NEUE TÖDLICHE ANLEITUNGEN
1. Auflage, August 2016
Copyright © 2016 by edition krimi, Leipzig
edition krimi
Alle Rechte vorbehalten
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Lektorat: Elia van Scirouvsky
Umschlaggestaltung: ama medien
Umschlagmotiv: photocases.com/complize
Fotos: Kerstin & Andreas Müller
Satz: ama medien
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ISBN 978-3-946734-46-8 (ebook)
ISBN 978-3-946734-05-5 (print)
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www.edition-krimi.de
Andreas M. Sturm
Leitfaden der tödlichen Flora
Anne Mehlhorn
Besenginster: Zitronenfalter
Franziska Steinhauer
Pfaffenhütchen: Pfarrer Mützchen
Ingrid Schmitz
Rainfarn: Möchten Sie eine Quittung?
Mandy Kämpf
Narzisse: Madonna
Jan Flieger
Rhododendron: Möwen sind keine Zeugen
Frank Kreisler
Giftsumach: Schwarze Schmetterlinge
Gisela Witte
Oleander: Die schöne Pflanze
Andreas M. Sturm
Stechapfel: Kondolenzbesuch
Traude Engelmann
Wüstenrose: Schön tot
Hughes Schlueter
Gemeiner Seidelbast: Das Rezept
Petra Steps
Alpenveilchen: Das Eso-Massaker
David Gray
Rostblättrige Alpenrose: Burrito pollo
Eva Lirot
Weiße Zaunrübe: Mit süßen Grüßen
Petra Tessendorf
Maiglöckchen: Die Wolfsschlucht
Martina Arnold
Haselwurz: Der Anwärter
Autoren: Die Giftmischer
Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift;
allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.
Paracelsus
Diese Worte, die der bedeutende Arzt bereits im 16. Jahrhundert formuliert hat, beschreiben die Wirkung von Giftpflanzen sehr genau. In den vergangenen Jahrhunderten, als die Menschheit zur Krankheitsbekämpfung noch nicht auf chemisch gewonnene Medikamente zurückgreifen konnte, waren Aufgüsse und Mixturen aus Pflanzenteilen oft die einzige Heilmethode für Gebrechen aller Art. Doch verdrängen konnte die Chemie die Pflanzenheilkunde nicht, noch immer wird die heilende Wirkung der grünen Gewächse genutzt.
So wurden bzw. werden Besenginster, Pfaffenhütchen, Oleander und Maiglöckchen zur Behandlung von Herzkrankheiten eingesetzt. Rainfarn war in vergangenen Tagen ein beliebtes Mittel zur Entwurmung. Heutzutage nimmt man davon lieber Abstand, da es vorkam, dass nicht nur die Würmer auf der Strecke geblieben sind. Die gelbe Narzisse und die Sprossen des Giftsumachs finden gelegentlich in der Homöopathie bei Atemwegserkrankungen Verwendung. Und auch gegen Rheuma sind Kräuter gewachsen: Rhododendron, Seidelbast und die weiße Zaunrübe.
Diese Liste ist unvollständig und ließe sich weiter fortsetzen, aber das überlasse ich Nachschlagewerken über die Wirkungsweise von Heilpflanzen. Hinzufügen möchte ich jedoch abschließend, dass getrocknete Teile des Maiglöckchens Schnupftabakmischungen beigefügt wurden, um so das Niesen zu fördern und das ›Gehirn zu reinigen‹. Andere Zeiten – andere Vorlieben!
Der Gesundheitsaspekt der Pflanzen steht jedoch nicht im Mittelpunkt der Geschichten, sondern das tödliche Gift.
Wie bereits im erfolgreichen Vorgänger dieser Anthologie lassen auch in diesem Buch alle beteiligten Giftmischer ihrer mörderischen Fantasie freien Lauf und befördern mit spitzer Feder unliebsame Mitmenschen ins Jenseits. Die Motive für die Taten sind vielfältig: Eine abnorme und zerstörerische Mutterliebe, Rache, Gier, die Bestrafung eines Betrügers, eine verabscheute Chefin, der Anschlag auf eine Profikillerin, bis hin zu einem Hass, der weit in die Vergangenheit zurückreicht.
Für thematische Abwechslung ist also bestens gesorgt und auch die unterschiedlichen Schreibstile lassen keine Langeweile aufkommen: Mal nachdenklich ernst, sogar mit traurigem Unterton, bis hin zu heiteren, schwarzhumorigen Erzählungen, für jeden Geschmack ist die passende Erzählung dabei.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit den giftig, mörderischen Geschichten der ›Giftmorde 2‹ und vielleicht lesen wir uns im 3. Band der Reihe um Floras tödliche Kinder wieder.
Andreas M. Sturm
Ingrid schüttelte die Hand des Arztes, Dr. Franke. Sein Griff war angenehm fest, die Haut warm. Ein bisschen Sicherheit, ein Stück Zuhause. »Ich danke Ihnen von Herzen«, sagte sie und setzte das strahlendste Lächeln auf, zu dem sie imstande war. »Sie haben so viel für uns getan.«
Er blickte sie betrübt an. »Sagen Sie das nicht, ich habe Ihnen nicht helfen können.« Seine Augen wanderten an ihr vorbei, nach hinten zur Spielecke für die Kinder. Ingrid drehte sich um, folgte seinem Blick und sah zu ihrer kleinen Sonja, die dort am Tisch saß und fasziniert Holzkugeln an einem Metalldraht hin und her schob. Dabei hopste sie auf dem Kinderstuhl auf und ab. Der Haargummi, mit dem Ingrid ihr erst vor einer halben Stunde einen Zopf gemacht hatte, löste sich schon wieder aus ihren widerspenstigen Locken. Nachdem Sonja mehrere Tage im Krankenhaus zugebracht hatte, war sie heute sehr aufgeregt, wieder nach Hause zu dürfen, und konnte keine Sekunde still sitzen.
»Wir können nur abwarten, ob die Therapie diesmal anschlägt«, fuhr der Arzt fort, »und hoffen, dass die Symptome nicht zurückkommen.«
»Ja«, erwiderte Ingrid, wobei sie das Spiel ihrer Tochter liebevoll beobachtete. »Ich werde mich streng an Ihre Anweisungen halten.«
»Daran habe ich keine Zweifel, Sie kennen sich ja aus.« Dr. Franke wusste, dass Ingrid von Beruf Krankenschwester war. Er hatte früher sogar eine Zeit lang auf derselben Station gearbeitet.
Sie sah ihm tief in die Augen. »Ich hoffe so sehr, dass mein kleiner Schatz endlich gesund wird.« Sie biss sich auf die Unterlippe, machte einen Schritt auf den Arzt zu. »Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer das alles für mich ist … Ich möchte doch nur, dass meine Kleine fröhlich ist und spielen und toben kann wie andere Kinder.«
Er legte eine Hand auf ihre Schulter. Diese schwere und doch weiche Hand. Die Berührung löste eine Welle von Wärme in Ingrids Brust aus. »Ich weiß, es ist schwierig für Sie«, sagte er sanft. »Aber Sie machen das sehr gut. Sie kümmern sich so liebevoll um Sonja … Ich bin sicher, dass ihr das hilft, um gesund zu werden.« Sie spürte, dass ihr Blut ins Gesicht schoss und ihre Wangen glühten. Mit einem breiten Lächeln verabschiedete sie sich, nahm Sonja an die Hand und verließ das Krankenhaus.
Draußen herrschte schönstes Sommerwetter; der Himmel war wolkenlos und die Sonne zeichnete die Schattenrisse der Pappeln auf den Asphalt. Überall rund um Ingrid und Sonja schwebten lethargisch weiße Flocken durch die Luft; die Samen der Bäume, die überall um das Krankenhaus herum wuchsen. Sonja war hingerissen von diesen plüschigweichen Dingern, ließ beim Gehen immer wieder Ingrids Hand los und fing stattdessen so viele der Wattebäusche, wie sie konnte.
»Guck mal, Mama, so viel hab ich schon!«, rief sie und zeigte Ingrid die Flockenmasse in ihren Händen.
»Schön, Schatz, aber jetzt komm wieder an meine Hand, ja?«
Lachend und taub für Ingrids Worte, hüpfte Sonja auf dem Gehsteig vor ihr herum. Sie entdeckte einen Zitronenfalter, der zwischen den Flocken hin und her schaukelte und jagte ihm nach.
»Gleich hab ich dich, gleich hab ich dich!«, rief sie immer wieder. Den Blick auf den Schmetterling geheftet lief sie weiter, direkt auf eine Straßenkreuzung zu. Ingrids Herz zog sich schmerzhaft zusammen; mit wenigen schnellen Schritten war sie bei ihrer Tochter und packte deren Arm.
»Aua!«, rief Sonja und drehte sich verwirrt zu ihr um.
»Pass auf, wo du hinläufst!«, herrschte Ingrid sie an. Ihr Puls beruhigte sich nur langsam wieder. »Die Straße ist gefährlich!«
Sonja schob die Unterlippe nach vorn. »Jetzt ist der Schmetterling weg«, sagte sie.
»Komm«, Ingrid hielt ihren Arm weiterhin fest umschlossen und zog sie mit sich. »Komm schon, du dummes Ding.«
Auf dem Weg zu ihrer Wohnung in einem kleinen Mehrfamilienhaus kamen sie wie immer am Waldrand vorbei. Sie gingen regelmäßig hier spazieren – die Ärzte sagten stets, dass frische Luft und Bewegung Sonjas Gesundheit in jedem Fall gut täten. In dem kleinen Eichenwäldchen beobachteten Ingrid und sie gemeinsam Eichhörnchen und verschiedene Vögel; Sonja pflückte Gräser und Wildblumen am Waldsaum, und nur selten trafen sie hier auf andere Spaziergänger.
Sonja rannte aufgekratzt zwischen den Baumstämmen herum, zupfte Grasbüschel aus dem Boden und warf sie in die Luft. Es war offensichtlich, wie sehr sie sich in den letzten Tagen im Krankenhaus gelangweilt hatte. Wenn Ingrid dieses kleine Energiebündel beobachtete, war es fast unvorstellbar, dass dasselbe Kind noch vor einer Woche mit hochrotem Kopf und schweißnasser Stirn im Bett gelegen hatte und keine Mahlzeit bei sich behalten konnte.
Sie erreichten eine Hügelkuppe, von der aus man weit über die Stadt blicken konnte. Von hier waren es nur noch ein paar hundert Meter bis nach Hause. Gleich neben dem Fußweg, am Waldrand, wuchsen große, hellgelb blühende Büsche. Besenginster, wie Ingrid wusste. Die strahlenden Blüten erinnerten sie an den Zitronenfalter, den Sonja gejagt hatte. Nur dass sich hier aberhunderte von Faltern auf jedem der Sträucher versammelt hatten. Ingrid blieb stehen, während Sonja ein Stück vorauslief. Sie wandte sich den Sträuchern zu, ließ einen Ast durch ihre Hände gleiten und zupfte einige der grünen Fruchthülsen ab, die daran hingen. Eine, zwei, drei. Sie steckte die Hülsen in ihre Manteltasche.
Der Vormittag verlief in ruhigen Bahnen. Sonja schaute ihre Lieblings-Trickfilmserien und Ingrid kümmerte sich um den Haushalt. Sie kochte Spaghetti mit Tomatensoße, und nachdem der Abwasch erledigt war, ging sie mit Sonja noch zum Spielplatz. Diese alltägliche Routine, die sie sonst häufig überfordert hatte, ging ihr nach dem Gespräch mit Dr. Franke leicht von der Hand. Ja, sie war eine gute Mutter. Eine tolle Mutter. Während sie Sonja beobachtete, die immer wieder die Holzleiter zur Spielburg hinaufkletterte und ein ums andere Mal juchzend die Rutsche hinabglitt, dachte sie trotzig an all jene, die ihr das nicht zugetraut hatten. Alleine mit der Kleinen – ohne Mann? Und nebenbei der Job im Krankenhaus? Sie zeigte es ihnen, sie würde beweisen, dass sie stark genug für das alles war. Stark genug, sogar für ein ständig krankes Kind, für zig Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte …
Mit den Fingerspitzen fuhr Ingrid über die hölzernen Bretter der Bank, auf der sie saß. »Er hat gesagt, ich kümmere mich liebevoll um Sonja«, flüsterte sie zu sich selbst. Ingrid redete oft auf diese Weise vor sich hin. Schon als Kind hatte sie sich diesen Spleen angewöhnt, und inzwischen waren die Selbstgespräche ihr ganz selbstverständlich geworden.
Gegen Abend badete sie Sonja. Noch immer ging es der Kleinen unverändert gut. Danach machte Ingrid sich und ihre Tochter fertig für die Nachtschicht. Im Krankenhaus gab es zum Glück einen Betriebskindergarten, der es alleinerziehenden Schwestern ermöglichte, in Schichten zu arbeiten. Sie packte Sonjas Lieblingsstofftier – einen großen Hasen mit bunten Schlappohren – und ein Bilderbuch in eine Plastiktüte und brachte sie zum Kindergarten. Die Betreuerin, Frau Sobke, erkundigte sich mitfühlend nach Sonjas Gesundheitszustand und Ingrid genoss diesen kurzen Augenblick der Anteilnahme. Momentan gehe es Sonja gut, sagte sie.
Ihre Schicht begann um 21.30 Uhr. Sie war allein, verantwortlich für zwanzig Patienten. Nach der Übergabe und dem Setzen der Medizin für den kommenden Tag, zog sie sich ins Schwesternzimmer zurück, um eine Kleinigkeit zu essen.
Sie holte den Fertigsalat aus dem Kühlschrank, gab Joghurtdressing darüber und verteilte es mit der Gabel zwischen den Blättern.
In diesem Augenblick, als sie so allein im Halbdunkel an dem kleinen Tisch saß, brach sie wieder über sie herein: diese Flutwelle der Hilflosigkeit und Angst.
»Ich schaffe das nicht allein«, sagte sie leise und schluckte schwer. Dann fügte sie mit härterer Stimme hinzu: »Aber ich muss, ich muss.« Sie steckte eine Gabel mit Salat in ihren Mund. Ihre Hand zitterte dabei. Sie hasste diese Anfälle von Schwäche, in denen sie glaubte, sie wäre nie wieder in der Lage aufzustehen, nie wieder in der Lage zu arbeiten, nie wieder in der Lage, ihre Tochter zu trösten … Sie begann lautlos zu weinen.
»Du bist total irre«, hatte Steffen gesagt, und sie mit diesem verachtenden Blick angesehen, bevor er seine Sachen gepackt hatte und für immer gegangen war.
»Bin ich nicht«, sagte sie leise. Die Tränen, die unentwegt weiter flossen, berührten ihre Lippen, die Zungenspitze. Salzig.
Abrupt wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen. »Bin ich nicht!«, wiederholte sie noch einmal, laut und deutlich, um die erdrückende Stille im Schwesternzimmer zu durchbrechen. Sie dachte wieder an Dr. Franke, an seinen Blick, seine Berührung. Als sie fertig gegessen hatte, konnte sie wieder aufstehen und machte sich daran, die Formulare für die Medikamentenbestellung auszufüllen.
Am frühen Morgen holte sie Sonja aus dem Kindergarten ab. Sie liefen zusammen heim, den altbekannten Weg, vorbei am Waldrand, vorbei an den Zitronenfalter-Sträuchern. Sonja plapperte vor sich hin, zeigte auf alles Mögliche, forderte ihre ganze Aufmerksamkeit.
Zuhause angekommen, bereitete Ingrid ihnen Frühstück zu. Für sich selbst ein Spiegelei mit Speck, für Sonja Früchtequark mit Müsli. Während Sonja ungeduldig auf dem Küchenstuhl hin- und herrutschte und ihr mit großen Augen zusah, glitt Ingrids Hand wie automatisch zu dem kleinen Glas im Gewürzregal. Das Glas mit den braunen Samenkörnern, jedes etwa so groß wie ein Maiskorn. Die Samen, die sie am Vortag aus den Fruchthülsen vom Besenginster entnommen hatte.
»Ich mische dir deine Medizin in den Quark«, sagte sie zu Sonja.
»Ich mag die nicht!«, gab Sonja zurück. »Die sind ganz eklig und tun weh im Mund!«
Ingrid drehte sich zu ihr um und stellte die Schale mit Quark, Müsli und den Ginstersamen vor ihr auf den Tisch. »Aber Schatz, du willst doch gesund werden. Du bist ein braves Mädchen, ja?« Sonja blickte mit gerunzelter Stirn auf die Schale.
»Komm schon, versuch es wenigstens.« Ingrid gab ihrer Stimme einen einschmeichelnden Ton. »In dem leckeren Quark wirst du es kaum schmecken.«
Widerwillig schob Sonja den ersten Löffel in ihren Mund. Es schien zu funktionieren – die Süße und das Fett des Quarks linderten den brennenden Geschmack der Samen, sodass Sonja ohne weiteren Protest die gesamte Schüssel leer aß.
Die Vergiftungssymptome setzten eine halbe Stunde später ein, als Ingrid gerade in der Küche den Herd säuberte. Sonja kam mit weinerlicher Stimme zu ihr und schmiegte sich an ihre Beine. Ingrid spürte, dass der Körper des kleinen Mädchens heiß war und zitterte. »Mein Kopf tut weh und mir ist wieder so komisch«, quengelte sie. Mit »mir ist komisch« meinte sie natürlich die Schwindelgefühle. Ihre erweiterten Pupillen waren das deutlichste Zeichen.
Ingrid ging in die Hocke, strich ihrer Tochter zärtlich über die Wange und küsste ihre Stirn. »Ach Schatz, geht es wieder los? Das tut mir so leid.« Sie ging mit Sonja ins Wohnzimmer und schaltete ihr eine Kindersendung ein. Den blauen Plastikeimer aus dem Badezimmer stellte sie zur Sicherheit gleich neben das Sofa. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Kleine sich übergeben würde.
»Es wird alles gut, Spatz, ich rufe gleich den Arzt an.«
Sie griff nach dem Telefon, wählte die Nummer des Krankenhauses und ließ sich zur Station B4 durchstellen. Eine Krankenschwester reichte sie an den Stationsarzt weiter.
»Ja, Franke hier«, meldete er sich.
»Guten Tag, Herr Dr. Franke, hier ist Ingrid Böhm. Es tut mir leid, aber meiner Sonja geht es seit heute Morgen wieder sehr schlecht.«
»Oh.« Seine Stimme klang anders als am Vortag. Nicht mehr so kräftig, sondern irgendwie dünn und ein wenig kühl. »Das hört man nicht gern.«
»Ja, ich bin auch ganz verzweifelt. Ich weiß bald nicht mehr, was ich noch tun kann. Es bricht mir wirklich das Herz, sie so leiden zu sehen.«
»Sind es wieder dieselben Symptome?«
Ingrid nickte. »Ja, sie schwitzt, hat Schwindelattacken, Magenprobleme … Ich gebe ihr viel zu trinken, wie Sie gesagt haben, und habe ihre Stirn gekühlt. Können wir gleich noch vorbeikommen?«
Sie hörte, dass Dr. Franke am anderen Ende der Leitung vernehmlich durchatmete. Einige Sekunden lang sagte er nichts. Dann: »Frau Böhm, ich … Ich habe mich gestern noch einmal mit einem guten Kollegen beraten, wegen des Falls ihrer Tochter. Weil mir das keine Ruhe lässt. Das geht jetzt schon so lange, dass sie immer wieder krank wird. Unspezifische Symptome, Schübe wie aus dem Nichts, und es ist schwer, das mit anzusehen …«
Ingrid krallte die Hände fest um den Hörer des Telefons. Sie sagte nichts, lauschte nur angespannt den Worten des Arztes.
»Jedenfalls, der Kollege meinte … Nun ja, manchmal, wenn man keine körperlichen Ursachen findet, kann so etwas auch mit der Psyche zusammenhängen … Der Psyche des Kindes und vielleicht auch …«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fuhr Ingrid ihn an, »Dass ich mir diese Symptome nur einbilde?! Sie haben Sonja doch selbst untersucht, Sie haben gesehen …« Sie registrierte, dass ihre Stimme unnötig laut geworden war, doch sie konnte die Entrüstung, die seine Worte bei ihr ausgelöst hatten, nicht unterdrücken.
»So meine ich das nicht«, sagte er ruhig, aber bestimmt. »Ich denke nur, nachdem wir schon so viel versucht haben, vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn Sie mit Ihrer Tochter einmal psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen würden. Ich kenne da …«
»Vergessen Sie es!«, rief Ingrid. Schon wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Wie konnte Dr. Franke, der fürsorgliche, nette Arzt, der sie seit Monaten begleitete, plötzlich solche bösartigen Dinge sagen? »Ich bin nicht verrückt und meine Tochter auch nicht!«
»Aber Sie möchten doch sicher auch, dass es Sonja besser geht, und, ich meine, wenn das ein Weg sein könnte …«, versuchte er es noch einmal.
»Ich liebe meine Tochter, ich tue alles für sie!« Während Ingrid, den Hörer des Telefons nach wie vor fest umklammert, auf die Kühlschrankfront mit den bunten Tiermagneten starrte, spürte sie ein eigenartiges Ziehen im Magen. Zwei Bilder, die vor ihrem geistigen Auge aufstiegen, überlappten sich für einen kurzen Augenblick: Wie sie die Ginstersamen aus dem Glas holte und in den Quark gab. Wie sie Sonja über die heiße Stirn strich und ihre Wange streichelte. Die Bilder passten nicht zusammen, ergaben keinen Sinn. Als würde es sich um zwei verschiedene Versionen desselben Menschen handeln. Sie atmete tief durch und das Glas mit den Ginstersamen verblasste allmählich; zurück blieb nur die liebevolle, die fürsorgliche Ingrid. Ja, sie liebte ihre Tochter! Sie war wirklich bereit, alles zu tun, damit sie gesund wurde. Aber ein Irrenarzt würde dabei nicht hilfreich sein.
»Ich denke, ich möchte dieses Gespräch nicht weiterführen«, sagte sie laut und deutlich. »Ich lege jetzt auf.« Ohne eine Antwort abzuwarten, knallte sie den Hörer auf die Gabel.
Mit klopfendem Herzen kehrte sie ins Wohnzimmer zurück; die Tränen blinzelte sie weg, so gut es ging. Na schön. Dann würde sie sich eben einen neuen Arzt für Sonja suchen müssen.
In den nächsten Tagen gab Ingrid ihrer Tochter jeweils früh und abends die Samen des Besenginsters zu essen. Das reichte aus, damit die Symptome nie wirklich abklangen, sie waren nur manchmal stärker und manchmal schwächer. Sie suchte sich einen neuen Arzt, einen gewissen Dr. Vogel, der erst vor wenigen Wochen eine Praxis in der Gegend eröffnet hatte. Schnell bekam sie einen Vorstellungstermin, und an diesem Morgen gab sie statt der üblichen fünfzehn sogar zwanzig Samen in Sonjas Essen.
Dr. Vogel war sehr mitfühlend und freundlich, nahm sich unheimlich viel Zeit, um sich die ganze Leidensgeschichte der beiden anzuhören und ordnete zunächst die üblichen Standard-Tests an. Er verschrieb Sonja auch ein Mittel gegen Übelkeit und eines gegen Magenbeschwerden. Ingrid rief bei der Arbeit an, und gab Bescheid, dass ihre Tochter zu krank für den Kindergarten sei und sie deshalb die nächsten Tage zu Hause bleiben müsse.
In diesen Tagen schenkte Ingrid ihrer Kleinen alle Liebe und Aufmerksamkeit, die sie brauchte. Sie tröstete sie, streichelte sie, kaufte ihr ein neues Plüschtier. Alles war gut.
Eines Abends rief sogar Ingrids Mutter an und erkundigte sich nach dem Befinden ihrer Enkeltochter. »Ich bewundere dich wirklich dafür, wie du das schaffst«, sagte sie. Es fühlte sich gut an, diese seltenen Worte der Anerkennung von ihr zu hören. »Du kannst die Kleine ruhig mal einen Tag zu mir bringen, wenn du eine Pause brauchst.«
Dieses Angebot nahm Ingrid an. Den freien Tag nutzte sie, um die Küchenschränke aufzuräumen. Dabei stellte sie fest, dass das Glas mit den Samen fast leer war. Also zog sie sich ihre Jacke über und machte sich auf den Weg zum Waldrand, wo die Ginstersträucher wuchsen.
Es war ein windiger Tag; der Himmel zeigte sich bewölkt. Auf ihrem Weg begegnete Ingrid keinem Menschen – es war ja auch wirklich kein passendes Wetter für einen Spaziergang. Während sie, die Hände in den Taschen ihrer Jacke vergraben, den Weg zur Hügelkuppe hinauf lief und der Wind ihr die langen Haare immer wieder ins Gesicht blies, dachte sie an das Telefonat mit Dr. Franke zurück. Der Schmerz, den seine Worte in ihr ausgelöst hatten, war noch nicht ganz verklungen. Was das wohl für ein Kollege gewesen war, mit dem er sich beraten hatte? Offensichtlich ein fürchterlicher Quacksalber, der alles, was er nicht erklären konnte, auf psychische Ursachen abwälzte. Das kannte Ingrid zur Genüge.
»Mistkerl«, sagte sie leise vor sich hin. »Nur ein dummer Mistkerl. Psychologe, dass ich nicht lache.« Sie erreichte die hellgelb blühenden Sträucher und begann, einige der Fruchthülsen von den Ästen zu zupfen. Dabei sprach sie weiter mit sich selbst: »Schon das zweite Mal, dass mir ein Arzt unterstellt, ich würde spinnen. Alles nur bösartige Dreckskerle, genau wie Steffen, genau wie alle Kerle!« Ihre Stimme wurde lauter, sie konnte die Mischung aus Wut und Hilflosigkeit nicht kontrollieren. »Erst tun sie nett und freundlich, lachen dir ins Gesicht und dann … dann beleidigen sie dich oder unterstellen dir …« Sie stopfte die Fruchthülsen in ihre Taschen, zupfte noch mehr davon ab, und redete immer lauter: »… unterstellen dir, dass du dein eigenes Kind vergiftest! Die werden schon sehen! Diesmal gleich zwei Gläser voll, es wird mehr Gift brauchen, schlimmere Symptome, damit sie wieder ins Krankenhaus kommt …« Sie ließ die letzten Hülsen in die Jackentaschen gleiten, machte einen Schritt vom Strauch weg und drehte sich um.
Ingrid keuchte auf; so laut, dass sie selbst davon erschrak. Nur wenige Meter neben ihr stand eine Frau. Groß und blond, eine schwarze Mütze tief ins Gesicht gezogen. Wortlos starrte sie Ingrid an.
Die großen, blauen Augen der Frau schienen direkt in sie hineinzuschauen, als könnte sie Gedanken lesen. Ingrid wich vor ihr zurück. Oh verdammt, oh Himmel! Sie musste jedes Wort gehört haben! Die Frau legte den Kopf leicht auf die Seite und runzelte die Stirn. Sie weiß es, oh Gott, sie weiß es!, dachte Ingrid. Abrupt drehte sie sich um und hastete mit großen Schritten davon. Ihre Absätze knallten laut auf dem Asphalt. Sie erwartete, dass die Frau ihr etwas nachrufen würde, doch das tat sie nicht. Auf eine Weise machte es das noch schlimmer.
Ingrids Gedanken flatterten wild durch ihren Kopf, wie ein Schwarm aufgescheuchter Schmetterlinge. Zitronenfalter … Dr. Franke verdächtigte sie, und nun hatte diese Frau sie gehört! Wer war sie? Wie war sie so plötzlich dorthin gekommen?
Kaum hatte Ingrid die Haustür hinter sich geschlossen, setzte sie sich auf das Sofa, winkelte die Beine an und zog die weiche Schmusedecke über ihre Brust »Was bist du auch für eine dumme Kuh; kannst du deine Gedanken nicht in deinem Kopf behalten?!«, schrie sie in den leeren Raum hinein. »Draußen, in aller Öffentlichkeit, so etwas herumzuposaunen. Geschieht dir recht, recht, recht!«
Sie begann damit, mit den Fingernägeln über die Haut an ihren Oberarmen zu kratzen, so fest, dass dunkelrote Striemen zurückblieben. »Du dummes Ding!«, schrie sie sich selbst an. »Halt endlich den Mund!« Die Worte hallten in ihren Ohren nach. Als würde sie durch die Zeit fallen, sah sie sich selbst wieder in dem dunklen Schrank sitzen; durch die Tür floss nur ein Rinnsal Sonnenlicht nach drinnen. Die Stimme ihres Vaters vor der Tür, der genau dieselben Worte sprach: »Du dummes Ding, halt endlich den Mund!« Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Diese Angst, und diese verdammte Machtlosigkeit …
»Psst … alles wird gut«, sagte sie, nun leiser. »Vielleicht vergisst die Frau, was sie gehört hat. Vielleicht ist sie gar nicht von hier. Bleib ruhig, ganz ruhig …« Mit zittrigen Beinen stand sie auf, ging ins Bad und holte aus dem Spiegelschrank die Schachtel mit Tavor-Tabletten. Das würde ihr helfen, sich zu beruhigen. Sie drückte zwei Stück aus der Packung und ließ sie auf ihrer Zunge zergehen.
Nach etwa einer halben Stunde hatte ihr Herzschlag sich wieder normalisiert. Sie stand auf, zog die Fruchthülsen aus ihren Jackentaschen und löste vorsichtig jeden einzelnen der braunen Samen daraus ab. Sie stellte die gefüllten Gläser neben der Mikrowelle ab. Vielleicht wäre es besser, die nächsten Tage abzuwarten, bevor sie mit Sonja wieder ins Krankenhaus ging.
Am Tag darauf kam Sonja vom Besuch bei ihrer Großmutter zurück. Sie berichtete aufgeregt davon, wie sie Muffins gebacken hatten und mit dem Bus gefahren waren. Jedes zweite Wort war »Oma«. Es versetzte Ingrid einen kleinen Stich. Die letzten Jahre hatte ihre Mutter sich nicht besonders für Sonja interessiert und Ingrid wenig unterstützt. Jetzt konnte sie sich plötzlich als die liebe Oma aufspielen. Aber immerhin … Durch die Krankheit war ihre Familie ein kleines Stück zusammenrückt.
»Hilfst du Mama heute beim Wäscheaufhängen?«, fragte Ingrid ihre Tochter.
Sonja nickte eifrig. »Ja, klar!« Sie durfte das Körbchen mit den Wäscheklammern und die Spule mit der Wäscheleine nach unten tragen. Obwohl Ingrid erst letzte Woche gewaschen hatte, war schon wieder ein beträchtlicher Berg an Sachen zusammengekommen. Die verschwitzten Oberteile von Sonja, einige ihrer eigenen Blusen, Unterwäsche, ein Stofftier … Sie hängte alles auf, während Sonja mit einem kleinen Hund spielte, der im Hof angeleint war.
Als sie fertig war, rief Ingrid ihre Tochter und ging zurück zur Hintertür des Wohnblocks. In diesem Moment öffnete sich die Tür direkt vor ihrer Nase und heraus trat … Ingrids hielt den Atem an. Es war die Frau vom Vortag, die Blonde mit den hellen Augen!
Der Boden unter Ingrids Füßen schien zu schwanken. Kurz glaubte sie, sie würde ohnmächtig werden. Die Frau starrte sie an; ihr Blick war unergründlich – war sie entsetzt? Verunsichert? Wütend? Warum sagte sie nichts, warum schrie sie Ingrid nicht an, drohte ihr, irgendetwas?
»Sonja!«, bellte Ingrid. Das Mädchen kam zu ihr, sie packte grob ihre Hand und schob sich so schnell sie konnte an der Frau vorbei. Die Treppe hinauf. Durch die Wohnungstür. In Sicherheit.
»Mama, was ist los?«, fragte Sonja. »Das tut weh!«
Ingrid ließ ihr Handgelenk los. Sie starrte auf die Wand, auf das Bild mit den Sonnenblumen, direkt über dem Spiegel. Scheiße. Sie war ihr gefolgt, sie wusste jetzt, wo Ingrid wohnte. »Diese miese Schlampe!«, zischte Ingrid.
»Mama?« Sonjas Stimme schien von weit her zu kommen.
Sie würde es melden. Vielleicht beim Jugendamt. Und die gruben bei den Ärzten nach … Oh Gott, sie würden Dr. Franke befragen, und Dr. Schmidt … Sie würden ihr Sonja wegnehmen!
Ingrids Beine gaben nach, sie rutschte an der Wand zu Boden. Aus ihrer Kehle löste sich ein Schluchzen. »Nein, nein, nicht meine Kleine …«, flüsterte sie.
Sonja sah sie mit weit geöffneten Augen an. »Mama«, sagte sie, und kam ganz nah an sie heran. »Mama, nicht weinen, ich bin auch ganz lieb.« Sie strich über Ingrids Kopf.
»Ihr bekommt sie nicht«, sagte Ingrid. »Niemals bekommt ihr meine Kleine!«
Nach ihrer Schicht im Krankenhaus, als Ingrid für einen Moment unbeobachtet war, ging sie zum Medikamenten-schrank und steckte mehrere Blättchen Benzodiazepam, Rohypnol, Valium und Vomacur in ihre Handtasche. Sie verabschiedete sich so normal und freundlich sie konnte, dann eilte sie zum Kindergarten, holte Sonja ab und lief mit ihr nach Hause. Letzte Nacht hatte sie das Gesicht der blonden Frau in ihren Alpträumen verfolgt. Und auch heute, den ganzen Tag über, konnte sie an nichts anderes denken. Wahrscheinlich saß sie gerade jetzt bei der Polizei und berichtete von dem, was sie am Ginsterstrauch gehört hatte … Ingrid würde es nicht zulassen. Niemand nahm ihr Sonja weg. Sie musste sich beeilen.
Als sie in der Wohnung angekommen waren, schickte Ingrid Sonja in die Küche. Sie sollte dort auf sie warten. Mit wild pochendem Herzen ging sie durch alle Zimmer, ließ die Rollläden nach unten und schloss die Fenster. »Ihr kriegt mich nicht«, murmelte sie vor sich hin, »ich entkomme euch, ihr Mistkerle.«
Als sie zurück in die Küche kam, saß Sonja brav am Tisch; vor ihr stand das Glas mit den Ginstersamen.
»Mama, kann ich morgen wieder zu Oma?«, fragte sie und bedachte Ingrid mit einem flehenden Blick. »Oma hat gesagt, sie kauft mir einen Lampion.«
Ingrid beachtete ihre Worte nicht. Sie holte die zahllosen Tabletten aus ihrer Handtasche und legte sie auf den Tisch. Dann begann sie, eine nach der anderen herauszudrücken.
»Bitte Mama, ich werd’ bestimmt auch nicht wieder krank. Ich hab sogar selber meine Medizin genommen, siehst du?« Sie schob das Glas mit den Samen ein Stück über den Tisch.
Ingrid konzentrierte sich auf das Zählen der Tabletten, die eine nach der anderen auf der Tischdecke landeten. Zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig … Sie teilte alles, was sie hatte, zu zwei Haufen. Würde es reichen? Und würde das Vomacur genügen, um den Brechreiz zu unterdrücken? Heutzutage verursachte fast alles, womit man sich umbringen konnte, ab einer bestimmten Dosierung Übelkeit.
»Schatz, heute hat der Arzt mir etwas gegeben, womit du auf jeden Fall gesund wirst«, sagte sie. »Ein Wundermittel.«
Sonjas Mund klappte auf. »Echt?«
»Ja. Schau, ich habe es mitgebracht. Aber du musst ganz viel nehmen, damit es wirkt.«
»Darf ich dann morgen zu Oma?«
»Ja, ja, dann wirst du ganz gesund und kannst zu Oma.« Ingrid füllte ein Glas mit Fruchtsaft und hob es ihrer Tochter an die Lippen. »So, du weißt wie es geht, ja? Also, ein Schluck.« Sonja nahm einen Schluck, behielt den Saft jedoch im Mund. Ingrid schob ihr die erste Tablette zwischen die Lippen. Dann noch eine. Und noch eine …
Karen blieb unschlüssig vor dem Briefkasten stehen, an dem seit gestern das Schild mit ihrem Namen prangte. Sie wohnte zwar nun offiziell hier, aber der Umzug würde erst nächstes Wochenende starten können. Und das alles nur, weil dieser Typ vom Umzugsservice ihre Mail verschlampt hatte … Sie drehte sich um und blickte die Treppen nach oben. Niemand zu sehen. Ob außer dieser seltsamen Frau überhaupt noch jemand hier wohnte? Die Vorstellung, in ein Haus zu ziehen, bei dem die meisten Wohnungen leer standen, gefiel ihr nicht. Und diese Frau mit ihrer Tochter war auch nicht gerade die Gesellschaft, die man sich wünschen konnte …
Was für eine unheimliche Person. Wie sie Karen angestarrt hatte! Als wäre sie ein Monster oder so. Ob es an ihrer Tätowierung lag? Kleinstädter waren manchmal sowas von spießig … Und dann diese Reaktion auf dem Hof. Völlig daneben. Karen hatte keine Chance gehabt, ihr freundlich die Hand entgegenzustrecken. Nachdem sie einige Sekunden lang zu verdutzt gewesen war, um überhaupt zu reagieren, war die Frau einfach an ihr vorbeigestürmt und hatte sie dort stehenlassen wie eine Idiotin.
Karen atmete tief durch. Was half es schon. Sie würde die nächsten Jahre mit dieser Person im selben Haus leben. Wahrscheinlich war es angebracht, ihr noch eine Chance zu geben.
Sie steckte den Briefkastenschlüssel in die Hosentasche und stieg die Treppen hinauf. Im zweiten Stock sah sie das Namensschild: Böhm. Das war sie, wie Karen wusste. Der Vermieter hatte sie und ihre Tochter erwähnt. An der Haustür hing ein Kranz aus künstlichen Frühjahrsblumen.
Karen betätigte den Klingelknopf. Wartete. Keine Reaktion. Seltsam, es war nach zwanzig Uhr. Eine Frau mit einem vierjährigen Kind sollte doch um diese Zeit zuhause sein? Sie klingelte noch einmal. Wieder passierte nichts. Als Karen sich gerade umdrehen und gehen wollte, öffnete sich plötzlich doch noch die Tür. Durch einen schmalen Spalt blickte ein kleines Kind mit einem wilden Lockenkopf zu ihr auf. Karen ging in die Hocke. Was war das, auf dem Oberteil der Kleinen …? Hatte sie sich erbrochen? Von Nahem sah sie schrecklich krank aus. Sie war sehr blass und auf ihrer Stirn zeichneten sich im Licht des Treppenhauses Schweißperlen ab.
Die Kleine öffnete die Tür noch ein Stück weiter und trat einen Schritt auf Karen zu. Sie verzog in einem Ausdruck kindlicher Verzweiflung das Gesicht, öffnete den Mund und begann zu sprechen.
Karen las von ihren Lippen ab: »Das Wundermittel, ich hab es ausgespeit. Mama war so böse. Und jetzt wacht Mama nicht mehr auf.«
Wie automatisch hob Karen die Hände und formte die Gebärdensprachgesten für: »Ganz ruhig; alles wird gut«. Dann erst wurde ihr bewusst, dass das Kind damit nichts anfangen konnte. Also ergriff sie einfach die Hand des kleinen Mädchens und strich sanft darüber.