Der siebenjährige Peter Lescher bedrängte seine Mutter: »Bitte, geh doch mit mir einmal zu dem kleinen Haus am Hang. Da spielt oft so ein lieber Junge, aber er ist immer allein. Ich habe mich schon mit ihm angefreundet, als du mit Vati auf der Bergtour warst.«
Ruth Lescher, mit ihrem Mann und ihrem Sohn auf Urlaub in Oberstdorf, lächelte. »Also, wenn du mich immer wieder quälst, werde ich mit dir wohl zu dem Jungen gehen müssen.«
Dabei dachte sie daran, wie sehr sich Peter ein Geschwisterchen wünschte, aber sie hatte nach ihm kein Kind mehr bekommen dürfen. Sie war schon bei der Geburt in Lebensgefahr gewesen. Dabei hätten sie sich leicht mehrere Kinder leisten können, ihr Mann war ein gutverdienender Rechtsanwalt in München.
»Oh, fein«, jubelte der blonde Peter und fuhr sich durch sein immer etwas struwweliges Haar. »Dir wird der Junge auch gefallen. Er ist erst fünf Jahre geworden und heißt Bastian. Du kennst auch seine Mutter. Sie ist Sekretärin hier in unserem Hotel ›Alpenblick‹.«
»Und Vater hat er keinen?«, fragte Ruth Lescher.
Peter zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht. Danach habe ich ihn noch nicht gefragt. Aber er hat einen ganz lieben Großvater. Du, Mutti, der war hier Bergführer, aber jetzt ist er schon zu alt dazu. Ich glaube, der könnte tolle Geschichten erzählen.«
Am Nachmittag, als Ruth Leschers Mann zu einer größeren Wanderung unterwegs war, kam es endlich zu dem von Peter so heißersehnten Besuch.
Er stieg mit seiner Mutter den steilen Hang hinauf. Vor dem Waldrand stand ein geducktes Haus mit weit heruntergezogenem Dach, vor dem ein kleiner braungelockter Junge spielte. Aus dem Haus kam gerade eine junge Frau.
»Heute ist Bastians Mutter zu Hause«, sagte Peter. »Sicher hat sie ihren freien Tag. Darauf freut sich Bastian immer. Das hat er mir gesagt. Sonst ist er ja mit seinem Großvater allein.«
»Schön, dass seine Mutti da ist«, meinte Ruth. »Wir kennen sie doch vom Hotel – Ulrike Burger. Sie ist zu allen Gästen sehr fürsorglich. Niemals kommt man mit einer Bitte vergeblich zu ihr.«
Auch die siebenundzwanzigjährige Ulrike kannte die Hotelgäste und fragte: »Hat es Sie heute einmal hier herauf verschlagen, Frau Lescher?«
Ruth lachte. »Ja, aber nicht wegen der schönen Aussicht, sondern wegen Ihres Jungen. Unser Peter mag ihn so gern.«
Bastian war schon Peter entgegengelaufen und fragte: »Erzählst du mir heute wieder etwas aus der großen Stadt, wo es so viele Autos gibt? Feuerwehrautos, die tut-tut machen, und Straßenbahnen?«
Ulrike Burger strich ihrem Jungen durch das Haar. »Ja, das möchtest du hier auch alles erleben.« Sie sah Ruth Lescher an. »Wenn Bastian noch älter wird, besteht die Gefahr, dass er es bei uns hier oben zu langweilig findet. Aber wollen Sie nicht mit hineinkommen? Ich könnte eine Kanne Kaffee aufbrühen, während die Kinder hier spielen.«
Dieses Angebot nahm Ruth Lescher gern an. Zwar war sie erst sechsunddreißig Jahre, doch das ungewohnte Bergsteigen machte sie doch müde.
Sie saßen bald gemütlich zusammen. Ulrike erzählte, dass ihr Vater zum Einkaufen im Ort war und setzte hinzu: »Es lastet viel auf ihm, weil ich ja im Hotel sehr eingespannt bin. Der freie Tag ist nicht geschenkt, ich muss oft auch am Sonntag Dienst tun.«
Für Ruth war das eine neue Welt, die sie hier kennen lernte. Die bildhübsche Ulrike gefiel ihr sehr gut. Man merkte ihr nicht an, dass sie hier so abgeschieden lebte, sie hatte für alles Interesse.
Jetzt seufzte Ulrike und sagte: »Leider fehlt es Bastian hier an Spielgefährten. Wir liegen etwas abseits, und die nächsten Nachbarn sind ältere Leute ohne Kinder. Deshalb freut sich Bastian so, dass Peter ihn besucht. Ich bin dafür auch sehr dankbar, Frau Lescher, weil ich mir manchmal um Bastian große Sorgen mache. Zu gut weiß ich, wie es ist, wenn man als Einzelkind und in dieser Abgeschiedenheit aufwächst. Mir ist es nicht anders als meinem Jungen ergangen. Zudem verlor ich noch sehr früh meine Mutter. Leider geht es meinem Vater in letzter Zeit gesundheitlich nicht gut. Es kommen immer wieder Tage, an denen er sehr große Schmerzen in den Beinen hat. Dann fällt es ihm schon schwer, Bastian zu beaufsichtigen. Aber ich muss ins Hotel, um für den Lebensunterhalt zu sorgen. Vater hat nur eine kleine Rente.« Ulrike zögerte kurz, ehe sie weitersprach. »Dazu hat mich noch das Unglück getroffen, dass ich keinen Vater für meinen Jungen habe. Sie werden sich schon gedacht haben, dass er ein uneheliches Kind ist.« Ihr schönes Gesicht sah jetzt etwas verbittert aus, und die blauen Augen blickten traurig drein. Doch dann machte sie sich selbst Mut. »Wir werden es schon schaffen, immer wieder durchzukommen. Ich möchte auf Bastian nicht mehr verzichten. Er ist mein einziges Glück.«
»So muss es nicht bleiben«, wollte Ruth trösten. »Sie sind noch viel zu jung, um schon zu resignieren. Sicher finden Sie einmal einen Mann, der Sie liebt und Bastian ein guter Vater ist.«
»Nein, das wird so bald nicht passieren.« Wieder stockte Ulrike und starrte auf ihre Hände. Als sie den Blick hob, sagte sie: »Ich habe Bastians Vater so sehr geliebt, dass ich wohl nie zu einem anderen Mann finden werde. Obwohl ich noch so jung bin, komme ich mir manchmal schon viel älter vor. Es bedrückt mich, dass ich meinem Vater Sorgen machen muss. Ich weiß, wie sehr er sich damit beschäftigt, was einmal aus mir und dem Jungen werden soll, wenn er nicht mehr ist. Aber es hat eben jeder sein Los zu tragen.«
Ruth hatte große Sympathien für die junge Frau und blieb länger, als sie vorgehabt hatte. Den beiden Kindern war das nur recht.
In den nächsten Tagen unterhielt sich Ruth öfter mit Ulrike im Hotel und besuchte sie auch noch zweimal.
»Weißt du, wer der Vater Bastians ist?«, fragte schließlich Martin Lescher.
Ruth schüttelte den Kopf. »Nein, das weiß ich nicht. Ulrike machte nur vor Kurzem eine Bemerkung, dass das nur sie, der Mann selbst und ihr Vater wissen. Sie hat es wohl sonst niemandem verraten. Eines aber scheint sicher zu sein, dass diese Verbindung nicht mehr besteht. Vielleicht ist das arme Mädchen auf einen Hallodri hereingefallen. Wundern würde mich das nicht, denn Ulrike ist sicher sehr unerfahren. Ich sehe es als schlimm an, dass sie Bastians Vater anscheinend noch immer liebt. Wäre es anders, täte sie sich vielleicht leichter. Der Abschied von der Familie Burger wird nicht nur Peter, sondern auch mir schwerfallen.«
Martin Lescher zog seine Frau liebevoll an sich und seufzte. »Weil du nicht helfen kannst, Ruth. Ich kenne dich und dein gutes Herz doch. Solche Verhältnisse, wie du sie bei den Burgers erlebst, gehen dir wieder wochenlang nicht aus dem Sinn.«
Ruth musste ihrem Mann recht geben.
Sie spürte, dass sie Ulrike und den kleinen Bastian ins Herz geschlossen hatte, und der Abschied fiel ihr wirklich schwer. Sie lud Ulrike ein, sie einmal in München zu besuchen.
»Das wäre schön.« Ulrikes Augen leuchteten, aber gleich darauf wurde sie ernst. »Ich sehe keine Hoffnung, dass ich das tun kann, Frau Lescher. Vater kann mich ja keinen Tag entbehren, und Urlaub ist bei uns ein Fremdwort. Ich kann wohl nur hoffen, dass Sie wieder einmal nach Oberstdorf kommen.«
»Das ist durchaus möglich«, meinte Ruth, »weil es uns hier sehr gut gefallen hat, aber leider wird Urlaub auch bei meinem Mann nicht sehr groß geschrieben.« Sie drückte Ulrikes Hand. »Lassen Sie mich wenigstens ab und zu wissen, wie es Ihnen und Bastian geht. Ich würde mich über jeden Brief sehr freuen.«
Ulrike versprach, Ruth zu schreiben. Dann ging sie mit ihr den Hang hinunter, um sie bis zu ihrem Hotel zu bringen.
Die beiden Jungen liefen voraus. Ihnen schien es noch nicht bewusst zu sein, dass sie sich vielleicht nie mehr sehen würden. Erst vor dem Hotel wurde besonders Bastian traurig und flüchtete sich zu seiner Mutter.
Mit ihr ging er schweigsam zu dem kleinen Berghaus zurück, obwohl er sonst sehr lebhaft war.
Zu Hause angekommen, sprach er immer nur von seinem neuen Freund Peter, weil ihm jetzt wohl erst ganz bewusst wurde, dass die schöne Zeit mit diesem älteren Freund vorbei war.
Auch Ulrike war niedergedrückt. Ihr kam es wie ein Wunder vor, dass sie eine so verständnisvolle Frau wie Ruth Lescher kennen gelernt hatte. Wenn sie daran dachte, wusste sie wieder, wie vereinsamt sie war. Der Vater und der Junge konnten ihr nicht immer genug sein. Die beiden durfte sie nicht belasten, aber sie hätte so nötig jemanden gebraucht, bei dem sie sich manchmal hätte aussprechen können.
Als sie gegen Abend noch einmal hinausging, setzte sie sich auf eine Bank an der Hauswand. Von dort konnte sie auf den gegenüberliegenden Hang sehen.
Dort oben stand ein prächtiges weißes Haus mit grünen Fensterläden, der »Rabenhorst«. So hatten es seine Bewohner getauft, und das nicht zu Unrecht. Oft kreiste eine Schar von Raben über dem Schindeldach.
Da oben sind sie glücklich, und niemand braucht sich so zu plagen wie ich, dachte Ulrike verbittert. Sie sah die Bewohner vor sich, den alten Albert Barwig, dem eine große Hotelkette gehörte und der schwerreich war, seinen Sohn Stefan und dessen junge Frau Viola.
Stefan, durchzitterte es Ulrike, und sie war nicht imstande, etwas anderes zu denken. Ihre Hände ruhten im Schoß, und sie konnte nur mit großer Mühe die Tränen zurückhalten. Würde das nie anders werden, dass sie Stefan nachtrauerte?
Er war Bastians Vater, und ihn liebte sie noch immer, obwohl er eine andere geheiratet hatte. Die wohlhabende Fabrikantentochter Viola aus München, eine elegante Frau, der man anmerkte, dass sie aus der großen Gesellschaft kam.
Ulrikes Gedanken gingen wieder einmal zu der Zeit zurück, in der sie und Stefan Pläne für eine gemeinsame Zukunft geschmiedet hatten. Sie waren sehr verliebt gewesen, und vor Stefan hatte es keinen anderen Mann in ihrem Leben gegeben. Wen hätte sie hier oben auch kennen lernen sollen? Stefan aber war ihr schon von ihrer Kindheit an vertraut gewesen. Neun Jahre älter als sie, war er ihr oft wie ein Beschützer vorgekommen. Schon damals hatte es sein Vater nicht gern gesehen, wenn sein Sohn sich mit der kleinen Bergführertochter abgegeben hatte.
Albert Barwig war ein herrschsüchtiger Mann, dem hier nirgends Sympathien galten. Durch seinen Reichtum fühlte er sich über alle erhaben. Das war nach dem frühen Tod seiner Frau noch schlimmer geworden. Sein Sohn Stefan hatte keine guten Zeiten bei ihm gehabt.
Umso mehr schloss er sich an mich an, dachte Ulrike. Er sehnte sich nach Liebe, und wir fanden zueinander. Nur mein Vater hat dieses Geheimnis gekannt und mich immer gewarnt.
Wie recht er hatte! Stefan war nicht stark genug, sich gegen seinen Vater durchzusetzen, er ließ sich eine Frau aufzwingen und trennte sich von mir. Und das, obwohl er wusste, dass ich sein Kind erwartete. Er scheint glücklich geworden zu sein, wenn auch seine Frau hier keine Freunde hat und sehr viel Zeit in München verbringt.
Nur gewaltsam konnte sich Ulrike aus ihren trüben Gedanken reißen. Wieder einmal wünschte sie sich sehnlichst, diesen Erinnerungen entfliehen zu können. Aber wie sollte es möglich sein, wenn sie so nahe bei Stefan leben musste? Sie konnte hier nicht weggehen, obwohl sie es damals schon gern getan hatte, als sie schwanger gewesen war. Nicht nur, dass sie ihre Heimat hier in den Bergen liebte, der Vater brauchte sie, und es wäre für sie schwer gewesen, sich anderswo ihr tägliches Brot zu verdienen und noch für Bastian zu sorgen. Hier hatte sie wenigstens ein Dach über dem Kopf und immer das Nötigste zum Leben.
Sie sah nun doch ein, dass sie noch etwas tun musste.
Für sie konnte es heute noch keinen Feierabend geben. Im Haus gab es Arbeit mehr als genug.
Mit Bastian war heute nicht gut zu sprechen, er trauerte noch immer Peter nach und stellte sich wohl vor, wie allein er in der nächsten Zeit wieder sein würde.
An diesem Abend wollte er von selbst zu Bett gehen. Ulrike streichelte ihn liebevoll. Sie kannte ja seinen Schmerz, und es hatte wohl keinen Sinn, jetzt darüber zu sprechen.
Als Bastian schon die Augen zufallen wollten, sagte er: »Peter hat es gut. Er kann immer mit Kindern beisammen sein. Ja, und er hat einen Vater. Der ist ganz lieb. Mutti, warum habe ich keinen Vater?«
Ulrike erschrak vor dieser Frage. Sie hatte sie schon lange erwartet, aber bisher war Bastian der Großvater anscheinend genug gewesen.
»Es gibt viele Kinder, die keinen Vater haben«, wich sie der unbequemen Frage ihres Jungen aus. »Du hast doch mich, Bastian, und wir kommen sehr gut miteinander aus.«
»Schon«, sagte Bastian, »aber es wäre sehr schön, wenn ich auch einen Vater hätte. Ich denke, es wäre für dich auch gut. Dann brauchtest du vielleicht nicht so viel zu arbeiten.«
»Ich bin mit unserem Leben zufrieden, Bastian, und du solltest es auch sein.« Ulrike hatte nicht bemerkt, dass der Vater auf der Schwelle stand. Er verschwand gleich wieder und setzte sich in die Wohnstube.
Der achtundsechzigjährige Johann Burger war ein früh verbrauchter Mann. Sein Leben lang hatte er schwer arbeiten müssen und wenig Freude gehabt. Schon seit Jahren streikte sein Herz immer wieder, und seine Beine machten ihm zu schaffen. Der Arzt hatte ihm mehr Ruhe verordnet. Aber der hatte leicht reden.
Das dachte Johann Burger auch, als seine Tochter in die Wohnstube kam. Er machte sich Sorgen um sie und seinen Enkel. Er fand auch heute, dass Ulrike wieder abgespannt aussah. Aber konnte er ihr helfen? Der Junge hatte schon recht, es gehörte ein junger Mann ins Haus. Doch davon wollte Ulrike nichts wissen. Dabei hätte es sicher in der Umgebung Männer gegeben, denen ein so schönes und tüchtiges Mädchen auch mit einem Kind recht gewesen wäre.
Auch Ulrike machte sich Sorgen. Sie meinte, der ohnehin nicht robuste Vater sehe jetzt noch schmächtiger aus. In sein Gesicht gruben sich tiefe Falten, und es hatte keine gesunde Farbe.
»Geht es dir wieder nicht gut, Vater?«, fragte Ulrike mit einem besorgten Blick in sein Gesicht.