliebter Mann ist vor nicht allzu langer Zeit gestorben. Ich bin noch nicht darüber hinweg. Ich hoffe sehr, hier an diesem wunderschönen Ort meinen inneren Frieden zu finden und vor allem neue Zuversicht. Finden Sie es hier nicht auch wunderschön?«, säuselt sie und sieht ihn dabei mit einem gekonnten Augenaufschlag an.
Wenn Trotzenburg auch nur entfernt geahnt hätte, warum der Mann von Mercedes Liebert gestorben ist, hätte er sich mit der Dame in Schwarz von Amts wegen etwas näher beschäftigt.
Aber so sieht der Kommissar die Frau verdrossen an und brummt etwas Unverständliches.
»Ein paar nette Tage? – Der Witz ist gut!«, raunt Liane Kempenow gar nicht belustigt und so, dass es nur Trotzenburg verstehen kann. »Die Dame ist seit mindestens vier Wochen hier.«
»Von mir aus gern«, brummt er so leise, dass nur Liane Kempenow das verstehen kann. Dann wendet er sich wieder Mercedes Liebert zu.
»Sie wissen, um was es geht. Können Sie eventuell ein paar sachdienliche Hinweise geben?« Wenn Trotzenburg so allgemein fragt, erwartet er eigentlich nicht viel und will die Befragung nur abhaken.
Die Angesprochene überlegt auch nicht lange.
»Tja, ich habe die Dame, um die es wohl geht, noch nie gesehen. Es tut mir aufrichtig leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Ich genieße trotz . . .«
Trotzenburg sieht rot. Er stoppt den sich anbahnenden Redefluss.
»Moment, Sie sagen, dass Sie sie noch nie gesehen haben! Aber Sie frühstücken offensichtlich zur selben Zeit wie das Opfer. Und da ist sie Ihnen noch nie aufgefallen?«, wundert er sich.
Frau Liebert schaut ihn kurz an und entgegnet dann mit einer versteckten Arroganz: »Ich frühstücke täglich zur selben Zeit wie heute. Das stimmt. Kann schon sein, dass ich sie mal gesehen habe. Aber aufgefallen oder gar im Gedächtnis geblieben ist sie mir wohl nicht.«
Trotzenburg runzelt die Stirn. Sieht sie jeden Tag, kennt sie aber nicht – schon seltsam, dass manche Leute aber auch so gar nichts wahrnehmen. Haben halt nur sich im Sinn, sind ihrer Umgebung gegenüber mit einer erstaunlichen Blindheit geschlagen. Selfie-Mentalität, jeder scheint nur sich im Fokus zu haben.
Na ja, also weiter.
Jetzt ist endlich Liane Kempenow an der Reihe.
Sie seufzt. »Ich habe sie heute Nacht noch im ›Seestern‹ gesehen. Nicht allein.« Endlich ist es heraus. Der ›Seestern‹ ist eine Gaststätte in der Nähe der Seebrücke. Täglich finden dort Tanzabende statt, manchmal mit Liveband, meistens jedoch mit Musik vom Band oder vom Laptop, auf jeden Fall aus der Konserve.
»Und das sagen Sie erst jetzt!«, braust Trotzenburg auf. Er ahnt oft nicht einmal, dass er ungerecht ist. Wie gut, dass sich nicht jeder so etwas gefallen lässt! Sonst würde er wohl überhaupt nichts merken!
»Sie haben mich ja nicht zu Wort kommen lassen«, verteidigt sie sich und funkelt den Kommissar böse an.
Er kann sich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass er sie unterbrochen haben sollte. Aber, egal.
»Schon gut«, beschwichtigt er. »Wann war das? Könnte der Mann vom Strand ihre Begleitung gewesen sein?«
»Nein. Dieser Mann hatte langes schwarzes Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er schien nicht lange da gewesen zu sein. Auf jeden Fall habe ich ihn bald aus den Augen verloren. Im schummrigen Licht der Diskothek schätze ich ihn auf Mitte zwanzig. – Tja, wann das war? Auf jeden Fall nach Mitternacht. Wir haben in den Geburtstag meiner Freundin hineingefeiert. Als ich Frau Zulert gesehen habe, war der Gratulationsparcours schon eine Weile her. Vielleicht eine halbe Stunde oder mehr. Es war also mindestens halb eins, wenn nicht später.«
Na bitte, frohlockt Trotzenburg und die unangenehme Anspannung, am Anfang immer mit leeren Händen dazustehen, lockert sich langsam. Er ist einen Schritt weitergekommen.
Irgendwann später kehrt Leberknecht, gewissermaßen wie ein geworfener Bumerang, wieder ins Hotel zurück, allerdings mit niederschmetterndem Ergebnis, das Trotzenburgs Hoffnung auf einen weiteren Schritt nach vorne fürs erste zunichtemacht. Weder die Befragung der Badegäste im betreffenden Abschnitt noch die des Strandpersonals und der Rettungsschwimmer brachte auch nur den kleinsten Hinweis. Nackt unter Nackten – da fällt ein Gesicht nicht weiter auf. Außerdem hatte er den Eindruck, dass die potenziellen Zeugen ihn schnellstmöglich wieder aus der Sonne haben wollten, was er ihnen nicht unbedingt verübelt.
Na gut, da kann man nichts machen, denkt Trotzenburg. Um 15:30 Uhr war das spätere Opfer mit einem Verdächtigen beziehungsweise einem wichtigen Zeugen am Strand nahe der Seebrücke zusammen. Und nach Mitternacht kommt ein weiterer Mann ins Spiel, den sie nun erst einmal als Zeugen suchen. Immerhin etwas. Vielleicht taucht ja noch ein dritter Mann auf, geht es Trotzenburg durch den Kopf. Oder eine Frau, man kann ja nie wissen.
Am Abend weiß der Kommissar über das Opfer schon einiges mehr. Es stammt aus Berlin und war erst vor zwei Tagen angekommen.
Trotzenburg holt die Berliner Kollegen mit ins Boot.
Die ersten Ermittlungsergebnisse der Hauptstädtischen Kollegen bekommt Kommissar Trotzenburg nach dem Abendessen zugemailt.
Das Hotelzimmer wurde auf den Namen Ilonka Zulert für ein verlängertes Wochenende gebucht. Das hat er von der Rezeption erfahren. Die Frau war Anfang dreißig und wohnte als Single in einer geräumigen 2-Raum-Wohnung in Berlin-Mitte. Als Sekretärin an einer Berliner Hochschule verdiente sie nicht schlecht. Trotzenburg hofft, dass sie den graumelierten Herrn vom Strand schon länger kennt. Dann könnte er in ihrem Leben Spuren hinterlassen haben. Sie recherchieren erst einmal in diese Richtung. Doch graumelierte, möglicherweise verheiratete Männer gibt es in Berlin und wohl auch an Ilonka Zulerts Arbeitsstelle wie Sand am Meer. Es kann also dauern, bis sie das passende, graumelierte Sandkorn herausgepickt haben. Auch die Nachbarschaft kann nicht weiterhelfen. Dass Männer dort ein- und ausgegangen wären, hat niemand gesehen. Gelegentlich kam mal eine Freundin vorbei. Das ist dem gleichaltrigen Mann, der in der Wohnung unter ihr lebt, aufgefallen. Die Berliner Ermittler sind davon überzeugt, dass auch ein Männerbesuch ihm nicht entgangen wäre. Er hatte ein Auge auf sie geworfen, so das Resümee der Kollegen.
Als Trotzenburg das Befragungsergebnis liest, versucht er sich das wörtlich vorzustellen: Der Nachbar nimmt sein rechtes Auge und wirft es nach Frau Zulert. Tja, wo mag er sie da getroffen haben? Es wird wohl ins Dekolleté gerutscht oder an der Hüfte abgeprallt oder am Po gelandet sein. Wer weiß. Er schmunzelt in sich hinein.
In einer kleinen Pension, nicht weit vom Tatort entfernt, hat er ein kleines, aber feines Zimmer gefunden. Wie schön, dass man in der Hochsaison auch kurzfristig ein Dach über den Kopf bekommt.
Ihm liegt daran, in der unmittelbaren Nähe des Tatortes zu bleiben. Hartnäckig hält sich die Ansicht, dass der Täter zum Tatort zurückkehrt, was Trotzenburg nicht bestätigen kann. Das ist nicht der Grund, warum er die Nähe zum Tatort sucht. Ihm kommt es auf die unheimliche Aura des Tatortes an, um sich das Verbrechen vor Augen zu führen, in die Welt zu blicken wie der Täter, um ihm letztlich auf die Spur zu kommen.
Sein Mitarbeiter ist in die Stadt zurückgefahren. Per Telefon bleiben sie in Verbindung. Das ist vereinbart. Der Kommissar richtet sich, trotz immerwährender Erreichbarkeit, auf einen ruhigen, eventuell sogar gemütlichen Abend ein. Vielleicht ein paar ungesalzene Erdnüsse knabbern, ein Glas Rotwein trinken und später im dunklen Zimmer am offenen Fenster stehen und in das Sternengefunkel am Himmel schauen und seine Gedanken hinaufschicken, wie immer, wenn er zum Feierabend gern mal die Gegenwart vergisst, aber immer noch mit einem Ohr in sie hinein lauscht. Schon das kleinste Geräusch holt ihn zurück: ein Bellen, ein Autogeräusch, das Klingeln des Telefons. Aber es bleibt alles still.
Wie damals, als er in Stiefel und Uniform und mit einer MPi über der Schulter über den feinen Sandstrand gestapft ist, links das anrollende Wasser mit leuchtend weißen Schaumkronen und rechterhand dunkles Gestrüpp. Das Glitzern der Sterne vor fiebrigen Augen und dann plötzlich Geräusche aus dem Dunkeln: Rascheln, Knacken, Schnaufen. Ein Reh, ein Wildschwein oder . . . Was war das? Der panische Griff nach der Waffe. Kommt da wer aus der Dunkelheit?
Doch dann war es nur ein Igel.
Einige Wochen zuvor
In den Tropen kennt man den Begriff »tropische Nächte« nicht, weil hier im Grunde jede Nacht tropisch und deshalb nichts Besonders ist. Den Begriff benutzen vor allem Europäer, die in derart kühlen Regionen leben, dass sie ohne Bettdecke nachts frieren würden wie ein Schneiderlein. Und dann wünscht man sich voller Sehnsucht tropische Nächte. Andersartige, ganz besondere Nächte, die man sich als fröstelnder Mitteleuropäer mit seiner Phantasie vielleicht so vorstellt: warm, voll intensiver Gerüche und vielleicht noch voll möglichst harmloser Gefahren und kindlicher Abenteuerlust. Dabei sind die »very hot nights« bei einer Temperatur von selten unter 30 Grad Celsius unsagbar schwül. Ein untrainierter Kreislauf bricht da schnell zusammen und eine Anakonda hätte leichtes Spiel. Oder ein Spitzkrokodil. Irgendein Dschungeltier hat da immer Kohldampf.
Oder ein ganz anderer Feind liegt auf der Lauer, mit dem auch nicht zu spaßen ist.
In der zwischen kolumbianischem Sumpf und Karibik verborgenen Marina, die für nur wenige Tage aus dem Erdboden gestampft wird, beginnt mit Einbruch der Dunkelheit ein geschäftiges Treiben. Der lautlose Startschuss fällt mit der Ankunft eines bis unter die Plane vollgestopften Lkw, der einige Stunden zuvor von einem anderen geheimen, verborgenen Ort an der kolumbianischen Pazifikküste aufgebrochen ist und einer rollenden Festung gleicht. Etwa ein Dutzend Söldner einer privaten Armee haben sich zwischen Fracht und Heckklappe gezwängt. Kleinere, wendige Patrouillenfahrzeuge, die voller bewaffneter Männer und Frauen stecken, begleiten den Konvoi. Ein zufälliger Passant am Straßenrand, ein potenzieller Augenzeuge, würde eine MG-Salve auslösen, die den Ahnungslosen ohne Vorwarnung durchsiebte. Die Leichname werden in den Sumpf befördert und verschwinden dort auf Nimmerwiedersehen. Es geht um Milliarden aus einem sensiblen Geschäft.
Jeder unvorsichtige Kontakt löst, wie die Begegnung mit dem hochgiftigen Feuerfisch, reflexartig eine tödliche Attacke aus. Das liegt in der riskanten Natur dieser Dinge begründet. Wer kann, sollte ihnen lieber aus dem Weg gehen. Aber manche Leute haben keine Wahl und andere wiederum lockt das viele Geld, das sich mit der Herstellung und dem Handel von berauschenden Giften verdienen lässt.
Die Sonne hat den Zenit am Boltenhagener Himmel seit Stunden überschritten und neigt sich über den Feldern im Westen zum Horizont hinab. Nach 17:30 Uhr läuft ein Mann mit einem blauen Basecap auf dem Kopf am Ende der von Touristen bevölkerten Seebrücke auf den hölzernen, klappernden Bohlen hin und her. Unruhig wie ein Tiger im Käfig. In dem Gewirr von Menschen, Hunden und Möwen fällt er nicht auf. Das Meer rauscht sanft und das Klapper-Geräusch geht im frühabendlichen Getöse der Urlauber unter. Der Mann bleibt immer wieder stehen, schaut auf die Uhr, blickt suchend auf den Zehenspitzen stehend über die Köpfe der Menschen hinweg zum Ufer. Dann schüttelt er immer wieder verärgert mit dem Kopf. Eine Falte gräbt sich von Minute zu Minute tiefer in die Stirn. Er sieht verbittert aus. Offenbar hat ihn jemand versetzt und nun ist er ziemlich sauer. Nach etwa einer halben Stunde hat er genug und bahnt sich einen Weg zurück zum Ufer. Auf dem Geländer haben sich Möwen und Krähen niedergelassen. An Menschen gewöhnt, bleiben sie auf dem Holzgeländer sitzen und sehen ihn nicht einmal an, während er sie passiert.
An der Promenade angekommen, bleibt er neben überfüllten Fahrradständern stehen und blickt unschlüssig in Richtung des Kurparks. Er zögert. Doch dann läuft er nach rechts, kehrt aber nach ein paar Metern wieder um. Dasselbe passiert, nachdem er die andere Richtung eingeschlagen hatte. Irgendwie kann er sich nicht entscheiden, ist zerrissen und kommt nicht vom Fleck.
Er steht leicht nach vorne gebeugt, fast schon gekrümmt, als hätte er Bauchschmerzen.
Zwischen welche Stühle hat er sich gesetzt?
Wohin geht es für ihn in die eine und wohin in die andere Richtung?
Bevor er jedoch wie angewurzelt stehen bleibt, strafft er seinen Körper und geht nach rechts.
Kurze Zeit später, gegen 18:15 Uhr, bekommt Trotzenburg einen dringenden Anruf aus dem Hotel. Er hatte sich eben für ein kurzes Nickerchen aufs Bett gelegt, ist bei dem schrillen Klingelton jedoch sofort putzmunter.
»Kommen Sie, schnell! Hier schleicht jemand ums Haus.«
Er hat den Hotelmitarbeitern eingeschärft, ihn zu benachrichtigen, sobald sich im Hause etwas Ungewöhnliches tut.
Kommissar Trotzenburg verliert keine Zeit und erreicht in wenigen Minuten das Hotel.
»Wo?«, fragt Trotzenburg die Hotelangestellte, die ihn an der Eingangstür aufgeregt erwartet.
»Hinterm Haus, kommen Sie. Ich gehe vor.« Sie flüstert fast, als hätte sie Angst, der Unbekannte könnte ihr an die Kehle springen.
Lautlos schleichen beide durchs Gebüsch und kommen so ungesehen an der Rückseite des Hotels an.
Aber da ist niemand.
»Wo ist er hin?«, ärgert sich Trotzenburg leise. Vielleicht ist der mysteriöse Besucher ja noch in der Nähe und hält sich versteckt.
»Woher soll ich das wissen?«, entgegnet die Frau in normaler Lautstärke. »Hat er mir nicht gesagt!« Jetzt wird sie schnippisch. Trotzenburg stört das nicht.
Falls er hier noch irgendwo lauern sollte, wird er spätestens jetzt wie ein Wiesel das Weite suchen.
»Was ist passiert?«, wendet er sich der Frau zu.
»Es ist erst ein paar Minuten her, dass der Anruf kam. Ein Gast bemerkte im Garten einen gebückt huschenden Mann. Offensichtlich wollte er nicht gesehen werden und drückte sich im Gebüsch herum. Da fallen einem ja die schauerlichsten Dinge ein.«
»Den Mann will ich sofort sprechen«, grummelt Trotzenburg.
Über englischen Rasen geht es ins Hotelfoyer zurück, per Telefon bittet die Hotelangestellte den Gast ins Foyer. Und der lässt sich nicht lange bitten. Ein glatzköpfiger Mann Anfang vierzig, mit dunkler kurzer Hose und gelbem T-Shirt bekleidet, kommt aus dem Fahrstuhl. Der Kommissar stellt sich vor.
»Angenehm, Taubert«, erwidert der Hotelgast.
Er sei seit zwei Wochen hier, meint der Mann und scheint sich über die Abwechslung zu freuen. Ob Urlaub langweilig sein kann?
»Sie haben ihn gesehen?«, legt Trotzenburg ohne weitere Vorrede los. Dem Mann wird ja wohl klar sein, was er hier soll.
»Anfangs nicht. Ich hab zunächst nur so ein gedämpftes Rufen gehört und dann so ein hartes Klackern. So hört es sich an, wenn Stein oder Sandklüten auf Glas schlägt. Daraufhin bin ich ans Fenster, ich lasse es offen, wenn ich da bin, und dann sah ich ihn . . .«
»Ist Ihnen an ihm etwas aufgefallen?«, unterbricht Trotzenburg ihn.
Taubert denkt nach.
»Tja, Mann halt, sah völlig normal aus. Er stand vor dem Fenster der Toten, die in der ersten Etage wohnte, und warf Steinchen hoch. Als er mich gesehen hat, rannte er gleich weg . . .«
»Hat er sich im Gebüsch versteckt?«
Der Zeuge hebt und senkt die Schulter.
»Weiß ich nicht. Vielleicht hat er sich dorthin verkrümelt. Oder er ist um die Ecke und hat da gewartet oder gleich das Weite gesucht. Gesehen habe ich ihn jedenfalls nicht mehr.«
Okay, denkt Trotzenburg, dann ist er wohl weg. Das Indianer-Spielen können wir sein lassen.
Die Aussage interessiert ihn trotzdem.
Könnte es einer der beiden Männer, die quasi schon im Spiel sind, gewesen sein? Bisher unterscheiden die beiden sich lediglich in der Frisur. Dahin zielt dann auch Trotzenburgs Frage.
»Trug der Mann kurzes oder langes Haar?«, forscht Trotzenburg nach und hofft inständig, dass nicht noch ein dritter Kandidat ins Spiel kommt, vielleicht jemand mit mittellangem Haar oder Glatze oder so.
»Tja«, grübelt der Angesprochene. »Er ist kurz hinter dem weißen Rhododendron aufgetaucht. Der trug ein blaues Basecap. Sah albern aus bei ihm. Aber so sehen viele aus, nichts Besonderes. Das Haar drunter war nicht lang. Kurzes Haar lugte unter dem Cap hervor.«
»War das Haar vielleicht grau?«
»Kann sein, schwarz, blond, rot waren es jedenfalls nicht, nichts Auffallendes. Ja, das könnte Grau gewesen sein, so ein helles, wie das Grau einer Silbermöwe. Der wuselte mehr als zwanzig Meter entfernt. So genau war das nicht zu erkennen.«
Na also, immerhin, das ist doch was, atmet der Kommissar hörbar auf.
»Danke erst einmal. Ich melde mich, sobald ich noch etwas brauche.«
Der Hotelgast nickt und geht.
Okay, denkt Trotzenburg, das könnte durchaus der Graumelierte gewesen sein, wenn nicht noch ein Dritter . . . wie gesagt. Aber wenn der tatsächlich hier war, weil seine Angebetete nicht zum Date erschienen ist, auf Anrufe nicht reagiert und so weiter, kann er nicht wissen, dass sie tot ist. Und dann kann er sie unmöglich auf dem Gewissen haben, jedenfalls nicht in dieser Frage. Das ist klar wie Kloßbrühe.
Und schon melden sich wieder Zweifel an.
War es vielleicht nur ein Ablenkungsmanöver nach dem Motto: Seht her, Leute, ich bin hergekommen, weil ich vollkommen ahnungslos bin und nicht weiß, dass sie tot ist. Also kann ich es auf keinen Fall gewesen sein. Das müsst ihr mir glauben! – Trotzenburg lauscht diesem Gedanken kurz nach und verwirft ihn wieder. Nein, denkt er entschieden. So eine vorgespielte Ahnungslosigkeit würde höchstwahrscheinlich viel pompöser ausfallen. Mit großem Auftritt im Foyer oder so, damit er auch ja nicht übersehen werden kann. Auf jeden Fall nicht heimlich im Hof, vor zufällig anwesendem Publikum.
Aber warum ist er weggerannt? – Das ist doch klar, denkt der Kommissar, er kam an wie ein Dieb. Wenn Ilonka Zulert tatsächlich seine heimliche Geliebte ist, will er natürlich inkognito bleiben, mit albernem Basecap, ein Schatten ohne Gesicht. Es soll niemand von dem Verhältnis der beiden erfahren.
Aber vor wem soll es geheim gehalten werden?
So weit, so gut. Früher oder später wird der Mann wieder auf der Matte stehen, weil er Ilonka Zulert nicht erreichen kann und die Ungewissheit in ihm nagt.
Den Graumelierten kann Trotzenburg, kraft seiner grauen Zellen, erst einmal abhaken. Obwohl es ihn trotzdem brennend interessiert, wer sich unter diesem Basecap verbirgt. Aber das wird schon noch.
Jetzt rückt erst einmal der andere Mann ins Visier des Ermittlers: der langhaarige Unbekannte aus der Disco.
Für den Abend hat Trotzenburg sich mit Liane Kempenow im ›Seestern‹ verabredet. Sie ist die einzige Zeugin, die den ominösen Mann schon einmal gesehen hat. Und vielleicht ist er heute ja wieder da.
Einige Wochen zuvor
Heute Nacht wurde niemand ermordet. Kein weiterer Leichnam landet heute Nacht im kolumbianischen Dschungel und wird dort von Tieren, Pflanzen, Mikroben verwertet, als hätte er nie existiert. Heute Nacht nicht, bisher jedenfalls nicht. Aber noch ist die Aktion nicht zu Ende.
Der Lkw stoppt am Steg. Etwa ein Dutzend mobile Strahler tauchen das Areal in grelles Licht. Penibel wird darauf geachtet, dass die Lichtquellen nicht weithin sichtbar in den Himmel leuchten und auch nicht über den natürlichen Schutzwall aufs Meer. Das wäre fatal. Das grelle Licht darf jenseits des üppigen Laubes nicht zu sehen sein. Vor der Polizei haben sie keine Angst. Die interessiert sich nicht für sie, weil sie mit im Boot sitzt und am Handel mit den Unmengen von Drogen kräftig mitverdient. Ihr Feind ist mächtiger, weil besser ausgerüstet und nur halb so korrupt. Für Armee und Marine sind die Drogenbosse der Feind Nummer 1. Zu gerne feuern sie mit großen Kalibern auf diese verdammte Bande und schießen alles kurz und klein. Es werden nicht gern Gefangene gemacht.
Doch im Moment hat niemand etwas zu befürchten. Es scheint alles ruhig zu sein.
Es sieht am Ufer aus, als würde ein Film gedreht.
Sollte allerdings jemandem einfallen, das Geschehen zu filmen, wäre das sein Todesurteil, das nicht gleich, sondern nach qualvollen Folterungen Stunden später vollstreckt werden würde, sollte der Delinquent die Tortur überleben.
Die Ladeklappe wird heruntergelassen, auch hier grelles Licht, es fällt auf die gut verpackte Fracht. Alles ist grell, damit sich niemand unbeobachtet fühlt und in Versuchung kommt, auch nur ein einziges Päckchen abzuzweigen und in die eigene Tasche zu stecken.
Alles geht sehr schnell vonstatten. Jeder weiß, was zu tun ist. Ein Gabelstapler hebt die erste Palette herunter und setzt sie ein Stück entfernt auf den weichen Erdboden ab. Nun beginnen Frauen und Männer emsig wie Ameisen, die schützende Hülle von der Fracht zu entfernen und sie auszupacken. Handliche Päckchen, die wasserfest ummantelt sind und auch in kleine Taschen passen, kommen zum Vorschein. Längst haben die zwei- bis dreiköpfigen Schiffsbesatzungen, leger und bunt als Urlauber gekleidet, die Schiffe verlassen und sich wie zur Essensausgabe beim Militär angestellt, um die Päckchen in Empfang zu nehmen und an Bord zu schaffen. Die Stimmung ist angespannt, die Wachen sehen verbissen auf das Treiben ringsum. Niemandem darf ein Fehler unterlaufen. Den Bewaffneten liegen die Finger locker am Abzug. Ein Erschrecken, eine nervöse Zuckung reicht und eine Salve peitscht durch die Nacht und tötet wahllos. Sie hätten damit kein Problem, denn Töten ist ihr Handwerk. Doch bisher geht alles gut. Die vermeintlichen Urlauber beeilen sich. Sie haben noch eine Stunde Zeit. Dann muss der Lkw von hier wieder verschwunden sein und eine halbe Stunden später sämtliche Schiffe und in zwei Stunden die Bewaffneten, wie vom Erdboden verschluckt. Nichts soll an die nächtliche Aktion, die immer von langer Hand vorbereitet wird, erinnern. Nichts darf gefunden werden, nicht der kleinste Schnipsel Papier.
Heute dauert alles viel zu lange. Irgendwo im Ablauf gibt es eine Verzögerung. Der Boss kümmert sich darum.
Gegen 19:00 Uhr kommt Trotzenburg wieder in die Pension. Allerdings hat der Kommissar keine Lust, bis zur Verabredung am Abend im ›Seestern‹ in seinem allzu stillen Zimmer zu versauern. Er leiht sich vom Vermieter ein Fahrrad und radelt an der Steilküste entlang, Richtung Travemünde. Linkerhand erstrecken sich Getreidefelder, rechts geht es ziemlich schroff zum Strand hinab, stellenweise bis zu zwanzig Meter. Manchmal rollt der Vorderreifen keinen halben Meter vom Abgrund entfernt über die holprige Strecke.