Patrick Spät
Die
Freiheit
nehm
ich
dir
Rotpunktverlag.
11 Kehrseiten
des Kapitalismus
Der Autor dankt der Rosa-Luxemburg-Stiftung
für die finanzielle Unterstützung bei der Arbeit
an diesem Buch.
© 2016 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch
ISBN 978-3-85869-717-2
1. Auflage 2016
Der Kapitalismus hat sich friedlich entwickelt – oder:
Privateigentum entspringt der Freiheit – oder:
Das Boot ist voll – oder:
Der Kapitalismus bringt Wohlstand für alle – oder:
Eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung ist möglich – oder:
Es gibt einen guten Kapitalismus – oder:
Schuld an der Krise sind nur ein paar Profitgeier – oder:
Wir müssen nur zurück zur Sozialen Marktwirtschaft – oder:
Der Kapitalismus macht alle Menschen frei – oder:
Der Kapitalismus ist das Ende der Geschichte – oder:
Der Kapitalismus ist alternativlos – oder:
»Rebellion ist wie dieser Schmetterling, der auf das Meer ohne Insel oder Felsen zuhält. Er weiß, dass er keinen Platz zum Landen hat, aber dennoch zögert er nicht zu fliegen.
Und nein, weder der Schmetterling noch die Rebellion sind dumm oder selbstmörderisch, es ist nur so, dass sie wissen, dass sie doch etwas haben werden, wo sie landen können, weil in dieser Richtung eine kleine Insel liegt, die noch kein Satellit entdeckt hat.«
SUBCOMANDANTE MARCOS1
Die Werbung will uns weismachen, dass wir mit dem Kauf einer Packung Pampers Kinder in Afrika retten. Die Politik behauptet, die Lage sei »alternativlos« und wir müssten eine bittere Pille nach der anderen halt einfach schlucken. Von den Stammtischen und den Pegida-Demonstrationen grölt es uns entgegen, das Boot sei voll und »schuld an allem« seien sowieso »die Ausländer«. Unsere Eltern sind der Meinung, dass früher, zu Zeiten der Sozialen Marktwirtschaft, »alles besser« gewesen sei. Die Manager behaupten, der Kapitalismus bringe »Wohlstand für alle«, und meinen damit vor allem sich selbst.
Alles Mumpitz! Der Kapitalismus ist nicht die Lösung des Problems, sondern seine Ursache. Der Kapitalismus funktioniert nicht – beziehungsweise er funktioniert natürlich bestens für die Banken und die Reichen. Aber er funktioniert nicht für die Armen und Ärmsten – die Tellerwäscher werden keine Millionäre, sondern für immer und ewig die Drecksarbeit machen und Tellerwäscher bleiben.
Dieses Buch handelt von den Lügen, die wir tagtäglich aufgetischt bekommen. Genauer: Es geht darum, ein paar der »Mythen« des Kapitalismus unter die Lupe zu nehmen und zu sezieren. Eine kleine Operation am offenen Herzen des Dauerpatienten Kapitalismus, dessen Herzinfarkt im Jahr 2008 alle ein wenig aufgeschreckt, aber offensichtlich doch nur wenig verändert hat.
Wer verstehen will, wie die Welt funktioniert, muss den Kapitalismus verstehen. Wer die Gesellschaft verstehen oder verändern will, muss die Eigentumsverhältnisse verstehen oder verändern. Denn die Eigentumsverhältnisse bestimmen fast alle anderen Verhältnisse einer Gesellschaft. Dabei geht’s nicht um die Kaffeetasse oder den Kühlschrank, den man besitzt, sondern vorrangig um Eigentum im großen Stil, also vor allem um die sogenannten Produktionsmittel, wie etwa Anbauflächen, Rohstoffe, Grundstücke, Infrastruktur, Maschinen, Fabriken, Werkzeuge, Roboter, Rechenzentren, Server und Ähnliches. Wer immer von sich behaupten kann: »Ich habe was, was du nicht hast«, der hat die Oberhand, der kann andere für sich schuften lassen, der kann Mensch und Natur ausbeuten. Das ist keine Theorie, sondern jahrhundertelange Praxis. Leider.
Im Grunde wird ein Ausdruck wie »soziale Ungerechtigkeit« dem Elend dieser Welt gar nicht gerecht. Und auch der Begriff Kapitalismus ähnelt einer komprimierten ZIP-Datei; wenn man sie entpackt, zeigt der globale Kapitalismus seine hässliche Fratze ganz unverblümt angesichts von Hunger, Kriegen, Rassismus, Patriarchat, Massenarbeitslosigkeit und Umweltzerstörung. Man muss da gar nicht ins volkswirtschaftliche Detail gehen und endlose Tabellen und Statistiken heranziehen. Kurzum: Man muss keine Eier legen können, um zu merken, ob eins faul ist.
Kapitalismus heißt: Ein paar wenige bereichern sich, während ein großer Teil der Menschheit in den Trümmern einer ausgebeuteten Welt lebt. Fünfzehn Minuten Nachrichten genügen, um das Elend zwar nur ausschnittweise, aber ausreichend zu erblicken. Die Fratze des Kapitalismus ist überall und jederzeit sichtbar, man muss nur hinschauen. Deshalb braucht es keine übertrieben verschwurbelte Theorie, die Realität spricht für sich: Der Kapitalismus funktioniert nicht! Der Kapitalismus ist menschenfeindlich!
Vor allen sozialpolitischen Veränderungen steht der Bewusstseinswandel. Wir müssen uns darüber klarwerden, was Kapitalismus eigentlich bedeutet, wie er blutig entstanden ist und wie er sich gewaltsam am Leben hält. Nur dann sind wir in der Lage, den Kapitalismus auf der Müllhalde der Geschichte zu entsorgen und eine bessere Welt aufzubauen. Das wird schwierig genug, ja es ist völlig unklar, ob das überhaupt je gelingen wird: »Es ist inzwischen einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus«, beklagte der US-amerikanische Kulturtheoretiker Fredric Jameson. Aber vielleicht schimmert am Ende des kapitalistischen Tunnels doch eine Utopie, die auf einer ganz bodenständigen Tatsache aufbaut: Der Kapitalismus ist von Menschen gemacht und deshalb kann er auch von Menschen überwunden werden.
1 Subcomandante Marcos in einem Brief vom 12. Oktober 2002 an »El Ruso« alias Ángel Luis Lara.
DER KAPITALISMUS HAT SICH
FRIEDLICH ENTWICKELT – ODER:
»Wo hat der Bürger alles her:
den Geldsack und das Schießgewehr?
Er stiehlt es grad wie wir.
Bloß macht man uns das Stehlen schwer.
Doch er kriegt mehr als sein Begehr.
Er schröpft dazu die Taschen leer
von allem Arbeitstier.«
ERICH MÜHSAM1
Es ist ein weitverbreiteter Mythos, dass sich der Kapitalismus friedlich entwickelt habe. So steht in etlichen historischen Abhandlungen und praktisch in allen Schulbüchern, dass der Wechsel vom Mittelalter zur Neuzeit, als sich im Norditalien des 13. Jahrhunderts das moderne Kreditwesen entwickelte, quasi ein reibungsloser und unausweichlicher Selbstläufer war.2 Natürlich beflügelte es den Geld- und Warenverkehr, als die Händler in Florenz, Venedig und anderen Städten damit begannen, Zinsen zu erheben und mit Schuldscheinen zu wirtschaften. Es gibt aber auch einen anderen, einen blutigen Zeitpunkt, an dem sich der Beginn des Kapitalismus festmachen lässt: der »Allmende-Raub«. An ihm lässt sich zeigen, wie wir wurden, was wir heute sind: Lohnarbeiter, die den Profit von Unternehmen mehren. Landlose, die von Großkonzernen drangsaliert werden. Besitzlose, die keine Verfügungsgewalt haben über Grundstücke, Anbauflächen, Wasserquellen und Fabriken.
Die Großkonzerne Nestlé, Danone, Coca Cola und Pepsi sind auf Beutefang. Seit ein paar Jahren kaufen sie im großen Stil Wasserquellen in Afrika, Asien und Südamerika auf. Die dort lebenden Menschen konnten die freien Wasserquellen zuvor problemlos nutzen. Jetzt hungern und dursten die einen, während die anderen für Hungerlöhne in den Wasserabfüllanlagen schuften müssen, um sich dann das vormals freie Wasser in PET-Flaschen zurückzukaufen. Nestlé besitzt 73 Wassermarken, darunter Perrier, San Pellegrino, Vittel, Poland Spring, das beliebteste Mineralwasser in den USA, und Pure Life, das weltweit am meisten getrunkene Flaschenwasser. Pure Life ist lediglich gereinigtes Grundwasser. Nestlé verdient mit in Flaschen abgefülltem Wasser jährlich rund 11 Milliarden Schweizer Franken (9 Milliarden Euro).
Parallel zum Water Grabbing grassiert weltweit das Land Grabbing: Kleinbäuerinnen und -bauern verlieren ihr Land an Großkonzerne und Staaten, die alles aufkaufen, was ihnen vor die Flinte läuft. Über 1,6 Milliarden Menschen leben weltweit in kleinbäuerlichen Strukturen, die allermeisten von ihnen sind von Allmenden in Gemeinschaftsbesitz abhängig. Doch allein zwischen 2001 und 2011 wurden weltweit 227 Millionen Hektar Ackerland von Investoren aufgekauft. Zum Vergleich: Europa verfügt insgesamt über 170 Millionen Hektar Ackerland. Jeden Tag verlieren Kleinbauern rund 7000 Hektar an die Agrarindustrie – das entspricht 10 000 Fußballfeldern.3 Oft werden sie mit Gewalt von ihrem Land vertrieben, ihre Häuser werden niedergebrannt, und sollten sie es wagen, Widerstand zu leisten, werden sie mit dem Tod bedroht.
Vor rund 500 Jahren spielte sich die gleiche Geschichte schon einmal ab: Ab dem 15. Jahrhundert eigneten sich die weltlichen Landherren im Deutschen Reich und vor allem auch in England die Gemeindeflächen an. Die Allmende, also das vormals gemeinschaftliche Eigentum, wurde der Bevölkerung gewaltsam entrissen. Fortan gab es keine freien Wasserbrunnen mehr, keine Wälder, in denen jedermann jagen oder Brennholz und Kräuter sammeln durfte, keine freien Gewässer zum Fischen und keine freien Weideflächen für die Tiere. Vor allem die Wälder waren damals enorm wichtig, ja vielleicht so wichtig wie heute das Erdöl. Sie lieferten Brennholz, vitaminreiche Beeren und Kräuter, Eicheln zur Schweinemast und hier und da etwas Wild von der Jagd. Doch durch den gewaltsamen Allmende-Raub wurde die Natur zum Privateigentum. Das Wort »privat« kommt vom lateinischen »privare«, was so viel heißt wie berauben, entziehen, vorenthalten. Und genau das geschah damals in Europa. Der Kapitalismus konnte von da an richtig durchstarten.
Wer die heutige Welt und den Kapitalismus verstehen will, muss auch die Geschichte des Allmende-Raubs verstehen. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau begriff das allzu gut, als er 1755 in seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen schrieb: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte ›Das ist mein‹ und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, Leiden und Schrecken würde einer dem Menschengeschlecht erspart haben, hätte er die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinesgleichen zugerufen: ›Hört ja nicht auf diesen Betrüger. Ihr seid alle verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde keinem.‹«4
Die europäischen Kleinbauern wurden seit dem 15. Jahrhundert ihrer Lebensgrundlage beraubt und verarmten.5 Die Lehnsherren erkannten schnell, dass es profitabel war, sich das Land unter den Nagel zu reißen und die entwurzelten Bauern als Lohnarbeiter für sich ackern zu lassen. Widerstand blieb nicht aus: Während der Bauernkriege (1524–1526) formulierten die reformatorischen Theologen und Bauernführer Sebastian Lotzer und Christoph Schappeler ihre Forderungen in den Zwölf Artikeln. Neben der Abschaffung der Leibeigenschaft kritisierten sie es als »unbrüderlich und dem Wort Gottes nicht gemäß, dass der arme Mann nicht Gewalt hat, Wildbret, Geflügel und Fische zu fangen«. Darüber hinaus sollten »alle Hölzer, die nicht erkauft sind, der Gemeinde wieder heimfallen, damit jeder seinen Bedarf an Bau- und Brennholz daraus decken kann. [Außerdem haben] etliche sich Wiesen und Äcker, die einer Gemeinde zugehören, angeeignet. Die wollen wir wieder zu unseren gemeinen Händen nehmen.«
Die aufständischen Bauern waren Martin Luther ein Dorn im Auge. In seinem Pamphlet Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern, das er als Reaktion auf die Zwölf Artikel im Mai 1525 veröffentlichte, empfahl Luther den Fürsten nonchalant, die Bauern einfach zu erschlagen: »Man soll sie zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund totschlagen muss.« Der Bauernkrieg endete blutig und mit einer Niederlage der Aufständischen: Die Armee der Landesfürsten, die sich hinter den Adel stellten, tötete über 100 000 Bauern. Allein bei der Schlacht von Frankenhausen im Mai 1525 verloren über 6000 Bauern das Leben; ihr Anführer Thomas Müntzer wurde nach zwölf Tagen Folter enthauptet.
Auch in England wurde die Allmende (commons) seit dem 15. Jahrhundert systematisch aufgelöst und privatisiert; bereits um 1700 war die Hälfte Englands in privatem Besitz. Das vormals freie, gemeinschaftlich genutzte Land wurde eingezäunt, die sogenannten Einhegungen (enclosures) entstanden. Was war der Auslöser? Die Wollherstellung war damals die Leitindustrie, Wollerzeugnisse und Tuche machten um 1565 über 80 Prozent des englischen Exports aus. Parallel dazu stiegen die Preise in England zwischen 1500 und 1650 um über 400 Prozent. In der Folge musste die Wollwirtschaft noch rasanter wachsen, um diese massive Geldentwertung abzufedern. Im Jahr 1764 erfand James Hargreaves die erste industrielle Spinnmaschine, die »Spinning Jenny«, mit der man aus Wolle Garn herstellen konnte. Dadurch und durch die Verbesserung der Dampfmaschine von James Watt konnte die Garnherstellung um ein Vielfaches gesteigert werden. Dafür benötigte man jedoch umso mehr Schafwolle. Und die Schafe benötigten wiederum Weideland, um zu grasen. Für die Schafzucht wurde der Bevölkerung abermals hektarweise Land entrissen. Der Humanist Thomas Morus schrieb dazu in seinem 1516 veröffentlichten Klassiker Utopia ein paar bissige Zeilen: »Eure Schafe, die gewöhnlich so zahm und genügsam sind, sollen jetzt so gefräßig und wild geworden sein, dass sie sogar Menschen verschlingen sowie Felder, Häuser und Städte verwüsten und entvölkern. In all den Gegenden eures Reiches nämlich, wo die feinere und deshalb teurere Wolle gewonnen wird, genügen dem Adel und den Edelleuten und sogar bisweilen Äbten, heiligen Männern, die jährlichen Einkünfte und Erträgnisse nicht mehr, die ihre Vorgänger aus ihren Gütern erzielten. Nicht zufrieden damit, dass sie mit ihrem faulen und üppigen Leben der Allgemeinheit nichts nützen, sondern eher schaden, lassen sie kein Ackerland übrig, zäunen alles als Viehweiden ein, reißen die Häuser nieder, zerstören die Städte, lassen nur die Kirchen als Schafställe stehen und, gerade als ob bei euch die Wildgehege und Parkanlagen nicht schon genug Grund und Boden der Nutzbarmachung entzögen, verwandeln diese braven Leute alle bewohnten Plätze und alles sonst irgendwo angebaute Land in Einöden. Damit also ein einziger Verschwender, unersättlich und eine grausige Pest seines Vaterlandes, einige Tausend Morgen zusammenhängenden Ackerlandes mit einem einzigen Zaun umgeben kann, vertreibt man Pächter von Haus und Hof. Entweder umgarnt man sie durch Lug und Trug oder überwältigt sie mit Gewalt; man plündert sie aus oder treibt sie, durch Gewalttätigkeiten bis zur Erschöpfung gequält, zum Verkauf ihrer Habe.«
Nicht zufällig datieren die Hauptquellen für den historischen Robin Hood aus dieser Zeit. Um 1450 wurde die Ballade Robin Hood and the Monk veröffentlicht, um 1500 folgte die Balladensammlung A Gest of Robyn Hode. Robin Hood und seine Gefährten verteidigten die Commons und die freien Wälder, und sie gaben den Armen das zurück, was ihnen die Reichen zuvor gestohlen hatten.
Aufschlussreich ist, dass Robin Hood auch während des Kalten Kriegs als politisch gefährlich eingestuft wurde. Die Macher der erfolgreichen TV-Serie The Adventures of Robin Hood (1955–1959) standen allesamt auf der »Hollywood Blacklist«, auf der Medienschaffende verzeichnet waren, die mit dem Kommunismus liebäugelten. Die Liste gab es bereits seit 1946, ihre Hochphase erlebte sie dann in den 1950ern in der Ära McCarthy, aber noch unter Ronald Reagan existierte sie. Die Produzentin der Robin-Hood-Serie, Hannah Weinstein, stand ebenso auf der Liste wie der maßgebliche Drehbuchautor, Ring Lardner junior, der seit 1936 Mitglied der Kommunistischen Partei der USA war. In den 1930ern und 1940ern konnte Lardner als Kommunist unbehelligt in Hollywood arbeiten, 1943 gewann er einen Oscar und gehörte mit einem Wochenlohn von 2000 US-Dollar zu den bestbezahlten Hollywood-Autoren. Doch als die »Hollywood Blacklist« in Kraft trat, erhielten Lardner, Weinstein und zig andere Schauspieler, Drehbuchautorinnen und Regisseure in den USA Berufsverbot. Das FBI überwachte jeden ihrer Schritte und drangsalierte sie nach Strich und Faden. 1950 wurde Lardner sogar wegen »Geringschätzung des Kongresses« zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil er weder von seinen kommunistischen Ansichten abrücken noch interne Angelegenheiten aus der Partei verraten wollte. Aufgrund der antikommunistischen Hetze in den USA musste die TV-Serie The Adventures of Robin Hood in Großbritannien produziert werden, die Drehbuchautoren erschienen unter einem Pseudonym im Abspann. Und die Serie barg tatsächlich politischen Sprengstoff, weil Robin Hood als Rächer der Entrechteten klare antikapitalistische Systemkritik übte – selten war eine TV-Serie aus dieser Zeit derart politisch gewitzt und kritisch.
Doch die Heldentaten von Robin Hood konnten weder im 15. Jahrhundert noch im Fernsehen der 1950er den Allmende-Raub aufhalten. Vielerorts ließen die Grundbesitzer die Dörfer einfach niederbrennen, um die leibeigenen Bewohner loszuwerden – oder sie wurden eiskalt ermordet. Die päpstlich abgesegnete Leibeigenschaft war natürlich ebenfalls ein Unrecht, doch kurz vor dem Allmende-Raub waren, zumindest in England, bereits viele der Bauern freie Menschen; das Lehnswesen bestand oftmals nur noch formal. Die Überlebenden des Allmende-Raubs wurden zu Vagabunden. Nur sehr wenige konnten es sich leisten, das nun »frei gewordene« Land zu pachten und (nicht mehr feudal, sondern kapitalistisch) zu bewirtschaften. Der Rest wurde zu Lohnarbeitern großer Agrarunternehmen. Der Großteil aber landete auf der Straße als Vagabunden und Bettler. Das Gesetz schützte sie nicht, im Gegenteil, es war erlaubt, sie zu töten. Unter Heinrich VIII. (1491–1547) wurden rund 72 000 Hinrichtungen dokumentiert, die Getöteten waren hauptsächlich »Diebe«, also die Enteigneten und nun hungernden Vagabunden. Der aufkeimende Kapitalismus krempelte damals die Gesellschaft um. Robert Kurz bringt es auf den Punkt, wenn er über das 17. Jahrhundert in England schreibt: »Um dieselbe Zeit, wo man in England aufhörte, Hexen zu verbrennen, fing man dort an, Banknotenfälscher zu hängen.«6
Viele der Vagabunden mussten sich in den städtischen Fabriken verdingen und ihre Arbeitskraft verkaufen. »Stadtluft macht frei«, hieß es damals, doch die Ausbeutung verlagerte sich lediglich von der Leibeigenschaft zur Lohnarbeit. Diese Proletarisierung markierte den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und führte zu einem Paradigmenwechsel hin zur Fabrik- und Geldwirtschaft. Erst der Allmende-Raub schuf ein Proletariat, das es vorher schlichtweg nicht gegeben hatte. Die Menschen wurden buchstäblich entwurzelt. Und die Geschichte wiederholt sich andernorts: Chinas Regierung sorgte beispielsweise dafür, dass zwischen 1980 und 2015 über 400 Millionen Menschen, also rund ein Drittel der Bevölkerung, vom Land in die Städte wandern musste, um sich dort als Lohnarbeiter zu verdingen und von ihrem mickrigen Gehalt allerlei Waren zu kaufen – denn ohne Konsumenten kein Kapitalismus, auch kein Staatskapitalismus.
Der Kapitalismus konnte sich also nur deshalb entfalten, weil die Produktionsmittel – Ackerland, Maschinen, Werkzeuge, Häuser, Rohstoffe und die Allmende – strikt von den Arbeitenden getrennt wurden. Diese Entkopplung von Kapital und Arbeit zieht sich bis in unsere heutige Zeit. Verkürzt heißt Lohnarbeit nichts anderes als: Der Unternehmer hat Geld und Produktionsmittel, aber keine Arbeiter, die für ihn tätig sind. Der Arbeiter wiederum hat kein Geld und durch den Allmende-Raub auch keine Produktionsmittel, aber er hat seine Arbeitskraft. Die muss er verkaufen, um Geld zu bekommen und überleben zu können. Der Unternehmer sitzt freilich am längeren Hebel, da er über ein großes Privateigentum verfügt – er kann stets mit Entlassungen drohen. Und ohne den mickrigen Lohn, den er zahlt, würden die Arbeiter verhungern. Also verkaufen sie ihre Arbeitskraft, während die Profite des Unternehmers noch oben schnellen. Dieser simple Kreislauf führt zur überall sichtbaren Ausbeutung der Erwerbstätigen.
Nebenbei bemerkt ist nach Marx jede Form der Lohnarbeit gleichbedeutend mit Ausbeutung, nicht nur die schlecht bezahlte. Ausbeutung liegt immer dann vor, wenn jemand seine Arbeitskraft verkaufen muss und der Käufer daraus einen Gewinn, den sogenannten Mehrwert, erwirtschaftet. Ein Fließbandarbeiter bei einem Autokonzern verdient gerade so viel, dass die Kosten seines Lebensunterhalts gedeckt sind, also Geld für Nahrungsmittel, Miete, Kleidung und Ähnliches. Sein Lohn steht in keiner Relation zu den enormen Geldsummen, die die ganze Belegschaft durch ihre Arbeitskraft für das Unternehmen erarbeitet. Der Konzern erzielt Millionengewinne durch den Verkauf von Autos. Ein Lohnarbeiter arbeitet während einer Stunde vielleicht 5 Minuten für sein eigenes Portemonnaie und die restlichen 55 Minuten für das Bankkonto seiner Firma. »Für jeden Dollar, den der Boss hat, ohne dafür zu arbeiten, hat einer von uns gearbeitet, ohne einen Dollar dafür zu erhalten«, bemerkte dazu Big Bill Haywood (1869–1929), Mitbegründer und Leiter der großen Gewerkschaft Industrial Workers of the World.7
Die ersten Fabrikarbeiter sträubten sich vehement, für einen profitorientierten Unternehmer als Lohnarbeiter tätig zu werden. Viele arbeiteten nur für ein Zieleinkommen: Wenn sie genügend Geld verdient hatten, um über die Runden zu kommen, ließen sie buchstäblich den Hammer fallen und blieben bis zum Monatsende den Fabriken fern. Andere wiederum stibitzten Gegenstände aus den Fabriken, um sie zu verhökern. Und auch zahlreiche Fälle von Sabotage, also der gezielten Zerstörung von Maschinen, sind dokumentiert. Lohnarbeit galt den Menschen damals als unehrenhaft und entwürdigend. Wie sich die Zeiten doch ändern … Heute akzeptieren wir die Lohnarbeit als naturgegeben wie den alltäglichen Sonnenaufgang.
Die protestantische Erwerbsethik segnete den neu aufkommenden Arbeitsfetisch und erteilte den Arbeiterinnen und Arbeitern damit quasi die letzte Ölung. Doch weil sich die frisch geschaffenen Lohnarbeiter nicht recht fügen wollten, mussten die Unternehmer und die mit ihnen paktierenden Regierungen handeln. Zuerst wurden die Löhne dergestalt angeglichen, dass die Arbeiter gerade so ein Auskommen hatten; dann kamen Gesetze, die den Arbeitszwang staatlich legitimierten. Karl Marx und Friedrich Engels zitieren im Kapital ein Gesetz aus dem Jahr 1547, das Edward VI. in seinem ersten Regierungsjahr erlassen hat: »Wenn jemand zu arbeiten weigert, soll er als Sklave der Person zugeurteilt werden, die ihn als Müßiggänger denunziert hat. […] Er hat das Recht, ihn zu jeder auch noch so eklen Arbeit durch Auspeitschung und Ankettung zu treiben. Wenn sich der Sklave für 14 Tage entfernt, ist er zur Sklaverei auf Lebenszeit verurteilt und soll auf Stirn oder Backen mit dem Buchstaben S gebrandmarkt, wenn er zum drittenmal fortläuft, als Staatsverräter hingerichtet werden. Der Meister kann ihn verkaufen, vermachen, als Sklaven ausdingen, ganz wie andres bewegliches Gut und Vieh.«8
Im frühen Mittelalter lebten noch viele Menschen von Almosen, das Betteln war nichts Verwerfliches. Im Gegenteil: Die Kirchen verpflichteten die Gläubigen zu freiwilligen Spenden, indem sie ihnen weismachten, dass sie nur so ihr Seelenheil erlangen könnten. All das änderte sich mit der Reformation schlagartig. Die Bestrafung der »Müßiggänger« erlebte seit den Arbeitsfanatikern Luther und Calvin immer neue Höhenflüge. »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen«, hieß es bereits in der Bibel beim Apostel Paulus (2 Thess 3,10). Immer öfter wurden Bettler in Arbeitshäusern eingesperrt, gefoltert und vielerorts sogar hingerichtet.
Die protestantische Reformation ging Hand in Hand mit der Proletarisierung der Massen. »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« (Gen 3,19) – mit diesen Worten wurden im Alten Testament Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben. Arbeit war zwar auch in der Antike und im Mittelalter mit Mühsal und Plage verbunden, aber sie galt schlichtweg als menschliche Notwendigkeit und kollektive Bußtätigkeit: Die Vertreibung aus dem Garten Eden, also der Sündenfall der Menschheit, verurteilte den Menschen zum Arbeitsdienst auf Erden. Was eine Buße der Menschheit war, wurde aber bald zu einem Gottesdienst des Individuums: Gottes Wohlwollen wollte verdient sein. Weltlicher Erfolg galt fortan als unmissverständliches Zeichen dafür, dass man von Gott auserwählt war – und nicht in der Hölle, sondern im Himmel landete.
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