WIE ICH DIE PRINZESSIN VON SANSIBAR SUCHTE UND DABEI MAL KURZ AM KILIMANDSCHARO VORBEIKAM
Eine spannende Spurensuche in Ostafrika
Wolf-Ulrich Cropp reist nach Sansibar, um dort das Rätsel der Prinzessin Salme zu entschlüsseln. Es erwartet ihn eine afroarabische Welt, in der Paradies und Hölle nah beieinanderliegen. Er erforscht das Leben am Hof von Salmes Vater Sultan Sayyid Said, besucht den Palast des einst mächtigen Sklavenhändlers Tippu Tip und trifft im Mangrovenwald von Pemba einen geheimnisvollen Wunderheiler.
Eine Reise zu einer Inselwelt, geprägt von traditionellen und mystischen Ritualen und modernem Überlebenskampf.
1. Auflage 2016
© 2016 DuMont Reiseverlag, Ostfildern
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltung: Herburg Weiland, München
Titelfoto: Look, München, Hauke Dressler
Karten und Fotos Innenteil: Wolf-Ulrich Cropp
Karte: Gerald Konopik, DuMont Reisekartografie
ISBN 978-3-7701-9999-0
www.dumontreise.de
INHALT
Prolog
TANSANIA – FESTLAND
Wo geht’s zum Gipfel?
Lebensnerv Kilimandscharo
Boma Olpopongi
Auf dem Weg an die Küste
Dar es Salaam, ein Hafen des Friedens?
Unterkunft der heiteren Tramper
Bagamoyo – Leg dein Herz nieder
Kurs Trauminsel
SANSIBAR
Um ein Haar!
Stone Town
Der Händler ohne Gewissen
Inselerkundung
Auf See mit Fischern, Delfinen und Schildkröten
Mwaka Kogwa und der Trip in den Norden
Unerwartete Gesellschaft
AUSFLUG NACH PEMBA
Insel der Geistheiler und Zauberer
Geheimes Mangrovendickicht
ZURÜCK AUF SANSIBAR
Begegnung an der Ruine
Palastleben
Cholera und Verschwörung
Der Skandal
Flucht
Warten in Aden
Ein Leben in der Fremde
Wanderjahre
Entwurzelt
Überraschung
Der Wind des Glücks
Abschied mit Schrecken?
Epilog
Zitatnachweis
Literatur
Über den Autor
Weitere E-Books der Reihe
Prolog
»Niemand ist vor seinem Tod glücklich zu nennen.«
SOLON ZU KROISOS
Gräber!
Gräber wecken Erinnerungen. Unter so manchem Stein schlummern erstaunliche Geschichten. Spannende, anrührende, mysteriöse, auch ungeahnte Lebenswege, die etwas von fernen Ländern und fremden Kulturen erzählen könnten. Doch meist hält die Erde unter dem Stein diese Chronik verborgen. Es sei denn, ein Zufall begünstigt Entdeckungen.
Friedhöfe sind nicht meine bevorzugten Aufenthaltsorte. Der Grund, warum ich an jenem Vormittag suchend über den Ohlsdorfer Friedhof spazierte, war das geplante Projekt der Künstlerin Anna Bardi. Sie hatte Hamburger Autoren gebeten, an den Gräbern toter Kollegen zu lesen, quasi mit ihnen ins Gespräch zu treten. Frei nach dem Dichter Arno Schmidt, auch schon tot, sagte Anna: »Solange auch nur ein Text von ihnen gelesen wird, leben sie fort. Im Elysium.« »Der Tod muss so schön sein. In der weichen, braunen Erde zu liegen, während das lange Gras über einem hin und her schwankt, und der Stille zu lauschen.« Oscar Wilde besang schon zu Lebzeiten den Zauber der Melancholie von Grabstätten.
Ich war für Willy Haas, den Seeteufel Felix Graf von Luckner und Rolf Italiaander ›vorgesehen‹, also suchte ich die Gräber vorher einmal auf. Nun ist der Ohlsdorfer Friedhof zu Hamburg nicht irgendein Gottesacker. Mit dreihunderteinundneunzig Hektar zählt er zu den größten Friedhöfen, ist er der größte Parkfriedhof der Welt und der einzige, der mit Pkws und Bussen befahren werden darf. Der Campo Santo in Ohlsdorf ist so geschickt angelegt, dass der Besucher von den zweihundertfünfunddreißigtausend Grabstätten nur ab und zu Gräber zu Gesicht bekommt, vielmehr den Eindruck hat, sich in einem herrlichen Stadtpark zu bewegen, in dem er hier und da an Grabanlagen reicher Hamburger Reeder- oder Kaufmannsfamilien verweilt, die die Ausmaße von Mausoleen haben. Aber auch Themengrabstätten wie die »Erinnerungsspirale« im Garten der Frauen wecken seine Aufmerksamkeit – bis er schließlich merkt, dass er sich im Areal der Toten verlaufen hat …
An jenem Vormittag der Gräbersuche wäre es mir ums Haar so ergangen. Ich schritt durch das Freilichtmuseum der Zunftgräber, überquerte eine Asphaltstraße und befand mich in einem verwunschenen Rhododendronhain. Dieser tat sich alsbald auf und gab linker Hand ein Familiengrab frei. Auf einer aufrecht stehenden Granittafel, schwarz und poliert, las ich in goldener Schrift: Familie Ruete. Die polierte, rechteckige Tafel war von einem wuchtigen Rahmen aus grauem Granit umgeben. Das Grabmal ruhte auf Granitstufen. Vor der eindrucksvollen, aber keineswegs monumentalen Ruhestätte lagen schwarze Granittafeln, deren Inschriften teils gut leserlich, teils vom Zahn der Zeit angegriffen waren. Die siebzehn Grabplatten weckten meine Aufmerksamkeit. Vielleicht war es auch die Aura, die diese Stätte umgab. Ich trat zwischen die Gedenksteine. Mein Blick huschte über die vielen Ruetes. In der dritten Reihe links oben las ich unter arabischen Schriftzeichen:
»EMILY RUETE
WITTWE DES RUDOLPH HEINRICH RUETE
GEB. 30. AUG. 1844 IN ZANSIBAR,
GEST. 29. FEBR. 1924 IN JENA.
DER IST IN TIEFSTER SEELE TREU,
WER DIE HEIMAT LIEBT WIE DU«.
Merkwürdig. Emily Ruete? Das Zitat stammt von Theodor Fontane. Aber was bedeuten die arabischen Schriftzeichen? Als Hamburger war mir die Geschichte einer Frau aus dem Orient nicht unbekannt. Immer schon wollte ich mich mit ihrem Lebensweg befassen. Er erschien mir spannend und interessant. Doch waren es andere Themen und Reisen, die mich bisher davon abgehalten hatten. Ihr Grabstein musste kürzlich erst besucht worden sein. Neben dem Stein steckte eine blühende, weiße Rose im Erdreich. Neben ihrem Namen lagen eine Muschel, ein Steinherz, eine kleine weibliche Figur mit großem Hut und ein Marmeladengläschen mit der Aufschrift »Sansibar«, gefüllt mit weißem Sand. Neben Emilys Grabplatte befand sich die eines
»RUDOLPH HEINRICH RUETE
GEBOREN, DEN 10. MÄRZ 1839
GESTORBEN, DEN 2. AUGUST 1870«.
Das muss ihr Mann gewesen sein! Es gibt Gräber, die sind geheimnisvoll, machen tatsächlich neugierig, dachte ich, ergriff das Glas mit dem Sand und drehte es. Wer es wohl hier abgelegt hatte? Und, sonderbar, mit einem Mal wurde ich von Neugier gepackt. Die Namen Emily und Rudolph fesselten mich. In Gedanken war ich weit weg auf einer Insel im Indischen Ozean – auf Sansibar …
»Das Gläschen Sand sollten Sie wieder an seinen Platz stellen!«, sagte eine Frau, mehr eine Dame, um die siebzig.
»Natürlich«, antwortete ich erschrocken, da ich die Person nicht bemerkt hatte.
»Schon gut«, meinte sie, »den Sand habe ich ihr eigens aus Sansibar mitgebracht. Für Emily hatte er symbolische Kraft.«
»Wie ist das zu verstehen?«
»Bis zu ihrem Tod trug sie stets ein Säckchen Sand ihrer Heimat bei sich.«
»Woher wissen Sie das?«
»Nun, ich habe mich mit ihrer Geschichte etwas befasst. Mit meinem Mann bin ich einige Male auf Sansibar gewesen – meiner Trauminsel.«
»So, das ist interessant«, bemerkte ich und stellte mich vor. »Dann können Sie mir vielleicht etwas über Emily Ruete erzählen?«
»Ich heiße Petra Krause«, sagte die Dame, »leider nein, ich bin etwas in Eile. War gerade am Grab meines Mannes, der kürzlich gestorben ist. Er liegt da drüben unter der großen Eiche. Dann schaue ich immer mal bei Emily vorbei.«
»Mein Beileid, Frau Krause. Schade, gern hätte ich mehr über dieses Grab erfahren. – Noch eine Frage, wissen Sie Näheres zu den arabischen Schriftzeichen? Es ist doch Arabisch?«
»Es handelt sich um ein arabisches Siegel und bedeutet: Salme, Prinzessin von Oman und Sansibar. – Gehen Sie etwa zweihundert Meter in diese Richtung.« Frau Krause wies südwestlich. »Dort stoßen Sie auf den Garten der Frauen, am Ende befindet sich eine Spirale aus Steinblöcken und Hinweistafeln. Auf Wiedersehen …, und legen Sie das Sandglas zurück.«
Die Dame eilte mit einem dünnen Lächeln davon. Auf dem Weg zum Garten der Frauen ging mir Emily, die Prinzessin, nicht aus dem Kopf. Die Ansammlung von Quadern, Würfeln, Zylindern, wie ein Schneckenhaus angelegt, fand ich rasch. An einem markanten, oben mit einer Steinkugel abschließenden, unregelmäßigen Granitzylinder entdeckte ich die Gravur:
»EMILY RUETE
GEB. SALME
PRINZESSIN VON OMAN UND SANSIBAR
1844–1924
ZUWANDERIN«
Zuwanderin, welch ein moderner, ja aktueller Begriff, der nicht nur Deutschland, der ganz Europa so brennend beschäftigt! Ich trat an eine der aufklappbaren Hinweistafeln aus Aluminium und las einen kurzen Abriss über Emilys Leben, der mit den Worten endete: »Ich verließ meine Heimat als vollkommene Araberin und als gute Mohammedanerin und was bin ich heute? Eine schlechte Christin und etwas mehr als eine halbe Deutsche.«
Nachdenklich verharrte ich. Eine Orientalin hatte sich im 19. Jahrhundert nach Europa, nach Hamburg, begeben. Ich versuchte, mich in ihre Gedanken- und Gefühlswelt zu versetzen. Stellte mir die Erlebnisse vor, die ihr der Weltenwandel bescherte, die ungeheuren Empfindungen: Liebe oder Angst, was mochte ihre Motivation gewesen sein, ihre Heimat zu verlassen? Eine Muslimin, die konvertierte, sich dann im Abendland zurechtfinden musste – welch verblüffende Aktualität zur Problematik unserer Tage.
Ich war von dem Thema, von der Geschichte dahinter, fasziniert. Wollte mehr wissen. Wollte zu ihren Wurzeln – nach Sansibar. Erfahren, wie es zur Verbindung von Heinrich und Salme kam, wie sie lebten, was sie durchmachten. Und nicht nur das, ich musste ein Mal wieder meine Sehnsucht Afrika stillen. In Tansania, am Fuße des Kilimandscharo und bei den Massai, alte großartige Erlebnisse wachrufen. Erst dann würde ich mich langsam und behutsam der Ostküste Tansanias nähern, um dann nach Sansibar überzusetzen. Und ich dachte an meine klischeehafte Vorstellung von tropischer Sonne, wispernden Palmen, einem azurblauen, sich sanft wiegenden Ozean und ewig lächelnden Mädchenaugen … sie leuchtete wieder, die Farbenpracht aus »Tausendundeine Nacht«. Ich hatte ein neues Reiseziel. War vom Fernweh gepackt, musste aufbrechen. So reiste ich mit Nietzsches Worten: »Alle Lust will Ewigkeit …«
Wie konnte ich ahnen, dass die Reise nach Tansania, an die Küste Ostafrikas, und hinüber nach Sansibar auch ein Abenteuer und ein Trip in die Abgründe menschlicher Existenzen werden sollte?
TANSANIA – FESTLAND
Wo geht’s zum Gipfel?
»Ich schoss einen wilden Elefanten in Afrika, der erst zehn Meter vor mir zusammenbrach. Ich hatte keine Furcht. Aber ein Putt über eineinhalb Meter ängstigt mich zu Tode.«
SAM SNEAD, TANSANIA
Lange, dunkle Wolken treiben gegen etwas sehr Hohes und Großes, das irgendwo im Himmel enden mag. Welch eine Enttäuschung! Es regnet. Ja, so verhält es sich mit dem Berg, dem höchsten Afrikas und dem von der Masse her größten der Welt. Zehntausend Kubikkilometer Felsgestein kann kein Mount Everest, kein Matterhorn, kein Aconcagua, Mont Blanc oder Fuji bieten. Nur, was nützt es, wenn das Imponierende nicht bewundert werden kann?
Missmutig nippe ich an meinem Sundowner, der den Namen an diesem Nachmittag nicht verdient hat. Aber ich bin wieder in Afrika. Nur das zählt! Es ist verdammt lange her, dass ich kreuz und quer durch Ostafrika gereist bin. Und zwar mit dem alten Buschklepper Prinz von Isenburg, der damals mit seiner Familie in Nairobi lebte. Er war einer der Isenburgs, denen Deutschland zu eng erschien. Ich hab noch sein donnerndes Lachen im Ohr, als wir das Amboseli-Zeltcamp erreicht hatten, Touristen arglos Handtaschen und Fotoapparate ablegten, auf die sich flugs Paviane stürzten und mit der Beute in die höchsten Höhen von Akazien sprangen, dann amüsiert mit den Touristen um die Wette kreischten, bis sie Tascheninhalte und Leicas zurück auf betonharten Boden krachen ließen.
Nachts schlichen Löwen um die Zelte. Ihr Brüllen raubte uns den Schlaf. Damals sah ich zum ersten Mal die Big Five und riesige Büffel- und Elefantenherden. Hörte die irren Laute aufgebrachter Tüpfelhyänen und fühlte mich frei und glücklich, so voller Leben wie niemals zuvor. Dieses Gefühl würde ich gern wieder verspüren. Doch Afrika hat sich gewandelt. Die alte, wildromantische Zeit lässt sich, wenn überhaupt, nur mehr schwer beschwören …
Ach du meine Güte, nun wird die Ruhe durch eine Gruppe junger Burschen gestört, die mit ’ner Flasche Bier in der Hand lauthals die Veranda stürmen:
»Ei, wo isch er denn, der Kili?«
»Ei do!«
»Nee do!«
Nun tritt ein Afrikaner aus der Bar und mischt sich unter die Gruppe. Er weist nach Norden, dorthin, wo sich die Wolken konzentriert haben und ein violettes, breites Band bilden.
»The mountain is there!«
Die Köpfe fliegen herum.
»Des hät’ isch feil nit gedenkt«, staunt einer meiner Landsleute aus dem Süden. Weil es immer noch regnet, verschwinden die Männer nach kurzem Schwadronieren in der Bar. Bis auf einen, der sich umschaut, mich an der regengeschützten Wand entdeckt und vorsichtig fragt:
»Aus Deutschland?«
Ich bejahe es.
»Dann wollen Sie wohl auch den Kilimandscharo besteigen?«
»Bewahre, das ist nichts mehr für mich alten Flachlandtiroler.«
Er grinst. Wir stellen uns vor. Ich erfahre, dass Konrad in Rosenheim wohnt, jedoch aus Kassel stammt. Sein Beruf ist Ingenieur, sein Traum, einmal auf dem Berg der Kalten Teufel gewesen zu sein. Seine Gruppe startet morgen auf der Marangu-Route, längst Coca-Cola-Route genannt, weil es in den Hütten tatsächlich Cola gibt. Die Fünf-Tage-Tour hat für jeden tausend Dollar inklusive aller Serviceleistungen gekostet. Ich erzähle ihm, dass ich vor fünfzig Jahren den Kilimandscharo über genau diese Route bestiegen hätte. Jetzt nur auf der Durchreise sei. Auf dem Weg an die Küste. Doch wolle ich die großartige Zeit, die ich damals in Tansania verbracht hätte, noch einmal wachrufen. Den Berg sehen, die Tiere erleben, die Landschaft atmen, in Erinnerungen schwelgen.
Konrad will wissen, was ihn am Berg erwartet und wie es damals in den Sechzigerjahren am Berg zuging. Also berichte ich von dem Erlebnis:
»Moshi erreichte ich von Nairobi aus mit einem Überlandbus. Das dauerte zwei Tage. Den Kilimanjaro International Airport gab es damals noch nicht. Im ehrwürdigen Kibo Hotel von Marangu, ganz in unserer Nähe, rüstete man mich und Jim, einen Lehrer aus Dar es Salaam, für die Besteigung aus: Stiefel, Pullover, Parka, warme Unterwäsche, wasserdichte Überhose, Handschuhe, dicke Socken, Thermoschlafsack, Wasserflasche, Rucksack, Wollmütze. Das Kibo Hotel, müssen Sie wissen, ist über hundert Jahre alt und eine Legende. Nicht so komfortabel wie hier unser Kilimanjaro Mountain Resort – gern wäre ich dort wieder abgestiegen, aus nostalgischen Gründen …«
»Ich weiß, schon die Offiziere der deutschen Kolonialzeit erholten sich hier oben vom Dienst in den heißen Ebenen Tanganyikas. Und der Kibo-Erstbesteiger Hans Meyer startete vom Kibo Hotel«, ergänzt Konrad.
»Am Tag zuvor hatte ich Hans-Günter getroffen, einen etwas älteren Mann aus Hamburg, der vor mir allein mit Guide und Trägern starten würde. Wir mochten uns, tranken und erzählten einander von Afrika, verabredeten, nach dem ›Gipfelsturm‹ gemeinsam auf Safari zu gehen: Manya-See, Ngorongoro-Krater, Serengeti, was damals noch etwas Besonderes war.
Jim und mich weckte Guide Jonathan dann um halb sechs in der Frühe. Die Träger tänzelten leicht bekleidet, doch gut gelaunt erst um kurz vor zehn herbei, was Jonathan und uns verdammt verdrießlich stimmte. Nun wurde die Verpflegung ein-, aus- und umgepackt, weil jeder der vier Träger möglichst wenig schleppen wollte. Um Brot, Konserven, Gemüse, Obst, Fleisch entstand ein regelrechter Verteilungskampf. Auch die lebenden Hühner wollte niemand um sich herumflattern haben.
Als unser kleiner Trupp schließlich aufbrach, wurde ein derartiges Tempo vorgelegt, dass mich ein mulmiges Gefühl überkam. Würde ich durchhalten, war ich fit genug, um so, ohne Vorbereitung, fünftausendachthundertfünfundneunzig Höhenmeter zu bewältigen? Der Aluminiumkasten mit der Fotoausrüstung hing wie ein Mühlstein an meiner Schulter. Rasch durchschritten wir eine Eukalyptusallee, folgten dem Mandara Trail. Mit Brennholz schwer bepackte Frauen trabten ins Tal.
›Pole, pole! Langsam, langsam!‹, rief ich als Nachzügler, weil ich fotografieren wollte. Der Pfad führte jetzt über eine Holzbrücke. Schon marschierten wir durch einen Waldtunnel mit matschigem Untergrund.
›Achtet auf Wildschweine und Wildhunde, manche sind angriffslustig‹, mahnte Jonathan beiläufig. Was im Ernstfall zu tun sei, ließ er unerwähnt.
Hin und wieder lichtete sich der Wald. Meterhohe Baumfarne, dicke Moospolster an Baumriesen, wilde Bananen waren zu bestaunen. Papageien kreischten im Geäst. Wie Gardinen herunterhängende Bartflechten ließen uns durch einen verwunschenen Märchenwald ziehen. Als wir die Mandara Hut erreichten, wurde es schummrig. Die Träger warfen ihre Last ab. Jonathan zeigte uns die Pritschen in der Holzhütte. Wir waren die einzigen Bergsteiger, konnten uns ausbreiten, verschwitzte Unterwäsche aufhängen, während die Träger Tee kochten und Erdnüsse anboten. Die Abendmahlzeit bestand aus Corned Beef, Reis und Dosenerbsen. Der Lebendproviant aus Hühnern war noch nicht dran. Nach dem Essen verkroch ich mich wortlos im Schlafsack, schlief sofort ein.
Am nächsten Tag wurde ich um sechs Uhr wachgerüttelt. Jim saß am rustikalen Tisch und schlürfte Nescafé, stopfte Weißbrot in sich hinein. Lustlos trank ich Tee, aß Muffins. Diesmal brachen wir um sieben Uhr auf, ließen alsbald den Regenwald hinter uns, um Bestände aus Erikazeen, Fackellilien, Disteln oder Carex-Gras zu durchschreiten. Ich war sauer, da bei dem Tempo an Fotografieren nicht zu denken war. Ein gelb blühender Strohblumenteppich, Glockenblumen oder Tausendgüldenkraut von zwei Metern Höhe blieben unbeachtet.
Die Marangu-Route schlängelte sich Richtung Nordwesten und führte durch eine Hochmoorzone, die so einiges offenbarte: Zum einen war meine Kondition, verglichen mit der von Jim, besorgniserregend. Der Guide hatte mir einen Wanderstock geschnitzt, auf den ich mich immer häufiger, pustend und schwitzend, stützen musste, dann ›Pole, pole‹ ausstieß. Wurde ich für die Gruppe zur Belastung? Zum anderen bereiteten die Schuhe Probleme. Die fremden Stiefel drückten, scheuerten. Blasen machten jeden Schritt zur Qual. Auf dreitausendsiebenhundertzwanzig Metern erreichten wir nach sechs Stunden endlich die Horombo Hut, blieben auch dieses Mal unter uns.
Ich widmete mich den Blasen. Stach sie auf und klebte Hansaplast drauf, was recht angenehm war. Nach einem vorzüglichen Abendessen, zu dem zwei Hühner geschlachtet wurden, beschlich uns fröstelnde Kälte. Der Ofen wurde für die Nacht hochgeheizt und mit nassen Hosen drapiert. Unsere Träger verpackten die Lebensmittel heute mit erstaunlicher Sorgfalt. Jonathan erklärte, dass es hier von Ratten und Mäusen nur so wimmele.
Am Morgen des zweiten Tages ging es mir besser als erwartet. Kaum fünfhundert Meter nach unserem Aufbruch führte der Pfad recht steil nach Norden. Das Gelände war offen, die Sonne stach in der klaren Luft. Sonnenbrille und dickes Eincremen waren jetzt wichtig. Rechts erblickten wir die zerklüftete, braune Bergspitze des Mawenzi, links leuchtete der mächtige Schneekegel des Kilimandscharo.
›Es hat zwei Tage geschneit‹, sagte Jonathan, ›wird kein leichter Aufstieg!‹
Im Laufschritt kam uns ein Trupp mit Trägern, einem Guide und zwei Weißen entgegen. Außer einem flüchtigen ›Hallo‹, hatte man sich nichts zu sagen, rannte einfach talwärts weiter. Merkwürdig, diese Art von Rennen auf dem Rückmarsch, dachte ich.«
Mit einer Pause unterbreche ich meinen Bericht. Soll ich Konrad mit dem, was sich damals in der Folge ereignete, verunsichern? Wenn er sich gut vorbereitet hat, wird er wissen, dass ein Aufstieg damals mit einem heute nicht zu vergleichen ist. Den Kibo besteigen mittlerweile ganze Völkerschaften.
»Sie sind kurz vor dem Sattel. Wie ging’s weiter?« Ich spüre die Ungeduld in Konrads Stimme.
»Etwa in Höhe des Mawenzi-Sattels auf viertausenddreihundert Metern rannten vier Afrikaner heran. Zwei vorneweg, zwei mit einer Bahre hinterher. Auf dem Gestell war etwas festgezurrt worden. Jonathan hielt die Schwarzen an, redete auf Swahili mit ihnen. Ich verstand ein paar Brocken: jambo (hallo), salaam (guten Tag), ujerumani (Deutschland). Jonathan sagte:
›Am Gillman’s Point hat sich ein Unfall ereignet. Der auf der Bahre da, ein Deutscher, ist zusammengebrochen und kurz darauf gestorben.‹
›Was? Wer ist da gestorben?‹, fragte ich nach und bestand darauf, das Bündel Wolldecken zu öffnen.
Zu meinem Entsetzen kam Hans-Günter zum Vorschein. Der Hamburger, mit dem ich mich verabredet hatte. Ihm war nicht mehr zu helfen. Kalt und tot lag er da, mit offenem Mund und verzerrtem Gesicht, als wollte er etwas rufen. Die Träger packten ihn wieder ein, zurrten das Bündel fest, trabten davon.
Jim nahm den Vorfall erstaunlich gelassen. Mir war der Spaß am Aufstieg fürs Erste vergangen. Mit den Beinen voraus wollte ich nicht vom Berg getragen werden.
»Ich habe gehört, dass jährlich im Schnitt fünfzehn Menschen beim Aufstieg sterben«, meint Konrad, »meist sind es Träger, die irgendwo zwischen Kibo Hut und dem Kratercamp erfrieren.«
»Stimmt, sie können sich keine adäquate Kleidung für die Kälte leisten. Und für den Knight Support, den Luftrettungsdienst, den es damals ohnehin nicht gab, haben sie kein Geld«, ergänze ich und berichte weiter.
»Mit dem Tod vor Augen japste ich weiter. Bei der Höhe rang ich nach Luft, musste alle hundert Meter Pausen einlegen. Schließlich erklommen wir die Steinwüste des Sattels. Das ist die fast ebene, auf viertausendfünfhundertzwanzig Metern liegende Strecke zwischen Kibo und Mawenzi Hut. Ein Höhenpfad im Nichts, von undurchdringlicher Einförmigkeit, Stille und Trostlosigkeit beherrscht. Eine Trostlosigkeit, die die Träger verstärkten, sie verrichteten ihre Notdurft, wo sie gerade gingen und standen. Toiletten gab es auf dem Acht-Stunden-Marsch keine.
Die letzten Meter bis zur Kibo Hut waren reine Schinderei. Mir graute vor dem Morgen. Keine zweihundert Meter nordwestlich der Hütte lag die Schneegrenze. Mit Kopfschmerzen und Übelkeit warf ich mich aufs Lager. Wollte nichts essen, nur trinken. Jonathan teilte Aspirin aus. Die Tabletten kamen gleich wieder heraus, mit einem Rest des Mageninhalts. Mein Puls raste. War das schon die Höhenkrankheit? Was wird als Nächstes passieren? Atemnot, Husten, Hirnschwellung, Verwirrtheit, Bewusstlosigkeit? Ich spürte nichts mehr, keine Gelenkschmerzen, keine Blasen, keine Kälte … nur kräftiges Rütteln und das Gefühl, gerade mal fünf Minuten geschlafen zu haben.
Es war ein Uhr nachts. Die letzte Etappe stand an. Die Übelkeit hatte sich gelegt, aber der Kopf hämmerte wie toll. Drei Aspirin spülte ich mit heißem Tee hinunter, war froh, dass sie mit einigen Keksen im Magen blieben. Noch vor zwei Uhr brachen wir mit zwei Trägern auf, schleppten uns zur Schneegrenze und stampften wie betrunkene Wichtelmänner durch knöcheltiefen Neuschnee. Jim hatte auch seine Konditionsgrenze erreicht, mit pfeifender Lunge hielt er alle fünfzig Meter inne. Jonathan und den Trägern merkte man die Strapazen nicht an. Sie verharrten nur unseretwegen, um uns in Dunkelheit und Frühnebel nicht zu verlieren. Die Kamerakiste hatte mir Sam, einer der Begleiter, abgenommen. Seine Füße steckten strumpflos in ausgetretenen Halbschuhen. Eisige Kälte hatte meine Füße in dicken Wollsocken und Stiefeln schmerzhaft frieren lassen. Ich nahm mir vor, Sam zwei Paar meiner Strümpfe zu schenken, wenn alles vorüber wäre. Doch vor uns lag die große Herausforderung: der steilste Abschnitt bis hin zum Kraterrand, Gillman’s Point genannt. Nach zwei Stunden erreichten wir auf fünftausendzweihundertsiebenunddreißig Metern die Hans-Meyer-Höhle. Kraftlos ließ ich mich in den Schnee fallen. Wieder machte sich Übelkeit, aber auch Schwindel bemerkbar. Muskelkater steckte im ganzen Körper. Der Kopf war fieberheiß. Jonathan schaute auf mich herab und meinte:
›Für dreißig bis vierzig Prozent der Gipfelstürmer ist hier Endstation. Es ist keine Schande, wenn du hier aufgibst.‹
Ich dachte an Hans-Günter und bekam’s mit der Angst zu tun.
Guide Jonathan: ›Wir Chagga vom Berg nennen die Höhle Nyumba ya Mungu, Haus Gottes.‹ Eine treffende Bezeichnung. Tatsächlich fühlt man sich in der Höhle dem Jenseits näher als dem Diesseits!
Grimmige Kälte fraß sich in Beine, Arme und Hände. Sam bot Kekse an, Jim und ich lehnten ab. Die Petroleumlampen der Träger stanken barbarisch. Jonathan fuchtelte mit seiner Taschenlampe herum und trieb zum Aufbruch. Ich schwankte zwischen Aufgabe, Rückzug und Verharren. Unvorbereitet war ich dem Berg einfach nicht gewachsen.
›Baadaye, labda, später, vielleicht‹, gab ich zu verstehen.
Jim, Jonathan und ein Träger brachen auf. Im Laternenlicht sah ich sie dahinziehen. Sam wachte bei mir. Dann auf einmal merkte ich nichts mehr. Fühlte mich schön geborgen, wie komplett in Watte gepackt …
Als ich zu mir kam, war der Morgen nebelgrau. Ich fühlte mich seltsam gestärkt. Nur Sams besorgtes Gesicht irritierte mich. Der Osten verfärbte sich in gelbliches Weiß, dann zeigten sich die zackigen Felsspitzen des Mawenzi. Schließlich wuchs die Sonne aus fernem, nebelverhangenem Wolkenband. Schön und erhaben, so mag man sich den Schöpfungstag der Erde vorstellen. Ich erinnerte mich an die Chagga-Sage vom verbeulten Kopf des Mawenzi: Es geschah an einem Tag, an dem Mawenzi das Feuer ausging. Er begab sich hinüber zu Kibo und bat um Glut. Kibo gab ihm welche und ließ ihn sogar von seinem leckeren Essen probieren. Auf dem Heimweg warf Mawenzi die Glut weg, kam zurück und behauptete, das Feuer wäre im Wind erloschen. Der hilfsbereite Kibo gab ihm erneut Glut und verköstigte ihn. Mawenzi, gieriger geworden, wiederholte das schändliche Spiel ein drittes Mal, bis Kibo wütend wurde, einen Knüppel nahm und diesen Mawenzi auf den Kopf schlug, so heftig, dass der kleinere Gipfel die zerfurchte, zackige Form bekam.
Sonne und Licht weckten meine Lebensgeister. Ich rappelte mich auf, schleppte mich beharrlichen Schrittes hinauf zum Gillman’s Point, den wir drei Stunden später erreichten. Ich genoss den herrlichen Blick ins Herz der Caldera und über den Kraterrand hinüber zu den Gletschern Rebmann, Kersten, Furtwängler, Drygalski. Den Kilimandscharo-Gipfel bedeckte eine riesige, weiße Haube aus Schnee und Eis, rund dreihundertfünfzig Kilometer südlich des Äquators. Es gab nur wenige dunkle Bereiche auf dem Kegel, sie hatte der Sturm schneefrei geblasen, somit Lava sichtbar gemacht. Wir standen über den Wolken, doch die Decke erlaubte es, wie durch Fenster in die Tiefe der afrikanischen Steppe zu blicken. Es war, als blicke man in die Unendlichkeit des Schwarzen Erdteils. Halblinks vor uns lag der Uhuru Peak, der höchste Punkt des Kibo. Davor, in knapp zwei Kilometern Entfernung, strebten fünf schwarze Punkte auf diese Stelle zu. Es mussten Jim und der Guide mit den Trägern sein.
Unter Keuchen und Stöhnen kämpfte ich mich mit Sam am Kraterrand dem Gipfel zu, vorbei an den Bismarck Towers und Stella Point bis zur Uhuru-Spitze, die damals noch Kaiser-Wilhelm-Spitze hieß. Ewiger Wind hatte den höchsten Punkt des Kibo, fünftausendachthundertfünfundneunzig Meter, schneefrei geweht. Eine Ansammlung von Stangen mit Tafeln und Hinweisen auf dieses besondere Dach Afrikas steckte in schwarzbraunem Lavagestein.
Unser Minitrupp war wieder komplett. Jim staunte nicht schlecht, als er mich, vermummt mit Sonnenbrille, entdeckte. Dann lagen wir uns in den Armen. Mein Begleiter aus Dar es Salaam verriet, Sportlehrer zu sein und gerade seine dritte Besteigung geschafft zu haben.
Von Westen her näherte sich eine Gruppe von acht Personen. Ein redseliger Guide führte Bergsteiger aus der Schweiz heran, die zuvor über das nördliche Eisfeld gezogen und ein Stück in den Krater hineingestiegen waren. Nach einem kurzen ›Grüezi‹ und mehreren Fotos traten die Männer ihren Rückmarsch an. Toughe Typen, die den Aufstieg über die Marangu-Route in zwei Tagen absolviert hatten.
Wir gönnten uns eine Pause, in der mir die Geschichte des berühmten Berges in Erinnerung kam.
»Willst du auch davon hören?«, fragte ich Konrad. Er wollte, also berichtete ich weiter.
Johannes Rebmann, ein deutscher Missionar, war der erste Europäer, der im Mai 1848 die Schneehaube entdeckte. Geografen hielten ihn für verrückt, vom Sonnenstich verwirrt. Niemals könne es einen schneebedeckten Berg in Äquatornähe geben, hieß es. Selbst der Reisende Karl Klaus von der Decken, der das ›Mysterium‹ bis auf viertausendzweihundert Meter Höhe bestieg, erntete für seinen Bericht 1862 nur Hohn und Spott.
Dr. Hans Meyer, ein ehrgeiziger Wissenschaftler aus Leipzig, wollte sich ein Denkmal setzen und dem Deutschen Reich den höchsten Berg Europas präsentieren. Nach zwei Fehlversuchen folgte 1889 zusammen mit dem österreichischen Alpinisten Ludwig Purtscheller der dritte Anlauf. Die aufwendige Expedition, die siebzig Träger benötigte, wurde auf Sansibar vorbereitet und großteils aus meyerschem Vermögen finanziert. Hans Meyer entstammte einer reichen, angesehenen Familie. Sein Großvater Carl Joseph Meyer, ein Verleger, gründete das Bibliographische Institut. Und ab 1839 brachte er »Das große Conversations-Lexikon für die gebildeten Stände« in zweiundfünfzig Bänden heraus.
Nachdem bei Sultan Khalifa ibn Said die Karawane registriert und von den Briten die Erlaubnis eingeholt worden war, konnte aufgebrochen werden. (Die Grenze Kenia-Tanganyika war zwar mit den Briten verhandelt, aber noch nicht ratifiziert worden.) Mit einem Kriegsschiff wurde Mombasa angelaufen, dann, Anfang September, startete Meyer den langen Marsch westwärts.
Ohne Rücksicht auf das Toben eines Aufstands in Tanganyika trieb Meyer seine Expedition dem Ort Moshi zu, von wo der Aufstieg beginnen sollte. Am 28. September 1889 wurde der Kilimand-scharo mit neun Trägern, einem Koch und vier weiteren Helfern in Angriff genommen. Der Rest der Karawanencrew harrte der Dinge in Marangu. In knapp dreitausend Metern Höhe richtete Meyer ein Basislager ein, von dem aus täglich Verpflegung hinauf in ein Camp geschleppt wurde, das auf viertausenddreihundertdreißig Metern lag. Auf diese Weise war es möglich, dass Meyer, Purtscheller und die übrigen Mannschaftsmitglieder wochenlang am Berg überleben konnten. Vorgänger scheiterten am Kilimandscharo, weil ihnen die Verpflegung ausgegangen war.
Am 3. Oktober 1889 brachen Meyer und Purtscheller mit Instrumenten, Seil, Gletscherbrillen, Laternen und Eispickeln auf, den Kibo zu entzaubern. Gegen vierzehn Uhr blickten sie auf fünftausendachthundertsiebzig Metern Höhe in den Krater, erkannten jedoch schnell, dass sie nicht den höchsten Punkt des Kegels erreicht hatten. Der befand sich nach Einschätzung der beiden etwa zwei Stunden westlich. Erschöpft und ausgelaugt entschied man sich zum sofortigen Rückmarsch ins Camp, das am übernächsten Tag dreihundert Meter höher in eine Lavahöhle verlegt wurde. Einen zweiten Gipfelsturm wagten die Männer am 6. Oktober. In Hans Meyers »Ostafrikanische Gletscherfahrten« ist nachzulesen, unter welchen Strapazen dann endlich doch der Gipfel erreicht wurde, den sie Kaiser-Wilhelm-Spitze tauften und auf dem sie die Reichsflagge hissten. Trotz angefrorener Füße, Gletscherbrand im Gesicht und schmerzender Augen machte Meyer Skizzen und wissenschaftliche Aufzeichnungen über Höhe, Lage und die Kraterlandschaft.
»Kein König hat je Königsgewänder königlicher getragen als dieser König der afrikanischen Berge«, waren des Forschers Worte angesichts der arktischen Landschaft in den Tropen Afrikas. Für Purtscheller war die Erstbesteigung am 6. Oktober ein besonderes Geschenk, er konnte auf dem Gipfel seinen 40. Geburtstag feiern.
Bevor der Abstieg angetreten wurde, brach Meyer Lavabrocken vom Gipfel, die er später anlässlich einer Audienz Kaiser Wilhelm überreichte. Ein Symbol der Macht über Ostafrika, zumindest über den höchsten Berg.
Am Ratzel-Gletscher rutschte Meyer aus und wäre ums Haar abgestürzt. Der Zwischenfall tat dem Ehrgeiz und Forscherdrang des Deutschen keinen Abbruch. Für wissenschaftliche Aufzeichnungen blieb er noch sieben Wochen an den Hängen des Kilimandscharo. Im Zuge seiner Arbeit vermaß er auch den Mawenzi, an dessen Besteigung er allerdings dreimal scheiterte. Im Dezember betrachtete er die Mission als beendet und zog mit seiner Karawane zurück nach Mombasa, setzte auf Dhaus nach Sansibar über, wo er von Sultan Khalifa den Orden Strahlender Stern für besondere Leistungen als Forschungsreisender empfing. Zurück in Leipzig, feierte Meyer im trauten Familienkreis Kaiser Wilhelms Geburtstag. Sein späteres Leben verbrachte er als Dozent an der Universität Leipzig, wo er Kolonialgeografie und Kolonialpolitik lehrte. Schließlich raffte ihn am 5. Juli 1929 die Ruhr dahin. Der erste Kilimandscharo-Bezwinger, Dr. Hans Meyer, liegt auf dem Südfriedhof von Leipzig unter einem Grabstein mit der Aufschrift ›Impavidi progrediamur‹ – Lasst uns furchtlos vorausschreiten.«
»Den Mawenzi mit seinen fünftausendeinhundertachtundvierzig Metern aus sehr brüchigem Schichtvulkangestein bestieg erstmals der deutsche Geograf Fritz Klute mit seinem Kameraden Eduard Oehler. Das war im Juli 1912. Schon merkwürdig, dass man den Mawenzi-Gipfel doch Hans Meyer Peak getauft hat, wenngleich Meyer die Besteigung nie schaffte«, meldet sich der Ingenieur.
»Dafür ist nach Klute eine fünftausendeinhundert Meter hohe Spitze des Massivs benannt worden«, entgegne ich.
»1912 sind übrigens Walther Furtwängler und Siegfried König nach ihrer dritten Kibo-Besteigung als Erste auf Skiern vom Uhuru Peak zu Tal gefahren. Und den ersten Überflug des Kilimandscharo wagte 1930 Walter Mittelholzer, dabei entstanden spektakuläre Aufnahmen vom Krater«, ergänzt Konrad.
»Interessant, das wusste ich nicht.«
»Und wie ging’s bei Ihnen da oben weiter?«, fragt Konrad.
Bei minus fünfzehn Grad Celsius inspizierten wir ein wenig den Kersten-Gletscher, bis uns der Schmerz kalter Hände und Füße zur Umkehr mahnte. Rasch und ohne Zwischenfälle wurde die Kibo Hut erreicht. Jeder schwindende Höhenmeter brachte dem Körper Erleichterung. Gut gelaunt zogen wir über den geröllhaltigen Kibo-Sattel und dann im Laufschritt hinab, durch Senecien-, Baumheide- und Philippia-excelsa-Haine, bisweilen drei Meter hoch, zur Horombo Hut. Hier wurde Jim und mir ein Kranz aus Strohblumen auf den Kopf gedrückt. Damit war das erste Trinkgeld fällig.
Endlich verstand ich auch die rennenden Wanderer. Das Tal zog sie, wie jetzt uns, magnetisch in die Tiefe. Das Marangu-Hauptquartier erreichten wir schon am nächsten Tag. Dort erhielten wir Urkunden, einige der ersten, die damals ausgestellt wurden. Schließlich wurde eifrig gratuliert. Bei bester Laune war die zweite Trinkgeldtranche zu zahlen, was entsprechend unserer Stimmung exzellent getimed war. Kurz darauf gönnten sich Jim und ich ein Gläschen Sekt und verdrückten ein zähes Steak. Auf den Zimmern widmeten wir uns den arg geschundenen Füßen.
»Da hat sich wohl so einiges geändert«, meint Konrad, »wo früher eine Hütte stand, findet man Hüttendörfer, habe ich gehört. Pro Tag machen sich bis zu fünfzig Bergsteiger auf den Weg über die Marangu-Route.«
»Wer noch allein sein will, muss die Machame-Route (nur bis zum Shira-Plateau begehbar) nehmen, die Western Breach Wall erklettern, dann über die Eisflanken des Diamond-Gletschers steigen. Reinhold Messner begab sich 1979 auf den bisher schwierigsten Abschnitt, über den Lava Tower, um den Kibo zu besteigen. Diese Route ist nur Hochalpinisten vorbehalten.«
»Wie viele Aufstiege gibt’s eigentlich?«, fragt Konrad.
»Sieben Auf- und Abstiege sind zugänglich, drei davon führen direkt auf den Kibo.«
Unterdessen hat es aufgehört zu regnen. Es klart auf. Hin und wieder tritt die Sonne aus dunklen Wolkenfetzen. Ich stoße Konrad an, zeige nach Norden. Es verschlägt uns den Atem, ein grandioser Regenbogen spannt sich von Ost nach West. Wolken teilen sich, die Sonne strahlt gleißend hell, und jetzt zeigt er sich, überwältigend schön, eingerahmt von den Farben des Lichtbogens – der majestätische Berg: der Kilimandscharo, über den wir die ganze Zeit sprechen. Welch ein Naturschauspiel! Hotelgäste stürmen auf Veranden, Terrassen, auf die Balkone. Eine betagte Amerikanerin vom Balkon im zweiten Stock jubiliert: »Gorgeous, dass ich das noch erleben darf!«
Wie selten präsentiert sich der Berg in ganzer Pracht. Auf der Hotelwiese hüpfen Marabus, durch die plötzliche Unruhe irritiert. Im Busch- und Palmenbestand dahinter schwingen sich Paviane von Ast zu Ast. Dann eine dunkelgrüne Waldzone, die in ein lichteres Band flacher Gewächse von Gräsern und Moosen übergeht. Es folgt eine breite, braune Lavazone, spärlich bedeckt von der berühmten Schneehaube, die den Abschluss im afrikanischen Himmel bildet. Wer denkt bei diesem Bild, in diesem Moment nicht unwillkürlich an Hemingways »Schnee auf dem Kilimandscharo«?
Ich denke daran mit etwas Wehmut, nicht weil am Fuß des Berges der sterbende Schriftsteller Harry über sein Leben reflektiert, während ihn Geier und Hyänen umtänzeln. Nein, meine Wehmut resultiert aus der Vorstellung, dass der Kibo bald keine weiße Kappe mehr haben wird. Verglichen mit damals, besitzt der Berg nur noch einen dünnen weißen Streifen, den meine Enkel wahrscheinlich nicht mehr sehen werden. Nur noch einen braunen Lavakegel. Was mag dann aus dem ersehnten Ziel eines schneebedeckten Berges in Äquatornähe werden? Ein öder Lavahaufen, wie ihn der kleinere Bruder Mawenzi darstellt? Wer reist seinetwegen nach Ostafrika? Für den Tag der totalen Schnee- und Eisschmelze wird bereits schon jetzt ernstlich über die künstliche Vereisung durch Schneekanonen nachgedacht.
Konrad ist entzückt und zerstreut mein melancholisches Sinnieren.
»Welch ein Anblick! Ich wünsch mich in sein Schneefeld.«
Die Kulisse steht genau vierzehn Minuten. Dann haben sich Sonne und Berg in Wolken gehüllt, die Herrlichkeit versteckt.
Frido, ein Mann aus Konrads Bergsteigercrew, fragt in einer mir kaum verständlichen Mundart, was es denn um den Berg herum gebe, so natur-, menschen- oder tiermäßig. Konrad übersetzt dem Afrikaner die Frage. Es stellt sich heraus, dass es sich um den Guide der Truppe, Ahmed, handelt. Seine Augen strahlen – man spürt, der Mann will Wissen vermitteln.
Lebensnerv Kilimandscharo
»Unendlich ist das Rätsel der Natur.«
THEODOR KÖRNER
Bawana Bergsteiger, fangen wir bei den Menschen an«, beginnt Ahmed seinen Vortrag. »Die Bevölkerung Ostafrikas kann man in vier Gruppen einteilen: Bantu, Niloten, Nilohamiten, Hamiten. Die größte Gemeinschaft bilden die Bantu, die sich in viele verschiedene Volksgruppen aufteilen, im Wesentlichen betreiben sie Landwirtschaft. Niloten sind im Süden Ugandas, aber auch im Westen Tansanias angesiedelt. Die Nilohamiten, ursprünglich Jäger- und Hirtenvölker, haben ihre Nahrung der Viehhaltung zu verdanken. Und Hamiten leben in den nördlichen Gebieten Ostafrikas an der Grenze zu Äthiopien. Sicher wollt ihr wissen, welche Ethnien welcher der vier großen Gruppen angehören. Sie alle aufzuzählen ist verwirrend. Hier einige, die euch bekannt sein könnten: Unter den Bantu sind es die Kikuyu in Kenia, die euch als Ethnie aufgrund ihrer Beteiligung am Mau-Mau-Krieg sicher geläufig sind. Sie dominierten den Kampf gegen die britische Kolonialmacht. Am Fuß des Kilimandscharo leben die Chagga, deren raffiniertes Bewässerungssystem es ihnen möglich macht, seit Generationen an den Berghängen eine intensive Landwirtschaft zu betreiben. Die Chagga kultivieren Bananen, aus denen sie pombe (Bier) brauen. Während der Kolonialzeit begannen sie auch, den so begehrten Kaffee anzubauen. Viele ihrer Männer dienten den Deutschen unter General Paul von Lettow-Vorbeck als Askari. Doch zuvor war es zu einem Monate währenden Aufstand der Chagga gekommen, den der unrühmliche deutsche Reichskommissar im Kilimandscharo-Gebiet ausgelöst hatte.«
»Kannst ihn ruhig beim Namen nennen, Ahmed«, ruft Konrad dazwischen, »das war der Menschenschinder Carl Peters im Jahr 1891. Er ließ seine Konkubine Jagodia und einen Boy aufhängen, weil sie’s hinter Peters’ Rücken miteinander trieben.«
»Das stimmt, doch besonders böse wurden die Chagga, weil der Deutsche noch die Dörfer der beiden niederbrennen ließ.«
»Wie viele Chagga leben am Berg?«, frage ich.
»Rund achthunderttausend Menschen. Mittlerweile ernährt der Tourismus viele, das seht ihr an mir. Ich bin Chagga. – Von den Niloten sind die Luo die bekannteste Ethnie. Ursprünglich kamen sie aus dem Sumpf des oberen Nildeltas. Das geht aus ihrem Namen Luo, Sumpf, hervor. Als kriegerisches Volk drangen sie bis an den Viktoriasee vor. Wie die Zulu kämpften sie in einer eng geschlossenen Phalanx, und zwar nur tags, was dazu führte, dass andere Volksgruppen sie nachts überfielen. Heute halten sie sich als Handwerker und Wanderarbeiter über Wasser. Unter den Hamiten sind sicher die Somali bekannt. Zumeist nomadisierende Hirtenvölker oder Handwerker. In den Städten leben sie als Angestellte. Wie ohnehin die meisten von uns.«
»Was ist mit den Nilohamiten?«, fragt Frido.
»Zu ihnen zählen unsere speziellen ›Freunde‹, die Massai, ein Hirtenvolk, das in Kenia und in den Steppen von Tansania lebt. Ihre Viehherden trieben sie bis an die Hänge des Kilimandscharo. Auf diese Weise wurden Ernten und Felder vernichtet. Unsere Väter und Vorväter lagen in ewiger, ja blutiger Feindschaft und bekämpften sich bei jeder Gelegenheit.«
»Der stetige Kampf zwischen sesshaften und Nomadenvölkern, die als Nachbarn nicht in Frieden leben können. Besonders, wenn sie beide den Berg begehren«, bemerke ich.
»So ist es, die Massai nennen den Kilimandscharo ng-Aji eng-Ali, Quelle Gottes, und bedrohten uns ständig. Sie beanspruchten einfach alles, den Berg, das Vieh, die Frauen. In unseren Augen waren die Massai Raubritter. Bei uns heißt der kegelförmige höchste Berg im Kilimandscharo-Massiv Kibo, der Helle. Der Swahiliname seines höchsten Gipfels, Uhuru, bedeutet Freiheit.«
Ich bin in Gedanken noch bei den Massai. Ähnlich wie beim Nachdenken über das Leben und die Zukunft der Tuareg überkommt mich bei den Massai Traurigkeit. Die Gemeinschaft des einst stolzen Hirtenvolks ist in Auflösung begriffen. Ihr Gesellschaftssystem gerät aus den Fugen. Sitten und Rituale verkümmern. Längst passen die Moral- und Ehrbegriffe der Massai nicht mehr in die moderne Welt. Die Bedrohung ist vielschichtig: Zum einen ist da der Landverkauf der tansanischen Regierung an private Investoren und sesshafte Bauern. Dadurch müssen sich die wenigen noch autark lebenden Sippen in entlegene, unfruchtbare Regionen zurückziehen. Auch die neu entstehende Infrastruktur, namentlich der Straßenbau, schränkt die Bewegungsfreiheit der Halbnomaden empfindlich ein. Machen sie von den Sesshaften abhängig. Mehr und mehr Clans vegetieren im Zustand der Entwurzelung dahin. Zum anderen schadet ihnen der Tourismus, indem er eine paradiesische Scheinwelt vorgaukelt und ihr Weltbild zerstört, zumindest in Frage stellt. Das bisschen Trinkgeld, das der geschmückte Krieger mit Büffellederschild und Speer auf einem Bein stehend für ein Foto neben Frau Meyer erhält, ist weiß Gott nur ein schwacher Trost.
Ich komme nicht umhin, an meine Begegnung mit dem eindrucksvollen Volk zu denken, denn nur wenige Kilometer von unserer Kaliwa Lodge entfernt liegt Massailand. Und Olpopongi, das erste authentische Massaidorf, in dem der Tourist traditionelles Leben des Hirtenvolks in heutiger Zeit erleben kann und wo man ihm die Hintergründe erklärt. Eine Einrichtung, deren Einkünfte dem Volk in Form von ärztlicher Versorgung, Medikamenten und Ausbildung zugutekommen. Ich habe mir vorgenommen, bevor ich das Festland verlasse, Olpopongi, die Gründung des Deutschen Tom Kunkler, zu besuchen.
Einst reichte das Land der Massai vom Rift Valley, einem Teilstück des Ostafrikanischen Grabens in Kenia, bis tief nach Tansania, an die Kitwai Plain im Süden, heran. Moshi im Osten und die Serengeti im Westen begrenzten ihr Gebiet. Auf einhundertvierzigtausend Quadratkilometern Savanne, einem Gebiet dreimal so groß wie die Schweiz, lebten zweihundertfünfzigtausend Massai Schulter an Schulter mit ihrem Vieh, Gazellen, Antilopen, Giraffen, Löwen, Elefanten, Nashörnern und anderem Wild.
Immer stärker beschleicht mich das Gefühl, auf einer Reise zu sein, die auch ein Rendezvous mit großen und tiefen Erinnerungen ist: Am inneren Rand des Ngorongoro-Kraters lebte bei meinem Besuch vor mehreren Jahren eine kleine Massaisippe. Ich hatte das Juwel Tansanias, den sechzehn mal zwanzig Kilometer großen Ngorongoro-Nationalpark, in vielen Richtungen durchfahren. Er erstreckt sich über die größte, nicht gänzlich mit Wasser gefüllte Caldera der Welt, hat die Fläche des halben Bodensees. Der Kraterrand ist durchschnittlich zweitausenddreihundert Meter hoch, die Caldera ein Garten Eden, in dem je nach Jahreszeit zwanzig- bis dreißigtausend Tiere leben. Vor allem Gnus, Zebras, Gazellen und die Big Five: Löwen, Nashörner, Elefanten, Büffel und Leoparden. Der Krater beherbergt die größte Löwenpopulation Afrikas. Wir waren mit einem Jeep auf dem Weg zu den Massai, als Prinz von Isenburg dem Fahrer plötzlich ins Steuer griff. Er hatte das Fernglas vor den Augen und etwas entdeckt.
»Da vorn jagen Löwen am Tage. Ist ja unglaublich!«, flüsterte der Prinz und: »Ole, fahr ganz langsam näher.«
Ein Rudel von zehn Raubkatzen beschlich einige abseits der Herde äsende Zebras. Eine nervenaufreibende Prozedur, die sich über Stunden hinzog und erst nach dem vierten Sprungversuch erfolgreich war. Der ›Fänger‹, eine erfahrene Löwin, nahm das äußere Zebra ins Visier, umschlich es mit unendlicher Geduld und drängte es von der schützenden Gemeinschaft fort. Zwar witterte das Beutetier Gefahr, windete ängstlich über das hohe Steppengras, in dem unsichtbar die ›Treiber‹, drei Mähnenlöwen und sechs jüngere Raubkatzen, kauerten. Der Fluchtweg zur Herde war jetzt abgeriegelt. Nervös äste das Zebra weiter. Die Jagdgemeinschaft pirschte näher und näher, zog die Schlinge erbarmungslos zu. Auf einmal schnellte die ›Fängerin‹ ihre zweihundert Kilogramm aus der Deckung. Drei, vier Sätze, ein mächtiger Zehn-Meter-Sprung, das Zebra warf sich zur Seite, die Löwin landete auf hartem Boden. Als das verfolgte Tier zurück zur Herde hetzen wollte, zeigten sich drohend die ›Treiber‹. Das Zebra galoppierte in entgegengesetzter Richtung davon. Wieder begann das zermürbende Anschleichen, gefolgt von einem zweiten geglückten Fluchtversuch. Die Löwen hechelten missmutig in der Mittagshitze. Doch die ›Fängerin‹ ließ nicht locker, sie hatte das Zebra auf eine Sandfläche getrieben, setzte ihm plötzlich in kleinen, schnellen Sprüngen nach. Dann ein finaler Satz … Landung auf dem Rücken des Zebras. Die Tatzen der Löwin krallten sich in die Keulen, sie biss kraftvoll in den Nacken, dann riss sie mit der Pranke die Schnauze des Zebras hoch … Krach und knack! Der Bruch des Halswirbels klang schauderhaft. Die Beute stürzte zu Boden. Die ›Treiber‹ schossen aus der Deckung heran und entfachten eine unglaubliche Fressorgie, die im Nu das komplette Löwenrudel in einen wahren Rauschzustand versetzte. Schon war die Bauchhöhle weit geöffnet und der Aufbruch, also Innereien, Magen, Gedärme, herausgerissen worden. Der Inhalt von Magen und Gedärm spielt eine lebenswichtige Rolle bei der Ernährung sämtlicher Fleischfresser, sie gelangen auf diese Weise an ihre Pflanzenkost.
Wilde Gier ließ den Mähnenträger kürbisgroße Fleischportionen hinunterwürgen. Drohte er daran zu ersticken, griff er sich in den Rachen und zerrte den Brocken mit einer Daumenklaue wieder heraus. Das satte, blutbesudelte Simbarudel ließ sich später in der Nähe des Kills nieder, verfiel, total erschöpft und schwer atmend, in einen tranceähnlichen Verdauungsschlaf, der bis zu vierundzwanzig Stunden dauern kann. Wir fuhren auf vier Meter an das Bankett heran, ohne dass die Raubkatzen von uns Notiz nahmen. Pascha drehte sich im Schlaf auf den Rücken, streckte alle viere von sich. Gähnte knurrend, wobei er Reißzähne entblößte, die wie Dolche aus seinem Rachen ragten.
Kein Grzimek-Film hätte uns die Tierwelt im Krater besser vorführen können. Für Professor Bernhard Grzimek (Dokumentarfilm »Serengeti darf nicht sterben«, er beendete den von seinem Sohn begonnenen Film) war der Ngorongoro-Krater das achte Weltwunder. Sein Sohn Michael war 1959 in der Serengeti mit seiner zebragestreiften Dornier Do 27 tödlich verunglückt. Sein Grab, eine Steinpyramide am Kraterrand, ist weithin sichtbar; sein Vater wurde später neben ihm beigesetzt.