
Bettina Dyttrich, Stefan Howald (Hrsg.)
Quer denken: Mascha Madörin
edition 8
Über das Buch
»Wenn meine Mutter erzählte, war das mein erster Unterricht in feministischer Ökonomie«, sagt Mascha Madörin. Anschaulich wurde ihr dabei vor Augen geführt, dass Arbeit nach Geschlechtern unterschiedlich geregelt ist, was unterschiedliche Zugänge zur Macht ermöglicht. Ökonomie und Feminismus haben Mascha Madörin ein Leben lang nicht losgelassen. Vielerorts hat sie sich in politischen Bewegungen engagiert und zu einer alternativen Theorie und Politik beigetragen.
In diesem Band werden ein Leben erzählt und ein Werk vorgestellt. Durch die 68er-Bewegung politisiert, arbeitet Mascha Madörin in der Entwicklungszusammenarbeit. In Mosambik lehrt sie zwischen 1976 und 1980 in einem soeben unabhängig gewordenen Staat Politische Ökonomie und betreibt Feldstudien. Danach organisiert sie in der Schweiz jahrelang den Kampf gegen das Apartheid-Regime und für ein demokratisches Südafrika. Sie leitet Kampagnen und deckt die wirtschaftlichen Beziehungen der Schweiz zum Apartheid-Staat auf. Sie ist die kompletteste Kritikerin des Finanzplatzes Schweiz und trägt zur allmählichen Abschaffung des Bankgeheimnisses bei.
Mit ihren Arbeiten ab 1995 wird Mascha Madörin eine Wegbereiterin der feministischen Ökonomie und einer neuen Analyse der Care-Ökonomie und deckt dabei blinde Stellen der Wirtschaftstheorie und -politik auf.
Dieser Band lässt Mascha Madörin selbst zu Wort kommen. In einem grossen Interview schildert sie ihre Herkunft und Entwicklung, ihre Ansätze und Perspektiven. Annette Hug, Ueli Mäder, Barbara Müller und Res Strehle würdigen ihre wichtigsten Arbeitsbereiche. Eine Bibliografie dokumentiert die vielfältige publizistische und theoretische Tätigkeit. Der Band erscheint zum 70. Geburtstag von Mascha Madörin und gibt einen Einblick in die alternative politische Kultur der Schweiz.
Mascha Madörin, 1946 in Liestal geboren, lic. rer. pol. 1970. Sekretärin der Aktion Südafrika Boykott, Mitarbeiterin bei der Aktion Finanzplatz Schweiz – Dritte Welt. Zahlreiche Arbeiten zu feministischer Ökonomie und zur Care-Ökonomie. Mascha Madörin lebt in Münchenstein BL.
Quer denken:
Mascha Madörin
Über Antikolonialismus, Südafrika-
Solidarität, Kritik am Schweizer
Finanzplatz, feministische
Wirtschaftstheorie und Care-Ökonomie
Ein Lesebuch mit und über
Mascha Madörin
Herausgegeben von Bettina Dyttrich
und Stefan Howald

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Juni 2016, 1. Auflage. In Zusammenarbeit von edition 8 und der Wochenzeitung WOZ. © der einzelnen Artikel bei den AutorInnen, © dieser Zusammenstellung bei edition 8. Alle Rechte, einschliesslich der Rechte der öffentlichen Lesung, vorbehalten. Korrektorat: Katja Schurter, Typografie & Umschlag: Heinz Scheidegger; Umschlagbild: Ursula Häne; e-Book: mbassador GmbH, Luzern
Verlagsadresse: edition 8, Quellenstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41/(0)44 271 80 22, Fax +41/(0)44 273 03 02, info@edition8.ch
ISBN 978-3-85990-294-7
Inhalt
Ueli Mäder
Liebe Mascha
»Wenn meine Mutter erzählte, war das mein erster Unterricht in feministischer Ökonomie» Mascha Madörin, befragt von Bettina Dyttrich, Stefan Howald und Susan Boos
Barbara Müller
Warum Sanktionen wirken
Res Strehle
Weitsichtiger als die Banquiers
Annette Hug
Der ungeahnte Blick aufs Ganze
Stefan Howald
Quer denken
Bibliografie Mascha Madörin
Autorinnen und Autoren
Bildnachweis
Liebe Mascha
Vielleicht erinnerst du dich, es ist lange her, etwa 55 Jahre, du campierst über Pfingsten in Gampelen am Neuenburgersee, zusammen mit deinen Eltern und andern Familien. Dein Name ist Martha Roth, und du diskutierst als neugierige Schülerin gerne – vor allem mit älteren Jugendlichen. Du bringst deine Argumente lebhaft und scharfsinnig vor. Ich höre als jüngerer Zaungast fasziniert mit. Am Abend stimmen wir Lagerlieder an: ›An den Ufern des Mexiko Rivers‹ und ›Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen, steigen dem Gipfelkreuz zu‹.
Nach dem Abitur studierst du Ökonomie und arbeitest dann, als junge Mutter mit Soziologe Kurt Madörin verheiratet, bei einer Bank. Politisch engagierst du dich bei den Progressiven Organisationen Basel. Euren Sohn Grischa bringst du an einzelnen Tagen in die Kindergruppe unserer Wohngemeinschaft.
Wenn du Grischa abholst, bleibst du meistens noch eine Weile. Du fragst die Kinder, was sie erlebt haben. Sie kennen und mögen dich. Du machst ab und zu mit der ganzen Schar einen Ausflug in den Zoologischen Garten. Anno 1975 kommst du das eine oder andere Mal direkt vom besetzten AKW-Gelände in Kaiseraugst, erzählst von einer spannenden Vollversammlung oder einer Kundgebung, an der du interveniert hast. Dann verabschieden wir dich und deine Familie mit Transparenten auf dem Basler Flughafen nach Mosambik. Ein paar Wochen vorher sind mehrere hundert Interessierte ins Volkshaus an eine Solidaritätsveranstaltung mit der Befreiungsbewegung Frelimo gekommen. Kurt und du wollen nun direkt mithelfen, den jungen dekolonisierten Nationalstaat aufzubauen. Ihr unterrichtet am Afrikainstitut in Maputo. Mein Kollege Elisio Macamo hat gerne bei euch studiert. Er ist heute Professor für African Studies an der Universität Basel. Ein paar Jahre zuvor sind Kurt und du schon einmal in Burundi in der Entwicklungszusammenarbeit tätig gewesen. Bis zu den massiv aufbrechenden Konflikten zwischen den Hutus und Tutsis.
Aus Mosambik in die Schweiz zurückgekehrt, lebt ihr in unserer WG. Beruflich engagierst du dich vor allem entwicklungspolitisch und finanzplatzkritisch. Du setzt dich vehement dafür ein, das Apartheid-Regime in Südafrika zu boykottieren. Und du analysierst den Finanzplatz Schweiz. Du fundierst deine theoretischen Interessen und politischen Aktivitäten immer wieder mit eigenen empirischen Studien und Auftragsarbeiten. Zum Beispiel zur problematischen Bedeutung des Saisonnierstatuts für den Schweizer ›Fremdenverkehr‹. Bei deinen wissenschaftlichen Untersuchungen und Recherchen verknüpfst du globale, politisch-ökonomische und feministische Sichtweisen. Immer mehr (Fach-)Leute interessieren sich für das, was du eigenständig ergründest. Du referierst an vielen Kongressen. Medien interviewen dich. Gäste reisen an: feministische Wissenschaftlerinnen aus Berlin und Bielefeld, Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus Bern, der Ostschweiz oder von anderswo. Wenn du von deiner Arbeit heimkehrst und im Treppenhaus der WG dem Strafrechtler Mark Pieth begegnest, dauert es meistens eine Stunde, bis du zum Essen kommst. Die Kinder rufen nach dir. Sie freuen sich auf dich. Vor allem, wenn du selber kochst. Manchmal afrikanisch, stets besonders fein. Du bereicherst unsere Wohnküche kulinarisch und atmosphärisch. Zuerst kommt das Essen. Dann folgen oft lange Gespräche, politische und andere. Auch mit Leuten, die über keine akademische Ausbildung verfügen. Mit Knastautor René Reinhard debattierst du ebenso eingehend wie mit anderen, die das ›Kapital‹ von Marx zweimal gelesen haben. Du betrachtest ihn, den gelernten Schneider, ebenfalls als Intellektuellen. Und den Kindern hilfst du recht geduldig bei den Aufgaben. Ab und zu bekommen sie eine Schimpftirade zu hören. Aber nur gegen blöde Lehrer. »Mascha erklärt gut«, sagen sie.
Nach dem Auszug aus der WG lebst du mehr oder weniger alleine. Du konzentrierst dich noch stärker auf deine Arbeiten und Interessen. Eine Studie löst die andere ab. Ein Vortrag reiht sich an den andern. Eine Publikation folgt der vorangegangenen. Mit gründlichen Analysen, die weiterführende Perspektiven eröffnen. Wir würdigen hier gerne deine grossen Verdienste und schauen auf ein paar Jahrzehnte zurück: Du hast sehr erfolgreich den Boykott der Apartheid-Politik in der Schweiz koordiniert. Differenziert hast du die Beziehungen zwischen dem Finanzplatz Schweiz und der ›Dritten Welt‹ analysiert. Du hast eine feministische Ökonomie mitbegründet. Und seit Jahren untersuchst du nun den bedeutenden Care-Bereich. Du tust dies, über soziale Fragestellungen hinaus, aus umfassend ökonomischer Perspektive. Und zwar mit einem ausgeprägt dialektischen Verständnis. Eine feministische Ökonomie muss, wie du feststellst, selbstverständlich auch die oft ignorierte und ausgebeutete Care-Arbeit einbeziehen. Und umgekehrt. So schärfst du, prozessorientiert, den Blick für eine Sorgearbeit, die für dich substanzieller Teil der Produktion einer Gesellschaft ist. Du willst die Care-Arbeit aufwerten, honorieren und mehr regulieren, aber keineswegs bis ins Detail zentralstaatlich und bürokratisch kontrollieren oder rationalisieren. Das ist eine überzeugende Position und weitsichtige Gratwanderung.
Was deine oft originellen Zugänge prägt, sind dein Mut und deine Lust, selbst zu denken. Mit kritischer und deutlich markierter Distanz auf alle Seiten. So räumst du – für Linke eher unkonventionell – ein, dass der alte Patriarch und Neoklassiker Alfred Marshall (1842–1924) immerhin für Mindestlöhne eintrat und die wohlfahrtsökonomische Bedeutung der Frauenarbeit und des Kinderaufziehens hoch einschätzte. Du verfügst, hart erarbeitet, über vielfältige universelle sowie ganz spezifische Kenntnisse. Du liest fleissig angelsächsische Journale und weisst enorm viel. Wobei du auch öfters sagst, dass du etwas nicht weisst. Du debattierst gerne, benennst Widersprüche, fragst weiter. Du redest gescheit und zuweilen einfach verständlich. Mit anschaulichen Beispielen. »Man kann immer schneller Autos bauen, aber nicht immer schneller pflegen.« So bringst du etwas Wesentliches auf den Punkt und erzählst eindrücklich, wie die »Abfertigungsökonomie« funktioniert und eine Altenpflegerin deine 93-jährige Mutter »abspritzte«. »Wenn ein Pflegeheim für das Duschen von drei Personen den gleichen Zeitaufwand benötigt wie ein anderes für zwei, dann gilt es als effizienter«, bilanzierst du. Wie wahr!

Als neunjährige Schülerin in Bubendorf BL um 1955.
Liebe Mascha. Deine Stimme ist wichtig und wertvoll. Du forderst uns immer wieder heraus. Hab Dank für alles. Für dein queres Denken und dein Sosein. Wir wünschen dir viel Stimmiges und Schönes.
Herzlich
Ueli Mäder

Bei einem Gespräch in Zürich am 22. Februar 2016.
»Wenn meine Mutter erzählte, war das mein erster Unterricht in feministischer Ökonomie«
Mascha Madörin, befragt von Bettina Dyttrich, Stefan Howald und Susan Boos
Mascha Madörin, Wirtschaft und Arbeit sind Themen, die Sie leidenschaftlich interessieren.
Ja. Im Verlauf meines Lebens habe ich Fabriken von innen gesehen, in einer Grossbank, für den Staat und für NGOs gearbeitet – ich habe die unterschiedlichen Arbeitsprozesse und Sinnlichkeiten dieser Betriebe miterlebt. In der Linken war die Wirtschaft oft eine grosse Projektionsfläche. Mich interessierte hingegen immer: Wie funktioniert es eigentlich?
In welchem sozialen Milieu sind Sie aufgewachsen?
Früher hätte man wohl Kleinbürgertum gesagt. Mein Vater kam aus einer armen Familie, heiratete die Nachbarin, die Tochter eines Schmieds, der Herde zu produzieren begann. Daraus entstand in Bubendorf bei Liestal eine kleine Fabrik. Mein Vater war der kaufmännische Direktor und Mitinhaber, gemeinsam mit zwei meiner Onkel. An seinen freien Samstagnachmittagen fuhr er mit mir in die Fabrik, wusch dort sein Auto, dann ging er ins Büro und sinnierte. Ich durfte unterdessen in der Fabrik herumlaufen. Oft erklärte er mir die Maschinen, und manchmal waren auch Arbeiter da. Sie konnten am Samstagnachmittag die Einrichtung der Fabrik benützen, wenn sie zum Beispiel einen Gartenzaun basteln wollten.
Und dann gab es die Welt meiner Mutter: Wir hatten einen Riesengarten, sie nähte auch viel – sie arbeitete am meisten von allen. Für mich war immer klar, dass Hausarbeit auch Arbeit ist. Und ich sah damals schon, dass die Arbeitsprozesse im Haushalt völlig andere sind als in der Fabrik, dass sie eine andere ökonomische Logik haben.
Betrachteten Ihre Eltern ihre Arbeiten als gleichwertig?
Es war eine strikte Arbeitsteilung, zwei getrennte Welten. Mein Vater redete meiner Mutter nicht drein. Meine Mutter erzählte aber viel von ihrer Vergangenheit, von der Diskriminierung der Mädchen. Das war mein erster Unterricht in feministischer Ökonomie.
Wie war sie aufgewachsen?
In einer Schmiede, zu der auch ein Bauernbetrieb gehörte. Meine Grosseltern hatten zehn Kinder, davon drei Mädchen. Meine Mutter und eine Schwester machten Heimarbeit: Sie woben Seidenbänder. Die andere Schwester arbeitete voll im Haushalt, und im Sommer mussten alle aufs Feld. Die Söhne bekamen zwanzig Franken Sackgeld, die Töchter, die Seidenbänder woben, fünf Franken, und die Tochter, die den Haushalt machte, bekam nichts. Ihre Schwestern protestierten – meine Mutter war ziemlich rebellisch –, darum bekam meine Tante dann auch fünf Franken. Die Brüder hatten den ganzen Sonntag frei – ausser jene, die gerade melken mussten –, die Mädchen nur am Nachmittag von zwei bis vier. Die Mädchen erbten auch nichts, sie bekamen nur eine Mitgift bei der Heirat. Beim Bügeln erzählte mir die Mutter solche Geschichten, und am Schluss fragte sie immer: »Findest du das gerecht?«
Hatte Ihre Mutter eine Ausbildung?
Nein. Sie wäre gern Krankenschwester geworden. Aber nur die Söhne durften eine Ausbildung machen, die Töchter wollte der Vater bis zur Heirat zu Hause behalten. Meine Mutter fand, die beste Zeit ihres Lebens sei als Dienstmädchen in Le Locle gewesen: Da hatte sie einen Tag frei und eigenes Geld. Noch mit neunzig sagte sie: Ich hätte als Dienstmädchen nach London gehen sollen. Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, das hiess für meine Mutter: Zugang zu Lohn und Erbe, Freizeit und Ausbildung.
800 Buben und 6 Mädchen
Dann war sie sicher begeistert, dass Sie ins Gymnasium wollten?
Grundsätzlich legten meine Eltern grossen Wert auf eine gute Ausbildung für ihre Kinder. Aber als ich nach dem Progymnasium ins naturwissenschaftliche Gymi wollte, das auf der Oberstufe neu auch für Mädchen offen war, bekam meine Mutter Panik und wollte mich ins Welschland in ein Töchterinstitut schicken. Das war das einzige Mal, dass mein Vater entschieden eingriff und sagte: Nein, die will ins Gymi. Dort waren wir etwa 800 Buben und 6 Mädchen im Schulhaus. Und ich war die erste Frau im ganzen Familienclan, die studierte.
Hoffte Ihr Vater, dass Sie seinen Job übernehmen?
Ich glaube nicht. Mein Bruder arbeitete nach dem Technikum eine Zeit lang in der Fabrik der Familie. Er gründete dann aber eine eigene Firma und wanderte nach Brasilien aus. Für mich war es undenkbar, in die Firma einzusteigen – ich war mitten in die Basler Achtundsechziger-Bewegung geraten … Ohnehin wollte ich eigentlich Musikerin werden.
Musikerin?
Ja, ich war schon angemeldet bei einem bekannten Flötisten, aber meine Eltern fanden, das sei zu teuer. Meine Eltern lebten sehr bescheiden, spendeten der Mission viel Geld, aber mein Vater hatte ein teures Auto und einen Haufen Krawatten (lacht). Eine sehr interessante Kombination. Ich wusste genau, es liegt nicht am Geld, mein Vater hätte mir jedes Studium bezahlen können. Sie wollten einfach nicht, dass ich Musikerin werde. Später gab das meine Mutter auch zu – sie sah mich schon im Sündenpfuhl der Kunst.
Sie haben dann Ökonomie studiert …
Mittlerweile bin ich froh darüber. Die Barockmusiker waren damals ein exquisiter Verein und ich ein Landei. Und das Ökonomiestudium gefiel mir. Ich hatte einen sehr guten Professor, Karl William Kapp, der in Deutschland studiert und während des Faschismus in den USA gelebt hatte, da seine Frau Jüdin war. Er war einer der bekanntesten institutionellen Ökonomen seiner Generation und hat das Konzept der ökologischen und sozialen Kosten erfunden. Die Debatte, die heute über die Architektur des Euro läuft, ist für mich überhaupt nicht neu. Dass Märkte in Institutionen und Regulierungen eingebettet sind, war ein Thema in meinem Studium. Es gibt keine abstrakten Märkte – das war immer eine Erfindung der neoklassischen Ökonomen. Ich habe auch Entwicklungsökonomie studiert, damals hiess es Ökonomie der Entwicklungsländer, und dazu das Lizenziat gemacht. Dort ging es oft darum, dass es ausserhalb der formalen Lohnarbeit eine andere Welt gibt: den informellen Sektor.
So etwas war ein Thema im Studium?
Ja, durchaus. Frauen kamen dagegen kaum vor – nur dass ihre Bildung und ihre Gesundheit wichtig seien. Die ökonomische Rolle ihrer unbezahlten Arbeit war hingegen kein Thema.
Wie sah es mit Frauen in Ihrem Studiengang aus – hatten Sie Kolleginnen?
Ich glaube, wir waren drei Frauen, die das Lizenziat machten. Ich hatte von der dritten Klasse bis zur Matur keine einzige Lehrerin! Und danach keine einzige Professorin. Für die berufliche Orientierung, für die Frage, wie ich leben wollte, hatte ich keine weiblichen Vorbilder.
Ihre Vorbilder waren Männer?
Ja, zwangsläufig. Ich hatte Glück, ich kannte die Fabrik meines Vaters, er erzählte viel von seiner Arbeit, seinen Entscheidungen. Das war für mich keine fremde Welt. Ohne diese Erfahrung hätte ich wahrscheinlich nicht Ökonomie studiert. 1968 hat mir dann viele Türen geöffnet. Wir organisierten Gegenseminare an der Uni, Professor Kapp stellte uns Räume dafür zur Verfügung. Er diskutierte gern mit uns, und wir konnten bei ihm auch Seminararbeiten zum Antiimperialismus schreiben.
Die erste Fiche
Jetzt sind wir schon mitten drin in der Bewegung … Wie fing das an, wie wurden Sie politisiert?
Über den Vietnamkrieg. Wir waren eine kleine Gruppe, mein späterer Mann Kurt war auch dabei. Wir organisierten eine Studentendemo in Basel und luden Günter Amendt als Redner ein. Kurt und ich waren naiv, ich hatte noch kaum eine linke Zeitung in der Hand gehabt, aber ich argumentierte gern, und der Vietnamkrieg beschäftigte mich sehr. Wir unterschrieben also das Bewilligungsgesuch und wurden prompt von der Bundespolizei fichiert. Das heisst, ich war schon fichiert.
Wie kam das denn?
Ich kam zu meiner ersten Fiche, weil ich mit meiner Cousine in die allererste Zuckerrohrbrigade nach Kuba wollte. Reisen und Emigrieren waren in meiner Familie das Höchste. Wer Karriere machen wollte, ging ins Ausland. Ein Bruder und eine Schwester lebten jahrzehntelang in Brasilien, eine Schwester war in Paris, Cousins wanderten in die USA und nach Peru aus … Und wir wollten also nach Kuba. Dazu musste man einer trotzkistischen Gruppe in Brüssel schreiben. Sie schickten uns das Reisedatum – aber der Brief kam erst an dem Tag an, als das Flugzeug ohne uns abflog. Er war wohl von der Bundespolizei zurückgehalten worden. Meine Cousine war die Tochter eines hohen Beamten in Liestal; als sie ihre Eltern besuchte, sprach sie am Bahnhof ein Herr an: »Ich bin der Bundespolizist von Baselland. Ich ging mit Ihrem Vater zur Schule. Es würde uns sehr freuen, wenn Sie uns einfach einmal erzählen würden, wie das war in Kuba …«
Meine Cousine wiegelte ab und sagte: »Wir reisen einfach gern.« Ob er wusste, dass wir gar nicht dort gewesen waren, und nur einen Gesprächsanfang suchte, weiss ich nicht. In der Fiche stand, wir seien dort gewesen: »Sie scheint eine Tochter aus gutem Hause zu sein und hat nur aus touristischen Gründen …« Der Bundespolizist hatte ein schlechtes Gewissen, dass er die Tochter seines Klassenkollegen überwachen musste.
War die Achtundsechziger-Bewegung in Basel stark?
Ja. Wir gründeten die POCH – 1970 zuerst als POB, Progressive Organisationen Basel –, und bald sassen einige von uns im Grossen Rat. Wir arbeiteten viel zu Verkehrsplanung und Bildungspolitik und organisierten später jedes Jahr ein grosses Fest mit den Migrantenorganisationen, ›Nostra Festa‹, als Antwort auf die fremdenfeindliche Schwarzenbach-Initiative.
Und der Feminismus? Waren Sie in einer separatistischen Frauengruppe?